Monatsarchiv: Februar 2008

Briefe aus der Wendezeit – Teil 2

 

Stuttgart, 16.1.1990

 Lieber Frank, 

die Diskussionen. die z.Zt. bei Euch und über Euch stattfinden sind wirklich aufregend. So will ich Dir denn spontan noch über meine Eindrücke schreiben von einer Diskussion, die ich bis eben gerade (1.15 Uhr) im Fernsehen mitverfolgt habe. Sie fand in Potsdam mit den meisten Leuten Eurer neuen Politprominenz statt. Wie anders sieht eine solche Diskussion als bei unseren Politikern aus. Man hat bei unseren Diskussionen meist den Eindruck, daß sie nach vorgestanzten Schablonen verlaufen. Politprofis geben in glatten Formeln ihre Statements ab, die schon duzende Male durchgekaut sind. Sie variieren nur die Grundmuster, je nach dem Gegenstand, um den es geht. Die Diskussion bewegt sich nicht und sie bewegt nichts. Sie dient hauptsächlich dazu, sich zu präsentieren, gut auszusehen und längst beschlossene immer gleiche Positionen fest- und dem Publikum einzuhämmern. Seine Meinung zu ändern, eine gegnerische Position anzuerkennen, zuzugeben, daß man etwas dazugelernt hat, gilt als Unsicherheit, die man fürchten muß, wie den politischen Teufel. Um Himmels willen aber darf eine politische Gruppierung nicht uneinig erscheinen (Ausnahme: Die Grünen). Und so herrscht der aberwitzige Drang, sich anzupassen, seine Eigenständigkeit zu verleugnen und sich stromlinienförmig zu machen. Ich frage mich immer, welch seltsames Bild diese Leute von denen haben müssen, denen sie sich nur als eine einige Gruppe glauben präsentieren zu können. Und welches Bild haben sie von sich selbst, wenn sie sich in einer solchen Rolle wohlfühlen, womit ich nichts gegen den pragmatischen Vorteil einer abgeschlossenen Diskussion sagen will. Vielleicht kommt Dir diese Beschreibung unseres Politikerverhaltens bekannt vor. Die extremste Form davon, habt ihr .ja gerade hinter Euch.

Ganz anders die Diskussion, die ich eben verfolgt habe. Die Diskutanten sind zum erheblichen Teil noch ungeübt. Sie ringen mit den Worten und Gedanken, sie geben auch Positionen zu, die eine andere Gruppierung hat, modifizieren ihre Position, stellen Fragen, allerdings auch wenig sinnvolle, zeigen Ratlosigkeit. Als Zuhörer hat man das Gefühl, man könne an einer solchen Diskussion selbst teilnahmen, könne etwas bewegen und das bewegt einen selbst (bei hiesigen Diskussionen schaltet man bald ab). Das Ganze erinnert mich sehr an die tastenden Versuche der französischen Revolution, neue Gesellschafts- und Verfassungsmodelle zu entwerfen. Es ist eine faszinierende Situation, alles noch einmal neu durchdenken zu können. Allerdings ist es in Eurem Fall auch nicht ganz unproblematisch. Nicht nur, weil man in der Gefahr steht, eine Reihe von Fehlversuchen zu machen und – vielleicht zu viel – Lehrgeld zu bezahlen, wie die Franzosen. Euch laufen die Zeit und die Menschen davon. Da ist es ein ziemlicher Luxus, sich zahlreiche politische Debütanten leisten zu müssen. In der Tat sind manche Positionen der allzu vielen neuen politischen Gruppen noch einigermaßen naiv und man kann nur hoffen, daß sie sich die Fähigkeit zur Weiterentwicklung auf dem offenbar noch langen Weg zu praktikablen Vorstellungen offen halten. Denn vieles klingt noch sehr theoretisch und ein wenig wie in einem universitären Oberseminar. Immer wieder sind es die Vorstellungen über die Funktionsweise der Wirtschaft, insbesondere der unsrigen, die sehr unklar sind und bezeichnenderweise verläuft man sich sehr bald in Allgemeinheiten und abenteuerlichen Vermutungen über unsere soziale Wirklichkeit. Es ist für mich immer wieder erstaunlich, wie wenig gerade Eure Leute von ihrem Marx gelernt haben, der doch immerhin klargestellt hat daß die Wirtschaft die Seele der meisten gesellschaftlichen Bereiche ist. Man redet jetzt viel auch von Umweltschutz bei Euch. Wenn man sich ein wenig in der Welt umschaut, so zeigt sich sehr schnell, daß er eine Funktion des Wohlstandes ist. Dort wo der Lebensstandard niedrig ist, liegt auch der Umweltschutz im Argen. Und wo es gar um das nackte Überleben geht, wie in den Entwicklungsländern, ist die Vokabel nicht nur unbekannt, sondern wird geradezu als absurd empfunden. Ähnliches gilt für viele soziale Schutzrechte. Manche Eurer Neulinge scheinen aber am liebsten das Fell verteilen zu wollen, bevor dessen Träger geboren ist, womit ich natürlich nichts gegen Umweltschutz und starke soziale Rechte gesagt haben will. 

Es ist natürlich ein vertrackte Sache mit der Wirtschaft. Ein sozialistisch gebildetes Gemüt hat vermutlich seine Schwierigkeiten mit der Vorstellung, daß man Betriebe kaputtmachen muß, um die Wirtschaft effizienter zu machen (Konkurspflicht – so was gibt es hier!); oder daß die Möglichkeit von u.U. schnellen Personalentlassungen die Voraussetzung für Arbeitsplatzsicherheit ist. (wenn nur so die Rentabilität eines Betriebes gesichert werden kann – womit ich nichts für hire and fire gesagt haben will; es gibt viele denkbare Zwischenlösungen). 

Es gab auch Realisten und zu denen muß man wohl – wiewohl SED-Mitglied – den Herrn Berghofer rechnen. Sein Satz, mit der Öffnung der Grenzen habe man sich an ein sehr starkes Wirtschaftssystem angekoppelt, woraus sich eine ganze Reihe rein tatsächlicher Konsequenzen ergäben, enthält ein ganzes Programm. Auch sein Satz, durch die Berührung mit dem Westen seien völlig neue Qualitätsbedürfnisse entstanden, kann in seinen praktischen Auswirkungen kaum unterschätzt werden. Es ist merkwürdig – man kann mit mehr oder weniger Wohlstand zufrieden sein und weiß Gott, man braucht eigentlich nicht viel. Aber die wenigsten sind mit wenig zufrieden, wenn die Nachbarn viel haben. Frei fühlt man sich erst, wenn man das Wenige selbst gewählt hat und das setzt voraus, daß man die – vielleicht nur abstrakte – Möglichkeit zu mehr hat. Das sind wohl psychologische Tatsachen und bei so engen Nachbarn, wie wir es sind, kann man das nur schwer überkompensieren. 

Ja das sind so meine Gedanken bei diesen aufregenden Diskussionen. lch wünschte, ich könnte dabei sein. Denn obwohl wir hier täglich mit den Problemen konfrontiert werden, die sich aus den Umwälzungen von Drüben ergeben, letztlich sind wir doch nur Zaungäste bei diesen erstaunlichen Ereignissen. 

Übrigens habe ich in der letzten Zeit auf einem ganz anderen Sektor deutsch – deutsche Studien getrieben. Robert Schumann hatte von Leipzig aus, einen hoch interessanten Streit mit einem Stuttgarter Musikschriftsteller und Wirtschafts- kriminellen. Ich werde einen Aufsatz darüber schreiben. Ich schicke ihn Dir, wenn er fertig ist (wird). 

Gruß

Klaus 

 

Berlin, 11. 01. 90

 Lieber Klaus! 

Du bist wirklich ein Fleißiger! Ich schicke Dir hier noch ein paar „alte“ Ansichten, die halbwegs druckreif sind. Viel kommt in dieser Machart nicht mehr, weil die Tagebuch-story mit dem Jahreswechsel zu einem (blutigen) Ende geführt wird – irgendwann muß ich mich schließlich um den Feinschliff und dann vielleicht auch um einen Verlag kümmern. 

Für mich wird es damit zwar mühsamer an Dich zu schreiben (es fällt halt nicht mehr einfach mit ab), aber Du hast dann den Vorteil, daß es sich nunmehr um wirklich authentische Geislersche Ansichten handelt, ohne schriftstellerische Kompromisse. Insofern ist dieser Brief schon ein Vorgeschmack. 

Zur Zweistaatlichkeit kommt demnächst (in alter Manier) noch einiges nach (halbwegs meine Ansicht „damals“ – sofern dieser Begriff für verflossene 4 Wochen angebracht ist). 

Am meisten beschäftigt mich zur Zeit die Rolle der demokratischen Linken in diesem noch bestehenden Land (zu denen ich mich bisher und immer noch zurechne). 

Ich bin inzwischen zunehmend pessimistischer und politisch depressiv. Man kommt sich immer stärker vor wie das kleine Häuflein rückzugdeckender Fanatiker, die bis zuletzt alles einsetzen – nur um den Bonzen und ihren Koffern die Flucht zu erleichtern. Wir Deutschen haben da ja Erfahrung. 

Ich hatte sehr gehofft, daß sich auf dem Sonderparteitag vor Weihnachten die SED spaltet und sich damit dann endlich die marxistische Linke an der Revolution beteiligt. Alles andere war und ist Quatsch, auch der faule Kompromiß mit dem Doppelnamen. Aber nomen est omen. Diese Bindestrich-Partei vereint nach wie vor die Sozialistischen Demokraten und die Betonköpfe. Schnitzler und Geisler im selben Verein! Zum Kotzen!   

Der Anteil der Stalinisten steigt sogar zwangsläufig, denn die Karrieristen – ehemals mindestens eine Million – laufen in Scharen davon (Wozu soll man auch 50 Mark Beitrag zahlen – im Monat/bei 1000 Mark netto – wenn man auch ohne Parteiabzeichen seinen Posten behalten kann, vielleicht sogar sicherer, denn wer traut sich heute jemanden abzusetzen, der gerade aus der Partei ausgetreten ist. So ändern sich die Zeiten) und viele ehrliche Leute haben die SED schon aus Enttäuschung verlassen, aber nur ganz wenige Stalinisten. Diese brauchen um’s Verrecken eine politische Heimat, und wenn es im Untergrund ist, aber ohne (irgendeine) Partei sind sie tot. (Fairerweise sollte man ihnen die auch zugestehen) Deshalb hätte auch eine Auflösung mit anschließender Neugründung, wie einige Naivlinge gefordert haben, überhaupt keinen Sinn. Es ist reine inkonsequente Kinderei, darüber nachzudenken. 

Auch der Hickhack „rein in die Betriebe oder raus aus die Betriebe“ geht in diese Richtung. Etliche fürchten sich ganz einfach vor dem rauhen politischen Leben „draußen“, wo sie keiner kennt, und wollen deshalb in ihren vertrauten, wenn auch inzwischen halbierten, Betriebsparteiorganisationen überwintern. Die Beschlüsse in den Wohngebieten fassen dann die Alten/Rentner (80% Stalinisten), die Mitarbeiter der aufgelösten Stasi und geschleifter Ministerien (90% Stalinisten) und ein paar Weiber im Mütterjahr. 

Das wird ein schöner Wahlkampf werden. Apropos: „Wenn am nächsten Sonntag Wahl wäre“ – ich würde zuhause bleiben. Nicht mal meine (noch!) eigene Partei bekäme meine Stimme. Ein tolles Gefühl. 

Die sogenannte Regierung Modrow macht alles mögliche, aber kaum noch irgendetwas was meinen Beifall findet. Nagelprobe ist die Frage der Bezahlung für die abgesägten Apparatschiks. Die Revolution ist ja wohl kaum gemacht worden, damit solche Leute wie bisher auch in Zukunft das doppelte Geld „verdienen“. Vollkommen logisch, daß gestreikt wird, sobald sich die Einzelheiten herumgesprochen haben. Damit ist aber wahrscheinlich eine Hemmschwelle endgültig überschritten und ich will nicht spekulieren, was sich daraus nun entwickeln kann. Die Gewerkschaft ist mausetot – sie hatte ohnehin nur Ferienplätze zu verteilen und Soligelder zu kassieren – und so läuft alles was läuft außerdem auch noch anarchisch. 

(Scheinbar) zweiter Streitpunkt sind Verfassungsschutz und Abwehr. Von nahem betrachtet geht es aber um das selbe wie bei der Apparatschikbezahlung: Restauration der Verhältnisse – das allein ist schon schlimm genug aber – es soll auch möglichst keinem der alten Kaste wehtun. Also eine Art Maximalprogramm der Konterrevolution. 

Das Gespenst des Faschismus kommt da gerade recht. „Jetzt geht es erst einmal um die Einheit aller demokratischen Kräfte, für Demokratie ist immer noch Zeit“. Ich bin nicht zur Demo „gegen rechts“ am Treptower Ehrenmal marschiert. Ich hatte von Anfang an ein beschissenes Gefühl.  Die Fernseh-Übertragung erinnerte denn auch beklemmend an die gute alte Zeit und Freunde, die dort waren, haben das bestätigt. Und was das Schlimmste ist: Mir bekannte Stalinisten, die bis vor vier Wochen kurz vor dem Selbstmord standen, fühlen sich zunehmend wohler… Ein ziemlich mieses Gefühl, in einer Revolution, die man lange herbeigesehnt hat, auf Seiten der Reaktion zu stehen. Ich weiß nicht, ob Du aus der Ferne verstehen kannst, daß ich bis heute aus dieser Partei noch nicht ausgetreten bin. Aber auch mir fehlte dann ganz einfach die politische Heimat, denn eine Partei des Demokratischen Sozialismus (nicht des Sozialdemokratismus) gibt es eben bis dato noch nicht in diesem Lande und alle in meinem Sinne Gleichgesinnten sind nun einmal noch oder waren bis vor kurzem in dieser nunmehr endgültig hoffnungslosen SED. Kurz: Alles wenig hoffnungsvoll für die Linke. Zunehmend Oberwasser für die Gesamtdeutschen. Mit ziemlichem – und hoffentlich nur zeitweiligem – Pessimismus grüßt Dich und die Deinen ganz herzlich  

Dein Frank

 PS: Das beiliegende „Steinchen“ ist garantiert echt. Eigene Handarbeit – vom Checkpoint Charlie  

Anhang (Tagebuch von Gerhard H.)

Freitag, 24. November 

Ein wunderbares Gefühl: Leben mitten in einer Revolution! Zwar ist da noch immer die Angst vor Mord und Totschlag, aber was um uns passiert, was mit uns passiert, ist einfach wunderbar. 

Die volle Tragweite des Geschehens ist bestimmt erst aus zeitlicher Distanz zu erfassen, aber das Empfinden, eine große Zeit zu durchmessen, Dinge zu erleben, die einmalig und ungeheuer sind, wächst und füllt uns fast aus. Alles private, die kleinen Alltagssorgen, der Abwasch, die ausstehende Renovierung und die Hausaufgaben der Kinder werden ungeheuer nebensächlich. Der Informationshunger beherrscht die Menschen. Lange Schlangen vor den Zeitungskiosken. Man kauft nicht eine Tageszeitung wie früher, sondern zwei, drei, alle, die noch zu haben sind. Die Presse der „Block“parteien ist plötzlich nicht mehr der verzögerte Abklatsch der SED-„Organe“. Es lohnt, sie AUCH zu lesen. Überall stehen andere Meinungen und kontroverse Kommentare, noch vor 6 Wochen eine wahnwitzige Vorstellung. Vor 6 Wochen! 

Die „Aktuelle Kamera“ jahrzehntelang degeneriert zum Hofberichterstatter, ein Tiefpunkt der ohnehin schon miesen Einschaltquoten, sie wird zur gefragtesten Sendung. Man erwägt die Einspeisung in bundesdeutsche Kabelnetze. 

Dazu: Westnachrichten, Sondersendungen, Spätausgaben, Diskussionsrunden, der Rundfunk… irgendwann ist der Punkt erreicht, wo man sich nicht mehr in der Lage fühlt, die dargebotenen Informationen auch abzuziehen und zu verdauen. Viele verzichten schon auf die WESTnachrichten, das ist vielleicht das Allerverrückteste. 

Ungeheuer beeindruckend, wie alltäglich wird, was vor einem Monat noch Sensation war: In der „Berliner“ Tips des Westberliner Polizeipräsidenten für den Besucherverkehr, das „ND“ druckt die Westprogramme und warnt vor Analverkehr, Reporter rücken der „Waldsiedlung Wandlitz“ auf den Pelz. Der Sprecher der „Aktuellen Kamera“ spart kostbare Sendezeit: „Das vollständige Interview mit Egon Krenz sendet die ARD um zwanzig Uhr fünfzehn.“. Günter Mittag aus der Partei ausgeschlossen, gegen Honecker ein Verfahren eröffnet, Kreissekretäre erschießen sich. Das Neue Forum und „Demokratie Jetzt“ rufen in der Zeitung zum Kampf gegen den Ostmarkschmuggel auf, UNSERE Sozialdemokraten sprechen vor der Sozialistischen Internationale. Alle reden von Verfassungsänderungen, freien Wahlen… Die Alltäglichkeit der Sensationen – Merkmal der Revolution. 

Richtig faßbar aber wird das Unfaßbare allein auf dem Ku’Damm. Vielleicht ziehen vor allem deshalb die Millionen jede Woche gen Westen.Vielleicht geht es gar nicht um die 100 D-Mark, Bananen und Kassettenrecorder. Vielleicht ist sie nur im Westen so richtig zu greifen, die neue Freiheit, UNSERE Freiheit, goldene Frucht der Revolution – und bisher auch so ziemlich die einzige. Alles andere könnte ein Trick sein: Sonntagsgespräche, abgebaute Stasi, abgelöste Funktionäre, offene Presse, versprochene Wahlen… Die Freiheit des Reisens jedoch, die ist greifbar, erlebbar, die ist wirklich, heute schon, jetzt, unumkehrbar. Was tut es da schon, daß wir als arme Jacken über den Ku’Damm bummeln, daß uns nicht alles gefällt, Berührungsängste hochkommen. Wir haben sie, DIESE Freiheit. Und drängelnd zwischen KaDeWe und Gedächtniskirche scheint es einfach undenkbar, sie könnte uns wieder genommen werden. Schwer vorstellbar, der Stalinismus könnte wieder erblühen in einem Land frei reisender Bürger. Wohl deshalb haben die einen so eifrig ihre Grenze befestigt, und die anderen so verbissen versucht, sie zu überwinden. Nun ist sie überwunden und nur die Aufhebung der Leibeigenschaft mag in den Menschen ähnliche Gefühle erzeugt haben. Und siehe da: Die vielbeschworene Katastrophe blieb aus. Die Anarchie herrschte nur eine Nacht lang, hunderttausende schwänzten die Arbeit – einen Tag lang. Einen weiteren schwätzten sie noch darüber und am dritten werkelte alles fast braver als zuvor. Ein Schaden sicher, aber kaum größer als ihn zwei, drei Jubelfeiern anrichten. Ein Gefühl, als hätten Eingeborene einen Tabustrich überschritten: Kein Blitz, kein donnerndes Strafgericht, keine Heuschreckenplage und kein blutiger Regen. Nur eine verstörte Priesterschar, die das Geschehen selbst nicht mehr begreift. 

Auch ein Charakteristikum der Revolution: Die totale Umberwertung der Wichtigkeiten. Wieviel zittrige Unterschriften ängstlicher Beamter brauchte es noch im Sommer, wollte ein einziger Betrieb einen einzigen Mitarbeiter für eine einzige Sekunde einen einzigen Schritt hinter den Eisernen Vorhang entsenden. Wieviele Beurteilungen mußten eingeholt, wieviele Nachbarn befragt, Führungszeugnisse gelesen, Vorschriften beachtet, Lehrgänge besucht, Unterweisungen durchgeführt, dokumentiert, paraphiert werden. Und wehe ihnen allen, wenn sich herausstellte, die verleugnete Tante aus Wuppertal hatte doch eine Osterkarte geschickt. 

Wen interessiert das heute noch, 6 Wochen später?  

Wieviel zittrige Unterschriften ängstlicher Beamter brauchte es noch Anfang Oktober, wollte ein ausländischer Sender in Limbach-Oberfrohna einen Fußgänger befragen. Wie schlechthin unvermeidlich war der Samstag-Unterricht. Wie unverzichtbar waren unsere Sperrgebiete, unsere Grenzzonen, Truppenübungsplätze. Wie kostbar war uns jeder einzelne Soldat. Ohne IHN hätten wir ihn niemals aufgehalten, den Ansturm der Bundeswehr durch das Brandenburger Tor. Wie hätte uns der Gegner fertiggemacht, hätte man nicht wachsam jedes Paket kontrolliert, jeden Brief überwacht, jedes Westtelefonat aufgezeichnet. Wie blaß hätte die Wirtschaft ausgesehen ohne Verschlußsachen, Wettbewerbe, Selbstverpflichtungen, Max- und Moritz-Messen, Jugendobjekte, und Traditionsecken, ohne „Schulen der sozialistischen Arbeit“, ohne Frauentagsfeiern, Aktivistennadeln, Wandzeitungen. Wie wären wir zusammengebrochen, hätte jeder Plebs auf der Straße seine Transparente aufstellen können. 

Keine 2 Monate ist das her. Wen aber interessiert das heute noch? Heute ist alles anders. Neue Wichtigkeiten, neue Verhältnisse, ein neues Land, neue Menschen. Neue Menschen?

 

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Briefe aus der Wendezeit – Teil 1

Klaus Heitmann

und

Frank Geisler

DoppeltDeutsche

Wende-Briefe

Expeditionen über

die Reste der Mauer

1989 – 1999

Vorwort

Der vorliegende Original-Briefwechsel ist eine Folge des Falls der unseligen Mauer, welche Deutschland einst in zwei Teile zerriß. Seine Protagonisten lernten sich im Jahre 1985 während eines Familienurlaubs in Ungarn kennen, wo Deutsche aus Ost und West seinerzeit am ehesten Kontakt zueiander fanden. Aufgewachsen im jeweils anderen Teil des Landes und ohne Beziehungen über die Grenze stellten wir schon damals ein außerordentliches Bedürfnis nach Information und Meinungsaustausch fest, das wir in tagelangen Diskussionen am Strand des Plattensees zu befriedigen versuchten. Nach dem Urlaub trennte uns die Mauer wieder und – bedingt durch den jeweiligen Beruf – hielten wir den Kontakt in den folgenden vier Jahren nur lose und auf verdeckten Wegen aufrecht. Nachdem der Damm, der unsere Welten schied, gebrochen war, ergoß sich unser hoch aufgestautes Mitteilungsbedürfnis dann aber in Form einer wahren Briefflut über die unsägliche Demarkationslinie. Das Ziel, dieselbe endgültig wegzuspülen, war allerdings nicht so leicht zu erreichen, wie wir und andere anfangs gemeint hatten.

Stuttgart, 4.11.1989

Liebe Marianne, lieber Frank,

am Abend dieses „historischen Tages“ greife ich zur Feder und frage Euch wie Ihr die „Ereignisse“ seht, die uns (und Euch) nun täglich überschwemmen. Der Fernseher, insbesondere wenn er direkt an das DDR-Fernsehen angeschlossen ist, ist zur Zeit das Aufregendste, was man sich vorstellen kann. Wer hätte das gedacht, daß wir uns einmal darüber ärgern würden, Eure Kanäle nicht direkt empfangen zu können. Wir fühlen uns fast wie in Dresden. Nachdem ja nun jeder DDR-Bürger den „Westen“ wird besuchen können, hoffen wir doch sehr, Euch in nicht allzu weiter Ferne hier empfangen zu können. Es wird doch hoffentlich keine Einschränkungen der bisher praktizierten Art geben – von wegen Beruf etc?

Was in unseren Köpfen vorgeht angesichts der täglich sich überschlagenden Nachrichten, kann ich hier nur andeuten. Neben der Faszination über eine möglicherweise erfolgreiche deutsche Revolution, tun sich täglich neue Fragen auf, die uns zunehmend mehr aus der Rolle des Betrachters in die des direkt Betroffenen führen. Auch unser „Weltbild“ verschiebt sich, verdrängt bisherige Positionen und Probleme und lässt neue auftauchen, die z.T. die abgelegten alten sind. Fast könnte einen schwindelig werden.

Wir hoffen, bald von Euch zu hören – oder Euch zu sehen!

Alles Gute!

Klaus

 

 

Stuttgart, 4.11.1989

Lieber Frank,

nachdem ich soeben den Brief an Euch beide fertiggestellt habe, überfällt mich eine Idee, die ich Dir schnell mitteilen will, bevor mich wieder unabsehbare Trägheit daniederstreckt. Wir werden z.Zt. Zeugen unerhörter historischer Ereignisse. Aber wie so vieles wird auch dies an uns vorbeigehen und schon nach kurzer Zeit werden wir uns fragen, wie und was eigentlich alles geschehen ist, vor allem aber, was dabei in uns vorgegangen ist. Erfahrungsgemäß sind solche Rekonstruktionen mühsam und kaum mehr authentisch. Vieles wird miteinander vermischt und man neigt dazu, die Dinge vom Ergebnis her zu beurteilen. Jetzt aber sind wir noch mitten in den Ereignissen. Ich überlege mir daher, ob man nicht ihre Widerspiegelung in unseren Gedanken und Erlebnissen festhalten könnte. Natürlich könnte man ein Tagebuch schreiben. Aber ich stelle mir vor, daß ein deutsch – deutscher Briefwechsel aus der Nahperspektive noch viel interessanter wäre. Ich trete daher mit dem angesichts meiner bisherigen Schreibfaulheit sicherlich erstaunlichen Vorschlag an Dich heran, unsere (d.h. natürlich insbesondere meine) Schreibfrequenz erheblich zu dem genannten Zweck zu erhöhen. Natürlich muß man die Dinge nicht gleich übertreiben; eine „vollständige“ Erfassung der Ereignisse kann nicht das Ziel sein, eher ein Plaudern aus dem Nähkästchen. Anfangen könnte man z.B. mit den Reaktionen innerhalb der Familie. Wie erleben z.B. Deine Kinder das, was sich zur Zeit in Berlin oder im Fernsehen bei Euch abspielt? Was sagen sie dazu, daß möglicherweise auch Kinder aus ihrem Umkreis das Land verlassen? Unsere Kinder verfolgen die Dinge nicht zuletzt deswegen mit großen Interesse, weil sie durch Euch einen Kristallisationspunkt haben, an dem sie vieles, was sonst für sie abstrakt bliebe, festmachen können. Ich versuche Ihnen das Unerhörte der Situation klarzumachen, womit ich das politische Phänomen einer Revolution ohne Gewalt meine, die riesige Entfernungen in lauter kleinen Schritten zurücklegt.

Aber ich will .jetzt noch nicht allzu sehr loslegen und ohnehin soll das ja nicht in Arbeit ausarten.

Eine erhebliche Erleichterung wäre es natürlich, wenn man mit Dir direkt korrespondieren könnte. Ist die Wende schon so weit, daß dies möglich ist?

Für heute soll es genügen – bis bald.

Berlin 19.11.1989

Liebe Judy, lieber Klaus!

Das bisher beeindruckendste an unserer Revolution ist die erwachende Schreibwut von Klaus. Hoffentlich weiß er, worauf er sich eingelassen hat. Mit dem deutsch – deutschen Briefwechsel kommt ihr mir nämlich gerade recht und ich bin in der glücklichen Lage, Euch ohne großen Aufwand sofort eine Menge Gedanken zuwerfen zu können.

Weil: Ich schreibe ein Buch über diese wilde Zeit (Allerdings habe ich arge Bedenken, ob die Auflage jemals über ein Exemplar hinauskommen wird). Der Titel ungefähr (nagelt mich bitte nicht fest darauf), er ist sowieso noch zu lang): „Vater – Sohn – Oktoberland /2 Tagebücher, die Zeitung und ein langer Brief“.

Der Vater verkörpert die altstalinistische Linie, der Sohn den Reformflügel, dazu Auszüge aus den Zeitungsmeldungen und: – quasi als gesamtdeutsches Element – ein geflüchteter Bruder, der sich in Briefen aus dem Westen zu Wort meldet.

Allerdings wusste ich bisher noch nicht, wie ich diesen Bruder simulieren sollte. In einen Altstalinisten kann ich mich zwar recht ordentlich hineinversetzen (ich verschone Euch allerdings mit seinen Sentenzen). Über die westdeutsche Betrachtungs- und Denkweise bin ich mir dagegen so recht nicht im Klaren, und während ich noch überlege, wie ich das anstellen soll, kommt Euer Brief.

Lieber Klaus! Schreibe also bald und möglichst ausführlich. Wenn Du gestattest verwende ich Deine Passagen (allerdings umgeschrieben und mit den fürs Buch notwendigen „familien-internen“ Ergänzungen – schließlich bist Du ja mein Bruder (im Buch!).

Damit ist sicher klar, dass der linke Reformer maßgebliche Züge von mir selbst hat. Deshalb bin ich ja auch in der Lage, schon einige fertige Passagen, quasi als Vorabdruck zu übersenden.

(Die neue Technik hat auch in unsere Betriebe inzwischen Einzug gehalten, leider noch nicht in unsere Haushalte. Ich schreibe deshalb auf „meinem“ Computer auf der Arbeit nach Feierabend immer noch ein bisschen das auf, was ich am Abend zuvor als Manuskript verbrochen habe. Daher ist es einfach, es für Euch noch zusätzlich zu drucken).

Noch eine Bemerkung – oder zwei:

Wegen der angestrebten Buchform ist nicht alles ganz authentisch, was mich persönlich betrifft, aber doch so weit, dass es meine Ansichten im Prinzip entspricht: Namen sind ausgetauscht (meine Frau heißt übrigens nicht Marianne, sondern weniger französisch Marietta (im Buch Claudia). Alle sagen aber Paula zu ihr.

Zweitens: Es ist erst die Rohfassung, noch etwas arm an poetischer Substanz (muß irgendwann noch mal gründlich überarbeitet werden und ist deshalb drittens auch in Rechtschreibung und Umbruch noch falsch und primitiv. Vielleicht aber trotzdem schon recht interessant für Euch.

Im übrigen danken wir herzlich für Eure Einladung. Wir werden sie sicher irgendwann einmal annehmen, aber: vielleicht kommt ihr doch erst einmal zu uns. Erstens ist es hier z.Zt. sicher interessanter und zweitens sind wir immer noch Fußgänger.

Wir sind übrigens tatsächlich umgezogen und wohnen nicht mehr in R. , sondern am Alexanderplatz (eine Skizze lege ich bei – bitte Pfeil beachten). Die exakte Adresse ist: XXX

Viele Grüsse. Bis bald /Eure Geislers

P.S. Eben kam Euer Paket. Heißen Dank. Ihr habt Euch in Unkosten gestürzt und wir haben zum ersten Mal in unserem Leben eine Kokosnuß gegessen.

Anhang (Tagebuch von Gerhard H.)

Freitag, 1. September

Flughafen Budapest- Ferihegy. Urlaubsende, Rückflug. Der abschließende Höhepunkt eines herrlichen Urlaubs hatte es werden sollen. Dafür haben wir tief in die schlechtgefüllte Tasche gegriffen. Zweifellos ist es auch ein kleiner Höhepunkt. Vor allem für die Kinder. Ihr erster Flug. Sie sind fürchterlich aufgeregt, begeistert von den verstellbaren Sitzen, den Gurten, dem Asiettenessen, dem Blick aus dem Fenster. Natürlich „müssen“ sie unbedingt auch auf´s Klo…

Es ist schön, sie zu beobachten und die welterfahrenen Eltern zu mimen. (Dabei haben wir ihnen gerade mal 4 Flüge voraus – zusammen.) Eine glückliche Familie auf dem Heimweg aus südlicher Sonne. Eiapopeia.

Von wegen! Wir zwei Alten haben ein sehr flaues Gefühl. Vielleicht ist dies für viele Jahre der letzte Flug überhaupt. Wohin würden sie unsereinen noch fliegen lassen, wenn es demnächst kein Land mehr gab, das noch bereit war, DDR-Touristen zu bewachen?

Und wie verrückt sind wir eigentlich, die Hälfte unserer mageren Ersparnisse auszugeben, um möglichst komfortabel in diesen Käfig zurückzukehren?

Es war schwer, sich nicht verrückt machen zu lassen. Praktisch gab es am Balaton zwei Wochen lang nur ein Thema, DAS THEMA dieses Sommers. Kaum vorstellbar, daß von den Ungarn-Urlaubern des Jahrgangs ’89 jemand nicht DARÜBER nachgedacht hätte. Tausende sind bereits weg. Gerade von Ungarn aus soll es inzwischen fast ein Kinderspiel sein. Oder besser: Ein Spiel für Erwachsene: „Kriegst Du mich, oder schnall‘ ich Dich.“

Täglich wird es leichter. Der Stacheldraht ist abgebaut, die Grenze nach Österreich wird nur noch locker bewacht und das schönste: Die Ungarn weisen inzwischen keinen mehr aus, den sie erwischen. Es gibt nicht mal mehr eine Eintragung in den Ausweis, und selbst wenn:

Wer fürchtet sich schon vor einem Stempelchen, da sind wir doch ganz andere Kaliber gewöhnt, Kaliber sieben-zwoundsechzig, Kalaschnikow. Und selbst wenn sie einen ausweisen: Auf dem Weg nach Hause kommt man an mindestens zwei bundesdeutschen Vertretungen vorbei. Was sollte uns also abhalten, durch die Maisfelder zu krabbeln? Wer ganz sicher gehen will, kann sich einen ungarischen Führer mieten – die sind ja sooo nett hier, die Leute! 5000 DM Schulden sind ein Klacks, wenn man als Studierter drüben einigermaßen Fuß faßt. (Und wer daran nicht glaubt, bleibt sowieso doheeme.)

Seit kurzem ist es nun ganz einfach: Sie richten Lager ein, sogar am Balaton. Man setzt sich hinein, wartet in der warmen Herbstsonne ein paar Wochen, und hoppla – ab in den goldenen Westen. Denken sie jedenfalls.

Und wenn nicht? Niemand weiß, wie sich die Verhältnisse zu Hause entwickeln. Alles ist so stur geworden, so ungeheuer erstarrt. Gerade in diesem Jahr spürte man förmlich, wie der ideologische Beton endgültig hart wurde. Die Greise kämpfen bis zum letzten Atemzug um ihre verdammten Sessel. Längst haben sie abgewirtschaftet.

Fünf vor zwölf. Vergleiche drängen sich auf, die den alten Kommunisten sehr wehtun würden… Ja, es sind ja wirklich meist alte Kommunisten, KZ-Häftlinge, Spanienkämpfer, die berühmten „Aktivisten der ersten Stunde“. Aber jetzt sind sie dabei, in kurzer Zeit alles einzureißen, was sie selbst in den vielen Jahren aufgebaut haben.

Sie haben sich so ungeheuer von ihrem Volk gelöst, es ist fast nicht zu glauben.

Wahrscheinlich verachten sie dieses Volk ganz einfach – und umgekehrt. „Sozialistische Demokratie“ – ein edles Ziel, verkommen zur hohlen Phrase. Unsere Bonzen sind längst nicht mehr demokratiefähig, vielleicht sind sie es nie gewesen.

Und dabei sind wir alle irgendwann einmal mit viel Elan angetreten, um eine Gesellschaft zu schaffen, in der Gerechtigkeit und die Wohlfahrt des ganzen Volkes…

Was haben wir statt dessen? Irgendeine Spielart des Feudalismus. Adel, Klerus – der Hohe selbstverständlich, aber auch die Bettelmönche -, Gott, die Heilige Schrift, Leibeigenschaft, Zölibat – alles ist da, heißt nur ein wenig anders: Die führenden Genossen, Partei, Lenin, seine gesammelten Werke, Mauer, Parteidisziplin…

Das System ist in dieser Form seit mindestens 20 Jahren überlebt. Jetzt werden die Produktivkräfte ein Machtwort sprechen, sollte man denken. Noch aber scheint es längst nicht so weit. Die Hauptproduktivkraft türmt durch die Maisfelder, der Rest verrottet in den Fabriken. Schade um unseren Sozialismus.

Die Ungarn jedenfalls haben ihn abgemeldet. Es fällt heute schwer, für dieses Volk noch die alten Sympathien zu hegen. Vorbei die Zeit des Gulaschkommunismus, die Hoffnung auf die Verbindung von Freiheit und sozialer Gerechtigkeit. Die Partei zerfällt, dem großen roten Stern auf dem Budapester Parlamentsgebäude haben sie den Strom abgedreht, das Staatswappen mit seinem kleinen roten Stern ist gleich komplett heraus aus der Fahne – in allen Formen und Größen wird das alte Königswappen feilgeboten, die Soldaten sprechen sich mit „Kamerad“ an, an den Schulen soll der Religionsunterricht eingeführt werden, das Befreiungsdenkmal für die Sowjetarmee auf dem Gellertberg braucht Polizeischutz…

Alles wenig begeisternd, aber beeindruckend in seinem Tempo. Sie scheinen sich gleichsam zu überschlagen, um dem Westen auf den Schoß zu springen. Hoppla, da sind wir. 30 Milliarden Auslandsschulden, Dollar versteht sich. „Nu, wos soll do scho werdn, die werdn se uns erlossn missn“ meinte ein Stadtführer, und dann erzählte er „Ulbrichtwitze“. Er war schon ziemlich alt.

Verkauf des Vaterlandes ums Fressen. Die Fleischtöpfe der Janitscharen locken. Es gibt kein Konzept für die Zukunft in Ungarn. Aber wir haben inzwischen unsere eigenen Sorgen. Das langweiligste Land Europas rührt sich. „Heimatland reck‘ Deine Glieder…“ Es fallen einem immer die unpassenden Lieder ein, und zur unpassenden Zeit. Die Zeiten jedenfalls sind nicht besser geworden, aber spannender.

Wir fliegen nach Hause. Auf dem Campingplatz haben uns einige schlicht für blöd erklärt, meinten, so eine Chance käme nie wieder. Wer nächstes Jahr rüber wolle… so billig jedenfalls nicht mehr. Wir werden sehen, wer recht behält, vielleicht keiner. Aber kann es verkehrt sein, in die Heimat zurückzukehren? Sehr sicher sind wir uns jedenfalls nicht (mehr). Vielleicht gibt es zu Hause schon bald Mord und Totschlag. Die Kinder, die sich so auf ihren ersten Flug freuten. Vielleicht werfen gerade sie einem einst vor, heute hier abgeflogen zu sein. Andererseits ist es schwer vorstellbar, daß an einer so neuralgischen Stelle…

Abschied von Ungarn. Fast sind wir sicher, dieses Land so bald nicht mehr wiederzusehen.

(Tagebuch von Gerhard H.)

Samstag, 4. November

Und samstags zur Demo – zuerst mit gemischten Gefühlen. Ein Kollege hatte mich überredet. Versprochen ist versprochen und irgendwie hing mir meine eigene Passivität auch langsam zum Halse raus. Die „Wende“ war jetzt über 2 Wochen alt und ich saß immer noch vor dem Fernseher, saugte gierig alle Neuigkeiten in mich hinein – und wartete. Worauf eigentlich? Wohl darauf, daß mich der Genosse Krenz einlud, bei seinem gigantischen Reformgebäude mitzutun.

Den Wehrersatzdienst und das Verfassungsgericht konnte Krenz aber zweifellos auch ohne den kleinen Genossen H. einrichten und bei den Gesprächen mit Gorbi und Jaruzelski wäre ich ebenfalls nicht besonders nützlich gewesen. Er braucht vorläufig keine Helfer, wie es scheint, jedenfalls keine an der Basis. Da lief bisher auch noch wenig, oder sagen wir es ehrlicher (und resigniert): Da lief noch gar nichts. Viele scheinen nicht böse darüber, hoffen, die Revolution aussitzen zu können. Andere wollen verändern – und verlangen dringend nach Direktiven, möchten, daß man ihnen Werkzeug und Baustelle zuweist (und, verdammt, ich muß es zugeben: Zu denen gehöre ich auch.)

Aber soweit unten soll wohl gar nicht gebaut werden. Kein gigantisches Reformgebäude, nur ein neues Dach. Und das bauen die Bewohner der oberen Etagen ganz allein. (Weiß der Teufel, warum sie nicht begreifen, daß inzwischen das Fundament am zerbröseln ist.)

Ganz so weit oben hatte ich mir die ersehnte Revolution von oben eigentlich nicht vorgestellt. Also zur Demo.

Aber wozu laufe ich hier mit? Sicher nicht wegen der beiden Verfassungsparagraphen. Wegen der Losungen? Die Transparente sind frech, geistreich, vor allem frech.

Wenn man zwei Dutzend gelesen hat wird klar: Hier sind sich alle nur einig in der Ablehnung des Vergangenen. Die Zukunft ist offen, scheint sogar ziemlich egal, jeder Teilnehmer denkt sich seine eigene. Man toleriert sich. Heute. Heute noch?

Wieviele mögen es sein? 200 000 bestimmt, vielleicht gar eine halbe Million. Oder noch mehr? Kopf an Kopf. Wir stehen noch am Pressecafe, da füllen die ersten schon den Alex (und dabei geht der Zug nicht gerade hinüber, sondern nimmt den Umweg über den Marx-Engels-Platz). Es geht kaum voran. Den Versuch, nicht gerade unter einer völlig unmöglichen Losung zu stehen, gibt man bald auf. Über mir ist jetzt „Stasi in die Produktion – für normalen Durchschnittslohn!“, dicht dabei zwei Knirpse, die „Für besseres Schulessen“ den Unterricht schwänzen. Das geht noch. Am Rand: „Hare Krishna singen für Religionsfreiheit“. Sie singen gut, verbreiten ein wenig Woodstock-Athmosphäre, die Luft von ’68. Paris, L.A., Prag. Prag!?

Happeningstimmung. Jemand versucht Trompete zu spielen. „We shall overcome“. Er spielt scheußlich, aber alle Strophen. Clowns in der Menge. Einer mimt Stasi, klettert auf einen Mast, zeigt von dort aus mit ausgestrecktem Arm auf Demonstranten, „befiehlt“ sie zu sich. Ein anderer agiert als Polit(büro)greis. Die schönste Szene am Staatsratsgebäude: Ordner spielen „Ehrentribüne“, parodieren Honeckers 1. Mai.

Die Leute amüsieren sich. Die leichte Spannung, die am Anfang über allem lag, weicht heiterer Gelassenheit. Wir schaffen es. Diesmal wirklich: WIR. Endlich eine Demo, mit der man sich identifizieren kann. Viele Freunde, verstreut in der Menge. Wir begrüßen uns, verlieren uns wieder.

Aber: Hier sind wir richtig! Ich bin dabei, einig mit allen hier, die wir eine neue DDR wollen.

Auf dem Alex zeigt sich: Nicht alle wollen eine neue DDR. Pfeifkonzerte für Wolf und Schabowski, Beifall für die Opposition. Beklatscht oder ausgebuht wird das Etikett, wenige hören wirklich zu.

Sieht so die Demokratie aus, die Toleranz, für die wir doch hier demonstrieren? Oder ist es in dieser Phase normal, ein Überschwinger, verständlich nach 60 Jahren Frust?

Ich weiß es nicht, aber irgendwie fühle ich mich zunehmend unwohl. Ich bin plötzlich allein, Fremde ringsumher. Ich habe Angst zu klatschen wenn sie neben mir pfeifen und umgekehrt sowieso. (Außerdem pfeife ich nicht besonders gut.) Schöne Meinungsfreiheit! Wieder die Zweifel. Reicht es, gemeinsam GEGEN etwas zu sein? SOLCHE Gemeinsamkeiten hatten wir mit den Alten auch – und solche Ängste voreinander…

Die Bürger singt. Das „Lied eines Gefangenen an den Genossen Stalin“. Ich höre es zum ersten Mal und ich muß heulen. Ein großer Kerl – 6 Fuß, 90 Kilo – und heult! Und niemand ringsherum findet etwas dabei. Gefühle.

Es ist eine Zeit der Gefühle. Nach so vielen Jahren der sarkastischen Nischen, des Zynismus und der spöttelnden Winkel. Wir stehen da und heulen. Und staunen über uns.

(Tagebuch von Gerhard H.)

Freitag, 10. November

Die Grenze ist auf! Nach mehr als 28 Jahren kann jeder in den Westen.

Unbeschreiblicher Jubel – und mir ist zum ersten Mal in dieser Revolution Angst um unseren Sozialismus. Im Frühstücksfernsehen von RIAS-TV zeigten sie Bilder vom Grenzübergang Bornholmer Straße, gefilmt aus Richtung Osten, offenbar irgendwann in den Abendstunden: Eine dichte Traube vor der Absperrung skandierte „Tor auf, Tor auf!“ Und die Grenzer öffneten wirklich, ein Menschenstrom flutete jubelnd in den schmalen Gang zwischen den Kontrollbaracken. Plötzlich steigerte sich das Geschrei. Man mußte sehr genau hinsehen, aber es war trotz der Dunkelheit deutlich erkennbar: Sie holten unsere Fahne vom Mast!

Sicher nur einer oder wenige, die da handelten, aber der Beifall der sich erhob, war allgemein. Das sind nicht mehr die disziplinierten Intellektuellen vom Sonnabend, deren Auftreten Stefan Heym gestern mit der Kanonade von Valmy verglich. (Sich selbst empfand er offenbar ein wenig als Goethe, sein Selbstbewußtsein war jedenfalls danach: „Ich bin überhaupt der einzige Vertreter des sozialistischen Realismus gewesen, denn die anderen waren keine Realisten“ Ziemlich unbescheiden, aber natürlich hat er da recht, der Gute. Es ist fast unmöglich, ihm in diesen Tagen etwas übel zu nehmen.)

Was an der Bornholmer unsere Fahne herunterholte, war der Pöbel a la Dresden-Hauptbahnhof. Unfähig zur Analyse, unwillig zur Mitarbeit. Die rasen jedem hinterher, der ihnen eine Banane unters Maul hält, wenns sein muß, auch in den größten Dreck. Wie die Geisteskranken. Wenn in den nächsten Tagen kein Blut fließt, hat dieses kleine Land doch irgendwo einen Schutzengel – und die Oberen haben ein Volk, dessen Disziplin sie einfach nicht verdienen.

Sie selbst jedenfalls sind wiederum nicht Herr der Lage. Man hört nicht auf sie, begreifen sie es denn immer noch nicht?

Gestern abend vor dem Fernsehgerät. Pressekonferenz. Wieder mal. Schabowski steht Rede und Antwort, macht seine Sache nicht schlecht, verliest plötzlich irgendeinen nachgereichten Zettel: Der Ministerratsbeschluß zur ständigen Ausreise (armes Land, in dem ein zurückgetretenes Gremium solche brisanten Beschlüsse faßt /fassen kann /fassen muß!) Ich begriff zuerst gar nichts. Ist die Grenze nun auf oder nicht? Und vor allem: Für wen? Im Laufe der Nacht wurde erschreckend klar, daß die Verfasser dieser „Regelung“ sich um genau diese Frage herumgedrückt hatten. Dementsprechend war die Situation. „Die Nacht der offenen Grenze“ hieß die Fernsehsendung heute morgen. Mit Recht, wie es aussieht. Es gab praktisch keine Kontrollen mehr. Anarchie an der Mauer. Der Zustand vor dem 13. August. Heute früh um 8.00 sollte dann aber alles in geordneten Bahnen laufen – meinten „die zuständigen Stellen“. Pustekuchen! Neue Parole: Bis Sonntag nacht alles offen. Wahnsinn, die Leute nun auch noch unter Zeitdruck zu setzen!

Im Betrieb deutliche Anzeichen von Massenpsychose, jedenfalls soweit Intellektuelle dazu fähig sind. Gleich früh Anrufe: „Mensch, komm doch mit. Wir gehen alle. Bloß mal gucken.“ Und die 100 Piepen abholen, natürlich. Kaum einer wird an diesem Tag gearbeitet haben. Wer nicht rüber fuhr, diskutierte. Eine Art Generalstreik aus Versehen. Abends brachte das Fernsehen Bilder von ganzen Brigaden, die offenbar noch am Vormittag gleich aus der Werkhalle ausgebüxt waren, ungewaschen, in Arbeitskleidung, alle sehr glücklich.

Was muß dieses Volk für einen Hunger nach Freizügigkeit gehabt haben! Bilder vom nächtlichen Ku‘-Damm: Volksfeststimmung, zusammengebrochener Verkehr, Begeisterung und viel gesamtdeutsche Gefühlsduselei, die Angst macht, und schlimmer: Tausende Westberliner, die am Brandenburger Tor auf der Mauer sitzen, Hammer und Meißel schwingen. „Mauer weg!“ Eine dünne Kette Grenzer davor, um Gelassenheit bemüht. Man möchte beten.

Die meisten Ostberliner haben heute jedoch anderes im Sinn. Niemandem ist nach beten zumute, und schon gar nicht für den Weltfrieden. (Aber ein Dankgebet werden etliche heute nacht wohl gesprochen haben.)

„Schnell mal rüber!“ ist die Parole dieses Tages. So schnell geht’s denn allerdings doch nicht, aber im Anstehen ist dieses Volk ja ohnehin Spitze. Am eifrigsten scheinen plötzlich die sonst ach so Roten. Der Opportunismus zeigt seine häßliche Fratze, aber im Überschwang der Gefühle schaut niemand hin. Der Nachbar vis a vis, der abends sonst kaum das Haus verläßt, schleicht sich fast aus der Tür, Anorack, Schirm, die Frau neben sich, ein verlegener Gruß. Er soll bei der Staatssicherheit sein, heißt es. Die dürfen noch nicht, die „Angehörigen“: Grüne, Dunkelblaue, Feldgraue aller Waffenfarben, Staatsapparat, Parteifunktionäre, Geheimnisträger… Was haben sie jahrzehntelang großmäulig verzichtet auf die Trauben, die zu hoch hingen!

Aber wer fragt schon danach an der Grenze, heute, morgen, letzte Nacht. Montag allerdings kann es schon zu spät sein. So lobpreisen sie denn die Anarchie dieser Tage. Peinlich nur, wenn die Vorgesetzten sich später die Ausweise vornehmen. Zwar ist heute noch kein Visum nötig, aber kaum einer entgeht dem verräterischen Ausreisestempel. Da hätte er gestern nicht so zeitig ins Bett gehen dürfen. Vielleicht sind zweimal hundert WEST aber auch den Anpfiff wert. Immerhin ein Monatsgehalt zum laufenden eins-zu-zehn-Kurs – für einen Kantenlatscher der Stasi jedenfalls, für einen zivilen Ingenieur gleich zwei.

Woher nehmen die bloß diese Summen drüben? Wenn bis Jahresende 10 Millionen… sicher nicht zu viel gerechnet. Eine Milliarde müssen sie dann mindestens locker machen! Nicht schlecht, Herr Specht. Aber auch unsere marode Wirtschaft wird an den lächerlichen 15 Mark pro Nase fast zugrunde gehen. 150 Millionen Devisen! Was nützt es da, wenn sie die gleiche Summe Ostmark dabei einspielen. Da sowieso keine Warendecke dahintersteht, kann die Staatsbank das eingetauschte Spielgeld gleich in den Ofen schieben. Ein volles Jahreseinkommen liegt auf der Kasse in diesem Staat, gar nicht zu reden von den Bargeldsummen, die die Leute im Strumpf haben.

Mit einem gewöhnlichen Taschenrechner konnte man sich diese Zahlen zusammenbasteln, selbst aus den frisierten Daten des offiziellen statistischen Jahrbuches. Wer Augen hatte, zu sehen, Ohren zu hören… Soll mir keiner sagen, er hätte nichts gewußt! Gerade das scheint aber eine Disziplin zu werden, die sich heutzutage vom Volkssport zum Funktionärssport mausert:

Da stellt sich doch gestern im Großen Haus ein Parteisekretär ans Mikrofon – 13 Jahre ZK – und flennt, er habe keine Ahnung von unserer Wirtschaftsmisere gehabt. Man hätte ihn betrogen, 13 Jahre lang. Und von irgendwelchen Privilegien hätte er noch viel weniger geahnt. In einem Sondergeschäft sei er nie gewesen, sein Herzblut hätte er stattdessen vergossen, die Intellektuellen auf der Straße würden ihn beunruhigen, und zu denken gäbe ihm, daß zur Zeit niemand mehr über die Auslastung der Arbeitszeit spricht.

Das ist alles so vollkommen blödsinnig, daß man kaum darüber schreiben möchte. Sowas sitzt also seit ’76 im ZK, will über unsere Zukunft entscheiden, und plärrt, plärrt um die eigene Haut. Wahrscheinlich haben seine Kumpels die Fäuste geschüttelt, und da hat der Herr in die Hosen gemacht, faselt von Verleumdung der Partei, und beklagt sich über die Presse. Widerlich! Hat er sie wirklich nie gesehen, die Häuser der Bonzen? Wo hat er denn gewohnt, ? Iim Bergwerk? Kein Sondergeschäft je gesehen? Nicht mal im ZK? Vielleicht denkt er, ein Sondergeschäft wäre an der Oben-ohne-Bedienung erkenntlich, oder wie? Ist gut, ich rege mich ab. Solche Schleimer sind es nicht wert.

Tagebuch von Gerhard H.)

Sonntag, 12. November

Heute nun doch rüber, in der Hoffnung, dem ersten Ansturm entgangen zu sein, und dennoch einiges von der besonderen Stimmung dieses historischen Wochenendes einzufangen.

U-Bahnhof Jannowitzbrücke. Wer von meiner Generation kann sich schon an diesen Ort erinnern? Eine lange Schlange steht geordnet, wird geordnet von Transportpolizisten, erwartungsvolle Stimmung ringsherum, zügiges Vorrücken. Der Tunneleingang, Treppe, VP, Grenzer, alles provisorisch, trotzdem freundlich, entspannt. „Visa links, bitte!“ Wer keines hat, erhält in Sekundenschnelle seinen Stempel. Meine Sorgen im Hinblick auf den Montagmorgen schwinden ein wenig. Vielleicht bekommen sie es doch in den Griff. Es ist imponierend, wie schnell selbst die Synonyme der Bürokratie – VP, Zoll, Grenzkontrolleure – plötzlich zu handeln in der Lage sind – kaum daß die zentrale Führung handlungsunfähig wurde.

Kommandeure besinnen sich plötzlich auf ihren gesunden Menschenverstand, auf ihren wirklichen Auftrag. Ideen, Initiativen, Einsatzbereitschaft, diese guten, und doch so schrecklich abgedroschenen Begriffe, in diesen Tagen haben sie die Chance der Wiedergeburt. Und alles unter den Bedingungen einer zurückgetretenen Regierung. Was könnten diese Menschen leisten unter einer handlungsfähigen!

Ein Pappschild an der Decke: „DDR-Grenzkontrolle“, noch ein Stempel. Fünf Meter unter dem Pflaster von „Berlin – Hauptstadt der DDR“ und doch schon im Westen! Feierliche Stimmung ringsherum, die Kinder sind aufgeregt. Trauben vor dem aushängenden BVG-Schema. 28 Jahre! Druck auf den Augen. Nein, ich habe nicht 28 Jahre auf diesen Tag gewartet. So habe ich ihn nicht einmal erwartet, und auf gar keinen Fall so bald. Und trotzdem feuchte Augen? Gesamtdeutsche Gefühle? Erinnerung ist es jedenfalls nicht, wie bei so vielen Älteren auf diesem Bahnsteig; ich war zu jung ’61 und durfte sowieso nicht hinüber. Für mich war der Westen nicht Grenzkino, Nietenhose, Südfrucht, Lichterglanz und Wohlleben. Für mich war der Westen stets Wohlleben der anderen, Glanz auf anderen, unverdiente Frucht für andere. Andere hatten die begehrten Nietenhosen, spielten mit silberglänzenden Cowboypistolen, holten in der Schulpause ihre Bananen aus der Tasche, knauserten nicht mit der Butter – ich durfte mir diese Welt nicht mal im Fernsehen betrachten, geschweige denn in Natura, nur einen Katzensprung entfernt…

Wohlstand als Zeichen der Leistung – ein Ursignal, schon in grauer Vorzeit unverrückbar in das Rückenmark der Ahnen gepflanzt. Gut ist, wer fett ist. Sie waren nicht gut, die fetten. Trotzdem lebten sie besser, erlebten mehr, wurden beneidet, fanden leichter Freunde, die Kinder der Grenzgänger, die Enkel der Wilmersdorfer Witwen. Oft haßte ich sie dafür, sie, die unverdient fetten – und jene, die vor ihnen auf dem Bauch lagen. Wem sonst sollte der zehnjährige Sohn eines ehemaligen Volkspolizisten seinen Zorn auch widmen. Der Regierung? Wollte sie nicht das Beste für uns alle, wollte sie nicht Bananen und Butter für die fleißigen? Und waren es etwa keine Feinde, die unsere knappen Bockwürste in den Westen schleppten?

Ich hatte keine Probleme mit der Mauer. Die Nietenhosen würden ersatzlos verschleißen, die Bockwürste im Lande bleiben – eine Mauer der Gerechtigkeit! Und trotzdem jetzt die feuchten Augen? Vielleicht gab es doch in jedem von uns so eine Art Nationalgefühl, Deutschtum, was weiß ich? Schlimm, wenn es so wäre. Und da sind sie wieder, die Sorgen, trocknen die Wimpern.

Die U-Bahn kommt, füllt sich ansehnlich, aber nicht beunruhigend. Kein Problem für einen Ostberliner – klingt komisch. Wird man sich in Zukunft so vorstellen müssen? Immer noch besser als „DDR-ler“, wie sie in letzter Zeit des öfteren im Westfernsehen sagten. Einfach scheußlich!

Ostberliner oder Provinz, die Leute drängeln mit der gewohnten Disziplin in die Wagen, und nur die West-BVG scheint sich darüber Sorgen zu machen. Die Lautsprecherdurchsagen sind jedenfalls von einer ängstlichen Hektik gekennzeichnet. Wie beneidenswert leer muß es hier sonst immer sein…

Herrmannplatz, der Duft der großen weiten Welt. Erst mal umsehen. Ein Stapel Info-Zeitungen, einfach abgestellt zum wegnehmen. Stadtplan, farbig, U- und S-Bahnnetz, Verzeichnis der Begrüßungsgeldkassen, kurze Rede von Momper, Bericht über Verpflegungsstellen…

Karstadt, davor eine riesige Schlange – alles „unsere“. Die Karl-Marx-Straße, auf dem Mittelstreifen ein Schild: „Kreuzberg“. Wir gehen in die entgegengesetzte Richtung. Man hat so viel gehört von diesem Kreuzberg, Kriminalität, Verfall, Ausländer, wir sind noch zu unsicher, um uns auf Abenteuer einzulassen. Ängstliche Bäuerlein in der Großstadt. Also nach Neukölln. Die Straßen kaum leerer als die U-Bahn. Erster Eindruck: Wozu brauchen sie hier soviele Banken? Sicher nicht als Begrüßungsgeldkasse, denn die meisten haben geschlossen. Zwischendurch trotzdem immer mal wieder auch gewaltige Schlangen. Hier gibt es die berühmten 100,- DM.

Gestern und am Freitag sollen die Leute drei Stunden und mehr gewartet haben. Hundert Mark, hundert „D“-MARK wohlgemerkt. Wir sind vier. Mit den bei uns umgetauschten 60,- hätten wir dann vierhundertsechzig WEST! Zum herrschenden Kurs 4 Monatslöhne, einfach so geschenkt. Die einzuzahlenden 60 DDR-Mark fallend da praktisch nicht ins Gewicht. Wir sind reich! Jedenfalls werden wir reich sein, nachdem wir uns angestellt haben. Die Wirkung der Schlangen ist zunächst allerdings noch sehr abschreckend, zumal wenn man hoffen kann, in den nächsten Wochen alles viel entspannter vorzufinden – wieder sind die Berliner bevorzugt, werden sie in Sachsen sagen. Also bummeln. Viele Geschäfte haben geöffnet. Das „Ladenschlußgesetz“ soll für dieses Wochende aufgehoben sein. Dieses Gesetz ist ohnehin eine der für uns unverständlichen Errungenschaften: Da dürfen Kunden nichts mehr kaufen, obwohl die Ladenbesitzer gern weiter offenhalten würden, nur damit die Verkaufskräfte keine Spätschicht machen müssen? Bei uns springen die Leute nachts um drei in den Werkhallen herum, weil die Maschinen so teuer waren. Wie auch immer: Heute darf trotz Sonntagsruhe verkaufen wer will, und stand einer kurz vor der Pleite, hat er jetzt nochmal seine unverhoffte Chance. Aber pleite sieht hier keiner aus. „Jeans ab 15 Mark!“ Scheint überhaupt eine ausgesprochene Jeansgegend zu sein, dieses Neukölln. Kaum vorstellbar, daß sie mit den Eingeborenen genügend Umsatz machen. Die Ost-ler jedenfalls drängen sich heute in den Jeansbuden, an Imbißständen, vor Süßwarengeschäften und vor allem beim Obstverkauf. Apfelsinen, Ananas, körbeweise Weintrauben (im November!) und immer wieder DIE Wohlstandsfrucht der DDR-Seele: BANANEN! Unsere Invasion hat nach drei Tagen das Unvorstellbare vollbracht – im Westen werden die Bananen knapp, die reifen jedenfalls. Man verkauft grüne, unsere Leute merken es nicht mal so richtig. Wer es heute darauf anlegt, könnte ganzen Tausendschaften das Fell über die Ohren ziehen, aber der Trend geht wohl eher zum Verschenken, als zur Überteuerung. Ich schäme mich ein wenig für meine mißtrauischen Gedanken.

Neben „Quelle“ dann eine Schlange, die ungewöhnlich rasch vorrückt. Wir fragen. „Halbe Stunde“, heißt es. Da kann man denn doch weich werden. Was ist schon eine halbe Stunde für 400 WEST. Im Stehen wird es dann doch empfindlich kühl. Der Arbeitersamariterbund verteilt heißen Tee. Ein Mann mit einer riesengroßen SPD-Plakette am Revers geht die Reihen entlang: „Wenn Sie Kinder dabei haben, und sich ein wenig aufwärmen wollen; Die SPD lädt Sie ein ins Jugendfreizeitheim gleich hier in der Querstraße. Es gibt auch Kaffee und einen Imbiß…“

Viele freiwillige Helfer sind auf den Beinen, die meisten wohl schon den dritten Tag. Auch die Kassiererin, die uns das Geld auszahlt, sieht sehr müde aus. Wir bedanken uns, daß sie sich wegen uns den Sonntag um die Ohren schlägt, sie lächelt. Ein Angestellter ruft in den Schalterraum: „Öffnungszeit nochmal verlängert bis Zwei!“ Was für eine Atmosphäre in einem Land, das angeblich „die gefühllose bare Zahlung“ zum Maßstab des Lebens macht. Zwei Gesellschaftsordnungen bestaunen sich.

Die Kinder sind vom Anstehen durchgefroren. Wir suchen das Freizeitheim. Es ist wirklich gleich um die Ecke und leer. Drei Männer hantieren hinter einer Durchreiche an Kannen und Töpfen, gießen uns Kaffee ein. „Tee für die Kinder?“ Über der Durchreiche eine Preistafel: „…Kaffee – 50 Pf…“ Der Kaffee schmeckt gut, aber eine ganze kostbare Westmark nur so zum Aufwärmen… Einer muß unseren Blick bemerkt haben. Er macht es uns leicht, wendet sich an seinen Mitstreiter: „Ich glaube, wir müssen die Disko-Preis-Tafel doch abmachen, sonst denken die Leute noch, sie müßten SOGAR HEUTE den Kaffee bezahlen.“

Bewegung am Eingang. Ein HERR kommt: Jung, Bart, Metallbrille, sehr freundlich, schaut offenbar nach dem Rechten. Jemand stellt vor: „Frank Bielka, unser Bezirksbürgermeister.“ Er begrüßt uns, wir sind derzeit die einzigen Gäste. Small talk: „Haben Sie sich schon ein wenig umgesehen, gefällt es Ihnen bei uns hier in Neukölln?“ Nach so kurzer Zeit läßt sich noch kaum etwas sagen, meinen wir, alles noch zu neu. Und dann, damit wir nicht gar zu blöd dastehen als staunende Wilde, machen wir das Allerblödeste, Kraft unserer 2 Stunden Westerfahrung gehen wir sofort daran, im Kapitalismus gleich mal Ordnung zu schaffen: Eins wäre uns aufgefallen, sage ich, die Fassaden in der Karl-Marx-Straße paßten nicht in unser Westklischee. Sie sehen kaum anders aus, als bei uns. Die Auslagen, ja die sind natürlich picobello, teilweise erdrückend prachtvoll, prunkvoll, glanzvoll, überhaupt fast zu voll. Aber darüber sieht es richtig stinknormal aus – „stinknormal“ haben wir zu dem Herrn Bürgermeister natürlich nicht gesagt. Der Beitrag war auch so dumm genug und mit meiner spendierten Kaffeetasse in der Hand tut es mir leid, kaum daß die letzte Silbe heraus ist. Er aber sieht das ganz und gar nicht so eng. Ja, das sei ein Problem in Neukölln, meint er. Da müsse er sich noch tüchtig mit Momper auseinandersetzen… Bürgernähe! Unseren Stadtbezirksbürgermeister kennen wir nicht, nicht mal seinen Namen. Wahlveranstaltungen haben wir nie besucht, es schien sinnlos alle paar Jahre den Demokratie-Kasper zu spielen. Auf der Straße haben wir unseren auch nicht getroffen, warum den Neuköllner? Vielleicht wirklich ein seltener Zufall, das mit dem Bielka, aber keine schlechte Anekdote, oder? Und ein schöner Abschluß für Neukölln und die Karl-Marx-Straße.

„Wir sollten dorthin, wo jetzt keiner ist,“ meint Claudia „- zum Brandenburger Tor!“ Sie spinnt, denke ich. Sie hat recht, stellt sich heraus. Zumindest Ostler sind hier heute kaum zu finden.

Später fragen wir Freunde und Kollegen. Keiner war an diesem Tag dort. Alle haben ihr Geld abgeholt. Alle haben irgendetwas gekauft. Am Brandenburger Tor war keiner.

Trotzdem ist dort alles gerammelt voll, vor allem Ausländer fallen auf, dazu viele Westberliner oder Westdeutsche. Vom Lehrter Stadtbahnhof war es nur ein kleiner Weg bis zum Platz vor dem Reichstag, und von dort nur ein Sprung zum Brandenburger Tor – wie leicht heute alles ist, was noch vor 3 Tagen schier unmöglich erschien.

Das alte Wahrzeichen! Früher diente es sogar als Pausenbild fürs DDR-Fernsehen, als das noch „Deutscher Fernsehfunk“ hieß. Damals sangen wir unsere Hymne noch. „…Deutschland, einig Vaterland!“ Dieses Tor war fast immer Grenze, Begrenzung, aber solange man es passieren konnte auch Symbol der Gemeinsamkeit, von Stadt und Umland, Ost und West, und schließlich letztes Symbol deutscher Gemeinsamkeit. Vor 28 Jahren wurde es das Wahrzeichen der endgültigen Teilung. Endgültig?

Die Mauer ist hier einen guten Meter flacher als anderswo und -für uns verblüffend – versehen mit einer breiten Krone, auf der man bequem umherspazieren könnte. Jetzt erst begreifen wir die Bilder der letzten 2 Tage. Heute jedoch stehen keine Randalierer dort oben, sondern einige breitbeinige Grenzer, dazu ein Team der Aktuellen Kamera. Auf Westberliner Seite ein dünnes Passierband, das die Leute von der Mauer fernhalten soll. Dahinter spazieren einige Polizisten umher. Eine Absperrung in Anführungszeichen, eher nur ein Tabu-Strich in der Landschaft, ein Witz, verglichen mit dem soliden Beton dahinter (und selbst den hatten SIE gestern umgeworfen). Wer weiß, was sich hier demnächst noch abspielt. Die „Fensterplätze“ an diesem Theater der Weltgeschichte sind jedenfalls schon dicht besetzt: Scheinwerfer, Kameras, Podeste, auf denen Interviews gegeben werden – die Medien der Welt sind auf Ballhöhe. Fragt sich nur, wer der Ball ist. Und werden sie sich mit Interviews zufrieden geben?

Links und rechts an der „normalen“ Mauer, die man nach wie vor ungehindert erreicht, stehen Einzelne oder kleine Grüppchen und pickern sich Betonbrocken heraus, mit Hammer und Meißel, Schraubenziehern, Taschenmessern… Jedes herausgelöste Krümchen wird mit Beifall bedacht. Viele Fotoapparate, Videokameras. Deutlich zu sehen auch wo SIE vorige Nacht die Betonplatte umgestürzt hatten, noch ein lohnendes Fotoziel.

Die Sorgen sind wieder da.

Wir laufen Richtung Potsdamer Platz, immer vorbei an hämmernden Menschen. Ich schimpfe halblaut. Eine Männerstimme hinter mir: „Was paßt Ihnen denn nicht, an so einem herrlichen Tag.“ Ich wende mich um. Offenbar ein Westler. Gutaussehend, baumlang, eleganter Mantel, etwa in meinem Alter, neben sich eine kleine Frau. „Mir paßt nicht, daß Ihre Leute die Mauer einreißen, nachdem meine Leute die Türen darin aufgemacht haben. Durch solchen gesamtdeutschen Blödsinn kann alles verspielt werden!“ Er scheint perplex, sagt nichts, lächelt nur ein wenig hilflos. Ein Sieg! Ein Sieg über Gedankenlosigkeit und Kriegstreiberei! Mir ist besser. „Du bist wirklich der größte Muffel Groß-Deutschlands“, sagt Claudia. „Was haust Du auf den armen Kerl denn so ein. Der hat Dir doch nichts getan. Er wollte nett sein und Du spielst den Klassenkämpfer, pflegst Deine Weltkriegsfurcht. Stimmungsverderber!“ Sie hat recht. Ich bin ein Arschloch! Das Arschloch wendet sich also nochmal um, und versucht, sich zu entschuldigen, zu erklären. Der Westler begreift zwar nicht, aber er ist fair und verzeiht. Wir kommen ins Gespräch. Ein Kollege von Claudia, stellt sich heraus. Werbebranche. Selbständig. Wir fabulieren bis zum Potsdamer Platz, haben aber bis dahin kaum die Standpunkte abstecken können. Es verspricht interessant zu werden. Wir wollen weiterreden, aber erst sollen die Fahrräder geholt werden, die sie irgendwo im Tiergarten angeschlossen haben.

Wir verabreden einen Treffpunkt, warten 20 Minuten an der falschen Stelle, weil wir, wie sich dann herausstellt, die Staatsbibliothek wegen ihrer Größe für die Nationalgalerie halten – und verlieren uns für immer aus den Augen. Schade.

Wir müssen zurück. Am Potsdamer Platz etliche Polizeifahrzeuge. Die Kinder staunen über die außen vergitterten Scheiben und die Beulen im Blech. Diese riesige kahle Fläche soll einst der verkehrsreichste Platz Europas gewesen sein. Heute liegt seine wiedergekehrte Bedeutung in einem halben Dutzend Betonelementen, die Bautrupps gestern dort zur Seite geräumt haben.

Morgen – nach der Aufhebung des „Schießbefehls“ – wird hier Richard von Weizsäcker unseren Grenzern die Hand schütteln, und später wird man vielleicht eine Tafel anbringen.

Als wir uns vor der gewaltigen Bresche in Richtung Heimat einreihen, ist es fast dunkel. Immer noch Volksfeststimmung. Eine Truppe mit Pauken, Rasseln, Bongos, Trommeln und Tamburins macht gewaltigen Lärm. Brasilianische Karnevalsrhythmen. Unwillkürlich bewegen wir uns im Takt langsam vorwärts. Die Mauer. Jetzt erst sieht man, wie riesig hier die kahle Fläche war. WAR? „Ausweise hochhalten, Paßbildseite aufschlagen!“

U-Bahnhof Otto-Grotewohl-Straße. Daheim.

 

 

 

 

Stuttgart, 17.12.89

Lieber Frank!

Bevor Du nun glaubst, daß meine guten Vorsätze endgültig wieder dahin sind, setze ich mich nun doch hin, um auf Deinen (inhaltlich) „überraschenden“ Brief zu antworten. Die letzten Wochen waren so voll mit allem Möglichen. Weihnachtsstress könnte man sagen, aber anders als Du vermutest. Wie Du vielleicht weißt, habe ich noch so etwas wie einen – unbezahlten – Nebenjob, der in der Weilnachtszeit besonders gefragt ist, meine musikalischen Aktivitäten. Allein an diesem Wochenende drei Auftritte, zwei Mal Händels Oratorium „Judas Maccabeus“, ein Mal Kirchenmusik. All das will geprobt sein etc, etc. Ich war noch nicht ein einziges Mal im allgemeinen Kaufgewühl in der Stadt und werde es auch bis Weihnachten noch zu vermeiden wissen (allerdings nimmt da Judi einiges ab).

Damit wären wir schon beim Thema Deines Briefes und Deinem überraschenden und höchst interessanten Vorschlag einer Bruderrolle in Deinem Buch. Ich weiß nicht, ob Du eine bestimmte Vorstellung von einem Bruder im Westen hast. Aber der typische „Westler“, wenn es den gibt, bin ich vermutlich nicht. Auch weiß ich nicht, ob ich den Bruder in der Form, wie Du ihn Dir vorgestellt hast, spielen kann, ohne tatsächlich in eine Rolle zu verfallen. Ich fürchte ich kann mich nur schwer authentisch in die Lage dessen versetzen, der die DDR schon früher verlassen hat. Immerhin war ich, mit kleinen Ausnahmen in Ost-Berlin, nie in diesem Land, das ich eigentlich erst in der Zukunft entdecken möchte. Die DDR war für mich immer weiter weg als Indonesien, geographisch aber auch als gesellschaftliches Gebilde. Vielleicht wäre es daher besser, daß ich Dir Material für eine Figur biete, die die DDR nicht kennt, vielleicht einen Halbbruder, oder einen Cousin, den Du nur einmal während eines Urlaubs in Ungarn getroffen hast. Für den gäbe es dann, ebenso wie für Dich, auch einiges zu entdecken, was ja für die Darstellung einer Entwicklung nicht schaden kann.

Das wäre dann einer wie ich, der die DDR bislang immer als etwas weit Entferntes und Bizarres angesehen hat. Irgendwie hatte ich mich längst damit abgefunden, daß die DDR ein eigenes Land sei, das sein eigenes Leben führt. Ein besonderes Gemeinsamkeitsgefühl hatte ich kaum verspürt. Ich hielt das Land für eine Folge des 2. Weltkrieges, der ja nun einmal nicht ohne Folgen sein konnte. Sogar unter dem Gesichtspunkt eines „Deutschtums“ konnte ich der Vorstellung von zwei deutschen Staaten einen Vorteil abgewinnen. Wäre selbiges nicht besonders stark, wenn es in zwei und ja noch in zwei weiteren Staaten vertreten war? Ich glaubte, wie Du ja offensichtlich auch, die Folgen des Weltkrieges rückgängig machen zu wollen, hieße den Weltfrieden aufs Spiel setzen und mit Verwunderung schaute ich auf die, die nach so langer Zeit noch alte Vorstellungen aufrecht hielten. Merkwürdigerweise wurde diese meine für gefestigt gehaltene Vorstellung in den letzten Wochen einigen Prüfungen unterzogen. Die plötzlich sich eröffnende Möglichkeit eines einheitlichen Landes mit einer wirklichen Hauptstadt (was für ein armseliges Nest ist doch Bonn) ließen meine alten Vorstellungen verblassen, so daß ich mich fragen mußte, ob diese möglicherweise nur aus der scheinbaren Unvermeidbarkeit der bestehenden Tatsachen resultierten.

Mittlerweile sind die ersten Gefühle vorbei und Überlegungen können an ihre Stelle treten. Ich denke jetzt, daß die Vereinigung der beiden Gesellschaften kommen wird und zwar in erster Linie aus wirtschaftlichen Gründen. Ich denke, daß das Herumdoktern an einem dritten Weg bald zu einem Weg führen wird, der unserem System sehr ähnlich ist und vielleicht nur den Spielraum, den unser System läßt, etwas weiter in die eine oder andere Richtung nutzt. Das marktwirtschaftliche System hat gewisse Gesetzmäßigkeiten, die man nicht außer Acht lassen kann, ohne den Erfolg zu verspielen, den man in der DDR wird haben wollen (schon wegen des unvermeidlichen Vergleichs mit der BRD). Man kann die sozialen Verpflichtungen mehr – wie in Schweden – oder weniger – wie in den USA und England – hervorheben, aber man kann die Kuh, die man melken will, nicht schlachten (oder erst gar nicht erzeugen). Und bald wird sich in der DDR herumsprechen, daß Kapitalismus nicht etwa bedeutet, daß man wirtschaftlich machen kann, was man will (als Privatperson oder Gesellschaft). Diese Vorstellung scheint, sicherlich unter dem Eindruck von Desinformation, unter Deinen Landsleuten ziemlich verbreitet, was ich nicht nur den vielen Statements von Leuten entnehme, die ohne nähere Kenntnis unseres Wirtschafts- und Sozialsystems – meist in sehr allgemeiner – Form urteilen. Ich finde sie auch in meiner beruflichen Praxis erstaunlich häufig. Als Wirtschaftsstaatsanwalt beschäftige ich mich ja mit den Exzessen unseres Systems und versuche daran mitzuwirken, daß sie sich einigermaßen in Grenzen halten. Es ist auffällig, daß viele ehemalige DDR-Bürger in solche Exzesse verwickelt sind und offensichtlich völlig falsche Vorstellungen über die Pflichten haben, welche einem Wirtschaftenden hier auferlegt sind, bzw. sie glauben, diese nicht so ernst nehmen zu müssen. Vielleicht kann man sich eine Menge Überlegungen sparen, wenn man sich einmal anschaut, was sich in dieser Hinsicht sowohl an präventiven als auch an repressiven Mechanismen hier alles entwickelt hat.

Zu letzteren darf ich auf ein Opus verweisen, an dem ich selbst mitgewirkt habe und das einen umfassenden Überblick über das Wirtschaftsstrafrecht bietet (ich lege Dir einen Prospekt bei – ich bearbeite übrigens den Teil „Soziale Sicherheit der Arbeitnehmer“ und „Illegale Beschäftigung“). Vielleicht kannst Du ein bißchen Reklame für dieses Buch bei Euch machen (du siehst, daß ich hier ganz kapitalistisch denke, wiewohl ich nur reich davon werde, wenn ihr 50.000 Stück davon ordert).

Aber zurück zum Wiedervereinigungsthema. Ich denke also, daß sich unsere Systeme so aneinander annähern werden, daß man sich fragen wird, warum zwei Staaten sein sollen. Ich denke, dass man dies in keiner Weise beschleunigen braucht und insbesondere auch nicht soll. Z.Zt. zerbrechen sich hier reichlich viele Leute Euren Kopf, und das obwohl dieselben ständig betonen, daß Ihr Euren eigenen Kopf haben sollt. Das Aufsehen, das all dies bei unseren Nachbarn erzeugt hat, ist höchst überflüssig und nährt auf deren Seiten alte Ressentiments und bei uns nur Trotzreaktionen. Ich denke, daß sich die Dinge auch ohne die Kohl´schen 10 und andere Punkte in die von vielen erstrebte Richtung entwickeln werden.

Lieber Frank, das war der „Brief zur deutschen Einheit“. Es gibt tausend Themen, über die ich noch schreiben könnte. Ich denke Du hörst bald von mir. Wir kommen, nachdem das Eintrittsgeld bei Euch zwischenzeitlich weggefallen ist, sicher bald in die DDR, aber ich denke, daß es darüber Frühjahr werden wird. Vielleicht kommt Ihr doch vorher zu uns – ihr seid herzlich eingeladen und könnt bei uns natürlich im Haus wohnen. Wollt ihr nicht gemeinsam mit uns Neujahr feiern? Werft Euch in einen Zug!

Auf jeden Fall schöne Feiertage.

Dein Klaus

Grüße auch an Marietta und die Kinder.

Unsere Tel. Nr. lautet übrigens xxx

Anbei noch einen Artikel aus dem „Independent“ vom 13.12. den ich unter ökonomischen Geschichtspunkten für realistisch halte.

Soeben (18.12.) lese ich in der Zeitung, daß bei einer Repräsentativumfrage in der DDR 70 % der Befragten gegen eine Wiedervereinigung gewesen seien. Wird da die Rechnung ohne den Wirt gemacht?

Zwischen Lido di Classe und Lido di Dante

 

Südlich von Ravenna, Dante’s einstigem Asyl, beginnt eine Reihe von Strandorten, die sich, kaum unterbrochen, über Milano Marittima und Rimini bis hinunter nach Cattolica zieht. In der Regel besteht der Kern dieser Marinas aus lieblos gebauten Hotelkomplexen längs einer Hauptstraße, welche der Küste folgt. Zahlreiche Querstraßen, nicht selten nur als solche benannt und durchnummeriert, führen auf der seeabgewandten Seite in Bungalow- und Reihenhaussiedlungen, in denen sich die Gebäude gleichen wie ein Ei dem anderen. In den Gärten sieht man vereinzelt Personen, die säuberlich Hecken schneiden oder Wege kehren. Auf der Seeseite führen die Traversalen zum flachen Strand, der durch eine unabsehbare Reihe von Bagnos in etwa gleich große Abschnitte geteilt wird. So weit das Auge reicht, ziehen sich Sonnenschirme und Strandliegen, farblich jeweils einem Bagno zugeordnet, in Reih und Glied den Strand entlang. Darauf und darunter liegen unzählige schlafende, schwätzende oder lesende Menschen, die ihr Heil in der Sonne suchen. In der Hauptstraße reiht sich ein Ladengeschäft an das andere. Die Verkaufsräume enthalten alles, was sich der Mensch an Nützlichem und Überflüssigem wünschen kann. Aufgeblasene bunte Schwimmutensilien aus Plastik quellen allenthalben bis auf die Straße hinaus. Abends flaniert hier gebräuntes Volk, füllt Gelaterias und Pizzerias, stellt sich und alles, aber auch alles, was es hat, zur Schau, schwatzt und schwänzelt und vertreibt sich die Zeit auf jede nur denkbare Weise. In den Spielsalons trifft sich die Jugend Europas. Gebannt sitzt man vor langen Reihen zappelnder Bildschirme. Apparate krachen und zischen, Kugeln rasen, elektronische Aggregate blitzen und listen erzielte Punkte auf. Man wähnt sich am Steuer rasender Rennwagen, im Cockpit von Flugzeugen und Raumschiffen, man schießt, kämpft und jagt – pausenlos, sich und andere.

 

Nördlich von Lido di Classe aber klafft eine große Lücke in der Reihe der Marinas. Bagnos und Strandschirme brechen plötzlich ab. Der flache, saubere Strand, den die Besucher der Bagnos vermutlich für naturgegeben halten, geht über in eine hügelige Dünenlandschaft, deren Wassersaum von Muscheln übersät ist. Dahinter erstreckt sich ein tiefer, dunkler Pinienwald. Hier herrscht eine Ruhe, die fast unwirklich erscheint.

 

Aus dem Hinterland ist dieser tote Winkel schwer zu erreichen. Die große Strasse, welche die Adriaküste sonst kaum verlässt, ist hier um mehrere Kilometer landeinwärts verschoben. Es gibt auch keine Stichstraße, die den Wald mit seinen uralten Pinien durchdringen und zum Meer führen würde. So kann man diesen Küstenstrich nur durch einen längeren Fußmarsch oder mit dem Fahrrad erreichen. Je weiter man sich von Lido di Classe entfernt, desto weniger werden denn auch die Sonnenanbeter. Schließlich finden sich in den Dünen nur noch hier und dort vereinzelte Menschen, die offensichtlich Einsamkeit suchen. Jeder Neuankömmling wird kritisch beäugt.

 

Auf halbem Weg zwischen Lido di Classe und Lido di Dante, der nächsten Sommermarina, wird der Strandweg durch einen Fluss unterbrochen. Bevor sich der Fluss mäandernd in das Meer wälzt, bildet er hinter den Dünen noch einige stille Gewässer, schilfumsäumte kleine Seen und Sümpfe, in denen sich allerhand Wasservögel tummeln. Im seinem trüben, langsam dahinziehenden Wasser schwimmen im Gruppenzickzack unzählige kleine Fische umher. Ein Schiffer senkt von einem Kahn ein flaches Netz in Tiefe, in dem die silbrigen Flitzer kurz darauf, aus ihrem Element gezogen, verzweifelt zappeln und in die Höhe springen.

 

Eine Brücke über den Fluss gibt es nicht. Wer dem Strand weiter folgen will, muss den Fluss durchwaten. Eine geeignete Stelle ist mit krummen Ästen gekennzeichnet. Am anderen Ufer gelangt man in eine Marina anderer Art. Verstreut in Gärten, in denen Wein, Tomaten und Pfirsiche wachsen, stehen auf dem Flussufer kleine ebenerdige, meist hölzerne Häuschen einfachsten Zuschnitts. Man sitzt unter Bäumen und unterhält sich. Eine Hauptstraße oder Geschäfte gibt es nicht.

 

Auf den Veranden der Hütten liegen Schlafsäcke und allerlei Gegenstände von Menschen, die lange unterwegs sind. Über einem Holzfeuer hängt an einer Kette ein Kochtopf. Auf dem Boden liegen um ihn herum junge Leute, die wilde Bärte tragen und tätowiert sind. In einem Pinienwäldchen sitzt in meditativer Haltung ein einsamer Heilsuchender. Nicht weit davon bilden Hunde und Menschen ein kaum zu entwirrendes Knäuel. Dazwischen spielen schmutzige Kinder. Eine Gruppe junger Männer kauert in einem Kreis. Einige schlagen Handtrommeln, die anderen lauschen andächtig, so als enthielten die endlos wiederkehrenden Rhythmen eine höhere Erkenntnis.

 

Nach dieser Siedlung sieht man nur noch wenige Menschen. Einige unbekleidete Männer stehen, die Hände in die Hüften gestützt, aufrecht in den Dünen und halten Ausschau. Einzelne streifen alleine durch den Pinienwald hinter dem Strand. Immer wieder bleiben sie stehen und blicken um sich.

 

Schließlich gelangt man nach Lido di Dante, wo wieder die Bagnos und das übliche Strandleben beginnen.

 

Es ist eine merkwürdiger Landstrich zwischen Lido di Dante und Lido di Classe. Früher war hier der Hafen von Classe, Standort der römischen Flotte, welche die Macht und die Herrlichkeit der einstigen Weltherrscher in der Osthälfte ihres Riesenreiches sicherte. Er ist versandet und von seiner früheren Größe ist nichts übriggeblieben. Ein Stück landeinwärts steht einsam das uralte Gotteshaus San Apollinare in Classe. Seinen weiten Innenraum bilden zwei würdige Reihen antiker Säulen, die so mächtig sind wie die Pinienstämme im nahen Wald. Auf der Stirnwand zeigt ein großes Mosaik den frühchristlichen Märtyrer auf einer paradiesischen Wiese inmitten friedlich grasender Schafe. Nicht weit davon ist heute der Vergnügungspark Mirabilandia. Dort stürzen sich die Bewohner der Marinas in die Abgründe einer kompliziert verschlungenen Berg- und Talbahn, fahren in wilder Wasserfahrt in die Tiefe und lassen sich in Kanzeln und Gondeln umherwirbeln. Abends starren sie bei rechnergesteuerter Musik gebannt in die geradlinigen Raumgebilde von Laserstrahlen. Schließlich kehren sie, geblendet durch ein turbulentes Feuerwerk, in ihre Marinas zurück.

 

Es ist ein Landstrich zwischen Lido di Dante und Lido di Classe, dessen Linien wundersam verwunden sind, ein Ort, an dem man sich sucht und sich verlieren kann. Hier verirrte sich einst auch einer der größten Gott- und Selbstsucher. Im dichten Wald von Classe stieß Dante auf eine Pforte mit der Aufschrift, wonach der, der sie durchschreite, alle Hoffnung fahren lassen soll. Er trat ein, durchmaß die neun Kreise der Hölle und fand nach Überwindung des Läuterungsberges sein Paradies.

Der Palazzo dei Diamanti in Ferrara

Wer dem Corso Ercole I. d’Este in Ferrara folgt, der vom mittelalterlichen Kastell der Herzöge schnurgerade aus dem verschlungenen Zentrum der Stadt führt, glaubt sich gelegentlich in eine jener Idealstädte der Renaissance versetzt, wie sie auf den perspektivischen Intarsienbildern im Chorgestühl mancher italienischer Kirchen zu sehen sind. Auf beiden Seiten der Straße befinden sich lang gestreckte Patrizierpaläste. Straße und Gebäudefronten bilden Fluchtlinien, die in eine endlose Tiefe zu führen scheinen. Ordnung und Klarheit beherrschen das Bild. 

Auf halber Stecke des Corsos, der aber dennoch zu nichts anderem zu führen scheint, liegt der Palazzo dei Diamanti. Schon durch seine weiße Fassade, über die sich ein leicht hell-roter Schimmer von Cipollinoadern zieht, fällt er aus dem Rahmen der Umgebung, die von Terracotta oder jenem braun-roten Backstein geprägt ist, mit dem in der Po-Ebene mangels Naturstein sonst meist gebaut wird. Darüber hinaus besteht seine Außenhaut – auch dies ist weit und breit ohne Beispiel – aus Tausenden von pyramidenförmigen Marmorquadern, die wie überdimensionale Edelsteine aussehen. Diese haben ihm den Namen „Palazzo dei Diamanti“ eingebracht. 

Das Gebäude wirkt, da es rechtwinklig über Eck gebaut ist, auch als Ganzes wie ein großer Kristall. Von der Ecke aus erblickt man zwei fast identische Fassadenflächen, die ohne wesentliche Untergliederungen jeweils rund sechzig Meter in die beiden Straßen hineinlaufen. Das Bauwerk liegt – schwer wie ein Eckstein, auf den es ankommt – auf der Kreuzung zweier großer Straßen. Wie jemand, auf den es ankommt, ist sich vermutlich auch der Bauherr Sigismondo d’Este, der Bruder von Herzog Ercole I, nach dem der Corso benannt ist, bei der Entscheidung vorgekommen, das Gebäude aufzuführen. Das Bewusstsein seiner Größe ist durch den fertigen Bau wohl noch verstärkt worden. Wahrscheinlich hat er im Laufe der Zeit immer mehr daran geglaubt, die Riesengeschosse des Palastes ausfüllen zu können, die für die Helden gebaut zu sein scheinen, deren Namen er und sein Bruder trugen. 

Der Habitus des Gebäudes vermittelt freilich den Eindruck, als haben seine Bewohner mit der Stadt und ihren Menschen nicht viel zu tun haben wollen. Die Öffnungen nach außen sind spärlich. Das gewaltige Eingangstor signalisiert schon durch die schiere Masse seiner Portalflügel eher Ausschluss als Einlass. Die Sechzig -Meter Fassaden, die jeweils nur sieben Fenster pro Stock aufweisen, wirken geschlossen. Dort, wo sie aufeinander stoßen, ist, ferraresischer Sitte entsprechend, zwar ein Balkon angebracht. Er ist jedoch so klein, dass er sich selbst dementiert. Schon die Größe der Pforte, die von Innen auf den Balkon führt, steht in keinem Verhältnis zu den Dimensionen der Gebäudeöffnungen, welche die Palastbewohner für sich ansonsten für angemessen hielten. Offensichtlich hatte man nie die Absicht, sich dort dem gemeinen Volke auszusetzen. Auch der spärliche Bauschmuck deutet an, dass die Palastbewohner nicht all zu viel nach außen kehren wollten. Neben dem dünnen Ornamentband, welches die beiden Geschosse trennt, finden sich außen nur vier verzierte Pilaster. Zwei von ihnen flankieren das Portal, die anderen beiden bilden den Eckpfeiler an der Schnittstelle der beiden Fassaden. An diesen wenigen Stellen freilich zeigt der Hausherr, wie hoch seine Ansprüche sind. Die Pilaster sind mit feinsten Renaissance-Reliefs geschmückt. Am Portal wird dabei (Ab-) Wehrhaftigkeit demonstriert. Dort sind im Wesentlichen Teile römischer Rüstungen aufeinander gestapelt. Was die Bewohner des Hauses sonst noch umtrieb, verraten die Pfeiler an der Palastecke. Auf einem der Reliefs sieht man geflügelte Halbpferde und Faune, die spiegelbildlich um eine Mittelachse aus Kandelaberelementen angebracht sind. In sinniger Fortführung dieser Symmetrie sind weiter oben Herkules und Venus abgebildet. Am Fuß des Pilasters sitzen drei missmutig dreinschauende Harpyien, denen, die vertikale Spiegelsymmetrie in die Horizontale wendend, oben drei nackte Menschen gegenübergestellt sind, welche offenbar den Genüssen des Lebens zusprechen. Man mag darüber nachsinnen, ob diese Dreiergruppen Pole einer Lebensphilosophie oder Wünsche und Befürchtungen darstellen. Gemessen an den riesigen Fassadenflächen sind diese Anklänge von Menschlichkeit freilich verschwindend. Vorherrschend ist eine kristalline Ordnung. Als Ganzes betrachtet hat der Palast daher etwas Abweisendes. Seine Massigkeit wirkt geradezu apologetisch. Es scheint, dass sich der Hausherr verteidigen will. Bei näherer Betrachtung wirkt die diamantene Fassade denn auch stachelig. Es ist, als habe sich dahinter jemand eingeigelt.  

1771 Wolfgang Amadeus Mozart, Exsultate, jubilate – Mottete für Sopran und Orchester, KV 158a

 

Mozart war schon als Junge ein gefragter Opernkomponist. Im Alter von 17 Jahren hatte er bereits fünf Opern geschrieben. Selbst Mailand, das Eldorado der Oper, wollte Werke von ihm haben. Ende 1772 begab er sich nach Mailand, um seine Oper „Lucio Silla“ zur Aufführung zu bringen. Die Vorbereitungen für die Uraufführung waren offenbar ziemlich turbulent, denn Mozart musste wegen Textänderungen erhebliche Teile des Werkes neu schreiben. Hinzu kam, dass er zu Werbezwecken verschiedene „Akademien“, das heißt Konzerte, abzuhalten hatte. Mitten in diesem Trubel komponierte Mozart für den „ersten Sänger“ der Oper, den „Sopranisten“ Rauzzuni, „nebenbei“ die Motette „Exsultate, jubilate“, die als Einlage für die katholische Messe gedacht war. Mozart schrieb darüber an seine Mutter, möglicherweise den Sänger persiflierend: „Ich vorhabe, den primo eine homo motetten machen, welche morgen müssen bey Theatinern den produziert wird“. Ein interessantes Licht auf die „gelehrte“ Arbeitsweise Mozarts wirft die Tatsache, dass er sich bei der Anlage des Stückes genau an die Vorgaben für Motteten hielt, die Joachim Quantz in seinem 1752 erschienenen Lehrbuch, „Versuch eine Anweisung die Flute traversière zu spielen“ aufgestellt hatte.

 

Die Umstände, unter denen die Motette entstand, sind sicherlich mitursächlich dafür, dass sie ausgesprochen opernhaft angelegt ist. Virtuos-kantable Koloraturen, wie sie in „Lucio Silla“ zu Hauf vorkommen, sowie eine empfindsame Arie im Mittelteil geben dem Sänger alle Möglichkeiten, sich „in Szene“ zu setzen. Im Schlussteil findet sich eine Passage, die vor allem dem deutschen Zuhörer auffallen muss. Mozart nimmt darin eine melodische Wendung aus Haydns „österreichischer“ Volkshymne kroatischen Ursprungs vorweg, die zum Deutschlandlied werden sollte.

Der indische Coup

Die Kosmologen suchen die Weltformel, die Ökologen die Umweltformel. Gibt es, so fragen letztere, eine ganzheitliche Lösung für Abfallbeseitigung, Verkehrsberuhigung und Tierschutz, mit der zugleich Nahrungsmittel, Energie und Dünger erzeugt und Güter immissionsfrei und ressourcenschonend transportiert werden können, ein System, das dazu möglichst keiner Investitionen und keiner Wartung bedarf, einen Beitrag zum friedlichen Zusammenleben der Geschöpfe Gottes leistet und zum nationalen Identifikationsobjekt taugt? Auf der Suche nach einer solchen einheitlichen Formel haben sich in den Industrieländern viele der Besten den Kopf zerbrochen und sich in endlosen Flügelkämpfen verschlissen. Unbeachtet blieb dabei, dass es längst eine naturnahe und wunderbar weiche Lösung all dieser Probleme gibt.

Indien kennt von alters her ein System, das die genannten Leistungen gewissermaßen auf einen Schlag erbringt. In diesem Land ist der Mülleimer mit den aufwendigen Folgelasten Müllabfuhr, Mülllagerung und Müllverbrennung wenig bekannt. Essensreste, gebrauchte Zeitungen und Kartons wirft man kurzerhand mitten auf die Straße, wo sie das System alsbald beseitigt. Gleichzeitig bewirkt das System eine flächendeckende Geschwindigkeitsbeschränkung des Straßenverkehrs auf 20 bis 30 km/h in Siedlungsgebieten und 50 bis 70 km/h auf Landstraßen, und dies ohne dass es hierfür Radargeräte, Laserpistolen oder ähnlich unerfreulicher Mittel bedarf. Die Freiheitsbeschränkung, die damit verbunden ist, wird von der Bevölkerung klaglos akzeptiert. Sie wird nicht einmal von der Automobilindustrie bekämpft oder unterlaufen. Das System hinterlässt darüber hinaus verschiedene Wertstoffe. Es liefert nicht nur Koch- und Heizenergie, sondern auch Dünger und ein Getränk, aus dem allerhand Nahrungsmittel hergestellt werden können – all das, wie gesagt, in einem Coup.  

Bei dem System handelt es sich um nichts anderes als die gemeine indische Straßenkuh. Die Kuh einschließlich ihres maskulinen Gegenstückes sorgt dafür, dass sich auf den Straßen indischer Städte kaum verrottbare Abfälle und Papier finden. Was die Inder wegwerfen, verschwindet, aufgesammelt von langen rauhen Zungen, alsbald im unersättlichen Schlund weißer, brauner und schwarzer Wiederkäuer. Auch die wenigen Mülleimer, die das Land kennt, werden von der Kuh durchsucht. Nur mit Mühe kann man sie davon abhalten, in Wohn- und Geschäftshäuser einzudringen, um auch noch dort nach Abfällen zu suchen oder nach dem, was sie dafür hält. Die Kuh ist ein ubiquitärer lebendiger Mülleimer, der sich dort befindet, wo der Abfall anfällt, ein System also, welches das Müllproblem auf natürliche Weise und gewissermaßen an der Basis löst.

Eine unverzichtbare Rolle spielt die Kuh auch bei der Steuerung des indischen Straßenverkehrs. Als Straßenbewohner ist sie in einer Zeit, in der auch in Indien der Verkehr ausufert, der Anwalt der natürlichen Vernunft. In Sachen Geschwindigkeit geht sie mit gutem Beispiel voran. Selbst im dichtesten Verkehrsgetümmel hat man sie niemals in Hektik fallen sehen. Unnatürliche Raserei anderer Verkehrsteilnehmer verhindert sie, indem sie sich auf der Fahrbahn niederlässt, um in aller Ruhe wiederzukäuen oder zu schlafen. Sehr wirksam ist auch das unerwartete – besser gesagt das jederzeit zu befürchtende – Überqueren der Straße einschließlich des plötzlichen Innehaltens darauf, etwa um eine Bananenschale aufzulesen (Wasserbüffel bleiben auch ohne Grund längere Zeit mitten auf der Straße stehen). Die verkehrsberuhigende Funktion der Kuh ist eine Folge der Achtung, die man ihr in Indien als Geschöpf Gottes entgegenbringt. Wem es an dieser Achtung mangelt, dem nötigen allerdings spätestens ihre kantigen Knochen Respekt ab (auch hier ist der Wasserbüffel – vor allem für die Karosserien leichterer Fahrzeuge – besonders beeindruckend). Kuhfänger vor einen Autokühler sind in Indien übrigens nicht üblich, im Gegensatz zu unseren Landen, wo es dafür keine Kühe auf den Straßen gibt. 

Des weiteren erzeugt die indische Straßenkuh, wenn auch in eher bescheidenem Maße, Milch, deren Derivate Bestandteil vieler indischer Gerichte sind. Was die Kuh ansonsten als Restmüll von sich gibt, wird zum Düngen von Feldern oder – nachdem man es an den Hauswänden getrocknet hat – auch als Brennstoff verwendet. Da somit die Produkte, die sie abgibt, höherwertiger sind, als die, welche sie aufnimmt, ist die Kuh ein Musterbeispiel für Recycling. Schließlich ist der Paarhufer auch noch ein Transportsystem, und zwar eines, welches keine – jedenfalls keine nennenswerten – gasförmigen Immissionen erzeugt, keine nicht erneuerbaren Ressourcen verbraucht und sich dem Beschleunigungszwang entzieht, dem die fortgeschrittenen Gesellschaften einen Großteil ihrer Geisteskraft und Energie opfern. In Indien werden viele Güter, aber auch Menschen, auf Ochsenkarren transportiert, was der Seelenruhe der Beteiligten außerordentlich förderlich ist.  

Die Kuh hat aber in Indien keineswegs nur vordergründig praktische Bedeutung. Sie gilt als heilig und ist die Mutter der Nation. Damit wird die Gattung Rind(vieh) nicht nur wesentlich höher eingeschätzt, als dies bei uns der Fall ist (was unter anderem verhindert, dass ihre Vertreter in der Bratpfanne enden); es wird auch die übertriebene Vorstellung des Menschen von sich selbst relativiert. Wahrscheinlich hat die Friedfertigkeit und der unerschütterliche Gleichmut, welche die Kuh inmitten des täglichen Kampfes unendlich vieler Bewerber um Lebenschancen nie verlassen, einen Anteil an jener Gelassenheit und Toleranz der Bewohner Indiens gegenüber den Problemen der Welt, die man in unseren – angeblich gemäßigten – Breiten gelegentlich vermisst. So gesehen kann man die Kuh nicht nur als Umweltformel, sondern auch als Weltformel begreifen. Einen Nachteil freilich hat das indische System: man tritt gelegentlich in einen frischen Kuhfladen. Aber auch dies ist eine naturnahe und außerordentlich weiche Lösung.   

1990 John Rutter (geb.1945) – Magnificat

Auf ein Werk wie John Rutters Magnificat haben die Chöre Europas und Amerikas offenbar gewartet. Es ist eines der nicht gerade vielen Werke eines zeitgenössischen Komponisten, das landauf-landab mit Begeisterung gespielt und gehört wird. Das liegt sicher daran, daß Rutters Umgang mit der musikalischen Tradition erfrischend unvoreingenommen ist. Wiewohl mit allen Wassern neuerer Kompositionstechnik gewaschen, sind ihm modernistische Tabus fremd. Daher darf es auch einmal einfach schön klingen. Das musikalische Material des Werkes ist außerordentlich vielfältig. Thematisch reicht es vom gregorianischen Choral über die Fuge und den Rumba bis zum Rag Time. Der Bogen der Harmonik spannt sich von der einfachen Dreiklangstonalität über impressionistische Ganztonchromatik und filmmusikalische Effekte bis hin zu Jazz und moderner Clusterbildung. Hinzu kommt eine außerordentlich vielfältige Rhythmik, die in ständig wechselnden Takteinheiten notiert ist. Diese hoch differenzierten Mittel werden aber unideologisch eingesetzt, weswegen das Werk auf ganz unmittelbare Weise verständlich ist. Diese Musik will begeistern und ergreifen und das gelingt ihr auch.

Seinem Gegenstand entsprechend – den Empfindungen Marias nach Verkündung ihrer Mutterschaft – , ist das Magnificat durch einen fröhlich-festlichen, aber auch durch einen mitunter betörend (be)sinnlichen Tonfall gekennzeichnet. Sehr frauliche Empfindungen kommen in den lyrischen Passagen zum Ausdruck, die dem Sopran, der einzigen Sologesangsstimme, übertragen sind. In den großangelegten und effektvollen Chorpartien zeigt sich die Herkunft des Komponisten aus der Chorszene Englands, wo er seit langem im universitären und kirchlichen Bereich als Chordirigent wirkt. Eine Herausforderung für die klassischen Sänger ist hier die Jazzfuge des „Fecit Potentiam“. Das stark besetzte Orchester wird außerordentlich wirkungsvoll eingesetzt. Kammermusikalische Solopassagen wechseln mit Tuttiblöcken, in denen die Stimmen mehrfach geteilt sind. Vor allem die reichlich vertretenen Blechbläser dürfen immer wieder fulminante Akzente setzen. Auch in der Fassung für Kammerensemble, in welcher der Bläsersatz ausgedünnt ist, dafür aber die Orgel hinzutritt, verliert die Musik nichts von ihrer Farbigkeit.

Das Magnificat wurde im Mai 1990 in der Carnegie Hall in New York uraufgeführt, der Stadt, der seine Musik offensichtlich viele Anregungen verdankt.

1969 Aulis Sallinen (geb. 1935) – Aspekte des Trauermarsches von Peltoniemi Hintrik für Streichorchester

Aulis Sallinen, der sich inzwischen weltweit einen Namen als Opernkomponist gemacht hat, gilt in seinem Heimatland Finnland als der legitime Nachfolger des populären Jean Sibelius. Diesen Ruf konnte er nicht zuletzt deswegen erlangen, weil er in seinem kompositorischen Schaffen den Hörer nicht aus den Augen verlor. Dies hat natürlich etwas damit zu tun, daß er Distanz zu radikalen musikalischen Zeitströmungen hielt. Bei aller Bereitschaft, Neues zu erkunden, verwirft er weder die Tonalität noch traditionelle Formen der Themenverarbeitung. Dennoch hat man bei Sallinen nicht das Gefühl, er sei kein moderner Komponist. Beim Hören seiner Musik, spürt man sofort, daß es sich um Musik unserer Zeit handelt. Sallinen ist es gelungen, eine unverwechselbare neue Tonsprache zu schaffen, ohne mit der Tradition zu brechen.

 

Dies gilt auch für das Werk „Aspekte des Trauermarsches von Peltoniemi Hintrik“ für Streichorchester. Die Komposition aus dem Jahre 1967, ursprünglich Sallinens 3. Streichquartett, nimmt ihren Ausgangspunkt von einer populären Fidelmelodie. Schon bevor deren verschiedene „Aspekte“ in fünf Variationen durchgespielt werden, hat sie allerhand harmonische und klangliche Abenteuer zu bestehen. Durch die mitunter turbulenten Verfremdungen klingen immer wieder Elemente traditioneller Musik, wodurch der Eindruck entsteht, als wolle der Komponist eine Geschichte erzählen. Es ist zu vermuten, daß dies alles mit Peltoniemi Hintrik zu tun hat, einer offenbar ziemlich schrägen Persönlichkeit, über die wir leider nicht mehr wissen, als das, was uns Sallinen mit seinen eindrucksvollen musikalischen Mitteln darüber zu erzählen weiß.

1959 Jean Francaix (1912 – 1997) – L’Horloge de Flore

Das Werk „L’Horloge de Flore“ (Die Blütenuhr) für Oboe und Orchester entstand im Jahre 1959. Ihm ein Gedicht von Mallarmé zu Grunde, das wiederum eine Idee des großen schwedischen Botanikers von Carl von Linné (1707-1778) aufnimmt. Die verschiedenen Blumen werden in der Reihenfolge vorgestellt, in der sie im Tagesablauf erblühen. Der bunte Reigen, in dem auch Tanzrhythmen wie der Rumba erklingen, beginnt „majestätisch“ mit dem Schneeglöckchen, das seine Kelche bereits nachts um 3 Uhr öffnet. Um 5 Uhr folgt die Cupidone, danach um 10 Uhr die Wachsblume. Zur Mittagsstunde meldet sich – unterstützt von einer Soloklarinette und indischen Tablafiguren – die Jalape von Malabar zu Wort. Auf’s Zarteste „erklingt“ um 17 Uhr die Wunderblume. Gar nicht melancholisch kündigt die Trauergeranie um 19 Uhr die Neige des Tages an, der um 21 Uhr von der Nachtblume beendet wird.

1951/52 Francis Poulenc (1899- 1963) – Capriccio d`après Le Bal masqué, L`Embarquement pour Cythère

Die beiden Stücke für zwei Klaviere sind von nostalgischen Erinnerungen Poulencs an seine Jugend geprägt. Als Kind verbrachte Poulenc den Sommer regelmäßig im Ferienhaus seiner Großeltern in Nogent-sur-Marne unweit von Paris. An die unbeschwerte Stimmung dieser Aufenthalte hat sich der Komponist später gerne erinnert. In dem Städtchen am Ufer der Marne gab es eine Reihe von „guinguettes“, eine Art Café, wo sich abends ein gewisses Nachtleben entfaltete. Die erotisch angehauchte Musik der „bals musettes“ und der Varietés, die Poulenc hier hörte, hat bei ihm einen bleibenden Eindruck hinterlassen. Sie spiegelt sich in vielen seiner Werke. Das „Capriccio“, das im Jahre 1952 entstand, zwei greift in zwei Stufen auf diese Kindheitserinnerungen zurück. Es bezieht sich auf die profane Kantate „Le Bal masqué“, die Poulenc im Jahre 1932 nach Gedichten von Max Jackob, einem Mitglied des Kreises der Surrealisten um André Breton und Paul Éluard, komponierte. Die Kantate wiederum enthält Elemente der Musik, die Poulenc nicht zuletzt in den „guinguettes“ von Nogent-sur-Marne gehört hatte.

 

Ein Jahr vor dem „Capriccio“ hatte Poulenc die Valse musette „L`Embarquement pour Cythère“ komponiert, die ebenfalls die Atmosphäre von Nogent-sur-Marne heraufbeschwört. Er verwendete dabei Musik für den Film „Die Reise nach Amerika“, die er kurz zuvor geschrieben hatte. Der Titel des Werkes spielt auf das Bild gleichen Namens von Watteau an, das Friedrich der Große für seine Sammlung von Rokokogemälden erwarb. In diesem berühmtesten Gemälde des 18. Jahrhunderts wird in schwülen Farben die Einschiffung einer erotisch – erwartungsfrohen Gesellschaft zur Fahrt auf die griechische Liebesinsel Cythera dargestellt. Möglicherweise hat sich Poulenc bei der Wahl des Titels seiner Komposition von der „Liebesinsel“ in der Marne bei Champingy, die er als Jugendlicher in den Sommerferien häufiger durchstreifte, und der Tatsache inspirieren lassen, dass Watteau in Nogent-sur-Marne starb.

1949 Serge Prokofieff (1891-1953) – Sonate für Violoncello und Klavier

Bei russischer Musik des 20. Jahrhunderts stellt sich unweigerlich die Frage nach ihrem Verhältnis zur Politik. In besonderem Maße ist dies bei Prokofieff der Fall. Prokofieff verließ wie Rachmaninow nach der Oktoberrevolution seine russische Heimat und lebte im kapitalistischen Ausland, wo er fast zwei Jahrzehnte als frei schaffender Künstler durch Japan, Europa und Amerika irrte und sich mit der europäischen Avantgarde auseinandersetzte. Erstaunlicherweise (und anders als Rachmanninow) kehrte er jedoch 1936 in die Sowjetunion zurück, in ein Land, das nach anfänglicher Aufbruchstimmung gerade dabei war, künstlerisch bieder zu werden. Wie, so fragt man sich, konnte Prokofieff, der doch das Leben in der freien Welt kennen gelernt hatte, ausgerechnet zu einer Zeit endgültig in die Sowjetunion zurückkehren, in welcher der Stalinismus seine übelste Seite zu offenbaren begann? Die Frage stellt sich um so mehr, als dort wenige Monate zuvor das erste Scherbengericht über die moderne Musik stattgefunden hatte, bei dem insbesondere Schostakowitsch massiv kritisiert und sogar bedroht worden war.

 

Daß Prokofieff, der damals 45 Jahre alt war, unter diesem Umständen in sein Heimatland zurückkehrte, hatte offensichtlich mit der Aussicht zu tun, nicht länger als freischwebender Künstler auf dem freien Markt vagabundieren zu müssen, auf dem man zwar so ziemlich alles machen konnte, was man wollte, auf dem man unter Umständen aber auch nur begrenztes Interesse erregte. Im sozialistischen System hingegen konnte Prokofieff damit rechnen, eine anerkannte Rolle in der Gesellschaft spielen. Darüber hinaus konnte er sich in der Vorstellung wiegen, an der Gestaltung des sozialistischen Staates mitwirken zu können, der immerhin nicht weniger versprach, als das Paradies auf Erden herzustellen. Prokofieff war bereit, hierfür gewisse Abstriche bei der künstlerischen (und persönlichen) Freiheit zu akzeptieren.

 

Wirklich substanzielle Abstriche bei der künstlerischen Qualität lehnte Prokofieff allerdings immer ab. Kurz nach seiner Übersiedlung schrieb er über seine Auffassung vom sozialistischen Realismus: „Die Musik ist in unserem Lande zum Besitz der großen Massen geworden. Deren künstlerischer Geschmack wächst mit unwahrscheinlicher Geschwindigkeit. Deswegen sehe ich jedes Bestreben des Komponisten nach Simplifizierung als falsch an“. In seinen neueren Kompositionen, so schrieb er weiter, habe er sich in keiner Weise bemüht, sich allgemein bekannter harmonischer und melodischer Wendungen zu bedienen. Die Schwierigkeit bestehe darin, „in einer klaren Sprache zu komponieren und daß diese Klarheit nicht die alte, sondern die neue sein muß.“ Von dieser Linie der gemäßigten Modernität hat sich Prokofieff auch nicht abbringen lassen, als er im Jahre 1948 beim zweiten großen Scherbengericht über die neue Musik selbst in die Schußlinie der Partei geriet und man ihm, Schostakowitsch, Khatchaturian und anderen Formalismus, mangelnde Volksnähe und allzu große Nähe zur Musik des dekadenten Westens vorwarf.

 

Dies zeigt nicht zuletzt Prokofieffs Cellosonate, die er im Jahre 1949, also ein Jahr nach dem erneuten Generalangriff der Partei komponierte. Das Werk, das in Zusammenarbeit mit dem großen russischen Cellisten Mistislav Rostropowitsch entstand (dieser war damals gerade 20 Jahre alt), wirkt bei aller Klarheit der Form und trotz seiner eingängigen Melodik und verständlichen Harmonik niemals rückwärtsgewandt oder epigonenhaft.

 

Prokofieff blieb bekanntlich der Sowjetunion und ihrem damaligen Repräsentanten Stalin bis zu seinem Tode treu. Merkwürdigerweise starb er am gleichen Tag und Ort wie Stalin, nämlich am 5.März 1953 in Moskau. Im Gegensatz zu Stalins „Werk“ lebt seine Musik, ebenso wie die von Schostakowitsch, Khatchaturian und anderer, die ähnliche Qualitätsbegriffe hatten, weiter. Diese Musik hat sogar beste Chancen, manche Musik des Westens aus dieser Zeit zu überleben. Es könnte sein, daß von der Musik, die um die Mitte des 20. Jahrhunderts entstand, auf lange Sicht besonders viel aus dem Bereich der ehemals sozialistischen Länder übrig bleibt. Dies hat damit zu tun, daß die Komponisten hier – wenngleich durch eine engherzige Kulturbürokratie – gezwungen wurden, auf den Bezug dessen zu achten, was man die (soziale) Realität nannte, mit anderen Worten nicht abzuheben und auf dem Boden der Tatsachen zu bleiben.

 

Auf den ersten Blick scheint dies ein merkwürdiges Ergebnis des sozialistischen Realismus. So ganz ungewöhnlich wäre eine solche Karriere von Musik dann aber auch wieder nicht. Auch in der Klassik ist nicht die schlechteste Musik in sozialen Verhältnissen und für solche entstanden, mit denen wir heute nichts mehr zu tun haben wollen. Der Grund dafür dürfte sein, daß sich die Musik von ihrem engen sozialen Kontext emanzipieren konnte, was nicht zuletzt deswegen möglich war, weil sie ihre allgemeine Bedeutung aus der Reibung mit diesem Kontext gewann.

1947 Richard Strauss (1864 – 1949) – Duett-Concertino für Klarinette, Fagott und Streicher mit Harfe

Im Duett-Concertino, dem die Idee zu Grunde liegt, die lustige Klarinette gegen das traurige Fagott auszuspielen, haben die Interpreten, die Strauss stets im Verdacht der Programmusik haben, immer ein Programm gesucht. Ihm soll Andersen Märchen vom Schweinehirten Modell gestanden haben. Demnach würde es darum gehen, daß ein Schweinehirt (Fagott) um eine kapriziöse Prinzessin (Klarinette) wirbt. Es ist allerdings auch von einem Bären die Rede, der sich in eine Prinzessin verliebt hat, was zeigt, daß die Sache nicht so ganz einfach ist. In Wirklichkeit hat Strauss, der am Aufkommen beider Versionen eine gewisse Mitschuld trägt, seinen Kritikern ein Schnippchen geschlagen. Die beiden ersten Sätze können als Programmmusik verstanden werden, das Rondo aber ist absolute Musik. Der greise Meister, der nach einem musikalischen „Heldenleben“, welches ihn durch alle Höhen und Tiefen der Empfindung führte, zu heiterer Einfachheit zurückkehrt, beschwört hier „im schwebenden musikalischen Spiel ein kleine Welt reiner Märchenschönheit“.

1945 Richard Strauss (1864 – 1949) – Konzert für Oboe und kleines Orchester

Am 22. März 1947 wandte sich der argentinische Musikschriftsteller Johannes Franze brieflich an Richard Strauss mit der Bitte, er möge seinen Londoner Verlag dazu veranlassen, ihm, Franze, wie vor dem Krieg, wieder die Klavierauszüge seiner neueren Schöpfungen zu senden. Man habe in Buenos Aires zwar alles von Strawinski und de Falla gehört, man kenne viel von jungen russischen und nordamerikanischen Komponisten, „aber“, so fuhr er fort, „die Wucht, Größe, Leidenschaft und zugleich Feinheit, Wärme, Farbe und Poesie Ihrer Tonsprache wird unnachahmlich bleiben und für immer in die Geschichte eingehen“. Am 1.4.1947 antwortete Strauss, er werde der „ausgezeichneten und sehr rührigen“ Firma „Boosey und Hawkes“, der er seinen Nachlass anvertraut habe, diesen Wunsch ans Herz legen. Allerdings sei sein Lebenswerk mit den Opern „Liebe der Danae“ und „Capriccio“ beendet. In Anschluss daran listet er dann aber eine Reihe von Kompositionen, im wesentlichen Instrumentalwerke, auf, welche er danach noch geschrieben hatte. Bei diesen Stücken, so merkte er in der für ihn typischen lakonischen Art an, handele es sich um „Werkstattarbeiten, damit das vom Taktstock befreite rechte Handgelenk nicht vorzeitig einschläft“. Zu den genannten Werken gehörte auch das „Konzert für Oboe und kleines Orchester“, das Strauss im Jahre 1945 komponiert hatte.

 

Das Oboenkonzert steht in einem merkwürdigen Verhältnis zu den unmittelbar davor entstandenen „Metamorphosen für 23 Solostreicher“, die ebenfalls in der Liste der „Werkstattarbeiten“ aufgeführt sind. Dieses hoch komplexe und rätselhafte Werk, das manche für das Bedeutendste des Komponisten halten, spiegelt die tiefe Depression, in die Strauss angesichts der Zerrüttung der allgemeinen und nicht zuletzt seiner persönlichen Verhältnisse am Ende des Krieges gefallen war. Es ist eine höchst persönliche, von Selbstmitleid nicht freie Auseinandersetzung mit der deutschen Tragödie, in der Strauss als zeitweiliges Aushängeschild des nationalsozialistischen Regimes Handelnder, zugleich aber künstlerisch und wirtschaftlich auch Leidtragender war. Strauss hat im letzten Kriegsjahr immer wieder zum Ausdruck gebracht, wie tief ihn gerade die Zerstörung der  Opernhäuser, vor allem natürlich „seiner“ Häuser in München, Dresden und Wien getroffen hatte. Ihr Verlust war für ihn Symbol für ein mögliches Ende der deutschen Kultur, ja überhaupt der Kultur. Die Stimmung, in der er sich seinerzeit befand, offenbart sich etwa in einem Brief vom 5. April 1945 an den Wagnerforscher Golther, der mitten in die Zeit der abschließenden Arbeit an den „Metamorphosen“ fällt. Darin heißt es, dass nun die „zweihundertjährige deutsche Kultur zu versinken, die deutsche Musik zu erlöschen oder zumindest in der seelenlosen Maschine zu entarten drohe“. Sein eigenes künstlerisches Leben sei beendet und er komme sich „wie ein lebendig Begrabener“ vor. Die „Metamorphosen“ sind ein lamentöser Rückblick auf eine Kulturepoche, die sich – in Straussens damaliger Sicht – im Untergang befand, was für den Komponisten, der sich als den letzten große Repräsentanten dieser Entwicklung sah, dem Ende der Musikgeschichte gleichkam. Dem entspricht, dass er in diesem Werk so etwas wie die Summe der (satztechnischen) Möglichkeiten der Epoche zieht. In einer gewaltigen Anstrengung wagt er ein Werk für 23 Solostimmen, die sich – das überkommene Variationenprinzip auf die Spitze treibend – zu einem Geflecht verbinden, das an Dichte und Beziehungsreichtum kaum mehr zu überbieten ist.

 

Es ist als habe Strauss sich mit den „Metamorphosen“ seine Probleme von der Seele komponiert. Wenige Wochen danach entstand das Oboenkonzert, in dem die Stimmung schon wieder wesentlich optimistischer ist. Inzwischen hatte Strauss unmittelbaren Kontakt mit den amerikanischen Besatzungstruppen, die ihm die nötige Ehre erwiesen, u.a. indem sie von ihm Autogramme – möglichst mit ein paar Takten aus dem „Rosenkavalier“ – erbaten und seine Villa in Garmisch als „off limits“ einstuften. Die Besatzer, die er kurz zuvor in seinem Tagebuch als „verbrecherische Soldateska“ bezeichnet hatte, die „unersetzliche Baudenkmäler zerstören“, erschienen ihm nun „äußerst lebenswürdig und wohlwollend“ (Brief vom 10.5.1945 an seinen Biographen Schuh).

 

Unter den Soldaten, die Strauss aufsuchten, war auch der damals 24 – jährige John de Lancie aus Chicago, der im Zivilberuf Oboist war. De Lancie berichtet über sein Gespräch mit Strauss: „Ich erinnere mich, dass ich damals dachte, ich könne nichts zu dem Gespräch beitragen, das den Komponisten auch nur am Rande interessierte. Einmal jedoch nahm ich allen meinen Mut zusammen und begann über die herrlichen Oboenstimmen zu sprechen, denen man in so vielen seiner Werke begegne…. Ich wollte wissen, ob er zu diesem Instrument eine besondere Affinität habe, und da mir sein Hornkonzert bekannt war, fragte sich ihn, ob er jemals an ein Konzert für die Oboe gedacht habe. Seine Antwort war ein klares <Nein>! Das war so ziemlich alles, was ich aus ihm heraus bekommen konnte.“ Der Amerikaner scheint aber doch Eindruck auf den Komponisten gemacht zu haben. Kurz darauf begann Strauss mit der Komposition eines Konzertes für dessen Instrument.

 

Im Oboenkonzert, das wieder wunderbar durchsichtig ist, führt Strauss das Soloinstrument in weit gesponnenen Girlanden aus einer elegischen Grundhaltung in immer lichtere Höhen. Die Stimmung der „Metamorphosen“ ist aber noch nicht ganz überwunden. Dies zeigen neben dem untergründigen Grummeln der Streicher, welches besonders den ersten Teil durchzieht, vor allem die zahlreichen Anspielungen auf das Vorgängerwerk. So findet sich auch hier der auf einem Ton klopfende Themenkopf, der in den „Metamorphosen“ mit verstörenden Tonartrückungen streckenweise unerbittlich wiederholt wird. Anders als dort, wo er sich schließlich resignierend in das Thema des Trauermarsches aus Beethovens „Eroica“ verwandelt, erscheint er im Oboenkonzert aber als ferne Erinnerung und wird versöhnlich fortgesetzt. Nach einem nachdenklichen Mittelteil wird die elegische Stimmung im letzten Teil weitgehend überwunden: Gelegentlich breitet sich sogar Walzerseligkeit im Stile des „Rosenkavaliers“ aus, aus dessen Musik Strauss, dessen Stimmung sich zusehends aufheiterte, übrigens unmittelbar danach eine fulminante Orchestersuite machen sollte. Auch sonst gibt es zahlreiche Anspielungen auf die musikalische Tradition, nicht zuletzt auf Strauss` Vornamensvetter Richard Wagner, aus dessen „Siegfried – Idyll“ weitgehend das thematische Material des mittleren Teiles stammt.

 

Kurz nach der Vollendung des Particells des Oboenkonzertes übersiedelte Strauss, der die Entnazifierungsverfahren und die Entbehrungen der Nachkriegszeit fürchtete, mit Zustimmung des zuständigen amerikanischen Offiziers in die Schweiz, wo er gegen einigen publizistischen Widerstand im dortigen Musikleben Fuß zu fassen versuchte. Hier vollendete er in seinem vorläufigen Domizil, dem Hotel Verenahof in Baden, im Oktober 1945 die Partitur des Konzertes. Am 25. Januar 1946 fand in Zürich die Uraufführung der „Metamorphosen“ statt, an der Strauss, wohl wegen der besonderen Bedeutung, die das Werk für ihn hatte, nicht teilnahm. Er dirigierte es am Vortag nur einmal in einer Probe. Einen Monat später, am 26. Februar, wurde das Oboenkonzert  – ebenfalls in Zürich – erstmals aufgeführt. Strauss lud dazu de Lancie ein, der aber nicht kommen konnte, weil er in Amerika war. Da die Veranstalter (politische) Bedenken gegen Strauss hatten, wies man ihm einen Platz im Hintergrund des Saales an. Kurz vor Beginn des Konzertes ging aber eine Zuhörerin, die in der ersten Reihe saß, auf Strauss zu und tauschte mit ihm den Platz, was der Komponist als Beginn des Wiedereintritts in die Musikgeschichte empfunden haben dürfte.

Weitere Texte zu Werken von Strauss und rd. 70 anderen  Komponisten siehe Komponisten- und Werkeverzeichnis

1944 Aram Khatchaturian (1903 – 1978) – Walzer aus der Maskerade-Suite

Wie Schostakowitsch, dessen Lebensdaten er weitgehend teilt, ist Khatchaturian eine sowjetische Künstlerpersönlichkeit, die im Zwiespalt zwischen persönlichem Ausdruckswillen und der Forderung nach sozialistischem Realismus eine Musik schuf, die zugleich hörbar und zeitgemäß war. Wie Schostakowitsch war er Zielscheibe der engherzigen sozialistischen Kulturkritik, zugleich aber auch in die volkspädagogischen Bestrebungen des Regimes eingespannt. Khatchaturians großes Engagement auf diesem Feld spiegelt sich nicht zuletzt in seinen zahlreichen Bühnen- und Filmmusiken wieder, aus denen wiederum eine ganze Reihe Suiten hervorgegangen sind. Für angewandte Musik dieser Art war der Komponist wegen seines ausgeprägten Sinnes für Farbe und Rhythmus, der aus der Verwurzelung in der Musik seiner armenischen Heimat resultiert, geradezu prädestiniert.

 

Die Maskerade-Suite entstand aus der Musik zu dem gleichnamigen Schauspiel des russischen Romantikers Mikhail Lermontow, die Khatchaturian im Jahre 1944 komponierte. Der außerordentlich temperamentvolle und eingängige Walzer daraus, der mit seiner übermütigen Laune in einem merkwürdigen Kontrast zu der bedrückenden Stimmung der Kriegszeit steht, in der er geschrieben wurde, ist zu so etwas wie einem Markenzeichen für den Komponisten geworden.

 

1943 Benjamin Britten (1913-1976) – Serenade für Horn, Tenor und Streichorchester

Die Künstlerfigur Benjamin Britten widerlegt den vermeintlichen Erfahrungssatz, daß ein Klassiker der Musik eine Person sei, die allenfalls unsere Großeltern noch persönlich erleben haben konnten. Viele der heutigen Konzertbesucher haben den Engländer, mit dem sich wie selbstverständlich die Vorstellung von Klassizität verbindet, noch vor weniger als 30 Jahren durch die Konzertsäale Deutschlands ziehen sehen. Die Liederabende mit seinem Lebensgefährten Peter Pears, bei denen neben den großen Werken der Liedtradition auch viele seiner eigenen Lieder aufgeführt wurden, waren denkwürdige Ereignisse. Ihre „Winterreise“ von Schubert galt lange Zeit als die Alternative zur der alles beherrschenden Interpretation von Dietrich Fischer-Dieskau.

Ein „Klassiker“ ist Britten schon deshalb, weil er sich, ohne die Entwicklungen seines Jahrhunderts zu verleugnen, konsequent einer verständlichen und melodiösen Tonsprache bediente. Seine Werke sind bei aller Beweglichkeit des musikalischen Materials fest in der Tonalität verwurzelt und haben eine übersichtliche Faktur. Wichtig war Britten auch der Kontakt zu den ausübenden Musikliebhabern und zur Jugend, was nicht die schlechteste Voraussetzung für eine Klassifizierung ist. Dies hat uns so populäre Werke wie „Young Person’s Gide to the Orchestra“ und die „Simple Symphony“ beschert. Hinzu kommt, daß Britten für das Musikleben Englands eine ähnlich überragende Bedeutung hatte wie etwa die Wiener Klassiker für den deutschsprachigen Raum. Er schrieb die erste bedeutende englische Oper nach Henry Purcell und beendete damit eine Durststrecke der englischen Opernproduktion, die nicht weniger als 250 Jahre andauerte. Brittens insgesamt 17 Bühnenwerke, darunter ein Ballett für John Cranko, trugen entscheidend zur Wiederbelebung des englischen Musiktheaters bei, das zuvor weitgehend darniederlag. Zwischen den beiden Weltkriegen gab es im ganzen Land nur zwei regelmäßig bespielte Opernhäuser, auf denen dazu fast nur ausländische Kompagnien gastierten.

Neben der Oper hat sich Britten vor allem mit zahlreichen Liederzyklen hervorgetan. Einer der beliebtesten ist die Serenade Op.31 für Horn, Tenor und Streichorchester, die im Jahre 1943 entstand. Dem Werk, das auf nostalgische Weise die Formen der musikalischen Tradition verwendet, liegen englische Gedichte aus mehreren Jahrhunderten zum Thema Nacht und Traum zugrunde. Wie fast alle Vokalkompositionen Brittens ist die Serenade für Peter Pears geschrieben, der sie am 15.Oktober 1943, mitten im Krieg, in der Londoner Wigmore Hall aus der Taufe hob. Die Komposition gilt als das Werk, mit dem der 29-jährige Britten seinen eigenen Ton fand. Er selbst meinte allerdings, das Stück sei „nicht sonderlich wichtig“. Dabei mag eine Rolle gespielt haben, daß er gleichzeitig an seiner ersten großen Oper, „Peter Grimes“, arbeitete, die wenige Monate später seinen Weltruhm begründen sollte.

Zu Brittens Stellung als musikalischer Klassiker hat allerdings schon die Serenade Op.31 einen wesentlichen Beitrag geleistet. In der Besprechung der Uraufführung schrieb William Glock, der Kritiker des „Observer“: „Mit einer gewissen Traurigkeit habe ich immer meinem Vorgänger (im Amt des Kritikers), Fox-Strangways, von seinem Glück erzählen hören, daß er als junger Mann die reifsten Werke von Brahms unmittelbar nach ihrer Entstehung hören konnte. Jetzt geht es mir anders, denn mit Benjamin Britten haben wir endlich einen Komponisten, der uns ebenso große Visionen bietet. Seine neue Serenade übertrifft an Kraft und Gefühl alles, was er bisher geschrieben hat.“

1942 Jean Francaix (1912-1997) – Divertissement für Fagott und Orchester

Das Divertissement für Fagott und Streicher entstand mitten im 2. Weltkrieg (1942). Vielleicht ist die Tatsache, daß es der Zeitstimmung völlig entgegengesetzt war, der Grund dafür, daß es das Licht der Welt erst in tiefsten Friedenszeiten erblickte. Die Uraufführung fand nämlich im Mai 1968 in Schwetzingen statt. Das Werk macht seinem Namen alle Ehre. Es ist im besten Sinne des Wortes unterhaltend: witzig, gelegentlich sogar frech, stimmungsvoll und gespickt mit raffinierten Rhythmen. Vorsicht ist bei allzu schnellem Urteil geboten: Auch dort, wo sich das Fagott total zu verheddern scheint, hat der Meister Regie geführt!

1942 Igor Strawinski (1882 – 1971) – Zirkus-Polka

Die Musikfarce vom Frühjahr 1942 wurde tatsächlich für den Zirkus und zwar für eine Elefantennummer des New Yorker Zirkus Barnum und Bailes geschrieben. Die Originalfassung sah dementsprechend eine Zirkusbandbesetzung vor. Strawinski schuf jedoch auch die Orchesterversion. Wie so häufig bei Strawinski enthält auch dieses in der Tradition der russischen Orchesterscherzi stehende Werk eine – recht turbulente – Auseinandersetzung mit der Musikgeschichte. Darin versteckt sind „Zitate“ von Tschaikowski, Johann Strauß, Ravel und vor allem von Schubert (aus dem vierhändigen Militärmarsch in D-Dur). Der Erfolg der Polka war beachtlich. Sie ging bei Barnum und Bailes 425 Mal „über die Manege“. Die Elefanten allerdings verhielten sich so, wie die Hüter des Musikerbes auf Strawinskis Musik häufig reagierten. Sie waren verwirrt und hatten, ganz anders als bei Walzern, Schwierigkeiten, den Takt zu halten.  

Erstaunlich ist der Weg der Zirkuspolka nach Europa. Im August 1945 fanden nach der japanischen Kapitulation in den USA die Feierlichkeiten zur endgültigen Beendigung des 2. Weltkrieges statt, an denen General de Gaulle als Chef der französischen Übergangsregierung teilnahm. Er rief persönlich bei Strawinskis New Yorker Verlag an, bestellte die Partitur und nahm sie mit, wodurch sie in Strawinskis zeitweilige frühere Heimat Frankreich gelangte.

1939 Joaquín Rodrigo (1901-1999) – Konzert für Guitarre und Orchester (Concierto de Aranjuez)

Aranjuez kennt man hierzulande vor allem aus Schillers „Don Carlos“, dessen spanisches Schauspiel mit den Satz beginnt: „Die schönen Tage in Aranjuez sind nun zu Ende.“ Mit diesem Satz könnte man auch weite Teile der Entwicklung der neueren Kunstmusik überschreiben. Spätestens ab der Mitte des 20. Jahrhundert war – jedenfalls in ihrer mitteleuropäischen Kernregion – die „Belle Époque“ der Kunstmusik mehr oder weniger vorbei. Auf dem Hintergrund der sozialen Katastrophen des 20. Jh. wurde die Musik hier zunehmend zum Medium der Reflexion über die Welt und ihre Probleme und zum Experimentierfeld zur Gewinnung außergewöhnlicher Erfahrungen und Erkenntnisse. Die Fragen, die man dabei verhandelte, waren meist von ernster und abstrakter Natur. Die Musikliebhaber folgten diesen Fragestellungen, vor allen aber den Antworten, welche die Komponisten darauf fanden, nur begrenzt. Dem entsprechend war das Verhältnis von Komponist und Publikum in erster Linie von Spannungen geprägt. Die – gute alte – Zeit, in welcher der gebildete Bürger die zeitgenössische Musik ohne weiteres als seine Musik empfand, war damit zum Ende gekommen. So ist es denn auch kein Wunder, dass danach nur noch wenige Werke der Kunstmusik ins allgemeine Bewusstsein vordrangen. Insbesondere aus den letzten zwei Dritteln des 20. Jahrhundert hat kaum mehr ein Werk der „seriösen“ Musik eine Popularität erlangt, wie sie Schlüsselwerke der Klassiker haben.

 

Die Ausnahme ist Rodrigos „Concierto de Aranjuez“. Es ist eines der bekanntesten Werke der „klassischen“ Musik überhaupt. Den Ganztonvorhalt, mit dem das Thema des zweiten Satzes beginnt, hat man sogar die berühmteste „Sekunde“ der Musik genannt. Das Werk wurde im Jahre 1939 komponiert, drei Jahre nachdem mit „Carmina Burana“ ein weiteres der raren Werke der neueren Musik entstand, die es noch ins allgemeine Bewusstsein schafften. Mit dem „Concierto der Aranjuez“ beschwört Rodrigo noch einmal die schönen Tage der Musik. Schon der Titel, der auf den gleichnamigen barocken Sommerpalast der spanischen Könige und seine prachtvollen Gartenanlagen anspielt, zeigt, dass es dabei weniger um die akuten Probleme der Zeitgenossen ging, wie sie etwa der zu Ende gehende spanische Bürgerkrieg durchaus stellte, sondern in erster Linie darum, sich einmal davon zu erholen. Dennoch ist Rodrigos Konzert keine bloße Unterhaltungsmusik. Der Komponist schöpft zwar reichlich aus der spanischen Folklore, insbesondere dem Flamenco, verarbeitet diese aber mit den seriösen Mitteln des Neoklassizismus, eine der herrschenden Kompositionsströmungen seiner Zeit. Im langsamen Satz geht es sogar außerordentlich ernsthaft zu. Rodrigo soll mit dessen Komposition begonnen habe, nachdem er erfahren hatte, dass bei der Schwangerschaft seiner Frau eine lebensgefährliche Komplikation aufgetreten sei. Man hat diesen beeindruckenden Satz daher als Gebet oder besser noch als Zwiegespräch mit Gott interpretiert, zumal Rodrigo darin eine Saeta anstimmt, eine Klagemelodie, die bei den Festprozessionen der Semana Santa in Sevilla erklingt.

 

Für Rodrigo, der im Alter von 3 Jahren fast vollständig erblindete, war das Werk der Auftakt für eine ganze Reihe von Konzerten, die er teilweise im Auftrag bekannter Instrumentalisten schrieb, darunter mehrere Konzerte für bis zu vier Gitarren. Der Komponist, dessen Leben das problematische 20.Jh. fast ganz ausfüllt, hatte in der Folge wichtige Ämter im spanischen Kulturleben inne und wurde, anders als seine mitteleuropäischen Kollegen, in hohem Maße vom Publikum geliebt. Dafür, und nicht zuletzt, weil er, allen persönlichen und gesellschaftlichen Problemen zum Trotz, die „gute“ Stimmung (bei)behielt, wurde er 1991 in den Adelsstand mit dem sinnigen Titel eines „Marquis der Gärten von Aranjuez“ erhoben.

 

1938 Bela Bartók (1881-1945) – Konzert für zwei Klaviere und Schlagzeug und Orchester

Anfang des 20. Jh. herrschte in Europa bei vielen schöpferischen Musikern das Gefühl, daß das spätromantische Musikidiom mit seinen hochartifiziellen und weit ausdifferenzierten Ausdrucksmitteln die Grenzen seiner Entwicklungsmöglichkeiten erreicht habe. Überall machten sich daher junge Komponisten auf die Suche nach neuen Ausdrucksmöglichkeiten. Einige der „Jungen Wilden“ wandten sich dabei den Grundlagen der Musik zu. Bela Bartók etwa erforschte die Volksmusik Südosteuropas in der Absicht, in der „primitiven“ Musik „vorzivilisatorische“ Elemente zu finden. Die Beschäftigung mit der hergebrachten Musik der Balkanvölker sollte die Grundlage für außerordentlich neue Musik werden.

 

Ein Ergebnis dieser Besinnung auf die Grundlagen der Musik war, daß Bartók im Klavier, weil hier Hämmer auf Saiten geschlagen werden, vor allem ein Perkussionsinstrument sah. Dies führte nicht nur dazu, daß der rhythmische Aspekt in seiner Klaviermusik im besonderen Maße hervorgehoben ist. Es legte auch nahe, Schlagzeug und Klavier musikalisch unmittelbar aufeinander zu beziehen.

 

Dieser Gedanke liegt bereits Bartóks erstem Klavierkonzert aus dem Jahre 1926 zu Grunde. Schon optisch tritt das Schlagzeug hier aus dem Hintergrund – in der Partitur ist vermerkt, daß es „womöglich unmittelbar hinter dem Klavier aufgestellt“ werden soll. Inhaltlich spielen beide Instrumente ähnliche Rollen. Das musikalische Material dieses Konzertes ist fast ausschließlich rhythmischer Natur, wobei es – der Suche nach „vorzivilisatorischen“ Elementen entsprechend – außerordentlich hart zugeht.

 

Auch im zweiten Klavierkonzert aus dem Jahre 1930 sind Klavier und Schlagzeug auf besondere Weise verbunden. Durch zahlreiche Anspielungen an die „zivilisierte“ Musiktradition markiert Bartók hier aber so etwas wie einen Gegenpol zur Wildheit des ersten Konzertes. Das Klavier wird im Sinne der Romantik wieder mehr als Akkordinstrument behandelt.

 

Im Konzert für zwei Klaviere und Schlagzeug wird schließlich die Synthese erreicht. Auf dem Höhepunkt seiner Meisterschaft sucht Bartók hier die Balance zwischen Perkussion und Akkord. Daher sind die umfangreichen Perkussionsinstrumente – zu ihrer Bedienung bedarf es zweier Personen – hier einerseits echte Soloinstrumente, andererseits werden ihnen, um ein Übergewicht zu verhindern, zwei Klaviere gegenübergestellt. Auch hier hat Bartók die Anordnung der Instrumente genau vorgeschrieben. Das Schlagzeug soll zentral zwischen die beiden Klaviere positioniert werden, die ihrerseits schräg gegeneinander zu stellen sind.

 

Inhaltlich hat der Komponist, der auf der Suche nach Neuem zuvor nicht selten das Extreme wählte, Rhythmik und Melodik versöhnt. Das Werk gilt als „eines der in jeder Hinsicht vollkommensten und bedeutsamsten Meisterwerke“ in Bartóks Oeuvre. Wegen seiner inneren Logik und Übersichtlichkeit trägt es geradezu klassische Züge. An typisch Bartók´scher Dynamik und Expressivität fehlt es deswegen nicht. Der zweite Satz etwa ist ein besonders schönes Beispiel für die wundersamen Nachtstücke, die wir von Bartók besitzen. Man hat darin eine Naturschilderung, etwa ein Vogelkonzert in einem Wald gesehen. Im übrigen ist das Werk gekennzeicnet durch eine ausgeprägte lineare Polyphonie, die sich aus den unterschiedlichen Klangebenen der Soloinstrumente ergibt, sowie durch ausgeklügelte Polyrhythmik und ständige Schwerpunktverlagerungen. Die Behandlung des Schlagwerkes ist außerordentlich differenziert. Bartók gibt genaue Anweisungen, an welcher der Stelle das jeweilige Instrument mit welchem Teil des Schlagwerkzeuges zu schlagen ist, wodurch regelrechte Klangfarbenmelodien entstehen (besonders deutlich am Anfang des zweiten Satzes).

 

Das Konzert verdankt seine Entstehung einem Auftrag von Paul Sacher aus dem Jahre 1937. Für ihn und sein Basler Orchester hatte Bartók kurz zuvor bereits die berühmt gewordene „Musik für Saiteninstrumente, Schlagzeug und Celesta“ geschrieben, deren Klangwelt das Konzert nahe steht (es gilt als deren „jüngerer Bruder“).

 

Ursprünglich hatte die Komposition die Form einer Sonate für zwei Klaviere und Schlagzeug. Als solche wurde sie am 16. Januar 1938 auch in Basel uraufgeführt. Seinerzeit spielten Bartók und seine zweite Frau die Klavierpartien, wobei seine Frau erstmals öffentlich auftrat. Es war einer der größten Erfolge Bartóks beim Publikum und bei der Kritik. Auf Bitten seines Verlegers schrieb Bartók in den folgenden Jahren die Orchesterfassung. Sie wurde erstmals am 21. Januar 1943 unter Fritz Reiner in New York, wiederum mit Bartók und seiner Frau als Pianisten aufgeführt. Es sollte der letzte öffentliche Auftritt des Komponisten sein.

 

1936 Samuel Barber (1910 -1981) – Adagio für Streicher

Das Adagio von Barber, eines der bekanntesten Werke der amerikanischen ernsten Musik, ist in Europa entstanden. Barber schrieb es im Jahre 1936 als Stipendiat der Amerikanischen Akademie in Rom. Das ungemein expressive Werk bildete ursprünglich den zweiten Satz eines Streichquartettes. Sein Eigengewicht erwies sich jedoch als so groß, daß es schon bald eigene Wege ging. Kein geringerer als der Europäer Arturo Toscanini führte es im Jahre 1938 in New York erstmals als selbständiges Orchesterwerk auf und spielte es auf Schallplatte ein. Im Jahre 1960 ließ Barber es zum Text des Agnus Dei auch als Chorwerk erscheinen.

 

Das Adagio ist ein exzeptionelles Werk. In einer Zeit, in der die musikalische Avantgarde Europas die traditionelle Musiksprache für verbraucht hielt, zeigt ein 26-jähriger aus dem Land der unbegrenzten Möglichkeiten den Europäern gewissermaßen auf ihrem eigenen Terrain, welch‘ ungeheure Ausdrucksmöglichkeiten noch in dem alten Idiom steckten. In dem kurzen Werk läuft ein Drama ab, das an Spannung kaum zu überbieten ist. Barber führt die Musik auf höchst  abenteuerliche Wege und eröffnet grandiose Klangräume. Daß ihm der Hörer dennoch folgen kann, liegt ohne Zweifel nicht zuletzt daran, daß Barber die musikalische Textur und Harmonik, die dem Hörer vertraut ist, nie ganz verläßt.

 

1935 Jean Francaix (1912-1997) – „Sept Danses“ für 10 Bläser

Es gibt Komponisten der sogenannten ernsten Musik, die noch nicht lange tot sind, deren Musik man aber trotzdem ohne ein philosophisch-musikologisches Handwörterbuch auf dem Schoß hören und spontan genießen kann. Einer dieser Komponisten ist Jean Francaix. Daß seine Musik noch „hörbar“ ist, liegt auch daran, daß er sich weigerte, seinen in der Nachfolge Poulencs und der Gruppe der „Six“ einmal gefundenen „neoklassizistischen“ Stil aufzugeben und die Moden der Avantgarde mitzumachen. Francaix lehnte es konsequent ab, gewisse Grenzen zu überschreiten und historisch Gewachsenes vollständig über Bord zu werfen. Für ihn war etwa ein so altmodisches Konzept wie die Verständlichkeit der musikalischen Sprache verbindlich geblieben. Bei den Musiktheoretikern hat ihm dies wenig Ehre eingebracht. Während mancher Experimentator einen großen publizistischen Wirbel verursachte, gibt es kaum Literatur über Francaix und sein großes Oeuvre. Zeitweilig hat man sogar die Frage gestellt, ob er überhaupt ein ernstzunehmender Musiker sei. Anlaß dazu hat erstaunlicherweise die Tatsache gegeben, daß seine Musik bei aller Komplexität immer leicht und elegant ist und meist einen hintergründigen Humor hat. Verübelt hat man ihm nicht zuletzt, daß er auch die Musik auf die Schippe nahm, die den mehr oder weniger alleinigen Anspruch erhebt, zeitgenössisch zu sein.

 

Sehr im Gegensatz zu der Einstellung, welche ihm die Interpreten des musikalischen Zeitgeistes entgegenbrachten, steht die Beliebtheit seiner Werke bei den Musikliebhabern. Wer das genannte Handwörterbuch beiseite legt, kann sich dem Charme dieser Musik kaum entziehen. Hinzu kommt, daß seine Werke nicht nur hörbar, sondern auch mit vertretbarem Aufwand spielbar sind. Francaixs Kompositionen werden daher auch weit häufiger aufgeführt als die Stücke derer, die als die Speerspitze des musikalischen Fortschrittes in der zweiten Hälfte unseres Jahrhunderts gelten. Irgendwann wird man Francaix vermutlich als Beweis dafür heranziehen, daß die Entwicklung der modernen Musik nicht gradlinig in Richtung Grenzüberschreitung verlaufen ist. Anzeichen hierfür sind schon jetzt ersichtlich. Als man sich unter dem Stichwort „Postmoderne“ wieder mit den Grenzen der Grenzverletzung beschäftigt, erfreute sich auch Francaix wachsender Wertschätzung. Dies zeigen vor allem die zahlreichen Kompositionsaufträge, die er den 90-er Jahren erhielt.

 

Die „Sieben Tänze“ stammen aus dem Ballett „Les Malheurs de Sophie“ aus dem Jahre 1935 . Sie spiegeln die „typisch französische“, heiter-melancholische Stimmung dieser Zeit, die sich auch bei Ravel und Poulenc oder in einem Film wie „Die Kinder des Olymp“ findet. Francaix, der seinerzeit die Musik zu mehreren Balletten schrieb, zeigt auch darin, daß seine Stärke nicht zuletzt im Entwerfen tänzerischer Charaktere liegt.

 

1932 Francis Poulenc (1899- 1963) – Konzert für 2 Klaviere und Orchester

Francis Poulenc war Mitglied eines französischen Künstlerkreises, in dem gegen Ende des ersten Weltkrieges im Rahmen der allgemeinen künstlerischen Aufbruchstimmung der Zeit die Forderung nach einer neuen, spezifisch französischen Musik aufkam. Das Hauptanliegen dieses Kreises war, die Musik von den Einflüssen deutscher Romantik in der Nachfolge Wagners zu befreien. Als germanisch beeinflusst in diesem Sinne galt dabei auch die impressionistische Musik Debussys, die man heute eher als Markenzeichen französischen Geistes ansieht. Die romantische Musik, so hieß es, sei „nebulös“ und „dunstig“, habe keine Struktur und keinen Rhythmus, wirke wie eine Droge und gaukle eine quasireligiöse Sphäre von Ernsthaftigkeit und Unantastbarkeit vor. Dagegen stellte man die „klassischen“ französischen Ideale der Klarheit, Einfachheit, Weltlichkeit und Unterhaltsamkeit, die man vor allem bei Komponisten wie Couperin und Rameau verwirklicht sah. Das literarische Sprachrohr der Gruppe war Jean Cocteau, der die Maximen der Bewegung im Jahre 1918 unter Berufung auf die Musik von Eric Satie in der Schrift „Le Coq et L`Arlequin“ formulierte, wobei „Le Coq“ für den gallischen Hahn steht und „L`Arlequin“ in der (Neben)Bedeutung eines aus Resten zusammenkochten Gerichtes gemeint ist. Zwei Jahre später konstatierte der Kritiker Henri Collet, Cocteaus Vorstellungen würden in besonderem Maße von den jungen französischen Komponisten Poulenc, Honnegger, Milhaud, Durey, Auric und Tailleferre verwirklicht. In Anlehnung an die „Fünf“ des russischen „Mächtigen Häufleins“ um Rimski-Korsakow bezeichnete Collet die Gruppe als die „Six“. Unter dieser griffigen Bezeichnung ging die Gruppe, die wegen ihrer antiavantgardistischen Position zum Gegenstand heftiger Kontroversen wurde, trotz recht unterschiedlicher Ausrichtung und Entwicklung ihrer Mitglieder in die Musikgeschichte ein.  

Poulenc galt als reinster Vertreter der neuen gallischen Richtung. Tatsächlich hielt er sich in seiner ersten Kompositionsphase (bis 1921) unter dem Einfluss Cocteaus, mit dem er befreundet war, eng an die Vorgaben, die in „Le Coq et L`Arlequin“ aufgestellt worden waren. Dazu gehörte die Verwendung von Elementen der Trivialmusik, insbesondere des französischen Varietés, die Ablehnung komplizierter thematischer Entwicklungen und harmonischer Ableitungen, der Vorrang der Melodie vor Harmonie, Klang und Form und das Prinzip der „Ideenkette“, das heißt der Aneinanderreihung unterschiedlicher, nur locker miteinander verknüpfter Ideen.

Poulencs Konzert für zwei Klaviere entstand im Jahre 1932, als sich der Komponist von Cocteaus Vorstellungen schon weitgehend gelöst hatte und auch Elemente der romantischen Tradition verwendete. Dennoch sind die Kriterien Cocteaus noch erkennbar. Das Konzert ist eine unterhaltsame Aneinanderreihung der unterschiedlichsten musikalischen Elemente und Assoziationen. Im ersten Satz finden sich Anklänge an das französische Varieté, aber auch an Prokofieff, Strawinsky und einen Romantiker wie Rachmaninow. Gegen Ende des Satzes schweift die musikalische Phantasie gar ins ferne Asien ab. Balinesische Klänge, die Poulenc auf der Pariser Weltausstellung von 1931 begegnet waren, erzeugen eine exotische Atmosphäre (mittels der Sechstonreihe, parallelen Quarten und hypnotischen Wiederholungen). Im zweiten Satz kommt, nur mäßig verfremdet, Mozart, das Ideal klassischer „Unterhaltsamkeit“, ins Spiel, wird aber bald in die Klangwelt Poulencs übergeführt. Hier und da werden Chopin und Rachmaninow dazu gemischt. Der dritte Satz ist ein Feuerwerk der unterschiedlichsten Ideen. Wieder hört man Klänge des Varieté, aber auch von Jazz à la Gershwin, Rachmaninow erscheint erneut und auch das balinesische Motiv kommt zurück. Das Wunder des kleinen, vor „französischem“ Esprit nur so sprühenden Werkes ist, auf wie kunstvolle Weise Poulenc das disparate Material zusammengefügt, im wahrsten Sinne des Wortes also „komponiert“ hat.

1921 Paul Hindemith (1895-1963) – Tuttifäntchen

Paul Hindemith war immer für eine Überraschung gut. Dies war nicht nur eine gute Voraussetzung dafür, daß er zum Komponisten moderner Musik wurde; es war auch seiner Karriere förderlich. Diese begann denn auch recht eigentlich nach einem Skandal, der sich im Jahre 1921 in Stuttgart ereignete. Seinerzeit wurden im dortigen Landestheater zwei Kurzopern von Hindemith gespielt, die das württembergische Kultusministerium unmittelbar nach der Uraufführung wegen „Frivolität“ aus dem Spielplan kippte. Dies hatte zur Folge, daß mehrere Verantwortliche des Landestheaters, darunter der Generalmusikdirektor Fritz Busch, ihren Rücktritt anboten und ein gewaltiger Sturm durch den Blätterwald fegte. Grund für die Aufregung war unter anderem, daß der freche Hesse es gewagt hatte, in seinem Puppenspiel „Das Nusch-Nuschi“ Wagners berühmten Tristan-Akkord zur Illustration einer Szene zu mißbrauchen, in der ein burmesischer General seiner Männlichkeit durch den Biß eines Flußviehs namens Nusch-Nuschi beraubt wird.

 

Ein Jahr später schrieb Hindemith die Musik zu dem Weihnachtsmärchen „Tuttifäntchen“ für ein Frankfurter Theater. Auch hier schlug die Neigung des jungen Hindemith zu Parodie, Travestie und Sarkasmus durch. Dafür war neben dem Zeitgeist sicher mitursächlich, daß sich der Komponist in seiner Jugend ausgiebig abseits der Pfade der sog. ernsten Musik bewegt und in Kinos und Kaffeehäusern Militär-und Tanzmusik und Jazz gepielt hatte. So ist es denn kein Wunder, daß in der Musik zu einem Weihnachtsmärchen neben allerhand sonstigen Turbulenzen auch mal ein handfester Ragtime auftaucht, eine Musik, die man hierzulande nicht gerade mit Weihnachtsstimmung verbindet.

1919 Igor Strawinski (1882 – 1971) – Pulcinella Suite

Die in den Jahren 1919/1920 komponierte Musik zum Ballett „Pulcinella“ (die Orchestersuite daraus wurde 1922 geschrieben) entstand auf Anregung von Diaghilew, dem Direktor der berühmten „Ballets Russes“ in Paris und Monte Carlo. Dem Ballett liegt der neapolitanische Schwank „Der vierfache Pulcinella“ vom Anfang des 18. Jahrhunderts zu Grunde. Es erzählt im Stile der Commedia dell’Arte das Schicksal des langnasigen Pulcinella, einem „Vetter“ Harlekins, von dem einige Neapolitanerinnen so angetan sind, daß sie andere Bewerber um ihre Gunst vernachlässigen. Eifersüchtig versuchen diese den Konkurrenten beiseite zu schaffen, können ihn aber nicht recht fassen. Dies führt zu einem traumartigen Verwirrspiel mit allerhand tragik-komischen Verwicklungen, darunter einer Vervierfachung des Hauptakteures, die sich nach einem wilden Tarantellatanz in einem triumphalem Happy-end auflösen. Die Uraufführung des Balletts, das Picasso ausstattete, fand 1920 in Paris statt.

Das Werk kostete Strawinsky einige Freunde und versöhnte manchen Feind. Bei den Hütern des Musikerbes aber sorgte es für Verwirrung. Strawinski galt seinerzeit als Bürgerschreck, der die Fundamente der Musiktradition in Frage zu stellen schien. Zur Verwunderung der Musikwelt kehrte der skandalumwitterte Avantgardist mit Pulcinella seinen Blick aber auf einmal liebevoll in die Vergangenheit. Der Flirt mit der Tradition, den er – zu seinem eigenen Erstaunen – als Blick in den Spiegel erkannte, sollte Folgen haben. Pulcinella markiert den Beginn einer ganzen Reihe von „Liebesverhältnissen“ Strawinskis mit alten Meistern, eine Schaffenszeit, die man seine „neoklassizistische Periode“ zu nennen pflegt.

Das erste dieser „Verhältnisse“ hatte Strawinski mit dem frühverstorbenen italienischen Barockmeister Giovanni Battista Pergolesi (1710-1736), dessen Musik die eine Hälfte des musikalischen Erbgutes von „Pulcinella“ abgibt. Mit dem neapolitanischen Komponisten hatte ihn Diaghilev bekannt gemacht, der Pergolesi-Manuskripte bzw. solche, die unter diesem Namen liefen, sammelte. Trotz des unverkennbaren „mütterlichen“ Erbteiles ist Strawinskis Vaterschaft an dem gemeinsamen Kind aber nicht zu überhören. Die alte Musik hat allerhand Abenteuer zu bestehen, die den Avantgardisten immer wieder durchscheinen lassen. Dazu gehören Dehnungen, Kürzungen, Rückungen und Kadenzschärfungen, polyrhythmische und artikulatorische Überlagerungen sowie überraschende Übergänge und Exkurse bis in die Militärmusik und den Jazz.

Die Reaktion der Zeitgenossen auf die neuerliche Eskapade des Komponisten war, wie gesagt, zwiespältig. Die Avantgardisten beklagten die Fahnenflucht, die Hüter des Musikerbes sprachen von Vergewaltigung, alte und neue Freunde aber von einer „sorgfältig geplanten, erfolgreich durchgeführten und vollständig ausgekosteten Verführung“. Strawinski selbst war sich über den Charakter seiner Eroberung auch nicht ganz im Klaren. Auf die Frage, was er von der Musik Pergolesis halte, antwortete er unter Anspielung auf die zahlreichen Fälschungen, die unter diesem Namen existieren: „Pulcinella ist das einzige Werk, was ich von ihm gern habe“.

1911 Max Bruch – Konzert für Klarinette, Bratsche und Orchester, e-moll

Der Kölner Max Bruch verstand sich Zeit seines Lebens vor allem als Vokalmusiker. Seine Sache war nicht das Schaffen komplexer thematischer und harmonischer Strukturen, wie sie für die Instrumentalmusik der Zeit, etwa bei Brahms, typisch sind. Seine Stärke lag vielmehr im Melodischen und diese konnte er besonders in der Vokalmusik zur Geltung bringen. Mit Werken dieser Gattung hatte Bruch, der hauptsächlich als Chorleiter tätig war, in seiner Zeit auch große Erfolge zu verzeichnen.

Dennoch fühlte sich Bruch immer wieder zur Instrumentalmusik hingezogen. Dabei spielte ohne Zweifel eine Rolle, daß er sich im Wettstreit mit seinem Altersgenossen Brahms sah, der auf dem Gebiet der Instrumentalmusik erhebliches Profil entwickelte. Maßgeblich waren aber auch wirtschaftliche Gesichtspunkte. Anders als Brahms mußte Bruch eine Familie unterhalten. Dies aber fiel ihm mit geregelter Tätigkeit nicht leicht. Auf Grund seines streitbaren Temperamentes hatte er Probleme, eine längerfristige Beschäftigung zu finden. Sein Verhältnis zur Instrumentalmusik hatte aber etwas von Haßliebe. Als junger Mann war ihm mit seinem ersten Violinkonzert ein großer Wurf gelungen, an dessen Erfolg er später vergeblich anzuknüpfen versuchte. Dadurch wurde ihm sein eigenes Werk immer wieder zur Quelle von Enttäuschung. Auch stand er sich mit seiner geradezu militanten Haltung gegenüber den musikalischen Neuerungen seiner Zeit selbst im Weg. Dazu mußte er erleben, daß sein Konkurrent Brahms, mit dem er anfangs durchaus in einem Atemzug genannt wurde, in der allgemeinen Wertschätzung an ihm vorbeizog. Besonders frustriert hat ihn dabei die Tatsache, daß der große Geiger Joseph Joachims, der sein und Brahms Violinkonzert aus der Taufe hob, in seiner Geigenschule nur letzteres Werk berücksichtigte.

Lange Zeit wollte Bruch, der seinen Kollegen gerne Noten erteilte, nicht wahrhaben, daß Brahms der größere Musiker war. Im Alter hat er jedoch auf die Frage, wie er seinen eigenen Status als Komponist in fünfzig Jahren sehe, geantwortet, man werde seine Werke, das 1. Violinkonzert ausgenommen, wohl vergessen haben. Da er seine Kompositionen zum Zwecke des Broterwerbs habe verkaufen müssen, habe er nie viel gewagt, sondern einfach nur gute Musik geschrieben. Brahms hingegen sei von bezeichnender Originalität. Er werde im Laufe der Zeit immer mehr geschätzt werden. Die Entwicklung hat Bruch weitgehend Recht gegeben. Der Rheinländer wird der lange unbeachtet gewesenen zweiten Romantikergarnitur zugerechnet, die als verspätet galt, weil für sie Mendelssohn am Ende des 19. Jahrhunderts noch immer das Vorbild war.

Da mit wachsendem zeitlichem Abstand die Frage der Epochengerechtigkeit von Musik aber an Bedeutung verliert, kann man Bruch heute durchaus wieder mit Gewinn spielen und hören. Dies gilt auch für das Konzert für Klarinette und Bratsche, das Bruch im Jahre 1911 im Alter von 73 Jahren für seinen ältesten Sohn Max Felix komponierte. Den musikalischen Vorstellungen Bruchs entsprechend ist sein Aufbau zwar ausgesprochen konventionell und periodisch. Die Solopassagen etwa werden von den beiden Soloinstrumenten in der Regel nach vier oder acht Takten wiederholt. Wer keine allzu strengen kulturhistorischen Maßstäbe anlegt und zu vergessen bereit ist, daß diese Musik zu einem Zeitpunkt entstand, als Schönberg damit begann, die musikalische Welt auf den Kopf zu stellen, aus der Bruch seine Maßstäbe bezog, kann an diesem Werk großes Vergnügen haben.

Wie alle Konzerte Bruchs steht das Werk der Vokalmusik nahe. Dies zeigt sich nicht nur in der pathetisch-dramatischen Grundhaltung, sondern auch in der Verwendung rezitativischer und volksliedhafter Elemente. Die Soloinstrumente werden im übrigen weitgehend wie die menschliche Stimme behandelt. Artikulationen, die dem Charakter der Stimme zuwiderliefen, z.B. Springbogen oder Zupfen, finden kaum Verwendung.

Die Uraufführung des Konzertes fand am 5.3.1912 in Wilhelmshaven „vor allen Admiralen und Seekapitänen etc. etc. unserer Kriegsflotte“ statt. Der Kritiker der „Allgemeinen Musikzeitung“ fand das Werk „harmlos, weich, unaufregend und zu vornehm in der Zurückhaltung“, eine Beschreibung die Bruch auf dem Hintergrund des „Getöses“, das in seiner Sicht die damaligen Neutöner veranstalteten, vermutlich als nicht unangemessen empfand.

1907 Sergej Rachmaninow (1873- 1943) – Symphonie Nr. 2 e-moll

Rachmaninow ist, wiewohl aus St. Petersburg stammend, ein Gewächs der Moskauer Pflanzschule der russischen Kunstmusik, die sich erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entwickelte. Zwar hatte man ihn im Alter von zwölf Jahren zunächst auf das St. Petersburger Konservatorium geschickt, wo sich unter der Führung von Nicolai Rimski-Korsakow seinerzeit eine stark national ausgerichtete Schule der russischen Musik zu etablieren begann. Der erste Versuch, dem späteren König der Pianisten das Klavierspiel beizubringen, ging jedoch schief. Der Junge ging lieber Schlittschuhlaufen als in den Unterricht und fälschte seine Zeugnisse, um die ausbleibenden Erfolge zu vertuschen. Im Alter von sechszehn Jahren startete man einen zweiten Versuch in Moskau. Man gab Rachmaninow in die Hände des bekannten Musikpädagogen Nicolai Swerjew, der eine Art Musikinternat nach dem Muster einer Kadettenanstalt führte. Die handverlesenen Schüler wohnten und arbeiteten kostenlos in Swerjews Haus, mussten dafür aber bedingungslos gehorchen und durften während der drei-jährigen Ausbildungszeit, die zur Konservatoriumsreife führte, so gut wie keinen Kontakt zum Elternhaus unterhalten. Das Ausbildungsprogramm des homoerotisch angehauchten Hauses sah unter anderem mehrstündiges tägliches Klavierüben unter der strengen Aufsicht des Meisters, regelmäßige Opern- und Konzertbesuche und Vorspiele in Moskauer Adels- und Großbürgerkreisen vor. Davon abgesehen bekamen die Jungen auch den gesellschaftlichen Schliff, der im zaristischen Russland erwartet wurde. Zur Erziehung gehörten unter anderem Bordellbesuche und rituelles Wodkatrinken. Swerjews musikpädagogische Erfolge waren erstaunlich. Von den vier Schülern, die er seinerzeit unterrichte, erlangten zwei Weltgeltung: Mitschüler Rachmaninows war niemand geringeres als Alexander Skriabin, der allerdings einen ganz anderen Weg als dieser ging.  

Zu den Musikern, die im Hause Swerjew regelmäßig verkehrten, gehörte auch Peter Tschaikowski. Er galt, wiewohl ebenfalls aus der Neva-Metropole stammend, als das Haupt der eher westlich orientierten Moskauer Schule, die mit der St. Petersburger Schule um die künstlerische Oberherrschaft im nationalen russischen Musikleben rang. Tschaikowski erkannte früh Rachmaninows kompositorische Begabung und förderte sie, wo immer er konnte. Der Altmeister wurde für Rachmaninow denn auch das Maß aller kompositorischen Dinge. Nach dessen plötzlichen Tod im Jahre 1893, nur wenige Tage nach dem Ableben Swerjews, sah sich der 23-jährige in der Rolle des Erben Tschaikowskis. Nach dessen Vorbild versuchte er sich daher auch als Symphoniker zu profilieren. 

In den Jahren 1895-1897 entstand so eine erste Symphonie, die 1896 in St. Petersburg uraufgeführt wurde, was ein großer Fehler war. Der Dirigent der Uraufführung, Alexander Glasunow, gehörte nicht nur zum Kernbestand der moskaukritischen lokalen Schule. Er soll auch kein sonderlich begnadeter Dirigent gewesen sein und die Aufführung dazu schlecht vorbereitet haben. Cesar Cui, Urgestein des „Mächtigen Häufleins“, aus dem die St. Petersburger Schule hervorging, schrieb eine vernichtende Kritik, die Rachmaninow ins Mark traf (Cui hatte einunddreißig Jahre zuvor auch schon Tschaikowskis ersten symphonischen Versuch verrissen). Der Misserfolg in der Paradegattung Symphonie löste bei Rachmaninow eine drei Jahre dauernde Schaffenskrise aus, aus der er sich nur mit ärztlicher Hilfe befreien konnte. Einen zweiten Versuch in der Gattung wagte er sogar erst nach Ablauf von zehn Jahren. 

Rachmaninows 2. Symphonie entstand im wesentlichen in Dresden, wohin sich der Komponist in den Jahren 1906/07 wegen der politischen Unruhen in der Folge der russischen Revolution von 1905 zurückgezogen hatte. Die Uraufführung fand erstaunlicherweise wieder in St. Petersburg statt (8. Febr. 1908). Offenbar hielt Rachmaninow die psychische Hürde, die der Misserfolg der 1. Symphonie aufgerichtet hatte, erst mit einen Sieg an der Stätte für überwunden, an der er die Niederlage erlitten hatte. Diesmal behielt sich Rachmaninow, der sich inzwischen auch einen Namen als Dirigent gemacht hatte, die Leitung der Aufführung jedoch selbst vor. Die Aufnahme des Werkes war freundlicher als bei der ersten Symphonie. Schon damals hielt man Rachmaninow allerdings Weitschweifigkeit vor und sprach von „Mütterchen Russlands gesammeltem Weltschmerz in e-moll“.  

In der Tat ist das Werk, obwohl formal auf geradezu klassische Weise stringent, durch melodische Gedanken geprägt, die auf träumerisch-melancholische oder nachdrücklich drängende Weise scheinbar endlos fortgesponnen werden. Für den, der die kompakte Kompositionsweise der Wiener Klassik und die geradezu reißbrettartige Logik der „entwickelnden Variation“ eines Brahms und seiner Nachfolger im Ohr hat, klingt dies ungewohnt (Rachmaninows Zeitgenosse Richard Strauss etwa, der in der westeuropäischen Tradition stand, hatte überhaupt kein Verständnis für die Musik seines östlichen Kollegen und bezeichnete sie als „gefühlvolle Jauche“). Eine solcherart westliche Sichtweise übersieht aber, daß der Musik Rachmaninows nicht die Erfahrung des kleinteiligen Westeuropa, sondern das Erlebnis der Weiten Russland zugrunde liegt (paradoxerweise herrschte eine solche Sichtweise, vielleicht weil man seinerzeit allzu angestrengt den Anschluss an die westeuropäische Kunstmusik suchte, selbst in Russland, ja sogar im nationalrussisch gesinnten St. Petersburg vor). Rachmaninow, der seine Musik immer als Ausdruck seiner Seele empfunden hat und sich daher wenig um musikalische Theorien und schon gar nicht um modernistische kümmerte, hat denn auch immer wieder darauf hingewiesen, daß seine Musik seine persönlichen Erfahrungen wiederspiegele und diese seien nun einmal russische Erfahrungen. Wahrscheinlich wird man Rachmaninows 2. Symphonie denn auch am ehesten gerecht, wenn man in ihr so etwas wie die akustische Exemplifikation des Spengler`schen Diktums von der grenzenlosen Ebene als dem Leitmotiv des russischen Weltgefühls sieht.

 

1905 Maurice Ravel (1875 – 1937) – Introduktion und Allegro für Harfe, Streichquartett, Flöte und Klarinette

Ravels Introduktion und Allegro entstand im Jahre 1905 in acht Tagen und drei Nächten als Auftragswerk für die Klavierfirma Erard. Ravel war in großer Eile, denn die Komposition mußte vor Antritt einer Schiffsreise fertig werden, zu der ihn ein reicher Zeitungsverleger eingeladen hatte. So komponierte er „zwischen Kofferpacken und Anproben beim Schneider“. Am Ende verpaßte Ravel doch noch die Abfahrt des Schiffes und mußte nachreisen. Zu allem Überfluß ließ er das Manuskript auch noch in dem Modegeschäft liegen, in dem er sich für die Reise auf’s Eleganteste eingekleidet hatte. Wir haben es wahrscheinlich dem offensichtlich guten Geschmack des Modehauses zu verdanken, daß das Stück überhaupt erhalten geblieben ist.

 

Ein letztes Mal entwarf der 30-jährige Ravel in seinem Harfenstück „die Vision einer sanften und arkadischen Tagwelt“. Mit der Reise auf der Luxusjacht „Aimée“ aber versinkt für Ravel die „Schönheitswelt der Jugend“. Auf der Fahrt durch die Flüsse und Kanäle des Niederrheingebietes wird er mit bizarren Industriewelt vor allem Deutschlands konfrontiert und ist fasziniert von den „Schlössern aus flüssigem Metall“, den „glühenden Kathedralen“ und deren „wunderbarer Symphonie von Transmissionsriemen, Pfiffen und furchtbaren Hammerschlägen“. Diese Welt sollte sich in Ravels künftigen Werken niederschlagen.

1903 Ernst v. Dohnányi (1877- 1960) – Serenade für Streichtrio Op. 10

Als Ausgangspunkt für die Wiederbelebung des Streichtrios zu Anfang des 20. Jh. werden meist die drei Trios von Max Reger aus dem Jahre 1904 angesehen. Bereits ein Jahr zuvor hatte aber der vier Jahre ältere Ernst v. Dohnányi ein außerordentlich beachtliches Streichtrio geschrieben. Das Werk stellt einen Wendepunkt in der Entwicklung des Komponisten dar. Der frühreife Ungar – er schrieb bis zu seinem 17. Lebensjahr über 70 Werke – hatte sich bis dato weitgehend an Brahms und seinen Vorläufern orientiert, was ihm den Ruf eines ungarischen Brahms (und des besten Kammermusikkomponisten nach demselben) einbrachte – Brahms sagte über ein Klavierquartett des 18-jährigen, besser habe er es auch nicht machen können. In der Serenade Op. 10 findet Dohnányi erstmals zu seinem eigenen Stil. Dazu gehört, dass er alte Musikformen aufnimmt (hier die Serenadentradition des 18. Jahrhunderts) und sie in einer freien, nicht selten nobel-ironisch eingefärbten Weise mit modernem Material füllt. Typisch für ihn ist etwa ein chromatisches Vagabundieren, bei dem aber das jeweilige tonale Zentrum immer erkennbar bleibt.

 

In einer Rezension aus dem Jahre 1905 wurde die Serenade als ultramodern eingestuft. Später litt Dohnányis Ruf aber darunter, dass er sich – anders als Bartók und Kodály – weigerte, die rasante ästhetische Entwicklung des 20. Jahrhunderts mitzumachen (was aber nichts daran änderte, dass er seine vorwärtsstrebenden Landsmänner in seiner Eigenschaft als zentrale Figur des ungarischen Musiklebens kräftig förderte). Diese Weigerung führte zu der Behauptung, er habe keinen eigenen Stil. Ein übriges zur Verdunklung seines Rufes taten nach dem zweiten Weltkrieg dann Gerüchte, er sei ein Kollaborateur der Nationalsozialisten gewesen. Dohnányi, der im übrigen auch einer der ganz großen Klaviervirtuosen seiner Zeit war, sah sich schließlich gezwungen, über Argentinien in die USA auszuwandern, wo er als Komponist weitgehend in Vergessenheit geriet. Kurz vor seinem Tode begann aber ein Prozess der Rehabilitierung. Dieser hat sich nicht zuletzt auf dem Hintergrund der Relativierung der Avantgarde, die der Zeitablauf mit sich brachte, bis heute fortsetzt und hat die Sicht auf das umfangreiche Oevre des Ungarn wieder freigelegt.

1903 Jean Sibelius (1865 – 1957) – Violinkonzert d-moll

Der finnische Komponist Jean Sibelius war eine der letzten großen nationalen Identifikationsfiguren der klassischen Musik. Sein Tod im Jahre 1957 war ein nationales Ereignis. Der Präsident des Landes hielt eine Rede im Rundfunk und die gesamte Spitze des Staates nahm an den Begräbnisfeierlichkeiten im Dom von Helsinki teil. Als der Sarg durch die Straßen der Hauptstadt zu seinem Landhaus „Aniola“ gefahren wurde, war das Volk in großer Menge am Straßenrand versammelt, um ihm die letzte Ehre zur erweisen. Ein Grund hierfür war, daß Sibelius auch in seinem künstlerischen Schaffen ein glühender Patriot war. So nahm er in seinen Werken immer wieder Motive aus dem Nationalepos „Kalevala“ auf. Bekannt wurden „Der Schwan von Tuonela“, eine Komposition um eine Figur aus der finnischen Unterwelt , oder „Tapiola“ nach dem Schloß des mythischen Waldkönigs „Tapio“. Andere patriotische Kompositionen tragen die Namen „Karelia-Suite“ nach der Grenzprovinz im Süd-Osten des Landes, über die Finnen und Russen immer wieder stritten, oder schlicht „Finnlandia“. Mit letzterem Werk nahm Sibelius Anfang unseres Jahrhunderts auf höchst pathetische Weise gegen die gewaltsamen Versuche Zar Nikolaus II. Partei, Finnland, das seit 1809 unter russischer Oberhoheit stand, endgültig dem Zarenreich einzuverleiben.

 

Neben seinen vielen programmatischen Werken komponierte Sibelius auch in großem Maße „absolute“ Musik. Dazu gehören seine bedeutenden sieben Symphonien und nicht zuletzt das Violinkonzert. Dieses einzige Werk des Komponisten aus der Gattung Konzert, ist, wiewohl Anfang des 20. Jahrhunderts entstanden, das letzte große Virtuosenkonzert des 19. Jahrhunderts. Seine Vorbilder sind die Konzerte von Mendelssohn, Bruch und Tschaikowski.

 

Die „erste Uraufführung“ des technisch anspruchsvollen Werkes fand etwas überhastet – Sibelius brauchte dringend Geld – Anfang 1904 in Helsinki statt und litt unter einem überforderten Solisten und einer mäßigen Leistung des Orchesters, welches übrigens Sibelius selbst leitete. Es scheint aber, daß der Komponist, der über die Gleichgültigkeit des Publikums von Helsinki verärgert war, auch mit seiner kompositorischen Leistung nicht zufrieden war. Ein Jahr später unterzog er das Werk einer gründlichen Revision. Die „zweite Uraufführung“ fand schließlich im Oktober 1905 in der Berliner Singakademie unter der offenbar kompetenteren Leitung von Richard Strauß statt. Die Kritik war insgesamt wohlwollend. Der greise Geiger Joseph Joachim allerdings, dem Schumann, Bruch, Brahms und Dvorak ihre Violinkonzerte gewidmet hatten, fand das Werk, aus welchen Gründen auch immer, scheußlich und langweilig. Das weitere Schicksal des Konzertes zeigt, daß auch die größten Geiger irren können. Nach anfänglich zögerlicher Resonanz zollte man dem originellen Werk in den folgenden Jahren uneingeschränkt Anerkennung. Mittlerweile gehört es zum festen Bestand des Konzertlebens.

 

Sibelius‘ Musik gilt als zeitlos, das heißt, daß er sich keiner der Zeitströmungen anschloß, die die Musikwelt während seines langen Lebens durchzogen. Wiewohl er bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts lebte, blieb er insgesamt dem – allerdings sehr persönlich gefärbten – Idiom seiner Lehrjahre treu, die er in Deutschland und Österreich in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts absolvierte. Möglicherweise spürte er aber im Alter, daß die Zeit über ihn wegzugehen drohte. Anfang der 30-er Jahre stellte er das öffentliche Komponieren ein. In den folgenden fast drei Jahrzehnten konnte er erleben, wie sich sein Werk aus dem nationalen Rahmen, in dem es entstanden war, über die ganze Welt verbreitete. Lange vor seinem triumphalen Begräbnis im Jahre 1957 ist er so noch Zeuge seines eigenen Nachruhms geworden.

1901 Gustav Mahler (1860 – 1911) – Symphonie Nr. 4

Kaum ein anderer Komponist ist im Laufe der Zeit so unterschiedlich bewertet worden wie Gustav Mahler. Das liegt nicht zuletzt daran, dass es außerordentlich schwierig ist, einen Bezugsrahmen für die Beurteilung seiner Musik zu finden. Wer sich ihr – wie die meisten Zeitgenossen Mahlers – aus der Perspektive der Vergangenheit nähert, kann leicht zu dem Schluss kommen, dass es sich bei ihrem Schöpfer um einen verirrten Spätromantiker handele.  Bei einer Interpretation ex ante ist es nicht einfach, die hochgesteckten Grundgedanken des Komponisten mit den nicht selten bizarren und den scheinbar sentimentalen und trivialen Elementen seiner Musik in Einklang zu bringen.

Ein „zeitgemäßer“ Ansatz zum Verständnis Mahlers ist, ihn als Musiker des Jugendstils zu beschreiben, zu dessen Wiener Vertretern er Verbindung hatte. Auf diese Weise hat man das Ornamentale seiner Musik, ihre mitunter fluide Verschlungenheit und ihre „Künstlichkeit“, aber auch ihren schillernden Charakter und ihren Eklektizismus zu fassen versucht.

Andere haben einen biographischen oder psychoanalytischen Ansatz gewählt. Anlass hierzu hat der Komponist immer wieder selbst gegeben. Kurz vor seinem Tod erklärte er etwa gegenüber Sigmund Freud, dessen „Patient“ er war, der Schlüssel zum Verständnis seiner Musik liege in einem Erlebnis seiner Kindheit. Er sei nach einer familiären Gewaltszene auf die Strasse geflüchtet, wo gerade eine Drehorgel „O Du lieber Augustin“ gespielt habe. Seitdem seien hohe Tragik und Unterhaltungsmusik in seinem Geiste eine unauflösbare Verbindung eingegangen.

In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhundert begann man Mahler ex post zu interpretieren. Der Komponist, der für viele fast schon abqualifiziert war, wurde nachträglich zum Vorläufer der Avantgarde. Die Unausgewogenheit seiner Musik, so hieß es nun, sei der vorweggenommene Ausdruck des gebrochenen Lebensgefühles unserer Zeit. Mancher Musiktheoretiker beförderte Mahler gleich zum „wichtigsten Komponisten der gesamten Musikgeschichte“. Unter anderem wurde dies damit begründet, er habe als erster erkannt, dass man überhaupt nichts mehr komponieren könne und habe eben daraus Musik gemacht.

Merkwürdigerweise ging mit dieser – etwas abstrakten – Interpretation Mahlers ein plötzlich neuerwachtes Interesse des Publikums an seiner Musik einher. Der Komponist erlebte einen posthumen Aufstieg, wie ihn die Musikgeschichte allenfalls noch von Schubert kennt. Heute haben wir es mit dem seltsamen Phänomen zu tun, dass Mahlers Musik von vielen als zeitgemäßer empfunden wird als die Musik derjenigen, die meinen, sie hätten die Linien, die Mahler begonnen habe, weiter in die Gegenwart gezogen.

Inzwischen hat sich eingebürgert, die Kompositionsweise Mahlers mit der Formulierung zu beschreiben, seine Musik stehe „in Anführungszeichen“, er komponiere „als ob“ er Musik schreibe. Mahlers Werke bestünden zu einem erheblichen Teil aus Anspielungen auf Musik, die einmal war, allerdings solcher, die er weitgehend selbst wieder geschaffen zu haben scheine.

In welch` hohem Maße Mahlers Musik tatsächlich mittelbar und doppelbödig ist, zeigt die – oft als bloße Idylle missverstandene – 4. Symphonie. In diesem Werk, das 1901 in München uraufgeführt wurde – ein Zeitgenosse nannte es das erste wirkliche musikalische Ereignis im 20. Jh. -, ist wenig so, wie es scheint. Im ersten Satz sieht sich der Hörer in eine merkwürdige Kinderwelt versetzt. Umrahmt von einem Schellenmotiv, das immer wieder einbricht, werden mit offenbar unbekümmerter Spontaneität und Naivität allerhand Floskeln aus tatsächlich oder scheinbar existenten Kinderliedern aneinandergereiht. Doch irgendwann wird die Kinderwelt schief und es zeigt sich, dass hinter all der Heiterkeit „eine höhere, uns fremde Welt steht, die etwas Schauerlich-Grauenvolles hat“ (Mahler). Ein ähnlicher Kontrast findet sich im folgenden Scherzo. Hier stimmt die Sologeige eine lustige Melodie im Stile einer Fidel an. Aber die Geige ist verstimmt (tatsächlich wird sie auch um einen Ton höher als üblich gestimmt), so dass es klingt „wie wenn der Tod aufspielt“. Die  aberwitzigen Harmonien, die Freund Hein produziert, stehen in einem merkwürdigen Gegensatz zu der fast schon sentimentalen Seligkeit des Trios. Im dritten Satz breitet sich anfangs eine Atmosphäre himmlischen Friedens aus. Mahler vergleicht die Stimmung mit der der Monumente der Prälaten und Ritter in alten Kirchen, die eine „feierliche, selige Ruhe und  ernste,  milde  Heiterkeit“  ausstrahlen,  welche nur gelegentlich durch Erinnerungen  an  das  Erdenleben getrübt werden. Im weiteren Verlauf entwickelt sich ein hochkomplexer Variationensatz, der einzige in Mahlers Oeuvre, den man als Darstellung der verschiedenen Möglichkeiten himmlischer Glückseligkeit gedeutet hat.

Eine Apotheose in strahlendem Dur mit anschließender tiefer Beruhigung, die als Durchschreiten der Himmelspforte verstanden werden kann, leitet zum vierten Satz über. Hier „erklärt ein Kind, was das alles bedeutet“, ein Kind deswegen, weil es, so Mahler, im Puppenstand der zwiespältigen höheren Welt schon angehöre, was wohl auf dem Hintergrund der Bemerkung über sein Kindgheitserlebnis gegenüber Freud zu verstehen ist. Dieser Schlusssatz ist damit inhaltlich (und im übrigen auch thematisch und entstehungsgeschichtlich) der Ausgangspunkt der ganzen Symphonie. Ihm zu Grunde liegt ein altbayrisches Lied aus der Liedsammlung „Des Knaben Wunderhorn“ von Achim von Arnim und Clemens von Brentano, aus der Mahler viele Lieder vertont hat. Es ist überschrieben mit „Der Himmel hängt voller Geigen“ und schildert eine Art himmlisches Schlaraffenland im Stile des Bauernbreughel. Aber auch hier ist das Idyll nicht geheuer. Die himmlischen Geigen sind nur scheinbar rein gestimmt. Es herrscht bei aller kindlich – lieben Melodik keineswegs das anfangs beschworene „englische Leben“ oder gar die „sanfteste Ruh“. So führt Johannes, der große Seher, im Verein mit dem „Metzger“ Herodes ein „unschuldigs, geduldigs, ein liebliches Lämmlein“, immerhin das Symbol für den Gottessohn, „zu Tod“. St. Lukas schlachtet „ohn` einig`s Bedenken und Achten“ den Ochsen, sein eigenes Wappentier. Und St. Peter läuft am Fasttag gar mit „Netz und Köder“ umher. Die „Himmelsbreugheliade“, die so auch Elemente des Höllenbreughel enthält, wird immer wieder durch die Kinderschelle aus dem ersten Satz unterbrochen. Spätestens jetzt muss man argwöhnen, dass es sich um die Schelle einer Narrenkappe handelt, die sich Mahler übergezogen hat.

1901 Sergej Rachmaninow (1873- 1943) – Klavierkonzert Nr.2

„Vom Publikum geliebt – von der Fachwelt geschmäht“ – mit diesem Satz beginnt eine neuere Biographie über Sergej Rachmaninow, die den Untertitel „Zwischen Moskau und New York“ trägt. Beide Formulierungen spiegeln das Schicksal eines Künstlers, der zeitlebens zwischen allen möglichen Stühlen saß. Sein künstlerisches Leben etwa spielte sich im wesentlichen im 20. Jahrhundert. ab. Rachmaninow aber verweigerte sich den Forderungen der neuen Zeit und blieb dem musikalischen Idiom seiner Jugend treu, die im 19. Jahrhundert lag. Dadurch zog er sich die Verachtung einer Kritik zu, die sich weitgehend dem Gedanken des künstlerischen Fortschrittes verschrieben hatte. Immer wieder schwankte Rachmaninow zwischen der Berufung zum Komponisten und dem Beruf des Pianisten. Phasen reichen Schaffens folgten lange Perioden, in denen er keine Note niederschrieb. Menschlich und künstlerisch war Rachmaninow tief im alten Rußland verwurzelt. Nach der Oktoberrevolution aber verließ er seine Heimat, um nach Amerika und damit in eine Welt überzusiedeln, in der er nie richtig heimisch werden sollte.  

Geradezu exemplarisch für diese Zerrissenheit ist das Schicksal von Rachmaninows zweitem Klavierkonzert. Das Werk, das in den ersten beiden Jahren unseres Jahrhunderts entstand, war der Versuch des Komponisten, sich aus der Schaffenskrise zu befreien, die durch den Mißerfolg seiner ersten Symphonie im Jahre 1897 ausgelöst worden war. Enttäuscht von sich und der Kritik, die ihm Dekadenz vorwarf, hatte Rachmaninow seinerzeit das Komponieren vollständig eingestellt. Seine schöpferischen Kräfte begannen sich erst wieder im Jahre 1899 zu regen. Damals faßte er den Entschluß, ein zweites Klavierkonzert zu schreiben. Die Aufbruchstimmung wurde jedoch schon bald wieder erstickt und hieran war niemand geringeres schuld als der Dichter Leo Tolstoi. Der radikale Alte, der puristischen Vorstellungen von einer christlichen Volkskultur anhing, hatte den jungen Komponisten nach dem Vorspiel eines hochartifiziellen neuen Werkes nicht eben diplomatisch mit der Frage konfrontiert, wem diese Art von Musik nütze. Die harsche Reaktion des „Barons im Bauernkittel“ stürzte Rachmaninow in neue Depressionen, aus denen er sich nur mit Hilfe des bekannten Hypnose-Arztes Nikolaj Dahl befreien konnte. Dieser machte die Förderung des zweiten Klavierkonzertes zu einem wesentlichen Element der Behandlung seines sensiblen Patienten. 

Nikolaj Dahls Musiktherapie erwies sich als außerordentlich erfolgreich. Rachmaninow gelang es, vorübergehend alle Selbstzweifel beiseite zu schieben und ein Werk zu schreiben, das man als einen großen Wurf bezeichnen muß. Bereits nach kurzer Zeit wurde es zu einem festen Bestandteil des Musikrepertoires und machte den jungen Russen in der ganzen Welt bekannt. Wie groß Rachmaninows Probleme mit sich und seinem Werk trotz allem waren, zeigt die Tatsache, daß er sich nach der Fertigstellung des Konzertes seiner Leistung keineswegs sicher war. Noch fünf Tage vor der Uraufführung, die am 27.10.1901 in Moskau stattfand, schrieb er über den berühmten ersten Satz des Konzertes an seinen Freund Morosow: „Du hast recht, Nikita Semjonowitsch! Ich habe mir eben den erstem Satz meines Konzertes durchgespielt, und erst jetzt ist mir klar geworden, daß der Übergang vom ersten zum zweiten Thema nicht gut ist und daß in dieser Form das erste Thema nicht mehr als eine Introduktion ist  –  und daß, wenn ich das zweite Thema beginne, keine Narr glauben würde, daß es das zweite Thema ist. Jeder würde denken, daß dies der Beginn des Konzertes ist. Ich betrachte den ganzen Satz als mißlungen und von dieser Minute an ist er unverändert gräßlich für mich geworden. Ich bin einfach verzweifelt.“ Erst nachdem das Werk allgemeine Zustimmung erfahren hatte, war sein Schöpfer in der Lage, dessen Qualitäten uneingeschränkt anzuerkennen.

 Der Erfolg des zweiten Klavierkonzertes sollte für Rachmaninow allerdings auf andere Weise zum Problem werden. Das gefühlvolle Stück zog nicht nur so viel Aufmerksamkeit auf sich, daß sein übriges Werk lange Zeit kaum zur Kenntnis genommen wurde. Der Komponist erhielt dafür auch Beifall von der „falschen“ Seite. Das Werk, das ganz von russischen Sentiment durchzogen ist, wurde von der amerikanischen Unterhaltungsindustrie in Beschlag genommen. Im Jahre 1932 diente es als Hintergrundmusik für den Film „Menschen im Hotel“ mit Greta Garbo. 1946 wurde aus den Hauptthema des ersten Satzes der Schlager „Full Moon and Empty Arms“. Frank Sinatra („This is my Kind of Love“) bediente sich daraus ebenso wie das Musical „Anja“, das im übrigen ganz aus Rachmaninows Musik gezimmert ist. Auch später taucht das Klavierkonzert immer wieder in Filmen auf, so in Billy Wilders „Das verflixte 7. Jahr“ mit Marilyn Monroe. Das Konzert trug so auf unglückliche Weise dazu bei, das Bild vom weichlichen Kompromißkomponisten Rachmaninow zu zeichnen, welches in der europäischen Musikkritik lange Zeit vorherrschte und in dem überheblichen Diktum von Richard Strauß gipfelte, daß die Musik des russischen Amerikaners „gefühlvolle Jauche“ sei.

1899 Edward Elgar (1857 – 1934) – Enigma Variationen

England war lange Zeit ein Land ohne Komponisten. Anders als auf dem Kontinent, wo es eine ununterbrochene Reihe großer Komponistenpersönlichkeiten gibt, brach die musikschöpferische Tradition auf der Insel, die insbesondere in der Renaissance und im Frühbarock bedeutende Meister hervorgebracht hatte, nach dem Tode Henry Purcells im Jahre 1695 weitgehend ab. Fast zwei Jahrhunderte lang hatten Komponisten aus England allenfalls regionale Bedeutung. Das Land nahm an der fulminanten Entwicklung der europäischen Kunstmusik in dieser Zeit nur als Importeur teil. Gegen Ende 19. Jahrhunderts begann dann aber das, was man später die „Englische Musikalische Wiedergeburt“ nannte. Deren ausdrückliches Ziel war, der deutschen Vorherrschaft auf dem Gebiet der Musik Paroli zu bieten. Seitdem hat England den Vorsprung Kontinentaleuropas, insbesondere Deutschlands auf diesem Gebiet in einer Weise aufzuholen versucht, die an die gleichzeitigen Versuche Deutschlands erinnert, mit den Engländern in Sachen Flotte gleichzuziehen. Die herausragende Figur dieser Entwicklung war Edward Elgar, den man gerne mit den gleichzeitigen großen „Deutschen“ Richard Strauss und Gustav Mahler in einem Atemzug nannte. Er war für die Chor- und Instrumentalmusik Englands das, was Benjamin Britten ein weiteres halbes Jahrhundert später für die englische Oper werden sollte.

 

Elgar kam aus der Laienszene der mittelenglischen Provinz, wo er sich vor allem als Orchesterspieler betätigte. Sein Vater war Musikalienhändler und Klavierstimmer. Eine richtige musikalische Ausbildung hat er nie erhalten. Seine Neigung zum Komponieren zeigte sich aber schon im Kindesalter. Bis zu seinem 40. Lebensjahr komponierte Elgar, der sich autodidaktisch vor allem am Vorbild der kontinentalen Spätromantiker, nicht zuletzt Wagners, bildete, meist kleinere Werke für die regionale Musikszene, ohne besondere Aufmerksamkeit zu erregen. Wegen der mangelnden Anerkennung war er schon der Verzweifelung nahe, als der Durchbruch mit den Enigma – Variationen kam. Das Werk entstand im Jahre 1898, als Elgar 41 Jahre alt war. Später wuchs Elgar vor allem wegen seiner „Staatsmusiken“ in die Rolle des musikalischen Repräsentanten des ausgehenden britischen Empires, etwa mit den 5 bekannten Märschen „Pomp and Circumstances“, die seinen Namen in alle Welt getragen haben. Er galt als der Komponist, der die von Prunk und nicht selten Gefühlsseligkeit begleitete grandseniorale Selbstsicherheit der Weltmacht zum Ausdruck brachte. Als Liebling des Establishments erhielt er alle Ehren, mit denen die englische Nation ihre Heroen auszuzeichnen pflegte. Unter anderem wurde er geadelt und mit Doktorhüten überhäuft, darunter auch mehrfach mit solchen juristischer Fakultäten, obwohl er vermutlich weniger mit der Jurisprudenz zu tun hatte als manch anderer Musikus. Nach dem ersten Weltkrieg machte man Elgar die Überbetonung des Nationalen zum Vorwurf. Da er im übrigen auch die neueren Entwicklungen der kontinentalen Musik ablehnte, geriet er zeitweilig ins Abseits.

 

Die Enigma Variationen wurden im Sommer 1899 London erstmals gespielt. Der Dirigent der Uraufführung war der große Pianist und Wagner – Dirigent Hans Richter, der Elgars Talent erkannt hatte. Das Werk hat die Phantasie der Musikwelt von Anfang an in ganz besonderem Maße entzündet.

 

Der Komposition liegt eine „Original Melodie“ zugrunde, die Elgar als Enigma, als Rätsel, bezeichnet hat. Dieses Thema wird in 14 Variationen kunstvoll verarbeitet. Der Komponist hat die Variationen jeweils mit codierten Überschriften versehen, bei denen es sich um Namen oder Initialen handelt. Das „Rätsel“ dieser Überschriften ist im wesentlichen gelöst. Sie stehen meist für Personen aus dem unmittelbaren Umfeld Elgars, die im einzelnen bekannt sind. Die liebevollen Töne der ersten Variation etwa gelten seiner Frau, der er wesentlich verdankte, dass er das Komponieren aus Frustration nicht vorzeitig aufgab. Andere Variationen betreffen Freunde. Elgar merkte dazu in einem Brief an seinen Lektor an, er habe die jeweilige Variation so geschrieben, wie er geglaubt habe, dass diese Personen sie komponiert haben würden, wenn sie so idiotisch gewesen wären zu komponieren. In der 7. Variation sollen die begrenzten pianistischen Fähigkeiten eines befreundeten Architekten dargestellt sein, in der 8. Variation das Lachen einer Bekannten und die Atmosphäre ihres Hauses aus den 18. Jahrhundert und in der 9. die Diskussion zwischen Elgar und dem Lektor seines Musikverlages über Beethovens langsame Sätze. Die 11. Variation befasst sich mit den Versuchen des Bulldoggen eines befreundeten Organisten, gegen den Strom des Flusses Wye, in den er gefallen war, wieder an Land zu schwimmen. Rätselhaft ist nur der Inhalt der 13. Variation, die mit drei Sternchen betitelt ist. Elgar zitiert hier aus Mendelssohns Konzertouvertüre „Meeresstille und glückliche Fahrt“. Das hat die Vermutung genährt, dass diese Variation seine frühere Verlobte Helen Weaver betrifft, die ihn 1883 verlassen hatte und nach Neuseeland gesegelt war. Die Erinnerung an das seelische Trauma, das sie verursachte, soll sich auch in anderen sentimental gestimmten Werken Elgars spiegeln (etwa in seinem Violinkonzert). In der letzten Variation, die er auf Anraten Richters und seines Lektors nach der Uraufführung deutlich ausbaute, hat sich Elgar selbst porträtiert.

 

Das eigentliche Rätsel des Werkes resultiert aus einer Bemerkung, die Elgar im Programmheft der Urauffühung machte. Danach soll dem Enigma ein „dunkler Spruch“ zugrunde liegen, den er nicht erläutern werde. Die offensichtlichen Verbindungen zwischen dem Thema und den Variationen, so schrieb er, seien oft nur oberflächlich. „Weiter und durch die ganze Anordnung geht ein anderes und größeres Thema“.

 

Diese rätselhaften Andeutungen haben ein ganzes Heer von musikalischen Detektiven in Gang gesetzt, die sich zum Ziel gesetzt haben, das Rätsel des Werkes zu knacken.

 

Die meisten Autoren haben nach einer Melodie gesucht, die sich in versteckter Form durch die Variationen zieht. Man ging dabei davon aus, dass das „offizielle“ Thema nur der Kontrapunkt zu dieser Melodie sei (tatsächlich klingt es ja auch wie eine Gegenmelodie). Das Rätsel der Komposition wäre demnach die – vermutlich einmalige – Tatsache, dass Elgar ein Musikstück geschrieben hätte, dessen eigentliches Thema nie gespielt wird. Untersucht wurden in diesem Zusammenhang Themen aus Bachs „Agnus Dei“, Mozarts „Cosi fan tutte“ und der „Prager Symphonie“, Beethovens „Pathétique“, Schumanns Klavierquartett, und Brahms` „Vier ernste Gesänge“, Werken also gerade der deutschen Großmeister, welche die Entwicklung der Musik in der Zeit der englischen Unfruchtbarkeit weitergetrieben hatten, die Elgar beendete. Im Gespräch waren auch immer wieder das notorisch tiefsinnige „Dies Irae“ und das melancholische, altschottische Lied „Auld Lang Syne“ (Nehmt Abschied, Brüder). Passend zu Elgars imperialistischem und staatstragendem Image hat man aber auch „Britannia Rule the waves“ und „God save the Queen“ in die Diskussion geworfen. Die Vielfalt der angebotenen Themen zeigt, dass sich die Interpreten, wie im Falle von Rätseln nicht selten, einige Freiheiten genommen haben.

 

Andere haben vermutet, dass dem Werk kein musikalisches, sondern ein gedankliches Thema zu Grunde liege, etwa „Freundschaft“, dass Elgar damit die schwierige Suche nach sich selbst und seinem künstlerischen Ausdruck darstellen wollte oder dass das Enigma ein Anagramm sei (etwa aus Buchstaben des Namens seiner Frau). Wieder andere haben nicht nur ein Rätsel, sondern gleich mehrere gesucht und dazu heftig in Elgars Biographie gestöbert. Noch in neuester Zeit (1999) hat ein Elgar Liebhaber ein 150 Seiten starkes Buch geschrieben, in dem er glaubt, dem Rätsel endgültig auf die Spur gekommen zu sein.

 

Es kann allerdings auch nicht ausgeschlossen werden, dass die Komposition – abgesehen davon, dass Variationen immer suchbildhaft und damit rätselartig sind – überhaupt kein besonderes Rätsel enthält. Es könnte sein, dass Elgar in seiner Frustration zu diesem „letzten“ Mittel griff, um das Interesse an seiner Musik zu wecken. Dafür spricht, dass der Komponist immer nur nebulöse Äußerungen über das Rätsel machte und trotz des außerordentlichen allgemeinen Interesses nichts zu seiner Lösung hinterließ; außerdem, dass die Übertitelung des Variationenthemas mit „Enigma“ erst nachträglich auf die Partitur kam (und zwar von seinem – deutschen – Lektor Jaeger, dem Nimrod der 9. Variation, der wohl im Auftrag Elgars handelte). In diesem Falle wäre das Enigma entweder eine nachträgliche Selbstinterpretation, was bei Künstlern, die ihren Rezipienten gelegentlich auf die Sprünge helfen wollen, nicht ungewöhnlich ist. Oder es wäre ein außerordentlich geschickter Werbegag, der die Neigung der Menschen nutzt, sich in solche Botschaften besonders zu vertiefen, die von vorneherein nicht zu verstehen sind.

1895 Antonin Dvorak (1840-1904) – Konzert für Violoncello und Orchester

Im Gegensatz zu den meisten anderen großen Komponisten der klassisch-romantischen Periode erkannte Dvorak die großartigen Möglichkeiten, die das Cello als Konzertinstrument besitzt. Bereits eines seiner ersten größeren Werke ist ein – unbekannt gebliebenes – Werk für dieses kraftvolle Instrument. Dreißig Jahre später, gegen Ende seines kompositorischen Schaffens, sollte er auf dem Höhepunkt seiner Meisterschaft das Cellokonzert überhaupt schreiben. Dvoraks Förderer Brahms, der es „nur“ zu einem Doppelkonzert für Violine und Cello brachte, sagte darüber kurz vor seinem Tod bedauernd, hätte er gewußt, daß man solche Musik für dieses Instrument schreiben könne, hätte er auch ein Cellokonzert geschrieben.

 

Das Werk, das weitgehend symphonisch aufgefaßt ist, ist die letzte Frucht von Dvoraks Aufenthalt in Amerika, in dem auch sein zweiter „Welthit“, die „Symphonie aus der Neuen Welt“ und das unter Liebhabern der Kammermusik nicht minder populäre „Amerikanische Streichquartett“ (mit diversen Lieblingsstellen der Cellisten) entstanden. Dvorak hatte seine geliebte böhmische Heimat im Jahre 1892 verlassen, um die Leitung des New Yorker Konservatoriums zu übernehmen. Angezogen hatte den Komponisten, der am Anfang seiner Karriere einige Hungerjahre durchleben mußte und der daher ziemlich geldbewußt war, nicht zuletzt ein Gehaltsangebot aus dem Land der unbegrenzten Möglichkeiten, das – ähnlich den heutigen Gegebenheiten – alle Maßstäbe des alten Kontinentes sprengte. Seine Honorar für acht Monate Tätigkeit pro Jahr in New York sollte nicht weniger als das 25-fache des Jahresgehaltes betragen, das er als Kompositionsprofessor am Prager Konservatorium erhielt.

 

Nach vier Jahren in Amerika zog es Dvorak aber mit aller Macht zurück in die Heimat. In der schönen neuen Welt hatte es nicht nur immer wieder Probleme mit dem Geld gegeben, weil die Geschäfte des New Yorkers Handelsmagnaten Thurber, der das Konservatorium weitgehend finanzierte, in der Wirtschaftskrise Anfang der 90-er Jahre schlecht gingen. Dvorak vermißte auch seine Freunde und seine Familie, allen voran seine Kinder, die in Böhmen zurückbleiben mußten. Vom Heimaturlaub im Jahre 1895 kehrte er vertragswidrig nicht nach Amerika zurück.

 

Daß Dvorak während der letzten Monate seines Aufenthaltes in Amerika in Gedanken bereits wieder zu Hause weilte, zeigt sich nicht zuletzt im Cellokonzert. Anders als in den sonstigen Werke, die in der New Yorker Zeit entstanden, verzichtet er hier nicht nur weitgehend auf amerikanische Elemente. Nachdem in den vorangegangenen Jahren hauptsächlich „Weltmusik“ entstanden war, ist das Cellokonzert wieder ganz von böhmisch- romantischem Geist getränkt.

 

Hinzu kommt eine rührende familiäre Anspielung, die Dvorak außerordentlich wichtig war. Während der Komposition des gefühlsbetonten zweiten Satzes erfuhr Dvorak, daß seine geliebte Schwägerin, die Gräfin Josefine Kaunic, schwer krank daniederlag. Ähnlich wie Bruckner 12 Jahre vorher die Nachricht vom Todes Richard Wagners in der Coda des langsamen Satz seiner siebten Symphonie verarbeitete, erinnert Dvorak im langsamen Satz des Cellokonzertes auf dezente Weise an seine Schwägerin. Zu Josefine Kaunic hatte Dvorak eine besondere Beziehung. Der Schwester seiner späteren Frau hatte er schon in den 60-er Jahren, der Zeit, in der das erste Cellokonzert entstand, eine – unerwiderte – Liebe entgegengebracht. Josefine war damals Schauspielerin am neu gegründeten Prager Interimstheater, der ersten national- tschechischen Bühne, in dessen Orchester der junge Dvorak die Bratsche spielte.

 

Im langsamem Satz des zweiten Cellokonzert zitiert Dvorak nun – in eine andere Tonart versetzt – aus Josefines Lieblingslied „Laß mich in Ruhe“ (Op. 81.). Kurz nach seiner Rückkunft aus Amerika, wo er die Komposition des Konzertes eigentlich schon abgeschlossen hatte, änderte er den Schluß des Werkes noch einmal, indem er das Liedzitat hier erneut, diesmal in der Originaltonart einarbeitete. Außerdem ließ er das Cellosolo nun entgegen aller Finalsatz-Tradition auf gänzlich unspektakuläre Weise in wehmutsvoller Stille verklingen.

 

Der Grund hierfür ist ohne Zweifel darin zu suchen, daß Josefine wenige Wochen zuvor verstorben war. Dies erweisen nicht nur Einzelheiten der Komposition, etwa die schweren in dumpfen Baßpizzicati endenden „Herztöne“ der Schlußpartie des Cellosolos, deren letzter aus der gerade geltenden Tonart heraus wie in das Nichts fällt, eine Stelle, die in der Partitur mit „morendo“ bezeichnet ist und der ein großes Lamento des Cellos auf einem Ton folgt. Es zeigt dies auch die Vehemenz, mit der sich Dvorak gegen eine Veränderung eben dieses Schlusses durch den bekannten tschechischen Cellisten Hanus Wihan wehrte. Wihan, dem das Werk gewidmet ist und der darin eine fulminante Kadenz vermißte, hatte selbst eine Kadenz für den Schluß des Werkes komponiert. Gegenüber seinem Verleger Simrock, der sie in der Erstausgabe drucken wollte, schrieb Dvorak am 3. Oktober 1895, er werde ihm das Werk nur überlassen, wenn er sich dafür verbürge, daß „niemand, auch nicht mein verehrter Freund Wihan, ohne mein Wissen und Erlaubnis Änderungen vornehmen werde -also auch keine Kadenz einfüge, die Wihan im letzten Satz gemacht hat. … Das Finale schließt allmählich diminuendo wie ein Hauch – mit Reminiszensen an den ersten und zweiten Satz, das Solo klingt bis zum pp aus – dann ein Anschwellen – und die letzten Takte übernimmt das Orchester und schließt in stürmischen Ton. Das war meine Idee und davon kann ich nicht ablassen“.

 

1894 Heinrich von Herzogenberg (1843- 1900) – Messe Op. 87 für Soli Chor und Orchester

Wie groß der Reichtum der europäischen Musiklandschaft ist, zeigt nicht zuletzt die Tatsache, dass man in ihr immer wieder Komponistenpersönlichkeiten entdeckt, die im Laufe der Musikgeschichte aus dem Blick geraten sind. Es handelt sich oft um Musiker, die von den landschaftsbestimmenden Großmeistern verdeckt oder relativiert wurden. Meist hat man sie als deren Vorläufer oder Epigonen eingeschätzt und angesichts der großen Anzahl herausragender Wahrzeichen, die die Musiklandschaft ohnehin aufweist, als vernachlässigbare Größen behandelt.

 

Dieses Schicksal hatte auch Heinrich von Herzogenberg. Bis vor wenigen Jahren war der gebürtige Grazer allenfalls denen bekannt, die sich näher mit der Biographie von Johannes Brahms beschäftigten. Sein umfangreiches Werk, das mehr als 150 Werke vieler Gattungen umfasst, spielte in der Musikpraxis keine Rolle. Herzogenberg galt als der Hauptvertreter des Brahmsepigonentums.

 

Zu diesem Ruf beigetragen hat sicherlich, daß Herzogenberg seine Formmodelle, wie Brahms, in der Musikgeschichte suchte. Hinzu kam die außerordentliche Verehrung und Anhänglichkeit, die er für den Großmeister hatte. Herzogenberg übersandte Brahms regelmäßig seine neuesten Werke und wartete sehnsüchtig auf dessen Äußerung. Als Brahms im Jahre 1884 seine Ouartette lobte, schrieb er an seinen Freund, den großen Bachbiographen Philipp Spitta: „Zwanzig Jahre sehnte ich mich nach einem herzlichen und anerkennenden Wort von ihm – ich bin   überzeugt, daß mich diese Erwartung jung hielt – endlich kommt es und macht mich so gesund und froh und tapfer, wie ich`s gar nicht beschreiben kann“. Zwölf Jahre später schrieb er an Joseph Joachim: „Seit 35 Jahren“ frage ich mich, bei jedem Notenkopf: was wird Brahms dazu sagen? Der Gedanke an ihn und an sein Urteil hat aus mir gemacht soviel  eben wurde; er war mein Fleiß, mein Ergeiz, mein Muth“:

 

Nicht förderlich für das Ansehen Herzogenbergs war ohne Zweifel, daß Brahms, der ihn durchaus schätzte, sich über dessen Werke später distanziert oder gar nicht mehr äußerte. 1895 schrieb Brahms an Clara Schumann in Hinblick auf drei umfangreiche neue kirchenmusikalische Werke Herzogenbergs („Requiem“, „Geburt Christi“ und „Messe“): “Die einzige frohe Empfindung (dabei) ist, wenn man, wie ich, meint, Gott danken zu dürfen, daß er einen vor der Sünde, dem Laster oder der schlechten Angewohnheit des bloßen Notenschreibens bewahrt hat.“

 

Diese Äußerung, die auf dem Hintergrund von Brahms` Neigung zum Sarkasmus gesehen werden muß, wirft die Frage auf, ob Herzogenberg mit dem Etikett „Brahmsepigone“ richtig charakterisiert ist. Das Desinteresse und Unverständnis, das Brahms Herzogenberg gegenüber teilweise an den Tag legte, kann auch als Folge des Umstandes verstanden werden, daß die Wege der beiden Komponisten im Laufe der Zeit auseinander gingen. Tatsächlich hat Herzogenberg die rasante Entwicklung in Richtung auf Verdichtung und Intellektualisierung des Stiles nicht mitvollzogen, die Brahms – allen historisierenden Tendenzen zum Trotz – weit ich Richtung Moderne fortschreiten ließ. Über das Klaviertrio Op. 87 von Brahms etwa äußerte er, es habe ihm weh getan. „Du kannst Dir denken“, schrieb verwirrt an einen Freund, „in welche Confusion der Gefühle ein Auch-Komponist gestürzt wird, dessen Pythia chinesisch zu reden anfängt“. Gemessen an Brahms musste Herzogenberg daher als zurückgeblieben erscheinen.

 

Es ist ein kaum zu vermeidendes Schicksal eines Komponisten, daß seine Größe in der musikalischen Landschaft zunächst einmal relativ zu der seiner Zeitgenossen wahrgenommen wird. So gesehen war es das Pech Herzogenbergs, dass er dem Riesen Brahms zu nahe stand. Mit zunehmendem zeitlichen Abstand verlieren aber sowohl solche Relationen als auch die Frage nach der Epochengerechtigkeit eines Kunstwerkes an Gewicht. Heute etwa interessiert niemanden mehr, daß der späte Bach völlig unzeitgemäß war. Wichtig ist schließlich nur noch, ob das Werk als solches Qualität hat. Dies dürfte der Grund dafür sein, dass die Kompositionen Herzogenbergs neuerdings wieder ins Blickfeld sowohl der Musikwissenschaft als auch der Musikpraxis rücken.

 

Beachtung hat insbesondere das umfangreiche kirchenmusikalische Werk Herzogenbergs gefunden. Dies liegt nicht zuletzt daran, dass er einige dankbare Exemplare zu den Werkgattungen beisteuerte, die von Kirchenchören geschätzt werden. Diese Werke sind nicht zuletzt durch Herzogenbergs zwölf Jahre währenden Aufenthalt in Leipzig (1872 – 1884) geprägt, wo er sich in Zusammenarbeit mit seinem Freund Philipp Spitta, dem großem Bachbiographen, intensiv mit Bachs Kirchenmusik beschäftigte.

 

Die Messe Op. 87 schrieb Herzogenberg im Jahre 1894 binnen weniger Wochen. Sie entstand unter dem Eindruck des Todes von Philipp Spitta, dessen Angedenken sie auch gewidmet ist. Daraus erklärt sich, daß das Werk streckenweise – besonders deutlich wird dies am Schluß – den Charakter eines Requiems annimmt. Kennzeichnend für die höchst eindrucksvolle Komposition ist ein dichter Satz, ein großer Reichtum an Modulationen und die enge Verzahnung von Soli, Chor und Orchester. Bis vor kurzem glaubte man, daß die Noten des Werkes, von dem nur noch ein Klavierauszug existierte, im zweiten Weltkrieg verschollen seien. Mitte der 90-er Jahre des 20. Jahrhunderts fanden sich die Noten und die einiger weiterer kirchenmusikalischer Werke des Komponisten jedoch im Archiv eines Leipziger Verlages. Inzwischen ist die Messe – erstmals – gedruckt worden. Die erste Aufführung nach dem zeitweiligen Verschwinden der Noten fand im Jahre 1997 in Mainz statt.

1894 Claude Debussy (1862-1918) – Prélude à l’après-midi d’un faune

Die Anregung zum „Prélude à l’après-midi d’un faune“ erhielt Debussy durch ein Gedicht von Stephane Mallarmé (1842-1898), dem Kopf des Künstlerkreises der Symbolisten, zu dem Debussy als einziger Musiker gehörte. Die Bezeichnung „Prélude“ erklärt sich aus der Entstehungsgeschichte. Geplant war ursprünglich ein dreisätziges Werk, von dem aber nur der erste Teil, eben das Vorspiel, vollendet wurde. Trotz der literarischen Vorlage ist das Werk keineswegs Programmusik. Ganz im Sinne Mallarmés, der den Schlüssel für das Verständnis seiner rätselhaften Gedichte im Leser sieht, nimmt Debussy nur auf seine ganz persönliche Weise Gedanken und Stimmungen des Gedichtes auf und übersetzt sie in Musik.

Was ihn dabei bewegte, hat Debussy selbst in der Programmeinführung für die Pariser Uraufführung am … beschrieben: „Es sind aufeinanderfolgende Stimmungsbilder, durch die hindurch sich die Begierden und Träume des Fauns in der Hitze des Nachmittags bewegen. Dann, der Verfolgung der ängstlich fliehenden Nymphen und Najaden müde, überläßt er sich dem betörenden Schlummer, gesättigt von endlich erfüllten Träumen, von totaler Herrschaft in der allumfassenden Natur“.

Nach einem Satz von Pierre Boulez, einem der führenden Repräsentanten der avantgardistischen Musik in der zweiten Hälfte unseres Jahrhunderts, steht das „Prélude“ am Beginn der modernen Musik. Debussy, so stellt Boulez fest, habe darin vor allem das Konzept der Form über Bord geworfen und von den unpersönlichen Zwängen des Schemas befreit. In der Tat ist die Form dieser Musik ganz aus sich selbst entwickelt. Debussy verzichtet sowohl auf den klassischen Dualismus der Themen als auch auf die traditionelle Verarbeitung von Motiven. Die Konstruktion wird geradezu verschleiert. Hinzu kommt eine freie Harmonik mit pentatonischen Elementen, ein ständiges Verwandeln des musikalischen Materials und eine raffinierte Instrumentierung. Die Musik des “ Prélude“ ist, wie Debussys reife Musik überhaupt, ganz dem Augenblick verpflichtet. Sie scheint absichtslos dahinzufließen, keinem Ziel zuzustreben und verschwimmt im Ungefähren. Wichtig ist nicht das musikalische Geschehen, sondern die Klangfarbe. Eine solche Musik steht in krassem Gegensatz zur europäischen Kunstmusik vor Debussy, die wesentlich dynamisch, weiterführend und zielgerichtet ist.

 

Dieser Bruch mit der Tradition hat seinerzeit große Verwirrung hervorgerufen. Konservative Kritiker warfen Debussy mangelnde Klarheit in Klang und Form vor und warnten vor einem vagen Impressionismus, eine Bezeichnung, die damals so viel wie das Fehlen des gesunden Menschenverstandes bedeutete. Saint-Saens etwa vermißte im „Prélude“ jegliche musikalische Idee. Debussy, so meinte er, habe keinen Stil geschaffen, sondern das Fehlen von Stil und Logik kultiviert.

 

Für uns, die wir die weitere Entwicklung der modernen Musik überblicken können, ist interessant, welchen Gesichtspunkt Paul Dukas, der Komponist des Zauberlehrlings und Debussys musikalischer Geistesverwandter, angesichts des Neuen in dieser Musik herausstellte. Bemerkenswerterweise interessierte ihn, welche Grenzen Debussy trotz des Traditionsbruches nicht überschritten hatte. Über Debussys Musik schreibt er im Jahr der Uraufführung des „Prélude“: Diese Harmonik ist ungeachtet der großen Kühnheit niemals abstoßend oder rauh. … Seine Melodik geht wie auf einem prächtigen kunstvoll geschmückten Teppich mit fremdländischen Farben, aus denen grelle und unreine Töne verbannt sind.“ Heute wissen wir, daß in der modernen Musik auch derartige Begrenzungen über Bord geworfen wurden. Die Moderne hat sich über weite Strecken über die Grenzverletzung definiert.

1892 Peter I. Tschaikowski (1840-1893) – Nußknacker-Suite Op.71A

Die Suite verdankt ihre Entstehung der Tatsache, daß Tschaikowski seine symphonische Ballade „Der Woiwode“, die an sich für ein Konzert am 19.3.1892 vorgesehen war, in einem seiner Anfälle von Selbstzweifeln spontan vernichtet hatte. Da er sich aber verpflichtet fühlte, zu dem Konzert ein neues Werk aus seiner Feder zu liefern, schrieb er aus der Musik zum Ballett „Der Nußknacker“, die fertig aber noch nicht aufgeführt war, „hastig“ die Orchester-Suite zusammen. Auch vom „Nußknacker“ war er nicht eben überzeugt. In einem Brief schrieb er, das Werk sei „unendlich viel schlechter als Dornröschen“. Und er fügte hinzu: „Wenn ich meinen musikalischen Tisch nur noch mit Aufgewärmtem bestücken kann, werde ich das Komponieren ganz aufgeben“. Das Publikum war von Anfang an weniger kritisch als der Meister. Bereits bei der Uraufführung in Petersburg mußten alle Sätze bis auf einen (welcher, darüber mag man spekulieren) wiederholt werden. Angesichts der großen Karriere, welche die Nußknackermusik inzwischen erlebt hat, muß man daher die Frage aufwerfen, ob der Meister mit seiner Kritik an diesem allerliebsten Werk nicht ein wenig kokettierte.

1892 Edward Elgar (1857 – 1934) – Streicherserenade e-moll

Elgar war ein musikalischer selfmade man aus Worcester, der sich anfangs an der kleinen Form übte, um sich Schritt für Schritt den großen musikalischen Gattungen zu nähern. Eines dieser „Übungswerke“ ist die Salonpiece „Salut d´amour“ aus dem Jahre 1888, die Weltruhm erlangen sollte. Ein anderes ist die schon nicht mehr ganz kleine Serenade für Streichorchester, die im Jahre 1892 entstand. Elgar griff dabei vermutlich auf eine verschollene Komposition zurück, die ebenfalls aus dem Jahre 1888 stammt. Es ist damit eines der ältesten „seriösen“ Werke des Engländers, das noch heute gespielt wird. Unmittelbarer Auslöser für die endgültige Version des Werkes scheint eine Einladung einer Bekannten zum Besuch der Bayreuther Festspiele gewesen sein. Elgar, der sich bei seinen autodidaktischen Studien auch intensiv mit Richard Wagner beschäftigte, nahm sich daraufhin dessen Oper „Parsifal“ vor, was deutliche Spuren in der Serenade hinterlassen hat.

 

Für Elgar war das Werk ein wichtiger Schritt auf dem Weg zur künstlerischen Selbstfindung. Es war die erste Komposition, mit der er in vollem Umfang zufrieden war. Der Verleger Novello, dem er das Stück anbot, war offenbar anderer Meinung. Er verweigerte die Annahme mit der Begründung, dass diese Art von Musik praktisch unverkäuflich sei. Elgar führte das Werk daher zunächst im Rahmen eines Auftrittes der „Worcester Ladies` Orchestral Class“, einer Art musikalischer Volkshochschulklasse auf, mit deren Leitung er damals unter anderem die Mittel für seinen Lebensunterhalt verdiente. Die erste öffentliche Darbietung fand erst vier Jahre später in Antwerpen, die erste englische Aufführung sogar erst am 16. Juli 1899 in New Brighton statt. Fünf Wochen vorher hatte Elgar mit seinen von Hans Richter uraufgeführten „Enigma-Variationen“ in fortgeschrittenem Alter von 42 Jahren den Durchbruch als Komponist geschafft, was ihm ermöglichte, ein Konzert mit ausschließlich seinen Werken zu bestücken, wozu er bezeichnenderweise auch die Streicherserenade auswählte. Heute gehört das liebenswerte dreisätzige Stück zu den am meisten aufgeführten Werken des inzwischen auch mit großen Werken berühmt gewordenen Engländers. Ähnlich wie die Damen der „Worcester Ladies` Orchestral Class“ freuen sich vor allem die Liebhaberorchester darüber, mit ihm ein reifes spätromantisches Stück zu haben, dass sie nicht zu sehr an die Grenzen ihrer Möglichkeiten führt.

1889 Claude Debussy (1862-1918) – Petite Suite

Debussy besonderer musikalischer Stil, der fast unvermittelt aus dem Rahmen der sonstigen euro-päischen Musikentwicklung zu fallen scheint, war die Folge einer langen und mühevollen Suche des jungen Komponisten nach neuen Ausdrucksmög-lichkeiten. Debussy neigte von Anfang an zur Ab-weichung von der traditionellen Schultheorie der Musik. Anlässlich des Rompreises der französischen Akademie, den Debussy im Jahre 1884 er-hielt, schrieb der Kritiker des „Figaro“, die Tonalität des jungen Komponisten sei an vielen Stellen unentschieden, die Stimmen seien ohne Rücksicht auf Struktur und Klangfarben hingeschrieben und Unordnung scheine unter den Grundprinzipien an erster Stelle zu stehen. Über die Komposition, die Debussy zum Abschluss seines Stipendiatenaufenthalts in Rom in den Jahren 1885-88 vorlegte, heißt es in einem Bericht der Akademie, die Arbeit entbehre nicht der Poesie, „wenn sie auch noch immer jenen systematischen Hang zur Verschwommenheit in Ausdruck und Form erkennen lässt, den die Akademie schon früher dem Komponisten vorzuwerfen sich veranlasst sah.“

Diese Eigenwilligkeit und der dezidierte Wille Debussys, den rhetorischen Gestus der traditionellen Musik zu verlassen, war ohne Zweifel der Grund dafür, dass er, wiewohl musikalisch frühbegabt, erst vergleichsweise spät zur Vollendung kam. In einem Alter, das Schubert nicht mehr er-lebte, hatte er seinen Stil noch nicht gefunden. Lange Zeit beschäftigte er sich mit Wagner, der im Frankreich der Zeit nach dem Krieg von 1870\71 eher verpönt war. Auf Reisen nach Russland, wo er übrigens von der geheimnisvollen Gönnerin Tschaikowskis, Nadjeschda von Merk, als Klavierbegleiter engagiert worden war, studierte er die Werke der zeitgenössischen russischen Komponisten. Bei der Pariser Weltausstellung von 1889 kam er in Kontakt mit der Musik Ost- und Südostasiens, die ihn mit ihrer Freiheit im Umgang mit Harmonie und Rhythmus in seinen „unordentlichen“ Kunstvorstellungen bestärkte. Anregungen suchte er auch in der Malerei und der Dichtkunst, die er mit der Musik zu verschmelzen suchte. Das Ergebnis dieser Bestrebungen war jener einzigart-ge Stil, der Anfang der 90-er Jahre des Jahrhunderts schließlich voll ausgebildet war. Technisch ist er vor allem durch die Verwendung der Ganztonleiter sowie von Quintfolgen, Sextengriffen und Nonenakkorden gekennzeichnet.

Eine „klassizistische“ Zwischenstation auf Debussys Suche nach dem persönlichen Ausdruck ist die „Petite Suite“, die in den Jahren 1888/89 für Klavier zu vier Händen entstand. Obwohl sich Debussy darin mit der höfischen Musik Frankreichs auseinandersetzt, ist sein sich entwickelnder besonderer Tonfall nicht zu überhören. Wegen ihrer rokokohaften Thematik und den „duftigen Farben“ hat man die „Petite Suite“ ganz im Sinne von Debussys Idee der Verschmelzung der Künste als komponierten Watteau bezeichnet.

1889 Antonin Dvorak (1840-1904) – Symphonie Nr.8 G – Dur

Dvoraks 8. Symphonie entstand in einer Zeit, in der sich seine Stellung in der europäischen Musikwelt immer mehr festigte. Er bekam zahlreiche Kompositionsaufträge, war von London bis Moskau als Dirigent unterwegs, erhielt allerlei Ehrungen und konnte es sich sogar leisten, das Angebot einer Professur am Konservatorium in Prag (vorläufig) abzulehnen. Die allgemeine Anerkennung ermutigte ihn dazu, seinen persönlichen Stil weiter zu entwickeln. Er brauchte nun weder, wie in seiner 7. Symphonie, die Anlehnung an Brahms, noch musste er das folkloristische Element, das ihn groß gemacht hatte, besonders in der Vordergrund stellen. Beide Aspekte blieben in seinem Werk zwar präsent, wurden jedoch in freier Weise in eine neue Kompositionshaltung integriert.

 

Der neue Stil zeigt sich besonders deutlich in der 8. Symphonie, die im Jahre 1889 entstand. Das Werk strahlt nicht nur optimistische Gelassenheit und selbstbewusste Kraft aus. Die musikalische Aussage gewinnt hier auch eine besondere Plastizität, sie wird geradezu sprechend und ist in gewisser Weise tonmalerisch. Ein Grund hierfür ist die Lockerung der Form. Das große Cellothema etwa, mit dem die Symphonie beginnt, hat nicht mehr die Funktion der Einführung des musikalischen Materials, welches dann nach den Regeln der klassischen Kunst „verarbeitet“ wird. Es ist vielmehr ein poetischer Gedanke, der in der Form einer Reminiszenz zwar zwei Mal wiederkehrt, formal aber nur die Funktion hat, den bunten Reigen der musikalischen Einfälle zu gliedern. Die beiden stimmungsvollen Mittelsätze entsprechen in ihrer formalen Struktur noch am ehesten der symphonischen Tradition. Der letzte Satz enthält wieder eine Fülle von Eigentümlichkeiten im Aufbau, insbesondere eine Verschränkung von Variationen- und Sonatensatz mit Rondoelementen. Zeitgenössische Kritiker merkten angesichts der ungewöhnlichen Form an, es sei fraglich sei, ob der Begriff „Symphonie“ auf dieses Werk noch zutreffe. Es sei dafür „viel zu wenig durchgearbeitet und in der ganzen Anlage zu sehr auf lose Erfindung begründet“. Die „Musical Times“ merkte nach der ersten Aufführung in England im April 1890 an, die Musik versuche offensichtlich, sehr verständlich von Geschehnissen außerhalb ihrer selbst zu sprechen“.

 

Dvoraks neues Selbstbewusstsein hatte im übrigen auch zur Folge, dass er seine wirtschaftliche Stellung gestärkt sah. Als ihm sein Verleger Simrock, mit dem er ständig im Clinch über Honorarfragen lag, für die 8. Symphonie 1000 Mark anbot, antwortete er, für diesen Betrag könne er ihm „ein so umfangreiches Werk, an dem ich drei Monate gearbeitet habe, absolut nicht geben“. Wenn Simrock für seine großen Werke keinen Absatz finde, sei er, Dvorak, von nun an in der Lage, sich einen (anderen) Verleger zu suchen. Simrocks anschließender Verweis auf einen Exklusivvertrag aus dem Jahre 1878 führte zu einer längeren Zwischeneiszeit in der von allerhand Klimaschwankungen geprägten Korrespondenz zwischen den beiden Geschäftspartnern. Verärgert antwortete Dvorak: „Ja, zum Narren halten lasse ich mich doch nicht! Und wenn Sie mit Drohungen mir anfangen, dann müssen demzufolge meine Forderungen bedeutend erhöht werden“. Und um für den Fall einer Klage gewappnet zu sein, verlangte er eine Kopie des Vertrages, den er seinerzeit „wohl nur aus Unerfahrenheit oder Dummheit unterschrieben habe“. Tatsächlich erschien die Achte als einzige der gedruckten Symphonien Dvoraks dann nicht bei Simrock in Hamburg, sondern bei Novello in London, weswegen sie gelegentlich auch die „Englische“ genannt wird.

 

1888 Nicolai Andrejewitsch Rimski-Korsakow (1844-1908) – Scheherazade

Es gibt kaum einen Komponisten, der so bekannt ist wie Rimski-Korsakow, von dem aber zugleich so wenig Musik bekannt ist. Der „Hummelflug“, das „Capriccio Espanol“ und nicht zuletzt die Orchestersuite „Scheherazade“ haben den russischen Meister in der ganzen Welt populär gemacht. Die Werke, die ihm vor allem wichtig waren, die zahlreichen Vokalkompositionen etwa, allen voran die Opern, die Symphonien und Tondichtungen und die Kammermusik werden jedoch hierzulande selten oder überhaupt nicht gespielt.

 

Wiewohl dem jungen Nicolai Andrejewitsch die Musik eine Herzenssache war, wurde er, der Familientradition entsprechend, Marinekadett. Bevor er auf große Fahrt ging, lernte er allerdings Mili Balakirew kennen, das Haupt der musikalischen „Selbsterfahrungsgruppe“, zu der unter anderem Mussorgksi und Borodin gehörten. Die Gruppe, die später unter dem Namen „Mächtiges Häuflein“ berühmt werden sollte, war auf der Suche nach einer spezifisch russischen Musiksprache, wobei man unbekümmert um akademische Konventionen mit allen möglichen Formen experimentierte. Die Beziehung zu diesen Enthusiasten, die wie Rimski-Korsakow weitgehend Autodidakten waren, sollte den Lebensweg Rimski-Korsakows in andere Bahnen lenken. Balakirew ermunterte den 17-jährigen, den Pläne für eine Symphonie zu verwirklichen, die er bereits skizziert hatte. Das Werk, an dem der Marinekadett sogar während seiner Weltumsegelung in den Jahren 1862 bis 1865 arbeite, wurde die erste russische Symphonie und der Grundstein für eine große Musikerkarriere. Rimski-Korsakow verblieb zwar zunächst noch im Marinedienst, wo er zuletzt Aufseher über die Militärkapellen war. Als man ihm allerdings im Jahre 1871 eine Professur für Komposition am Konservatorium in St. Petersburg anbot, nutzte er die Gelegenheit, um sich ganz der Musik zu verschreiben. Die Tätigkeit am Konservatorium, die er bis zum Jahre 1905 beibehielt, als man ihn wegen seiner Sympathie für die erste russische Revolution entließ, begann er höchst selbstkritisch damit, daß er in Abkehr von der Regelverachtung des Balakirew-Kreises zunächst noch einmal selbst die musikalische Schulbank drückte. Auf diese Weise ist Rimski-Korsakow zum ersten handwerklich voll ausgebildeten russischen Komponisten geworden, eine Tatsache, die man ihm allerdings später insbesondere wegen seiner Überarbeitungen der Werke Mussorgskis, die ihm nicht immer „regelgerecht“ erschienen, kritisch vorgehalten hat.

 

Der Orchestersuite „Scheherazade“, die im Jahre 1888 entstand, liegen Episoden aus „Tausendundeiner Nacht“ zugrunde. Bekanntlich erzählt darin die Sultans-Frau Scheherazade immer wieder märchenhafte Geschichten, um ihren absurd eifersüchtigen Gemahl davon abzuhalten, sie umzubringen. Der Sultan glaubte die Treue seiner Gattinnen nur dadurch sicherstellen zu können, daß er ihnen durch Tod unmittelbar nach der Hochzeitsnacht die Gelegenheit nahm, untreu zu werden.

 

Das einleitende Thema der Baßgruppe charakterisiert das grimme Wesen des Sultans, während die Solovioline für die anmutige Scheherazade steht. Beide Elemente ziehen sich als verbindende musikalische Elemente durch das ganze Werk. Thema des ersten Satzes ist Sindbads Schiff, das in einen Sturm gerät, den man gelegentlich im wahrsten Sinne des Wortes pfeifen hört. Gegenstand des zweiten Satzes ist die Erzählung des Prinzen Kalender, der eine Menge Abenteuer, darunter den Kampf mit dem Riesenvogel Ruch, erlebt hat, bevor er zum umherziehenden Derwisch ohne Behausung wurde. Der dritte Satz schildert eine wunderschöne Liebesszene zwischen einem jungen Prinzen und einer Prinzessin. Der letzte Satz beginnt mit Volkstreiben in Bagdad, man hört Themen aus den vorangegangenen Sätzen, bis das ganze schließlich wieder in den Seesturm umschlägt, durch den Sindbads Schiff auf einen Felsen geworfen wird und zerschellt. Am Ende tritt Ruhe ein, auch der Sultan ist besänftigt. Das Anfangsthema hat seine zornigen Charakter verloren und Scheherazade hat das letzte zarte Wort.

 

Rimski-Korsakow geht mit dieser Orchestersuite einen Mittelweg zwischen Programmmusik und Symphonie. Die Verarbeitung der Themen ist, wie der Komponist in seiner aufschlußreichen musikalischen Autobiographie betont, keineswegs nur deskriptiver Natur. Vielmehr werden die scheinbaren Leitmotive in symphonischer Manier umgesetzt, wobei sie in verändertem Kontext jeweils neue Bedeutung erlangen können. Mit den programmatischen Andeutungen, so schreibt Rimski-Korsakow, habe er die Phantasie des Hörers nur behutsam in eine Richtung lenken wollen. Die Ausmalung bestimmter Details solle aber jedem Hörer selbst überlassen werden.