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Claude Debussy (1862 – 1918) Children’s Corner

Betrachtet man die klassische Musik als Ganzes, so erscheint sie als eine ziemlich kinderfreie Zone. Zwar waren die Erwachsenen immer von den zum Teil unfassbaren Leistungen musikalischer Frühbegabungen fasziniert. Musik für oder über Kinder ist in der Kunstmusik aber eine Rarität. Eine Ausnahme sind Schumanns „Kinderszenen“, die aber, anders als sein „Album für die Jugend“, aus der Sicht von Erwachsenen und für diese geschrieben sind. Weitere Ausnahmen sind Gabriel Faurés vierhändiger Klavierzyklus „Dolly“ und Modest Mussorkskis Liederzyklus „Kinderstube“. Beide Werke dürften Debussy zu seinem Werk „Childrens Corner“ angeregt haben. Von Mussorksis „Kinderstube“ aus dem Jahre 1872 war Debussy, der die aufkeimende, antiakademische russische Kunstmusik ohnehin sehr hoch schätzte, besonders angetan. Er schrieb darüber: „Niemand hat mit zärtlicherem, tiefbewegterem Ton von dem Kostbarstem, was in uns ist, gesprochen“. Zur „Dolly-Suite“ von Fauré wiederum, die zehn Jahre vor Children’s Corner entstand, hatte Debussy quasi eine familiäre Beziehung. Im Mittelpunkt des Geschehens stand die Sängerin Emma Bardac, die so etwas wie die Personifikation eines der Lieblingssujets französischer Künstler ist: die eskapadierende, insbesondere aus bürgerlichen Bindungen ausbrechende Frau („Madame Bovari“, „Belle de jour“ u.a.). Fauré hatte mit der Bankiersgattin, die sinnigerweise mit Madame Bovari auch noch den Vornamen teilte, ein langjähriges außereheliches Verhältnis. Er schrieb die Stücke seines „Dolly-Zyklus’“ aus Anlass von besonderen Ereignissen im Leben von Emmas ehelicher Tochter Dolly. Einige Jahre später war Emma Bardac der Grund für das blutige Auseinanderbrechen von Debussys erster Ehe mit Rosalie Texier (als Debussy ihr das durch Emma Bardac bedingte Ende ihrer Beziehung mitteilte, versuchte sie sich – ausgerechnet auf der „Place de la Concorde“ – mit einem Revolver umzubringen; gleiches tat sich schon Debussys frühere Geliebte Gabrielle Dupont an, als Rosalie Texier an ihre Stelle trat). Der daraus resultierende Gesellschaftsskandal zwang Debussy und Emma, eine zeitlang ins englische Exil zu gehen. Aus der folgenden Ehe der beiden ging die Tochter Emma-Claude, genannt Chouchou, somit die Halbschwester von Dolly, hervor, für die „Children’s Corner“ komponierte wurde.

Debussy widmete das Werk, das in den Jahren 1906 bis 1908 entstand, samt einer eigenhändigen Zeichnung, die das Titelblatt zierte, seiner „chére petite Chouchou“, die damals drei Jahre alt war, mit „den liebevollsten Entschuldigung ihres Papas für das was folgt.“ Der englische Titel und die englischen Überschriften für die einzelnen Stücke sind wohl eine Hommage an die englische Kinderfrau von Emma-Claude. Die Orchesterfassung stammt von dem Komponistenkollegen André Caplet, der Schüler von Debussys war, einem geschickten Arrangeur, der noch weitere Klavierwerke seines Lehrers orchestrierte. Sie bringt neue Farben in das Werk und verdeutlicht die thematischen Linien.

Ähnlich wie im Falle Richard Wagners, der sein Privatleben, das nicht weniger stressig als das von Debussy war, mit dem „Siegfried Idyll“ einschließlich Kinderreminiszenzen konterkarierte, wird auch in Children`s Corner eine heile Kinderwelt heraufbeschworen. Kindlich naiv ist die Musik freilich nicht. Die sechs Miniaturen weisen neben allerhand technischen Schwierigkeiten die typischen harmonischen „Zweideutigkeiten“ Debussys mit Pentatonik, Ganztonleitern und wechselnden Modi sowie eine sehr frei gehandhabte Rhythmik auf. Immerhin befand sich Debussy zum Zeitpunkt der Komposition auf dem Höhepunkt seiner musikalischen Entwicklung, die kurz darauf durch eine Krebserkrankung ein jähes Ende fand.

Schon das erste Stück „Doctor Gradus ad Parnassum“ behandelt nicht eben ein Kinderthema. Es spielt ironisch auf das ebenso, freilich ohne Doktortitel, überschriebene Lehrwerk des italienisch-“englischen“ Klassikers Muzio Clementi an, der wiederum an die gleichnamige Kontrapunktlehre des österreichischen Barockkomponisten Johann Josef Fux anknüpft. Inhaltlich steht denn auch der Etüdenaspekt im Vordergrund, was möglicherweise die Platzierung des Werkes in der „Ecke der Kinder“ rechtfertigt, deren Weg zum Musenberg der Kunstmusik durch mehr oder weniger beliebte „Übungen“ gekennzeichnet ist.

Die nächsten vier Stücke, in denen ein locker-spielerischer Ton angeschlagen wird, betreffen Spielsachen Chouchous, den Elephanten „Jimbo“, der etwas schwerfällig dahintrottet, eine verträumt spielende Puppe, tanzende Flocken in einer Schneekugel und die Spielfigur eines kleinen Hirten. Im letzten Stück, „Golliwogg’s Cake-walk“, verbindet Debussy Formen der Unterhaltungsmusik, namentlich den Ragtime und den seinerzeit modischen Tanz Cake-walk mit der tiefernsten Thematik von Richard Wagners Oper „Tristan und Isolde“. Mehrfach wird der rätselhafte „Tristanakkord“ angeschlagen, um, anders als bei Wagner, in kindlich unbeschwerter Weise aufgelöst zu werden.

Auch „Children’s Corner“ ist nicht für das Spiel von Kindern gedacht, es sei denn, es handelt sich um eine der spektakulären musikalischen Frühbegabungen. Inhaltlich dürfte Chouchou erst in späteren Jahren das hochartifizielle Raffinement dieser Stücke verstanden und genossen haben.