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Ein- und Ausfälle – Chinesische Strafen für schlechte Architektur

Der Ming-Kaiser Yong Le soll den Architekten der Verbotenen Stadt von Peking, weil dieser zum wiederholten Male nicht genügend gute Entwürfe für die Ecktürme des Palastes vorgelegt hatte, eines Tages mit dem Tode bedroht haben, falls er nicht bis zum nächsten Morgen qualitätvollere Pläne vorlege. Der Architekt, der nicht wusste, wie er den Ansprüchen des Kaisers  gerecht werden sollte, sei, so heißt es,  daraufhin in Verzweiflung gefallen und habe sich die ganze Nacht nur damit beschäftigt, seiner geliebten Grille einen schönen Käfig zu bauen. Als der Kaiser am nächsten Morgen kam, um zu sehen, was der Architekt unter der Todesdrohung zu Stande gebracht hatte, habe dieser sich in sein Schicksal ergeben auf sein bevorstehendes Ende vorbereitet. Der Kaiser habe aber die Zeichnung für den Grillenkäfig auf dem Tisch des Architekten entdeckt und geglaubt, dass es sich dabei sich um den Entwurf für die Türme handele. Er sei davon begeistert gewesen und habe den Architekten begnadigt.

 Ob diese Geschichte wahr ist, wird man angesichts der Art, wie man im alten China Geschichte schrieb und bestimmten Zwecken dienlich machte, wohl nie erfahren. Man kann für den armen Architekten und alle seine Kollegen nur hoffen, dass sie Übertreibungen der Art enthält, wie sie im Zusammenhang mit chinesischen Kaisern üblich waren. Aber auch wenn nicht viel Wahres daran sein sollte, so zeigt die Geschichte in jedem Fall, welch` hohen Stellenwert die Qualität der Architektur im alten China hatte. Das gegenteilige Extrem ist der vollkommene Mangel an Respekt vor der Öffentlichkeit und ihren Repräsentanten, den ungezählte Architekten in unseren Breiten und Zeiten an den Tag legen.

Ein- und Ausfälle – Müssen wir Angst vor den Chinesen haben?

Wir sehen seit einiger Zeit verwundert, wie im Osten des eurasischen Kontinents eine gewaltige Macht entsteht. China zieht sich am eigenen Schopf aus dem Sumpf von Selbstzerfleischung und ideologisch bedingtem  Missmanagement, in dem es ein Jahrhundert steckte, nachdem es durch den Westen gedemütigt und geschunden worden war. In wenigen Jahrzehnten hat das Reich der Mitte eine Entwicklung durchgemacht, für die der Westen Jahrhunderte gebraucht hat. Das Land ist in dieser Zeit von einem Entwicklungsland zu einer führenden Industrienation geworden. Ein Ende dieser Entwicklung ist nicht abzusehen. Das chinesische Gesellschaftssystem ermöglicht es, Entscheidungen in einem Tempo zu vorzubereiten und zu verwirklichen, von dem der Westen nur träumen kann. Hinzu kommt, dass die ungeheuren menschlichen Ressourcen des Landes noch weitgehend unausgeschöpft sind. Geht man davon aus, dass sich die Entwicklung in ähnlicher Weise fortsetzt wie in den letzten Jahrzehnten, dann werden in China in den nächsten Jahrzehnten weitere Hunderte von Millionen äußerst fleißiger und hoch motivierter Menschen in den modernen Wirtschaftskreislauf eintreten. Nach allem Ermessen wird der Westen dem nichts Vergleichbares entgegenzusetzen haben. Schon jetzt kann man sich daher ausrechnen, dass sich dadurch die Machtgewichte in der Welt zu Lasten des Westens erheblich verschieben werden. Müssen wir also Angst vor China haben?

 

Nach den Maßstäben, die Europa und seine kulturellen Ableger insbesondere in Amerika in der Vergangenheit entwickelt haben, ist die Angst berechtigt. Der Westen hat seine Stärke und die Schwächen der wenig oder anders entwickelten Länder immer konsequent für seine Zwecke genutzt. Sein Bestreben war in erster Linie die Expansion und die Ausbeutung fremder Ressourcen. Die Mittel, mit denen er operierte, waren dabei alles andere als skrupulös. Wo nötig hat man sich dafür andere Länder kurzerhand einverleibt, indem man sie zu Kolonien erklärte. Im schlimmsten Fall wurde die Bevölkerung gar versklavt oder vernichtet. Das Ergebnis war, dass der Westen vom großen Kuchen der Weltökonomie das bei weitem größte Stück bekam. Unsere Jahrhunderte lange wirtschaftliche (und damit militärische) Übermacht bedeutete für die Unterlegenen also meist nichts Gutes. Würde China die Macht, die es schon hat oder in absehbarer Zeit haben wird, ähnlich nutzen, würde es uns tatsächlich schlimm ergehen.

 

Sind solche Befürchtungen aber berechtigt oder spiegeln sie nur unsere eigene Denkweise? Letztendlich beantworten kann diese Frage naturgemäß niemand. Ein Indiz dafür, wie sich die Dinge entwickeln könnten, kann aber der Blick in die Vergangenheit sein. Denn da sich die Grundlagen einer Kultur in der Regel nur sehr langsam ändern, kann man davon ausgehen, dass die Linien, welche die Vergangenheit eines Kulturkreises bestimmten, im Großen und Ganzen auch noch in der Zukunft weiter gezogen werden. Für den Westen lässt sich feststellen, dass sich die Neigung zur Ausbeutung fremder Ressourcen seit der Antike wie ein roter Faden durch die Geschichte zieht und noch heute vorhanden ist. Wenn die Entwicklung Chinas ebenso konsequent verlaufen sollte, könnten wir beruhigt sein. Chinas Kultur war nämlich nie in vergleichbarer Weise auf Expansion oder Ausbeutung fremder Länder und Menschen gerichtet, wie die westliche Kultur.

 

Wiewohl China über drei Jahrtausende die absolut größte Macht im Osten des eurasischen Kontinents war, hat sie nie einen Kolonialkrieg geführt, geschweige denn, wie der Westen, Eroberungen unter dem Deckmantel der Ausbreitung der angeblich einzigen richtigen Religion betrieben. Dabei wäre es ihm angesichts seiner menschlichen und technischen Ressourcen ein Leichtes gewesen, weniger entwickelte Völker zu unterwerfen. Die Chinesen waren lange vor den Europäern im Besitz von explosiven Substanzen, nutzten sie aber nie, um damit zu schießen, also um Andere damit unter Druck zu setzen. Noch bevor die Europäer sich dazu aufmachten, die Welt mit wenigen kleinen Schiffen zu erforschen und zu erobern, waren die Chinesen mit einer Flotte von riesigen Schiffen auf den Weltmeeren unterwegs. Sie verzichteten aber darauf, ihre Expeditionen oder gar sonstige politische Projekte durch die Unterwerfung und Ausbeutung der entdeckten Länder und Völker zu finanzieren, was Europa wie selbstverständlich tat (man denke an die Finanzierung der spanischen Reconquista durch die Edelmetallimporte aus Amerika). Zwar waren auch die Chinesen nicht unkriegerisch, wiewohl der Beruf des Kriegers bei ihnen – auch dies im Gegensatz zu Europa – kein hohes Ansehen genoss. Bei ihren Kriegen handelte sich aber entweder um innerchinesische Auseinandersetzungen zwischen verschiedenen Machtzentren oder um Kriege gegen benachbarte Völker, die der Sicherung der Grenzen dienten. Zu letzterem Zwecke haben die Chinesen zeitweilig auch Grenzvölker beherrscht oder sich über die Grenzen ihres Kulturkreises ausgedehnt. Im Großen und Ganzen ruhte das Reich der Mitte aber in sich selbst. Es war nicht an Expansion sondern an der Sicherung seiner inneren Stabilität interessiert. Das sichtbarste Zeichen dieses Denkens ist die chinesische Mauer. Mit einem Aufwand, dessen Größe nur noch mit der künftigen Wirtschaftskraft Chinas verglichen werden kann, hat man hier ein singuläres Bauwerk geschaffen, das nur dazu diente, sich Ruhe vor fremden Eindringlingen zu verschaffen.

 

Die Befürchtungen betreffend die Rolle Chinas in der heutigen Welt kann man denn auch schwerlich mit dessen Vergangenheit begründen. Sie resultieren vielmehr daraus, dass das politische System des Landes wenig durchschaubar ist und China in neuerer Zeit eine expansive Politik gegenüber Taiwan und Tibet betrieben hat. Was das gegenwärtige politische System betrifft, so handelt es sich um einen Import aus dem Westen des eurasischen Kontinentes, der in der Tat eine starke aggressiv-missionarische Komponente hatte. Nachdem die Schwächen dieses Systems offenbar geworden sind, hat sich sein missionarischer Aspekt stark abgeschwächt, sodass insofern kaum mehr sonderlich aggressive Impulse zu erwarten sind. Was die Politik gegenüber Taiwan und Tibet angeht, so ist ein Vergleich mit dem, was Europa in der Vergangenheit betrieben hat, kaum möglich.  Zu beiden Gebieten hat China historische Beziehungen. Auch wenn insbesondere in Falle Tibets offensichtlich auch geostrategische Aspekte im Spiel sind, erscheint das Verhalten Chinas hier doch in einem anderen Licht als die Eroberungsaktivitäten, welche sich die Europäer meinten leisten zu dürfen.

 

Eine Gefahr für die Welt würde China aber – abgesehen von möglichen Revanchegelüsten, die gut nachvollziehbar wären, für die es aber erstaunlich wenige Anhaltspunkte gibt –  wenn der Kapitalismus, der sich in diesem Land auszubreiten beginnt, notwendigerweise eine aggressive Außenpolitik nach sich ziehen würde, wenn man also auf Grund der Eigengesetzlichkeit des Kapitalismus die Auflösung der restriktiven außenpolitischen Tradition Chinas befürchten müsste. Dafür, dass dies der Fall sein könnte, spricht natürlich die Verbindung von Kapitalismus und Aggressivität, welche man für den Westen zu konstatieren hat. Es spricht aber auch einiges dafür, dass die Neigung zur Aggression in Europa unabhängig vom Kapitalismus entstanden ist. Darauf deutet insbesondere die Tatsache, dass die (Außen)Politik in Europa schon von der Antike bis zu den Kreuzzügen des Mittelalters durch Gewalt gekennzeichnet gewesen ist, ausbeuterisches Verhalten bei uns also bereits lange vor der Entstehung des Kapitalismus gang und gäbe war. Die Kombination von Kapitalismus und Aggressivität ist wohl eine spezifisch europäische Erfindung. Sie kann nicht ohne weiteres auch für China unterstellt werden, das, wie gesagt, eine ganz andere Tradition hat. Deswegen sollten gerade wir diesem erstaunlichen Land nicht mit übermäßigem Misstrauen oder gar Angst entgegentreten – ganz abgesehen davon, dass wir von den Impulsen, welche der Aufstieg Chinas der Weltökonomie gibt, erheblich profitieren.

Ein- und Ausfälle – Chinas pragmatische Logik

Der chinesische Philosoph Mo Ti aus den 5 Jh. v. Chr. ging die Frage der (sozialen) Logik ziemlich undogmatisch an. Nach ihm bestehen die drei Gesetze des vernunftmäßigen Denkens

 

            1.) im Studium der Erfahrungen der weisesten Menschen der Vergangenheit – dort, sagt er, finde man die Grundlage;

 

            2.) im Studium der Erfahrung des Volkes; – dadurch gelange man zu einem allgemeinen Überblick;

 

            3.) in der Einführung der dabei gewonnen Erkenntnisse in Gesetzgebung und Regierungspolitik und der anschließenden Prüfung, ob es der Wohlfahrt des Staates förderlich sei oder nicht.

 

Mit diesen schlichten Überlegungen kommt Mo Ti zu Ergebnissen, über welche die Väter der europäischen und indischen Philosophie mit ihren gewaltigen Gedankensystemen auch nicht wesentlich hinausgekommen sind, nämlich dass sozial wirksam die Gedanken sind, die sich

 

            1.) auf große Namen berufen können,

2.) in der Tradition (des Volkes) verwurzelt und

            3.) in der Praxis erprobt sind.

 

So ist es denn auch nicht verwunderlich, dass Mo Ti trotz ganz anderer Ausgangspunkte im Detail zu ähnlichen Ergebnissen wie die großen Denker unserer Tradition kommt. Er hält die Existenz eines persönlichen Gottes ebenso für erwiesen, wie die von Geistern und Gespenstern, letztere mit Begründung, weil viele sie gesehen haben. Die Notwendigkeit des (Ahnen)Kultes schließt er daraus, dass er sozialen Zusammenhalt fördere (weil dabei die Menschen auf Grund gemeinsamer Überzeugungen zusammenkommen). Das Prinzip der Nächstenliebe leitet er einfach aus dem Umstand ab, dass dadurch eine Menge sozialer Probleme gelöst würden (weil es die Ausuferung des individuellen Entfaltungsdrangs eindämme). In einem Punkt war er unseren Denkern allerdings weit voraus. Seiner Weisheit letzter Schluss ist das (behutsam angewendete) „Trial and error“- Prinzips als Korrektiv für überschäumende soziale Gestaltungsphantasien. Mit einem derart pragmatischen Prinzip hatten unsere Systemdenker einige Schwierigkeiten. Der Natur ihres Ansatzes entsprechend neigten sie zu logischen Scheingebäuden oder „wissenschaftlichen“ Großversuchen, die zum Teil mit gewaltigen Spesen endeten.

 

Die Tatsache, dass man von so unterschiedlichen Ansätzen zu so ähnlichen Ergebnissen kommt, sagt einiges darüber, wie wenig das Ergebnis des Denkens von der Art der Gedankenführung und wie sehr es davon abhängt, wie wichtig es einem ist.

Die verschlungenen Wege der Aufklärer

Es ist schon ein faszinierendes Schauspiel, zu sehen, wie die Denker der frühen Aufklärung nach rasantem Start in die tatsächliche Welt die Kurve doch wieder in Richtung Glauben kratzen: René Descartes etwa, der alles bezweifelt, um schließlich mit dem ontologischen Gottesbeweis schnurstracks auf den christlichen Gott zuzulenken; Pierre Bayle, der mit dem Gewicht überzeugendster Argumente, darunter der Tatsache, dass die heidnischen Chinesen auch ohne Offenbarung allerhand Vernünftiges zustande brachten, gegen den christlichen Glauben anfährt, um all die schlagenden Argumente kurz vor dem Ziel als angeblich falschen Ballast, den andere angehäuft hätten, wieder abzuwerfen; Nicolas Malebranche, der die Vorstellung von  übermenschlichen Wesen frontal mit der Erklärung angeht, der Mensch habe nur nach einer Ursache für die gewaltigen Kräfte der Natur Kräfte gesucht, dann aber die gerade Bahn verlässt, um dem christlichen Gott auszuweichen; die englischen Deisten wie Charles Blount und John Tolant, welche die Tatsachen zwar gegen willkürliche Eingriffe durch ein höchstes Wesen, einschließlich dessen irdischer Stellvertreter und den von ihnen verfassten heiligen Büchern immunisierten, aber doch an einem Gott als der ersten Ursache aller Tatsächlichkeiten festhielten; oder der Freidenker Anthony Collins, der zwar mutig darüber räsonierte, welche Texte der heiligen Schriften authentisch und welche apokryph sind und wie man  die Schikanen für die Vernunft bewältigt, die auch die heiligsten Texte enthalten, sich aber zu fragen scheute, ob sie heilig sind; schließlich Baruch Spinoza, der so ziemlich all die wolkigen Schleifen, die der Geist gerne um die Tatsachen zieht, wirklich radikal abkürzte, um bei einem Gott zu landen, der in allen Tatsachen steckt. Die deutschen Denker dieser Zeit freilich haben das Tempo, mit dem sie in die Welt fuhren, gerne schon vorsorglich gedrosselt und haben gleich die Kurve angesteuert, Gottfried Wilhelm Leibniz etwa, der um den hinderlichen Umstand, dass ein vollkommener Gott eine unvollkommen Welt geschaffen zu haben schien, mit der Feststellung kurvte, es könnte alles noch schlimmer sein, Gott habe aus der Menge der möglichen Welten die beste gewählt. Auch sprach er im Wettbewerb um die Vortrefflichkeit der Völker zwar den Chinesen den „goldenen Apfel“ (des Paris) zu, sicherte sich aber mit dem Nachsatz ab, dass ihnen jedoch das göttliche Geschenk der christlichen Religion fehle. Manche allerdings sind dennoch aus der Kurve geflogen, so Leibnitz unglückseliger Schüler Christian Wolff, der sich zwar alle Mühe gab, dem Christentum „vernünftige Gedanken“ zu unterlegen, aber beim allfälligen Vergleich mit den Chinesen die vorsorgliche Einschränkung seines Lehrers vergaß, was ihm Job und Heimat kostete. Er bekam sie erst zwanzig Jahre später durch eine der ersten Amtshandlungen Friedrichs des Großen zurück. Dieser hatte dann allerdings schon die Kraft – und die Stellung -, mit der Schrift „Der Bericht des Phihihu“ via  Chinesenvergleich voll auf Kollisionskurs mit der (katholischen) Kirche gehen zu können.

Ein- und Ausfälle (China 20)

Auf die Frage, wer für sie der größte Held sei, nannten junge Akademiker aus China Konfutius, ihre Kollegen aus Deutschland Franz Beckenbauer und Michael Schumacher. Bleibt nur noch die Hoffnung, dass der Satz falsch ist, eine Kultur sei so groß wie ihre Vorbilder.

Ein- und Ausfälle (Barock 1 – China 21)

Auch wenn der Begriff des Barock, der – abgeleitet von portugiesischen Wort „barucca“, mit dem man unrund geformte Perlen beschrieb – schon im 17. Jahrhundert die Bedeutung von „regelwidrig“ hatte, hat man in Europa das Unregelmäßige in der (Bau)Kunst richtig erst im 18. Jahrhundert entdeckt. Den Höhepunkt erreichte die Unregelmäßigkeit im alles überwuchernden Muschelwerk des Rokoko, in dem die Asymmetrie schließlich zum Prinzip erhoben wird. Zur gleichen Zeit – nicht selten sogar unmittelbar damit verbunden, entstand in Europa die Chinoiserie. Dies dürfte seinen Grund nicht zuletzt darin haben, dass ein wesentliches Merkmal auch der chinesischen Kunst die kunstvolle Unregelmäßigkeit ist. Die Frage ist nur, ob die Deregulierung der Form in Europa eine Folge des Kontaktes mit der chinesischen Kunst oder ob die Bereitschaft Europas zur Aufnahme von Elementen chinesischer Kunst eine Konsequenz des Interesses an der Unregelmäßigkeit ist. Ganz auseinanderhalten kann mein beide Aspekte sicher nicht. Für ein Übergewicht des Letzteren spricht aber der Umstand, dass man seit der Mitte des 17. Jahrhundert gesellschaftliche Regelwidrigkeiten, nämlich die Kritik an den „regulären“ Mächten Kirche und absoluter Staat,  gerne in Chinesenvergleichen versteckte.

Ein – und Ausfälle (China 19)

In einer Weltsicht, die von einem persönlichen Verhältnis des Einzelnen zu einer allmächtigen und allwissenden Institution ausgeht, die im Jenseits angesiedelt ist, werden bei der Formulierung ethischer Postulate Fragen der Gestaltung dieses asymmetrischen, irrealen und persönlichen Verhältnisses im Vordergrund stehen, Fragen der Regelung des realen Miteinanders prinzipiell gleichartiger Menschen im Diesseits hingegen tendenziell zu wenig Aufmerksamkeit erhalten. Für die alten Chinesen, die eine übergeordnete Institution dieser Art nicht kannten, war neben der Vollkommenheit der Persönlichkeit hingegen vor allem die Einbindung des Individuums in das gesellschaftliche Ganze wichtig, weswegen zum chinesischen Begriff der Tugend (De) etwa auch die Beachtung der Riten gehörte, in denen sich die soziale Einbettung des Einzelnen spiegelte.

Ein- und Ausfälle (China 18)

Was die Normgeber der großen Kulturkreise von der Normtreue des Menschen halten, kann man aus den Mitteln ersehen, mit denen sie die Befestigung der Norm sicherzustellen und den Einzelnen zu einem normgerechten Verhalten zu bringen versuchten. In unserem Kulturkreis versprachen man dem Normtreuen zu diesem Zwecke ein ewiges Leben in einem überaus herrlichen Himmel. Dem Normverletzer hingegen drohte man eine unglaublich grausame, ebenso ewige Hölle an. In Indien hielt man zur Durchsetzung der Normen ebenfalls extreme Szenarien für notwendig. Man drohte dem Normuntreuen nach dem Tod mit neuer Geburt auf einer niedrigeren Stufe des Lebens und versprach dem Normtreuen den Aufstieg in der Lebenshierarchie. Als höchste Belohnung winkte bei besonderer Anstrengung sogar die Möglichkeit des Ausstiegs auf dem Kreislauf der Wiedergeburten. Die Chinesen waren bei der Wahl der Mittel zur Befestigung der Normen dagegen auffallend mäßig. Sie stilisierten ihre Normgeber zu Heroen, um sie zu Vorbildern zu machen, begnügten sich also im Wesentlichen mit Geschichtsfälschungen. Die interessante Frage ist, was bei der Wahl des Mittels der Normbefestigung Ursache und was Wirkung ist. Haben der Westen (einschließlich des Nahen Ostens) und die Inder so dick auftragen müssen, weil die Menschen besonders schwer in den (sozialen) Griff zu bekommen waren, oder waren die Menschen hier so schwer zu lenken, weil sie diese Art der Normbegründung und -bestärkung nicht recht überzeugte? Es fällt jedenfalls auf,  dass man in China trotz der Mäßigung bei der Normbefestigung eine Menge gesellschaftlicher Fehlentwicklungen ausgelassen hat, welche bei uns auch die drastischsten Versprechungen und Strafen nicht verhindert haben.

Ein- und Ausfälle (China 17)

Für Konfutius ist die Musik das Medium, mit dem der Mensch seine Sehnsucht nach dem Einssein mit dem Kosmos befriedigt. Dadurch, so lehrte er, werde der Mensch gütig und aufrecht. Moderne Komponisten des Westens versuchen hingegen immer wieder, dem Menschen mit der Musik zu verdeutlichen, wie wenig eins er mit dem Kosmos (oder, wie man heute sagen würde, dem idealen gesellschaftlichen Ganzen) ist. Dahinter steckt eine pädagogische Absicht. Die Konfrontation mit den Problemen der modernen Verhältnisse soll die Menschen sensibilisieren und damit veränderungsbereit machen. Ob dieses Konzept aufgeht, ist zweifelhaft. In Umkehrschluss aus der Lehre des Konfutius könnte es auch sein, dass eine Musik, welche die Sehnsucht des Menschen nach dem Einssein mit dem „Kosmos“ nicht befriedigt, dazu führt, dass er weniger empfänglich für die segensreichen Wirkungen der Musik, im schlimmsten Falle also dass er herzlos und unaufrecht wird.

Ein- und Ausfälle (China 16)

Im alten China gab es den Beruf des Juristen nicht. Offenbar war den Menschen im wesentlichen auch so klar, was man darf und soll. Juristen braucht man erst, wenn dies nicht mehr der Fall ist. Die Unklarheit beginnt, wenn man anfängt zu fragen, welche andere Möglichkeiten es gibt. Diese Frage stellen nicht zuletzt diejenigen, welche aus der Reihe tanzen wollen. (wovon es im alten China offenbar nicht so viele gab).

Ein- und Ausfälle (China 15)

China kannte von alters her keinen Adel, keine Verehrung des Militärs, keine Kirche, die meinte, alles am besten zu wissen, keinen Kolonialismus, keine Religionskriege, keinen Rassismus und keinen Nationalismus, dafür aber einen relativ gerechten Zugang des Volkes zu öffentlichen Ämtern und die tatsächliche Verantwortung der Regierung für das Wohl des Volkes, mit anderen Worten China hatte das oder das nicht, was sich Europa erst in neuerer Zeit mühsam ab- oder anzugewöhnen begonnen hat.

Ein- und Ausfälle (China 14)

Im alten China herrschte die Vorstellung, dass sich Recht und Moral dadurch entwickeln, dass der Herrscher seinem Volk mit gutem Beispiel vorangehe. Dies hielt das Bedürfnis der Menschen in Grenzen, an die Spitze der Gesellschaft zu streben. Im Abendland hingegen nahmen die Herrschenden aus angeblich übergeordneten Gesichtspunkten heraus gerne in Anspruch, außerhalb des Rechtes zu stehen. Dies hatte zur Folge, dass die oberen Ränge der Gesellschaft sehr attraktiv erschienen. Dies scheint eine wesentliche Ursache dafür zu sein, dass sich im Westen ein Gesellschaftsmodell entwickelte, dessen Leitmotiv der soziale Aufstieg ist.

Ein- und Ausfälle (China 13)

Ein Unterschied, der den Stoff für den nächsten clash of civilisations abgeben könnte: der von Kulturen mit und ohne Glauben an einen Schöpfergott. Denn viel grundlegender voneinander geschieden als Islam und christlich geprägten Kulturen, die gerade wieder einmal meinen, dass die Weltprobleme zwischen ihnen ausgetragen werden, ist die Differenz zwischen Christentum und Islam auf der einen und der chinesischen Kultur auf der anderen Seite. Immerhin gehen erstere davon aus, dass die Welt nur im Hinblick auf einen jenseitigen Schöpfergott verstanden und gehandhabt werden kann, während letztere sich ohne derart komplizierte Extrapolationen eher mit den Problemen des Diesseits befasst. Angesichts der außerordentlich hohen Selbsteinschätzung, welche den Islam im allgemeinen und die (amerikanischen) Kreationisten im Speziellen kennzeichnen, müsste die Konfrontation mit der Kultur Chinas spätestens dann relevant werden, wenn der ostasiatische Koloss, wie zu erwarten, demnächst eine Hauptrolle auf der Weltbühne übernehmen wird. Allerdings könnte es auch sein, dass der clash ausbleibt: zum Einen, weil ein erbitterter Streit, wie wir ihn gerade zwischen christlich und islamisch geprägten Kulturen beobachten, erfahrungsgemäß am ehesten zwischen Verwandten stattfindet; zum andern, weil möglicherweise die „Konfrontation“ der kreationistischen Kulturen mit der Tatsache, dass eine der ältesten und größten Kulturen der Welt ohne die Frage nach einem Schöpfergott zurechtkam, eine Relativierung der Fragestellung zur Folge haben könnte; schließlich weil zum Streiten zwei gehören und die Chinesen in Fragen dieser Art nie sehr streitbar gewesen sind.

Ein- und Ausfälle (China 12)

Auf den ersten Blick scheint es, dass im alten China und im Westen auf sehr unterschiedliche Weise Geschichtsschreibung betrieben wurde. Für die alten Chinesen war die Beschreibung des Vergangenen im Wesentlichen ein Mittel der Zukunftsgestaltung und damit ein Werkzeug der Didaktik oder der Politik. Deswegen haben sie nur begrenzt danach gefragt, ob die Beschreibung den Tatsachen entsprach. Die westlichen Geschichtsschreiber haben in viel höherem Maß die Nähe der Tatsachen gesucht. Der Sache nach dürften beide aber mehr oder weniger das Gleiche getan haben. Der Unterschied liegt wahrscheinlich nur darin, dass die chinesischen Historiographen entweder naiv oder weise und unsere Historiker entweder naiv oder raffiniert waren. Die chinesischen Schriftsteller haben sich nämlich entweder gar nicht erst eingebildet, etwas anderes als Gesellschaftsgestaltung zu betreiben, was weise, oder sie (oder ihre Adressaten) haben die Mechanik des Zusammenhangs von Vergangenheit und Zukunft nicht durchschaut, was naiv wäre. Die westlichen Historiker haben entweder geglaubt, ihr Geschäft sei um so weniger politisch, je näher sie an die Tatsachen rückten, was ebenfalls naiv wäre, oder sie haben sich hinter den Tatsachen und dem ernormen Aufwand, den sie zu ihrer Ermittlung betrieben, verschanzt, um ihre wahren (Gestaltungs)Absichten zu verschleiern, was raffiniert wäre.

Ein und Ausfälle (China 11)

Unglücke, insbesondere Naturkatastrophen, die Gute und Böse gleichermaßen treffen, sind für die traditionellen Weltbilder die Probe aufs Exempel. Am schlechtesten lassen sie sich im Rahmen eines Weltbildes erklären, das von einem perfekten und allmächtigen Gott ausgeht. Dessen Bild leidet notwendigerweise unter der Tatsache, dass er solches Geschehen nicht verhindern kann oder will. Unglücke stellen hier die Konstruktion des Weltbildes selbst in Frage. Bei den alten Chinesen hingegen sind Unglücke eher eine Bestätigung des Weltbildes. Da im Mittelpunkt des (alt)chinesischen Weltbildes der Mensch und seine soziale Verantwortung stehen, hat man auch hier eine politische und damit „menschliche“ Lösung des Problems gefunden. Die Chinesen gehen davon aus, dass Unglücke eine Folge der Störung der kosmischen Harmonie durch den Menschen seien. Und da die Möglichkeiten des Einflusses auf die kosmischen Verhältnisse als um so größer angenommen werden, je höher die Stellung des einzelnen Menschen in der sozialen Hierarchie ist, trägt der jeweilige Herrscher für Unglücke umso mehr Verantwortung, je größer sie sind, was doch ziemlich menschlich ist.

Ein und Ausfälle (China 10)

Es fällt auf, dass es in China wesentlich weniger (bauliche) Sehenswürdigkeiten aus alter Zeit gibt als in Europa. Das hat sicher nicht nur damit zu tun, dass in China weniger Altes erhalten geblieben ist, etwa weil man weniger beständige Baustoffe verwendete oder weil in den zahlreichen gesellschaftlicher Umwälzungen viel zerstört wurde. Es dürfte dafür auch eine strukturelle soziale Ursache geben.

Vom Menschen gemachte Sehenswürdigkeiten setzen in der Regel eine gewisse Konzentration ökonomischer Mittel voraus. Daher ist die Anzahl solcher Sehenswürdigkeiten umso größer, je mehr Individuen oder Gruppen von Individuen die Möglichkeit haben, solche Mittel verstärkt an sich zu ziehen. Dies ist naturgemäß dann in besonderem Maße der Fall, wenn die Konzentration ökonomischer Mittel in privater oder quasi privater Hand in einer Kultur in besonderer Weise zugelassen oder gar gefördert wird.

Eine derartige Konzentration von Ressourcen ist typisch für die europäische Kultur. Eine ihrer unausgesprochenen aber dennoch zentralen Zielvorstellungen ist, dass sich der Einzelne oder Gruppen von Einzelnen so viel wie möglich vom gemeinsamen – und möglichst noch von fremden – Kuchen verschaffen sollen und dürfen. Die Methoden, deren man sich dabei bedient, sind außerordentlich vielgestaltig. Sie reichen von unverblümter Durchsetzung des Bereicherungswillens (so im Falle der Sklavenhaltung oder des Raubrittertums) bis zur fein verschleiernden Legitimation desselben (etwa durch Schaffung bestimmter Strukturen des Erwerbs und der Verteilung von politischer Macht oder dem Praktizieren eines Wirtschaftssystems, welche das Akkumulieren von wirtschaftlichen Ressourcen fördert – zum Beispiel eines kapitalistischen). Ausdruck der Bedeutung, den der Topos der Bereicherung im Westen hat, ist die Tatsache, dass hier in der Regel derjenige bewundert wird, dem es gelingt, mehr als seinen Teil am großen Ganzen an sich zu nehmen. Der sinnenfälligste Ausdruck dieses Denkens ist das Schloss, mit dem der Schlossherr deutlich macht, dass er seinen Reichtum für des öffentlichen Sehens würdig hält, aber auch, dass er ihn unter Verschluss halten, also gegen den Zugriff von Seiten der Gesellschaft verteidigen will.

Die Tatsache, dass im alten China vergleichsweise wenig Sehenswürdigkeiten entstanden, dürfte daher etwas damit zu haben, dass dort die individuelle Akkumulation ein weniger hoch bewerteter gesellschaftlicher Topos ist als in Europa und seinen Dependancen. Dass dem so ist, zeigt eine Passage aus  dem altchinesischen Grundbuch „Diskurse der Staaten“. Dort wird einem wohlwollenden Ratgeber des Dschou-Königs Li, der im 9. Jh. v. Chr. regierte, die folgende Warnung vor dem Bereicherungsdrang des Herzogs I von Rung, den der König zu seinem Kanzler machen will, in den Mund gelegt: „Dem Herzog I von Rung ist daran gelegen, den gesamten Ertrag (des Landes) alleine zu beanspruchen, ohne die großen Schwierigkeiten zu verstehen, die daraus entstehen müssen. Denn die Erträgnisse erwachsen aus allen Dingen, …sollte sie einer für sich alleine beanspruchen, so verursacht er damit zahlreiche Schäden. Die vielen Dinge, die Himmel und Erde gedeihen lassen, sind für den Gebrauch aller bestimmt. Wie darf sie daher einer für sich allein beanspruchen. So wird ein gewaltiger Unwille hervorgerufen und nichts getan, um Vorsorge für die kommenden großen Schwierigkeiten zu treffen. … Wer als König herrscht, muss die Erträgnisse zu fördern und sie an alle in den niederen und höheren Regionen zu verteilen wissen. Und selbst wenn alle… das ihnen zukommende Maß erhalten haben, so lebt er (hätte er zuviel) doch täglich in Sorge und Angst, dass er Missbilligung erregen könnte… Wenn ein Gemeiner Erträgnisse an sich zu reißen versucht, so wird er Räuber genannt. Tut dies ein König, so wird es wenige geben, die ihm zu folgen bereit sind“ (mit der Folge, dass seine Herrschaft verfällt, was dann auch, so die Moral des negativen Exempels, bei König Li, der den guten Rat nicht beachtete, der Fall war). Neben den außergewöhnlich hoch bewerteten moralischen und praktischen Aspekten der Anhäufung von Reichtum erscheint hier ein Topos, der dem Westen – besonders dem „Wilden Westen“ – besonders fremd ist: die Sorge und Angst, man könne durch die übermäßige Anhäufung von Reichtum Missbilligung erregen.

Tatsächlich wurden die ökonomischen Ressourcen im alten China, die in ihrer Gesamtheit vermutlich nicht geringer waren als die Europas, auch in geringerem Maße im Interesse von Individuen oder Gruppen, sondern mehr für Zweckes des Ganzen der Gesellschaft konzentriert. Dem entsprechend sind die Relikte der alten Kultur, sieht man von Repräsentationsstätten wie Kaiserpalästen oder Kultstätten ab, in China eher solche von gesellschaftlichen Gemeinschaftsprojekten. Solche Projekte wiederum konnten, da die Ressourcen nicht in einer Vielzahl von „privaten“ Projekten „verzettelt“ wurden, in Dimensionen verwirklicht werden, vor denen wir Europäer heute mit Staunen wie vor Sehenswürdigkeiten stehen, darunter so unglaubliche Anlagen wie die chinesische Mauer und der Kaiserkanal oder die großen Bewässerungs- und Überschwemmungsschutzprojekte.

Ein- und Ausfälle (China 9)

Bei der Beschäftigung mit den geistigen Modellvorstellungen Chinas wird einem so richtig deutlich, in welchen Maße das geistige Leben Europas noch immer daraus besteht, das wieder in den Griff zu bekommen, was durch spekulative Grundannahmen zuvor verkompliziert wurde. Anders als die Chinesen arbeiten wir, bevor wir zu Fragen der praktischen Lebensgestaltung kommen, aufwändig erst einmal die Folgen der geistigen Postulate ab, mit denen wir das Leben überzogen haben. Dazu gehören die diversen Varianten der Vorstellung von einem Jenseits (darunter das Konzept eines ewigen Gottes einschließlich seines Stellvertreters auf Erden, der Unsterblichkeit der Seele, eines jüngsten Straf- und Belohnungsgerichtes und die Reste eines Gottesgnadentums der weltlichen Herrscher), die Frage nach dem Sinns des Lebens, nach der Erforschbarkeit und Beeinflussbarkeit des Schicksals und eines vermeintlichen Gegensatzes von Geist und Materie mit seinen Varianten Geist und Körper und Geist und Leben. Freilich haben die solchermaßen selbst aufgebauten Hürden auch Kulturleistungen herausgefordert, die nicht weniger „ungeheuerlich“ sind als die geistigen Grundannahmen, die sie bewirkten. Ohne die Vorstellung von einem Jenseits und seinen Varianten wären nicht nur die grandiosen europäischen Kirchen nicht gebaut worden, sondern wären auch viele der geistigen Leistungen unterblieben, die metaphysische Vorstellungen illustriert (Musik, Literatur, Malerei) oder sich mit ihren Konsequenzen auseinandergesetzt haben (Philosophie). Nicht zuletzt gehören dazu auch die komplizierten Versuche, die Abhängigkeit von diesen Vorstellungen zu lockern (Sekularisierung) oder sich ganz davon zu lösen.

Ein und Ausfälle (China 8)

Auf die Frage, was sie von den Turbulenzen ihrer neueren Geschichte, insbesondere dem Bürgerkrieg und der Kulturrevolution halten, antworten die Chinesen meist ganz unbefangen, das sei (bedauerliche) Vergangenheit. Es lohne sich nicht, ständig darüber nachzudenken. Es könnte sein, dass diese Einstellung ein Grund dafür ist, dass sich China so kraftvoll seiner Zukunft widmen kann.

Ein und Ausfälle (China 7)

Man kann sich Bücher ausdenken, die ihren Ursprung im Himmel haben, wie am westlichen Ende des eurasischen Kontinents, oder Texte allgemein geachteten Weisen der Vergangenheit zuschreiben, wie am östlichen Ende des Kontinents. Sozialtechnisch ist es das gleiche Verfahren. Es geht es jeweils darum, Texte die Normen generieren sollen, im „Jenseits“ zu verankern, um dem Führungspersonal, das im Diesseits agiert, die Arbeit zu erleichtern. Das zeigt vor allem die Tatsache, dass der weitere Umgang mit diesen Texten in Ost und West sehr ähnlich ist. In beiden Kulturen sind die Grundbücher meist allgemein bis nichts sagend gehalten und lassen daher allerhand Deutungen zu. Besonders deutlich wird dies bei den Konfutius zugeschriebenen „Frühlings- und Herbstannalen“, die für die chinesische Sozialgeschichte so wichtig wurden. Sie enthalten nicht viel mehr als eine wenig aussagekräftige Aufzählung historischer Ereignisse. Die nähere Ausführung der Grundbücher ist in Ost und West jeweils nachgeordneten Werken vorbehalten, welche die Grundbücher unter Berücksichtigung der jeweiligen Zeitumstände auslegen. Im Westen nannte man diese Tätigkeit ursprünglich Theologie, im Osten Kommentierung. Auch hier ist das Verfahren bei den „Frühlings- und Herbstannalen“ besonders aufschlussreich. Die Kommentatoren ziehen aus dem Ursprungstext selbst dann noch ausgedehnte sozialpädagogische Lehren, wenn derselbe praktisch ohne Inhalt ist. Im Prinzip hat sich an dieser sozialen Steuerungstechnik bis heute nichts geändert. Nur dass wir neuere soziale Grundtexte nicht mehr heilige Bücher sondern Gesetze, das Spitzenwerk etwa Grundgesetz nennen. Auch diese Texte sind möglichst allgemein gehalten und werden von Anwendungsinstitutionen wie Gerichten und Kommentatoren konkretisiert und an den jeweiligen Bedarf angepasst, wobei nicht selten die kürzesten und allgemeinsten Paragraphen die längste Kommentierung erfahren.

Ein- und Ausfälle (China – 6)

Es mag sein, dass die moralischen und seelischen Superlative wie „Platz des himmlischen Friedens“, „Halle der vollkommenen Harmonie“, „Palast des reinen Wohlwollens“ mit der sich im alten China die Führungsebene umgab, reichlich paradiesisch und im Hinblick auf die unruhige und mitunter ziemlich blutige chinesische Geschichte auch nicht gerade realitätsnah sind. Es stellt sich aber die Frage, ob es nicht besser ist, die Ausrichtung eines Gemeinwesens mit übertriebenen Wunschvorstellungen zu garnieren, als zu versuchen, die Menschen mit Bildern exzessiver Grausamkeit auf Kurs zu halten, als da sind: die „Vertreibung aus dem Paradies“, das massenhafte Ersäufen in einer „Sintflut“, die strafweise Vernichtung von Stätten abweichenden Verhaltens wie „Sodom und Gomorrha“, der elende „Kreuzestod“ einer edlen Führungsfigur und ein unerbittliches „Jüngstes Gericht“ einschließlich der von ihm verhängten Strafe ewigen Schmorens in einer „Hölle“.

Ein- und Ausfälle (China – 5)

Dass strategische Aspekte beim kommunikativen Umgang mit Tatsachen immer dann eine besondere Rolle spielen, wenn es um Fragen der Steuerung der Gesellschaft geht, ist ein allgemeines bekanntes, immer wieder vergeblich beklagtes Phänomen („Politiker lügen“). Bekannt ist auch, dass dieses Phänomen, das „ehrliche“ Europäer stets neu verwirrt, in Asien auch bei sonstigen Vorgängen der sozialen Kommunikation besonders häufig zu beobachten ist. Geht es allerdings um Fragen der Steuerung der Gesellschaft in Asien, dann können sich die Effekte in einem Maße summieren, dass die Flexibilität im Umgang mit Tatsachen ans Akrobatische grenzt. Dies zeigt sich besonders deutlich im Falle von Dso`s Kommentar zu den altchinesischen Frühlings- und Herbstannalen. Irgendwann in der zweiten Hälfte des ersten Jahrtausend v. Chr. versprach man sich viel davon, einen Kommentar dieses wichtigen Autors zu dem alterswürdigen Annalentext zu haben, der, wiewohl eigentlich inhaltsleer, in China zu einem bedeutenden sozialen Steuerungstext geworden war (was wiederum selbst große Freiheit im Umgang mit „sozialen Tatsachen“ eröffnete). Dso hat aber offenbar keinen Kommentar zu diesem Text geschrieben. Daher nahm man ein anderes Werk, von Dso, vielleicht aber auch von einem anderen Autor, und stückelte es so zurecht, dass es wie ein Kommentar zu den Frühlings- und Herbstannalen aussah. Dass dabei manches überhaupt nicht passte, störte schon daher nicht, weil die Annalen wegen ihrer Inhaltsleere große Freiheiten bei der Kommentierung ermöglichten, im übrigen aber auch deswegen nicht, weil man sich im allgemeinen durch Tatsachen nicht sonderlich stören lässt, wenn man mit ihrer Behauptung strategische Ziele verfolgt.

Ein- und Ausfälle (China – 4)

Was China und Europa unterscheidet: Die Chinesen verwendeten das Schießpulver, dessen explosive Wirkung sie im 9. Jahrhundert entdeckt hatten, mehrere Jahrhunderte lag nur dazu, das Leben schöner oder einfacher zu machen. Sie fertigten daraus Feuerwerkskörper und benutzten es zum Sprengen und Signalisieren. Als die Europäer – vermutlich durch Vermittlung moslemischer Handelsreisender – Anfang des 14. Jahrhunderts Kenntnis von den Möglichkeiten des explosiven Gemisches erhielten, dachten sie als erstes daran, welche Schwierigkeiten man sich damit machen bzw. welche Vorteile man sich damit verschaffen könne. Kaum war das Schießpulver bekannt, gab es auch schon die ersten Handfeuerwaffen (1321). Noch im 14. Jahrhundert entstand auch eine Menge Literatur, in der Möglichkeiten zur Verbesserung der Wirkung des Schießpulvers beschrieben wurden. Im weiteren Verlauf setzten die Europäer ihre Kraft und Phantasie bevorzugt dazu ein, die zerstörerischen und erpresserischen Möglichkeiten explosiver Chemikalien zu erkunden, die erforderliche Technik zu entwickeln und zu verfeinern und die gesellschaftlichen Voraussetzungen für den Einsatz der Waffen zu schaffen, die daraus entwickelt wurden. Dies trug wesentlich zu jener Explosion der gesellschaftlichen Verhältnisse bei, welche die Europäer gerne als Fortschritt bezeichnen. Das Leben ist dadurch sicher dynamisch aber nicht schöner und einfacher geworden.

Ein- und Ausfälle (China – 3)

Man kann nur hoffen, dass die maßstabsetzende Weltmacht künftig nicht mehr die USA sondern China sein wird. Anders als der westliche Aspirant für die Weltmacht hat China bislang nicht nur wenig die Neigung gezeigt, sich auf Kosten anderer auszubreiten. Es kennt auch keine Rassendiskriminierung und keine religiöse Überhöhung seines Vorbildanspruches. Vor allem aber hat es keinen institutionalisierten Egoismus sondern eine tief verwurzelte Tradition sozialer Verantwortlichkeit, die allen Turbulenzen und Entgleisungen seiner politischen Geschichte zum Trotz immer wieder zum Vorschein gekommen ist.

Ein- und Ausfälle (China – 2)

Im 18. Jahrhundert kamen die Berater des chinesischen Kaisers, die aufgefordert worden waren, sich über den Charakter der englischen Schiffe zu äußern, die China seinerzeit bedrängten, zu dem Ergebnis, es seien (nur) Handelsschiffe, die bewaffnet seien. Tatsächlich handelte es sich aber um Kriegsschiffe, was allerdings nichts daran ändert, dass die Chinesen den Sachverhalt vollkommen richtig beobachtet hatten.

Ein- und Ausfälle (China – 1)

China, so hört man von westlichen Kritikern gerne, sei früher zu sehr auf sich selbst bezogen gewesen. Es habe daher die (nicht zuletzt technischen) Entwicklungen verschlafen, deren Kenntnis die Voraussetzung dafür gewesen wäre, dass es sich dem Druck der fortgeschritteneren Gesellschaften hätte erwehren können. Kindlich unreifes Reich der Mitte! Es hat nicht genügend von dem Halbstarkengehabe mitbekommen, das außerhalb seiner geschlossenen Grenzen üblich geworden war.

Verschlossene Bedürfnisanstalt – ein Gruß aus dem Reich der Mitte

 

Als ich dieser Tage um den West-Lake von Hangzhuo spazierte, kam mir der Marienplatz in Stuttgart in den Sinn. Ich weiß, dass der Vergleich von Stuttgart und Hangzhou und des West-Lakes mit dem Marienplatz nicht ganz fair ist. Hanghzou ist mehr als zehn Mal so groß wie Stuttgart und sein See ist eine der großen Touristenattraktionen für die Chinesen. Auch stellte schon Marco Polo fest, dass Hangzhou die schönste und prächtigste Stadt der Welt sei, was von Stuttgart noch niemand behauptet hat. Da aber das Lob Marco Polos schon 700 turbulente Jahre zurückliegt und Hangzhou in der Reihe der Städte Chinas der Größe nach ähnlich platziert ist wie Stuttgart in Deutschland, scheint mir der Vergleich doch nicht so übertrieben. Dies gilt um so mehr, als die Sache, die meine Aufmerksamkeit erregte, bei allem Unterschied in beiden Städten sehr ähnlich ist. Hier wie dort war die Aufgabe, einen „Platz“ zu bauen, an dem sich die Menschen treffen und sich ihres Lebens freuen können. In Hangzhou ging es dabei um die Gestaltung der Ufer des West-Lakes, in Stuttgart um den Marienplatz. Beide „Plätze“ sind, auch das verbindet sie, nach einer Zeit der Vernachlässigung in den letzten Jahren völlig neu gefasst worden. Was mich ins Grübeln brachte, war, dass das Ergebnis so völlig unterschiedlich ausfallen konnte.

 

Im Hangzhou hat man am Ufer des Sees eine Vielfalt von grünen Anlagen mit abertausenden frisch gepflanzten Bäume geschaffen, die locker um natürliche und künstliche Gewässer gruppiert sind. Dazu gehören dramatisch wilde Steingärten, idyllische Miniaturlandschaften, von Säulen umstandene Plätze, verspielte Pavillons und Pagoden, buckelige Brückchen und rechtwinklig gezackte Stege mit Geländern, auf denen zahlreiche, jeweils unterschiedliche Löwenfiguren stehen; außerdem lange Dämme und allerhand sonstige Monumente. Alles ist bewegt und von einer ausgeklügelten Asymmetrie, weswegen der Blick immer wieder neue Haltepunkte und Perspektiven findet. Selbst in den Natursteinbelag der geschlängelten Wege hat man allenthalben handgearbeitete Steinreliefs mit figürlichen Szenen eingelegt, von denen keines dem anderen gleicht. Das Ganze ist mehr oder weniger im traditionellen chinesischen Stil gehalten. Die Anlagen werden von tausenden gutgelaunten Menschen bevölkert.

 

Den Marienplatz in Stuttgart, die Mitte eines großen Stadtteiles, der sich rund herum die Hügel hinaufzieht, hat man völlig leer gelassen. Das weite Rund ist mit rauen gelben Kunststeinplatten bepflastert, die nur von rasterartig angebrachten Regenrinnen unterbrochen werden. Eingefasst ist es von einer dicken Sichtbetonwand, deren einziger Schmuck kleine runde, symmetrisch angebrachte Vertiefungen sind, die so aussehen, als seien sie von einem Maurerlehrling angebracht worden, auf dessen Ausbildungsplan gerade Übungen im Fräsen von Löchern in hartem Beton standen. Vor der Wand liegen in regelmäßigen Abständen einfache dunkle Betonklötze, welche die Menschen dazu veranlassen sollen, sich niederzulassen. Sie sind so massiv, als habe der Platzarchitekt sicherstellen wollen, dass sie keinesfalls bewegt werden. An den Rand des Platzes, wo sich auch ein paar Bäume finden, hat man einen Spielplatz gelegt, der ebenfalls von dicken grauen Betonwänden eingerahmt wird. Aus schmucklosen Edelstahlöffnungen in der Wand fließt hier Wasser in eine rechteckige Wanne, in der ein paar geglättete Felsbrocken liegen. An einer anderen Ecke des Platzes sind ein paar symmetrische gepflasterte Bodenwellen zu sehen, deren Sinn nicht ohne weiteres zu erkennen ist. Ansonsten findet sich nicht viel, was das Auge anziehen könnte oder was ihm gar vertraut wäre. Am ehesten ist dies noch bei dem Toilettenhäuschen der Fall, das ebenfalls am Rande des Platzes aufgestellt wurde. Ein Industriedesigner hat es in einem gestalterischen Geniestreich in einem kompakten, eleganten Oval untergebracht. Kopf und Fuß des Pavillons sind durch senkrechte Rillen verbunden, die an die Kanneluren klassischer Säulen erinnern. Seine Türe öffnet sich allerdings nur dem, der im dringenden Moment das nötige Kleingeld zur Verfügung hat. Der Platz ist, wie die Bedürfnisanstalt, meist leer. Die Menschen scheinen nicht so recht zu wissen, was sie damit anfangen sollen.

 

Wir haben uns am westlichen Ende des eurasischen Kontinents fast schon daran gewöhnt, dass neu geschaffene Plätze so ähnlich wie der Marienplatz aussehen. Beim Blick vom anderen Ende des Kontinents drängte sich mir nun aber mit einer Vehemenz, die mich erstaunte, der Verdacht auf, dass bei uns irgendetwas falsch gelaufen ist, dass wir so etwas wie die Mitte verloren haben.

 

Ich will einmal, obwohl man sich bei der Mentalität unserer Stadtgestalter da keineswegs sicher sein kann, unterstellen, dass die Erbauer des Marienplatzes nicht die Absicht hatten, die Menschen, für die der Platz geschaffen wurde, ratlos zu machen. Gerade dann stellt sich aber die Frage, wieso es ihnen nicht gelungen ist, einen Platz bauen, der den Bedürfnissen der Menschen dient, der sie auf seine Mitte zieht, mit anderen Worten, auf dem sie sich wohl fühlen. Nachdem sich mir die Frage aus der chinesischen Perspektive stellte, habe ich meine Hoffnung darin gesetzt, aus diesem Blickwinkel auch die Antwort zu erhalten. Ich muss allerdings gestehen, dass ich den Umweg über Ostasien ein wenig auch deswegen einschlage, weil ich hoffe, so den vollkommen „logischen“ kulturgeschichtlichen, praktischen und ökonomischen Begründungen aus dem Weg gehen zu können, die unsere Stadtgestalter ohne Rücksicht auf das konkrete Ergebnis für ihre Lösungen immer parat haben.

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