In “Piranesis Räume” treten eine Reihe von Personen der Kulturgeschichte von der Antike bis in die Neuzeit auf, die im Text namentlich nicht benannt werden. Sie sind in den meisten Fällen so gekennzeichnet, dass sie der Kenner der Kulturgeschichte leicht ermitteln kann. Wer Gefallen an geistesgeschichtlicher Detektivarbeit findet, wird den Text daher zunächst ohne Erläuterung lesen wollen. Die Identität der Figuren wird auf der gesonderten Seite Auflösung Piranesipersonal aufgedeckt.
I
Im Frühjahr 1740 wurde für den 19-jährigen venezianischen Architekturadepten Giovanni Battista Piranesi ein Traum zur Wirklichkeit. Er betrat im Gefolge von Francesco Vernier, den die Signoria der Serenissima als Botschafter zu dem soeben neu gewählten Papst Benedikt XIV. gesandt hatte, Rom, um die Bauten der Alten zu studieren. Die ewige Stadt sollte ihn Zeit seines Lebens gefangen nehmen.
Piranesi kannte das antike Rom aus den Zeichnungen seines Landsmannes Andrea Palladio, welche bei seinen Architekturstudien als Lehrmaterial dienten. Auch hatte ihm sein Bruder, der Kartäusermönch Angelo, immer wieder von den heroischen Gestalten und Ereignissen der römischen Geschichte berichtet und ihm häufig aus dem Geschichtswerk des Livius vorgelesen. Rom hatte dabei seine Phantasie so sehr entzündet, dass ihm seine Bauten und Gestalten nachts schon im Traum erschienen waren. Wiewohl es in seiner Heimatstadt nicht an Wundern der Architektur fehlte, war ihm die Größe und Faktur der römischen Bauten aber immer rätselhaft erschienen. Es verlangte ihm daher danach, sie mit eigenen Augen zu sehen und ihr Geheimnis zu entschlüsseln. Hierzu wollte er, die bauliche Hinterlassenschaft der Alten zunächst einmal zeichnerisch aufnehmen und sie in einer Weise in Kupfer stechen, die ihrer „magnificenza“ gerecht würde. Im Übrigen wollte er möglichst auch noch den Beweis führen, dass die Architektur der alten Römer und überhaupt ihre Kunst gegenüber der griechischen eigenständig, ja ihr sogar überlegen sei. Es war ihm also nur allzu willkommen, dass er sich der Gesandtschaft anschließen konnte, die seine Heimatstadt an dem Tiber schickte.
Als sich Piranesi der Stadt Rom näherte, stand vor ihm das Bild einer erhabenen und majestätischen Baukunst von nie übertroffener Festigkeit und Vollkommenheit. Alles, so schien es ihm, war hier so, wie es zu sein hatte, jeder Teil war dort, wo er hingehörte und notwendiger Ausdruck eines Ganzen, das, wiewohl nie mehr als die Summe seiner Teile, über sich das Bild wahrer Größe aufscheinen ließ.
Die Wirklichkeit freilich hielt dieser Vorstellung nicht stand. Piranesi fand die Überreste der antiken Bauten meist weit weniger vollständig und wohlerhalten, als es die peniblen Zeichnungen Palladios suggerierten. Viele waren in Wehranlagen der ewig befeindeten römischen Stadtgeschlechter aus dem Mittelalter versteckt, waren in Kirchen eingebaut oder lagen unter Palästen aus neuerer Zeit. Soweit Gebäude noch über ein Dach verfügten, dienten die alten Räumlichkeiten häufig Handwerkern und sonstigen Gewerbetreibenden als Arbeitsstätte oder Lagerraum. Eines Tages etwa geriet Piranesi mit dem französischen Ruinenmaler Hubert Robert, mit dem er sich, da man das Interesse an den alten Resten teilte, angefreundet hatte, in eine weiträumige düstere Basilika, wo Wäscherinnen unter kassettierten Tonnengewölben, welche von einer Vierungskuppel unterbrochen waren, für die hohen Herren der Stadt bei offenem Feuer und großer Rauch- und Dampfentwicklung riesige Laken in einem Zuber kochten, die sie anschließend zwischen mächtigen Säulen zum Trocknen aufhängten. Was von den alten Bauten nicht auf diese Weise zweckentfremdet, was nicht gänzlich umgestaltet oder abgetragen war, lag versunken im Schutt der Jahrhunderte, aus dem nur hier und da verwitterte Reste ragten. Ein Römergeschlecht, das wenig gemein hatte mit dem Heldenvolk, das diese Bauten erstellt hatte, hauste dazwischen samt allerhand Getier in Unterkünften, die aus vorgefundenen Steinquadern und Ziegeln zusammengestückelt waren, zwischen denen hier und da Säulentrommeln oder behauene Sims- und Gebälkteile steckten. Auf dem Forum Romanum, auf dem einstmals Weltpolitik gemacht wurde, weidete man Vieh, weswegen es „campo vaccino“, Feld der Kühe, genannt wurde.
Piranesi nahm im Stadtgebiet so gut wie jedes antike Gemäuer auf, dessen er habhaft werden konnte, und bannte es – in begleitenden Texten streitlustig immer den Vorrang der Römer vor den Griechen betonend – mit dramatischen Licht- und Schatteneffekten detailreich auf die Kupferplatte. Nach Art seiner Profession arbeitete er dabei einerseits penibel mit Bandmaß, rechtem Winkel und Zirkel. Von den perspektivischen Bühnenzaubereien der Bibienas, die er schon in den Opernhäusern seiner Heimatstadt kennen gelernt hatte, und den Deckengemälden in den neueren römischen Kirchen, allen voran der ins Unendliche strebenden Himmelsarchitektur des Andrea Pozzo in St. Ignazio, hatte er aber auch gelernt, wie man durch eine freie Handhabung von Linien und Winkeln die „magnifizierende“ Wirkung der Abbildungen erhöhen konnte. Das Kolosseum etwa stellte er nicht nur so dar, dass es sich vor dem Betrachter wie ein gigantischer architektonischer Organismus aufbläht, neben dem der Titusbogen wie ein Schoßhündchen wirkt. Er dehnte die elliptische Form der Arena dabei dergestalt zur Hyperbel, dass ihre Arkaden ins Unendliche zu führen schienen.
Auch außerhalb der Stadt war Piranesi auf den Spuren der Alten. Er hielt sich vor allem immer wieder in Tivoli auf, das schon im Altertum, als es – noch weniger spielerisch – Tibur hieß, die Menschen angezogen hatte, welche sich fern des Getriebes der Weltstadt auf das wahre Leben zu besinnen versuchten. Dort radierte er mehrfach den grandios über den Wasserfällen des Anio thronenden Rundtempel der Sybille und – in gerader Linie suggestiv in die Tiefe des Bildraumes führend – die mächtigen übereinander stehenden Bogenreihen eines Heiligtums oberhalb der Schlucht des Anio, welches man für die Substrukturen der Villa des Mäzenas hielt, wobei er seiner Neigung, mit unendlicher Akribie auch die feinsten Schattierungen und Lichtbrechungen zerfallenden Mauerwerks festzuhalten, hier in besonderem Maße freien Lauf ließ.
An der Via Tiburtina nahm er den Rundbau des Plautiergrabes mit seinen großen Ehrentafeln auf und steigerte die Größe des Todesmonumentes durch die Verwendung divergierender Maße ins Übermenschliche. Am meisten zog ihn aber das Gelände des Landsitzes an, welchen der Kaiser Hadrian gegen Ende seines Lebens nach eigenen Entwürfen unweit von Tivoli bauen ließ.
Hadrian, unter dem Rom, davon war Piranesi überzeugt, den Höhepunkt seiner Macht, seiner Zivilisation und seiner Gestaltungskraft erreichte, Hadrian war sein Lieblingsheld, weswegen auf seinem Arbeitstisch immer ein Stück der bunt geäderten Marmorinkrustation der tiburtinischen Villa lag. Als Architekt, der nur wenige Bauaufträge bekam – es waren sogar bloß Umbauten -, war Piranesi schon davon fasziniert, dass der bärtige Philosoph im Staatsamt auf seinen jahrelangen Inspektionsreisen, bei denen er zu Fuß bis in die fernsten Winkel seines Riesenreiches vordrang, nicht von Soldatenkohorten, sondern von „Regimentern“ von Bauhandwerkern begleitet wurde, deren „Offiziere“ Architekten waren, und dass er dieselben überall, wo er Halt machte, prachtvolle Bauten errichten oder wiederherstellen ließ. In besonderem Maße war er davon beeindruckt, dass und vor allem auf welche Weise dieser milde Herrscher sein außerordentliches Leben schließlich in einem Bauwerk resümierte. Der weit über die hügelige Landschaft verstreute Villenkomplex hatte in verkleinerter Form alles, was für einen Römer zum gehobenen Leben gehörte – Theater, Odeon, Basilika, Arena, Stadion, Seen, Tempel, Wandelhallen und Thermen, einen Saal der Philosophen und je eine römische und eine griechische Bibliothek. Vor allem aber war die Villa voller Erinnerungen an Orte, Menschen und Gegenstände, die im Leben des Kaisers wichtig geworden waren. Man fand hier Nachbildungen von Bauwerken, die er auf seinen Reisen besucht hatte, etwa des berühmten Osiristempels von Canopus in Ägypten samt einer verkleinerten Kopie des dortigen Kanals, der malerisch von Statuen und Säulen umstanden war. Überall standen Abbilder von Göttern, die er verehrte, oder Personen, welche er liebte, allen voran des vergötterten und vergöttlichten schönen Jünglings Antinous, der auf einer seiner Reisen bei einem Bad im Nil ertrunken war. All das veredelten ausgesuchte Bauornamente und zahllose Kunstgegenstände nach dem Muster der Meister, die im Bereich seines Reiches einmal tätig gewesen waren, darunter wunderbar gearbeitete Kandelaber, feinste Mosaiken sowie herrliche Gemälde und Fresken. Im Laufe der Zeit war so ein Bauwerk entstanden, das so vielfältig und einheitlich wie das römische Reich und zugleich so reich und unsymmetrisch wie das Leben war. Piranesi schien, dass Hadrian mit diesem Bau ein Werk geschaffen hatte, das wie kein anderes die feste Schönheit der römischen Kunst und überhaupt den ganzen Glanz einer Welt spiegelte, die sich im Laufe ihrer Zeit in immer wieder ähnlicher Weise reproduziert hatte.
Als Kupferstecher pilgerte Piranesi häufig nach Tivoli und wetteiferte mit Hubert Robert, um die stimmungsvollste Darstellung der eigentümlichen Verbindung, welche Architektur und Landschaft, steinerne Artefakte und lebendige Natur, an diesem verwunschenen Ort eingegangen waren. Ihn faszinierte vor allem, wie sich die organische Natur immer wieder gegen den menschlichen Gestaltungswillen zu behaupten wusste. Er radierte Gewölbereste, die von Schlingenpflanzen und Wurzeln umwachsen mit prekärer Statik in den Himmel ragen,
und scheinbar endlose, von allerlei Gräsern und Büschen überwucherte Mauern, welche weit in die Tiefe der Landschaft laufen.
Überhaupt befasste er sich gerne mit den in sich kreisenden Abläufen der Natur, auf die man hier in den unterschiedlichsten Formen stieß. Auf einem seiner größten Stiche rekonstruierte er die reich gegliederte Stuckdecke eines „grandiosenin einer früheren Runde des Wiederauflebens der Antike Saales“ der Villa, deren Kassetten von Fabelwesen und Tieren bevölkert waren, die wiederum Tiere und Fabelwesen jagten und auffraßen.
Es war zwar immer ein aufregendes Abenteuer, wenn es Piranesi gelang, aus dem Schutt der Villa Kunstwerke und andere Gegenstände zu ziehen, die dem Kardinal d`Este entgangen waren, der das kaiserliche Landhaus in einer früheren Runde des Wiederauflebens der Antike für den Bau seiner prächtigen eigenen Villa in Tivoli geplündert hatte. Was ihn bei aller Entdeckerfreude aber am meisten bewegte, war die Frage, wie dieser singuläre Baukomplex, der doch von jener Festigkeit war, mit der die Römer wie für die Ewigkeit bauten, in einen derart elenden Zustand geraten war. Wer konnte, fragte er sich immer wieder, wer wollte dieses wunderbar lebensvolle Menschenwerk so fürchterlich zerstört haben?
Wahrscheinlich war diese brennende Frage, die hinter all seiner außerordentlichen geschäftlichen und künstlerischen Aktivität schwelte, der Grund dafür, dass Piranesi bei seinen Forschungen nie das Gefühl losgeworden war, den Zugang zum Geheimnis der Stadt noch nicht gefunden zu haben. Das eigentliche Rom, sagte er sich immer wieder, konnte nicht das wundersam verbaute und verwachsene Sammelsurium aus antiken Resten, neueren Prachtbauten und elenden Behausungen sein, das offen zu Tage lag. Das wahre Rom musste eine völlig andere Dimension haben, es musste unter der schillernden Oberfläche der verkommenen Gegenwart liegen, dort, wo spätere Generationen wenig oder nichts hinzugefügt oder weggenommen hatten. Der Schlüssel zum Rätsel des alten Zentrums der Welt lag, davon war Piranesi schließlich überzeugt, in der Tiefe der Stadt.
Mit diesen Gedanken streifte Piranesi von seinem Quartier auf der Via del Corso, der wie mit dem Lineal durch das Gewirr der Gassen gezogenen alten Schlagader Roms, durch die Stadt, um die Absichten der alten Baumeister aus den Fundamenten abzuleiten. Er stieg in Krypten und Keller hinab, zwängte sich durch verschüttete Gänge und betrat halbeingestürzte Gewölbe. Geradezu magisch zog ihn die subterrane Welt der Grabkammern an, die er in zahlreichen Abbildungen erfasste. Wo er nicht in die Tiefe vordringen konnte, schloss er aus dem, was über der Erde war, auf das, was sich darunter befinden musste. Immer wieder rekonstruierte er in liebevoll ausgearbeiteter Zeichnung die vermuteten Subkonstruktionen von Brücken, Theatern, Tempeln und Gräbern, die er für nicht weniger aufwändig und vollkommen ausgeführt hielt, als das, was über der Erde stand oder einmal gestanden hatte. Die Fundamente der Engelsburg etwa zeichnete er so grandios wie ihm die Figur Hadrians erschien, dessen gigantisches Grabmal sie einst war.
Er stellte sie als machtvolle symmetrische Kaskaden aus Stütz- und Querbögen dar, die tief unter das Niveau des Tibers führten. Zwischen die riesigen Quader platzierte er winzige Gestalten, welche die gewaltigen Substrukturen verwundert als Relikte einer Zeit anstarren, deren Maßstäbe ihnen völlig rätselhaft erscheinen. In besonderem Maße beschäftigte ihn die subterrane Meisterleistung der römischen Ingenieure am Albaner See, die den Wasserstand des abflusslosen Kratersees über einen noch immer funktionierenden Tunnel regulierten, den man über einen Kilometer durch den Kraterrand getrieben hatte. Minutiös erforschte er die Arbeitsweise der alten Tunnelbauer und stellte sie in stimmungsvollen Bildern dar. Eine der Wasserkammern des Ablasses bildete er als verfallenes Gewölbe mit allen Attributen eines antiken Palastes ab, in der nach Art seines Lehrmeisters Salvator Rosa Gestalten mit dramatischen Gesten zwischen wirr umher liegenden und von zerzausten Gewächsen überwucherten Architekturteilen agieren.
II
Eines Tages hatte sich Piranesi im Gewirr von Schiffen, Wäschern und Getier am Tiberufer nahe der Ponte Rotto verloren, als er unterhalb der Reste des kleinen runden Herkulestempels, der dort steht, auf drei übereinander liegende, akkurat gefugte Quaderbögen stieß.
Es war dies der Auslass der Cloaca maxima, die Stelle, an der einst der gesammelte Unrat und der Ausschuss der antiken Metropole in den Fluss gelassen wurde, der ihn in das Meer schwemmte, wo er sich in der Unendlichkeit auflöste. Der Eingang zu diesem Bauwerk, das die subterrane Voraussetzung für die Möglichkeit der Riesenstadt und damit so etwas wie die negative Schlagader Roms darstellte, war von Gebüsch halb zugewachsen und durch allerlei Müll und angeschwemmtes Holz versperrt. Piranesi, der wissen wollte, wie weit man in den alten Kanal noch vordringen konnte, bog das Gebüsch beiseite und begann das Holz weg zu räumen. Dabei schreckte er ein bunt geschecktes Huhn auf, das ihn eine Zeit lang hektisch umflatterte, als wolle es ihn dran hindern, sich dem Kanal zu nähern. Nachdem er sich eine kleine Öffnung geschaffen hatte, betrat er einen penibel gemauerten, langen Gang, in dem er sich, immer wieder über am Boden liegende Gegenstände stolpernd, langsam entlang tastete. Der Gang schien vollkommen gerade zu sein. Piranesi, der die Strassen und Gebäude der Umgebung samt ihren Fundamenten durch seine Studien genau kannte, versuchte sich vorzustellen, unter welchem Teil der Stadt er sich jeweils befand. Nach einiger Zeit musste er jedoch feststellen, dass er die Orientierung verloren hatte. Dort wo er zu sein glaubte, konnte wegen der tief reichenden Fundamente der Großbauten, die nach seinen Rekonstruktionen hier hätten sein müssen, für den Kanal eigentlich kein Platz sein.
Der Gang mündete schließlich in eine lange rechteckige Halle mit flacher Decke, deren Längswände in regelmäßigen Abständen mit Pilastern untergliedert waren. In der Mitte dieser beiden Wände befand sich je ein hohes marmornes Portal, das üppig mit Ornamenten aus kleinen Elementen, die sich ständig wiederholten, geschmückt war. Die Portale waren vollkommen gleich. Sie unterschieden sich nur dadurch, dass über dem einen ein Kreis und über dem anderen eine liegende Acht angebracht war. Piranesi trat durch das Portal mit dem Kreis und fand sich in einem riesigen Raum, dessen Struktur ihm sofort merkwürdig unklar erschien. Unmittelbar vor ihm erhob sich eine mächtige Wand aus zyklopischen Steinquadern, in die mit gewaltigen Lettern tief die Worte „Quid est spatium?“ eingemeißelt waren. Darüber thronte eine große Figur, welche mit dicken Ketten an die Wand gefesselt zu sein schien. In die Höhe und die Tiefe führten allerhand Treppen. Außerdem wurde der Raum von mehreren übereinander gestaffelten hölzernen Galerien und Brücken durchquert, die auf jeder Ebene Verbindungen in alle Richtungen herstellten. Piranesi vermutete, dass dieses Gewirr von Verbindungen der Grund dafür war, dass er die Begrenzung des Raumes nicht einzuschätzen vermochte. Auch seine Funktion wurde ihm nicht deutlich. An Wänden, Balken und Brücken waren allenthalben schwere Eisenketten, dicke Seile und Ringe angebracht, wie man sie von Häfen kennt, in denen außerordentlich große Schiffe festzumachen sind. Unmittelbar vor ihm befand sich in horizontaler Lage ein riesiges Rad, das mit seinen senkrecht angebrachten martialischen Spitzen ein Folterinstrument für Riesen zu sein schien.
Während in Piranesi die Ahnung hochstieg, dass er ins Herz der ewigen Stadt gelangt sei und sich ihrem Geheimnis nähere, hörte er hinter sich das aufgeregte Gegacker eine Huhnes. Ihm folgte ein Mann, der das Tier, welches offenbar auf der Flucht war, laut schimpfend verfolgte. Piranesi glaubte, das bunt gescheckte Federvieh wieder zu erkennen, welches er draußen am Eingang des Kanals aufgescheucht hatte. Das Huhn verschwand, kaum dass es den großen Raum erreicht hatte, zwischen umher liegenden Steinquadern. Als der Mann, der das Huhn verfolgte, Piranesi bemerkte, fragte er:
„Bist du der Idiot, der die alte Kloake geöffnet hat, die doch schon immer geschlossen gewesen ist? Wegen dir muss ich hinter meinem Huhn herlaufen, das sich, statt bei Tageslicht ein Ei zu legen, in diese endlose dunkle Röhre geflüchtet hat.“
Und er fügte, nachdem er sich erstaunt umgeschaut hatte, vorwurfsvoll hinzu, dass er, wenn das Huhn in diesem Durcheinander jetzt ein Ei lege, danach wohl ebenso endlos suchen könne, ganz abgesehen davon, dass er nicht wisse, wie er bei all diesen Treppen, Stegen und Balken das Huhn selbst je wieder zu fassen bekomme.
Piranesi, der sich für das Missgeschick des Mannes verantwortlich fühlte, stellte die Suche nach dem Geheimnis der ewigen Stadt zurück und bot ihm Hilfe bei der Suche nach Huhn und Ei an, was der andere ohne weitere Umstände annahm. Gemeinsam machten sie sich in die Richtung auf, in die das Federvieh geflattert war. Das Huhn bemerkte die beiden und lief laut gackernd und heftig mit dem Kopf nickend ziellos zwischen Quadern und Gebälk umher. Ihm folgten die beiden Männer, die sich mal langsam anschlichen, mal plötzlich zuzugreifen versuchten, ohne dass ihnen dabei Erfolg beschieden gewesen wäre. Jedes Mal wenn sie glaubten, das Huhn ergreifen zu können, setzte es zu einem verzweifelten Spurt an und entwich zwischen neuen Steinblöcken, Balken und Ketten. Die beiden Verfolger sahen bald ein, dass angesichts der topographischen Gegebenheiten eine bloße Verfolgungsjagd wenig Sinn machte. Sie verlegten sich daher auf die List und versuchten das Huhn von zwei Seiten anzugehen. Dem aufgebrachten Tier gelang es jedoch immer wieder, in Seitenwege zu flüchten, welche die Verfolger im Durcheinander der Architekturteile übersehen hatten. Nach einiger Zeit hatte sich das Huhn in einem Hohlweg aus Säulen und Architravstücken verfangen, aus dem es keinen Ausweg zu geben schien. Nun aber besann sich das Tier auf die dritte Dimension und flatterte, wiewohl ihm die Flügel gestutzt waren, mit dem Mut der Verzweiflung in die Höhe, sprang über Simse und Säulen und landete nach flatterndem Flug keuchend in einem dicken Eisenring, der in einiger Höhe im Maul eines Löwenkopfes an der Wand befestigt war. Dort wartete es leicht schaukelnd die nächsten Manöver seiner Verfolger ab. Um an das störrische Tier zu kommen, waren die beiden Männer nun auch ihrerseits gezwungen, den scheinbar festen Boden zu verlassen. Da es ihnen – anders als dem Vogel – nicht möglich war, einfach in die Höhe zu gehen, begannen sie, auf Vorsprünge und Simse zu klettern – nur mit der Folge allerdings, dass das Huhn sich mit kühnem Luftsprung auf eine hölzerne Brücke absetzte, die den Raum in großem Bogen überspannte. Kaum hatten die beiden Männer mühsam auch diese Brücke erklommen, flüchtete das Tier mit wildem Flügelschlag eine Treppe hinauf, die im Zick-Zack weit in die Höhe des Raumes führte. Völlig außer Atem gelangten nach einiger Zeit auch die Verfolger dort an. Oben herrschte verdächtige Stille. Der Hühnerbesitzer sprach die Befürchtung aus, dass das Huhn möglicherweise dabei sei, sich des fälligen Eies zu entledigen. Tatsächlich sprang das Huhn nach einer Zeit vollkommener Ruhe merklich erleichtert auf und verschwand in einer Tiefe, deren Dimensionen überhaupt nicht abzuschätzen waren.
Angesichts der Tatsache, dass sich das Problem mit dem Verlust von Huhn und Ei verdoppelt hatte, wurde den Suchern klar, dass eine spontane Verfolgung der Art, wie sie sie bislang praktiziert hatten, nicht weiter führen würde. So wie die Dinge lagen, bedurfte es vorheriger Überlegung. Die beiden Männer setzten sich daher auf ein Säulenkapitell und begannen sich Gedanken über die Lage von Huhn und Ei zu machen. Dabei fand sich auch Zeit, die persönliche Bekanntmachung nachzuholen. Der Hühnerbesitzer stellte sich mit „Salametti“ vor, Giovanni Salametti, von Beruf Hühnerzüchter und Eierverkäufer, Piranesi mit seinem Nachnamen. Da Piranesi voraussah, dass für die Lösung der anstehenden Fragen seine berufliche Qualifikation eine Rolle spielen würde, fügte er nicht ohne Stolz „architetto“ hinzu.
„Ich habe von meinen Lehrmeistern in Venedig gelernt“, sagte Piranesi, „dass man, wenn man einen Raum in den Griff bekommen will, davon einen Plan machen muss. Nur so kann unsere Suche Erfolg haben.“
„In diesem Raum“, antwortete Salametti, „ist es viel leichter, ein gelegtes Ei zu finden, als ein Huhn, das sich bewegt. Daher, meine ich, ist es am besten, wenn wir uns auf das Ei konzentrieren. Immerhin kann man aus einem Ei, sollte das Huhn abhanden kommen, ein neues Huhn gewinnen.“
Sie einigten sich schließlich darauf, nach dem Ei suchen, ohne das Huhn zu vernachlässigen. Einstweilen wollte man auf getrennten Wegen erste Erfahrungen mit dem Raum sammeln und sich durch Zurufe verständigen. Piranesi sollte, seine architektonischen Kenntnisse nutzend, eine Übersicht über den Raum erstellen, die als Grundlage für eine systematische Suche dienen könne, Salametti sich unmittelbar auf die Suche nach dem Ei machen.
Salametti begann alsbald, den Boden nach dem Ei abzusuchen. Da er davon ausging, dass sich das Ei dort befinde, wo das Huhn seine letzte Flucht begonnen hatte, kreiste er in der unmittelbaren Umgebung der Stelle, an der man sich beraten hatte. Von Zeit zu Zeit stieß er einen gackernden Laut aus, einerseits in der Hoffnung, die Neugier des Huhnes zu wecken, andererseits, um seinem Suchgenossen zu zeigen, wo er sich gerade aufhielt. Piranesi, der gelernt hatte, dass man sich eines Raumes am besten an Hand des Grundrisses vergewissert, stieg die nächste Treppe in der Absicht hinauf, sich aus der Höhe Klarheit über die Struktur des Raumes zu verschaffen. Um den Kontakt zu seinem Begleiter zu halten, rief er dabei immer wieder „Quid est spatium“ aus, was mit vielfachem Echo im Raum verhallte. Schon bald musste feststellen, dass es von der Höhe, die er erklommen hatte, nicht möglich war, die Begrenzung des Raumes zu fixieren. Wann immer er glaubte, das Ende erreicht zu haben, stellte sich heraus, dass neue Gänge und Treppen in neue Räume und weitere Höhen und Tiefen führten. Hinter jedem Mauerbogen taten sich zusätzliche riesige Gebäudekomplexe auf. Wenn Piranesi an Hand der üblichen Indikatoren wie Dicke des Mauerwerkes, Sockelbildung oder Rustikaverkleidung zu der Überzeugung gekommen war, dass er den Boden des Raumes erreicht hatte, bemerkte er, dass von dort wieder Galerien und Treppen in tiefere Geschosse und Hallen führten. Wo sich verjüngende Bauformen und dachartige Konstruktionen auf einen Abschluss nach oben hindeuteten, folgten weitere unabsehbare Stockwerke. Das Ganze war im Übrigen angefüllt von architektonischen Versatzstücken wie Rundbögen, Stützmauern, Verstrebungen, Simsen, Architraven, Säulen, Pilastern, Portalen, Fenstern und Gittern sowie von einer Vielzahl ergänzender Requisiten, darunter dicken Seilen, die mal senkrecht aus der Höhe herab, mal in weitem Bogen in den Raum hingen, Winden, Eisenringen, Ketten, Ampeln, Streckrädern, Stützgalgen, Obelisken und Statuen. All das war überspannt von Holzbrücken, deren immer gleiche Geländer als endlose Bänder durch das Bild zogen. Hier und da taten sich Blicke auf, die zeigten, dass die Konstruktionen auch in weiter Ferne kein Ende fanden. Einmal schien es Piranesi, als könne er durch einen gewaltigen Bogen den Himmel sehen, vor dem sich ein zinnenbekrönter Turm der Art abhob, wie man sie im mittelalterlichen Italien baute. Er verwarf diese Vorstellung aber mit der Begründung, dass diese merkwürdige Welt dann auch von außen sichtbar sein müsse, was aber noch niemand festgestellt hatte.
Bei dem Versuch, aus diesem Durcheinander einen Plan zu ziehen, verwirrte Piranesi insbesondere, dass er immer wieder auf Räume, Hallen und Gänge stieß, für die auf dem Plan, den er gefertigt hatte, eigentlich kein Platz war oder dass er sich nicht dort befand, wo er nach seinem Plan hätte sein sollen. Immer wieder prüfte er nach, wo er sich verrechnet oder verzeichnet haben könnte. Jedes mal kam er zu dem Ergebnis, dass er die Regeln seiner Kunst nicht verlassen hatte. Nach langen Überlegungen kam er schließlich zu dem alarmierenden Schluss, dass er entweder die Orientierung in seinem eigenen Plan verloren hatte oder diese Räume zeichnerisch nicht korrekt zu erfassen waren.
Nach einiger Zeit fanden sich Piranesi und Salametti je auf einer Seite einer Zugbrücke wieder, die von beiden Seiten ein Stück hochgezogen war. Dazwischen lag eine tiefe Kluft, die man nur sehr schwierig hätte durchsteigen können. Eine Zeit lang stand jeder unschlüssig auf seiner Seite. Schließlich fasste sich Salametti ein Herz und sprang über den Spalt zwischen den Brückenhälften hinüber zu Piranesi. Dieser berichtete ihm beunruhigt von den Schwierigkeiten, welche er mit der Erfassung des Raumes hatte.
„Kein Mensch kann einen solchen Raum zeichnen“, beruhigte ihn Salametti. „Ich glaube aber trotzdem, dass wir ihn verstehen werden. Da das Ganze so groß und unüberschaubar ist, habe ich mich bewusst in der Nähe unseres gemeinsamen Ausgangspunktes gehalten. Ich habe mich daher eigentlich noch nicht verlaufen können.“
„Hoffentlich hast du Recht“, antwortete Piranesi. „Ich jedenfalls weiß nicht, wie es weitergehen soll.“
„Wir werden uns hier schon zurechtfinden. Allerdings sollten wir zuerst festzustellen, wo der Ausgang des Raumes ist. Um Huhn und Ei können wir uns später kümmern.“
Piranesi stimmte zu: „Dazu müssen wir nur nach dem Raum mit der großen Inschrift suchen.“
Die beiden Männer begaben sich in die Richtung, aus der sie glaubten, gekommen zu sein. Schon bald taten sich aber Zweifel auf, ob sie auf dem Hinweg hier nach rechts oder dort nach links abgebogen oder ob sie auf- oder abgestiegen waren. Wo Piranesi sicher war, dass sie aus dieser Richtung gekommen waren, war Salametti ebenso sicher, das es die andere Richtung war. Es dauerte nicht lange, und sie gerieten hierüber in Streit. Ein Wort ergab das andere. Piranesi, der leicht erregbar war, meinte schließlich, Salametti könne ja seinen eigenen Weg gehen. Salametti war daraufhin beleidigt. Er antwortete trotzig, genau das werde er jetzt tun und stieg eine Treppe hinauf. Schon nach kurzer Zeit bekam er es aber mit der Angst zu tun. Er behielt Piranesi im Auge und folgte ihm heimlich. Als Piranesi dies bemerkte, bot er Salametti an, mit ihm wieder gemeinsam auf die Suche zu gehen.
III
In diesem Zustand vollständiger Verlorenheit und notdürftiger Aussöhnung betraten sie einen Raum, in dem eine junge Frau leicht entblößt zwischen griechischen Säulen schlief. Aus der Selbstverständlichkeit, mit der sie dort lag, schlossen Piranesi und Salametti, dass sie keine Schwierigkeiten mit dem Raum hatte. Freudig stürzten sie über zwei Treppen hinunter auf die Frau zu, die sich, als sie die beiden Männer bemerkte, errötend bedeckte.
„Du scheinst dich hier auszukennen“, sagte Salametti ohne Umschweife.
„Die Kenntnis des Raumes ist schwierig“, antwortete die junge Frau freundlich. „Das Problem ist, wie ihr sicher bemerkt habt, die Ähnlichkeit seiner Elemente. Alles ist mehr oder weniger gleich, erscheint aber in immer neuen Kombinationen und Perspektiven. Diese Ähnlichkeit bewirkt, dass ihr nicht wisst, wo ihr schon wart und wo ihr noch nicht gewesen seid. Wenn ihr euch also orientieren wollt, braucht ihr einen zuverlässigen Indikator dafür, welche Wege ihr bereits zurückgelegt und welche ihr noch nicht beschritten habt. Ansonsten werdet ihr euch wiederholen, ohne es zu wissen oder glauben, euch zu wiederholen, obwohl ihr fortgeschritten seid. Ihr benötigt also ein Mittel, an Hand dessen ihr erkennen könnt, was ihr bereits erkannt und durchdacht habt.“
„Kennt ihr ein solches Mittel“, fragte Piranesi.
„Der Raum ist komplex“ fuhr die junge Frau fort, „das Mittel, den Gang durch ihn zu ordnen aber ist einfach. Nehmt diesen Faden, befestigt ihn an eurem Ausgangspunkt und ihr werdet immer wissen, wo ihr bereits gewesen seid. Vor allem werdet ihr euch auf diese Weise niemals im Weglosen verlieren, denn der Faden verbindet euch mit dem Ausgangspunkt. Die Sicherheit, die ihr dadurch gewinnt, wird eure Schritte schließlich beflügeln. Den Ausgang aber werdet ihr sicher finden, ist er doch das, was übrig bleibt, wenn ihr alles erforscht habt.“ Damit übergab sie den beiden ein Knäuel feinen Fadens.
Piranesi und Salametti befestigten den Faden an einem Balken und setzten ihren Weg fort. Sie kamen dabei in einen Raum, der auf mehreren Ebenen von besonders vielen Brücken und Galerien durchzogen war.
Mitten darin befanden sich zwei turmartige Konstruktionen. Um den größeren der beiden Türme wand sich von einer Galerie am unteren Ende eine Treppe in schwindelnde Höhe, die zu einem Kreuz von sechs weiteren Galerien führte. Bei näherer Betrachtung erwies sich der Turm daher als gigantische Säule zur Abstützung dieses Kreuzes. Piranesi und Salametti schien es, dass sie nur über diese Galerien weiterkommen würden und daher in die Höhe steigen mussten. Sie gerieten aber darüber in Streit, auf welche Weise die Höhe zu erreichen sei. Piranesi meinte, man müsse über den größeren Turm aufsteigen, da dort das Galerienkreuz aufliege. Salametti wandte ein, dass die Position dieses Turmes im Raum viel zu unklar sei. Er stehe je nach Blickpunkt in der Mitte oder aber auch neben der Galerie, die ihn im unteren Bereich tangiere. Angesichts dieser Ungereimtheiten sei es besser, über den kleineren Turm aufzusteigen. Da sie aber nur einen Faden hatten, war an eine Trennung nicht mehr zu denken.
„Wir gehören nun wohl zusammen, wie Huhn und Ei“, bemerkte Salametti schließlich und folgte Piranesi zähneknirschend auf den größeren Turm.
Merkwürdigerweise bereitete die unklare Position des Turmes beim Aufstieg über die Wendeltreppe aber nicht die erwarteten Schwierigkeiten. Das Problem löste sich unmerklich auf, als die Treppe den Schnittpunkt von Turm und unterer Galerie durchlief. Oben angekommen mussten die beiden aber festzustellen, dass das Galerienkreuz nicht weiterführte. Die Wege verloren sich im Raum. Daher stiegen sie über den kleineren Turm wieder ab, nicht ohne heftig darüber zu diskutieren, wer nun im Recht gewesen sei.
IV
Nachdem sie weitere Zeit in der Gebäudewüste umhergeirrt waren, wurde den beiden immer deutlicher, wie Recht die junge Frau mit ihrer Warnung vor der Ähnlichkeit der Raumelemente gehabt hatte. Denn obwohl sie glaubten, sich von ihrem Ausgangspunkt entfernt und neue Räume betreten zu haben, stießen sie immer wieder auf den Faden. Salametti schimpfte laut über Huhn und Ei und verfluchte das Schicksal, welches ihn in diese unendlichen Hallen und Gänge verschlagen habe. Piranesi setzte sich verzweifelt auf einen Pilaster aus Marmor, der am Boden lag, und versuchte sich Klarheit über die Lage zu verschaffen.
„Wir bewegen uns immerfort“, stellte er fest, „ohne dass wir fortzuschreiten scheinen. Unser Weg gleicht daher dem des Mäander, einem Fluss, der in Kleinasien, was einmal Kernland des römischen Reiches war, durch eine weite Ebene kurvt, ohne recht vorwärts zu kommen. Er fällt sogar, in dem er sich weit in die Ebene ausbreitet, immer wieder hinter den Fortschritt zurück, den er schon hinter sich hat. Diese Art der Bewegung erscheint uns sinnlos. Vielleicht passt sie aber zu diesem Raum. Den Alten, die diese Räume gebaut haben, war diese Bewegung sehr vertraut. Sie schmückten ihre Bauten daher gerne mit Mäanderfriesen. Ich habe sie in Rom und seiner Umgebung immer wieder gefunden und schon oft abgebildet.
„Was meinst du mit Mäanderfriesen?“, fragte Salametti.
“Es sind Bänder, bei denen aus einer größeren Form eine kleinere wächst, die wieder größer wird, um eine weitere kleinere zu gebären und so fort. Für die Alten waren sie ein Symbol dafür, wie sich das Neue in alle Ewigkeit immer wieder aus dem Alten entwickelt.“
„Wie Huhn und Ei“, stellte Salametti fest und fuhr, nachdem er eine Zeit lang die andere Seite des Pilasters gemustert hatte, auf dem Piranesi saß, fort: „Oder wie die Pflanze, die jemand schön eingerahmt in diesen Stein gemeißelt hat. Sie zieht sich den Pilaster entlang, treibt dabei zu beiden Seiten Verzweigungen aus, wächst aber dennoch spiralförmig immer weiter.“
Piranesi stand auf und betrachtete die andere Seite des Steins. „Eine wahrhaft erstaunliche Akanthusranke“, rief er aus. „Wunderbar wie der Stamm unten aus üppigem Blattwerk herauswächst, sich die Nebenzweige in prallen Blütensternen sammeln und zu prächtigen Fruchtständen einrollen.“
„Du scheinst diese Pflanze gut zu kennen.“
„Ich bin einigermaßen vertraut mit dem Ornament, das aus der Gattung der Akanthusgewächse entwickelt wurde. Es stammt ursprünglich von den Griechen und soll sich, wie ich gehört habe, auf dem ganzen eurasischen Kontinent und selbst auf abgelegene Eilande am Rande der Welt verbreitet haben. Es ging mit Alexander dem Großen nach Baktrien und Indien und von dort weiter nach Osten bis an den Rand des großen Meeres, bis an welches sich der indische Geist ausgebreitet hat. Seine Allgegenwart macht es zum Zeichen dafür, wie Lebensformen dieses Kontinentes, die weit auseinander zu liegen scheinen, untergründig miteinander verbunden sind.“
„Wenn es überall zu finden ist, dann haben es sicher auch die Römer gekannt.“
„Selbstverständlich. Die Römer schmückten ihre wichtigen Bauten mit diesem Ornament vor allen in der Kaiserzeit, deren gediegene Opulenz, aber auch deren Sinnlichkeit es sehr treffend zum Ausdruck bringt. Nicht selten wuchs die Ranke aus dem Schwanz von Löwen, Greifen und sonstigen Fabeltieren oder nach Art der Meerjungfrauen aus dem Unterleib eines Engels.“
„Wie Huhn und Ei.“
„Allerdings habe ich selten eine Akanthusranke gesehen, die plastischer und reicher gestaltet gewesen wäre, als diese. Auch die Bordüre in Form einer Akanthusblattwelle ist meisterlich gearbeitet. Der Pilaster könnte aus der Villa des Hadrian stammen. In seinem für die Kunst so glücklichen Zeitalter hat man derart edle und sorgfältige Arbeiten hergestellt. Ich muss davon unbedingt eine Zeichnung machen.“ Damit zog er Papier und Stift aus seiner Tasche und warf mit großer Schnelligkeit eine Skizze auf das Blatt.
„Deine Zeichnung ist nicht sehr genau“, sagte Salametti, der ihm über die Schulter sah.
„Die Ausarbeitung mache ich in meinem Atelier. Ich mag es nicht, wenn meine Vorstellung durch die Vorzeichnung zu sehr eingeengt ist.“
“Hoffentlich stimmt dein Bild dann auch noch mit der Wirklichkeit überein.”
“Auf meine Weise schon.”
„In der Ranke tummeln sich alle möglichen Tiere“, stellte Salametti nun fest. „Ich sehe Heuschrecken, Bienen, Eidechsen, einen Adler, der eine Schlange gefangen hat, und allerhand sonstige Vögel, ja sogar ein Vogelnest mit Jungen.“
„Die Akanthusranke war für die Alten nicht zuletzt ein Symbol für das pralle Leben, das für sie ganz diesseitig zunächst einmal Werden und Vergehen war. Deswegen findet sich ein besonders lebensvolles Exemplar der Ranke am Tempel der Venus Genetrix, welcher zu Zeiten Hadrians nahe dem Kolosseum für die Liebesgöttin als der Stammmutter Roms erbaut wurde.“
„Die Liebesgöttin war die Stammmutter Roms? Irgendwie habe ich es immer geahnt. Jetzt wird mir klar, warum der Name der Stadt rückwärts gelesen Amor lautet.“
„Sehr schöne Beispiele der Ranke, gerade solche mit Tieren, die eher selten sind, gibt es auch in Aphrodisias, einer Stadt, die an einem Nebenfluss des Mäander liegt. Aphrodisias erlebte seine Blütezeit ebenfalls während der Regierung Hadrians, der den Ausbau der Stadt und ihres überaus reich geschmückten Aphroditetempels großzügig unterstützte. Der Kaiser kam sogar persönlich hierher, um an den Festspielen und Wettkämpfen zu Ehren der Göttin teilzunehmen, die hier alljährlich stattfanden.“
„Der Schnörkel und seine Verwendung fangen an, mir zu gefallen, vor allem wenn ich mir vorstelle, welche Spielchen in Aphrodisias unter den bewegten Ranken des Akanthus sonst noch stattgefunden haben mögen. Schon der Name der Stadt läuft mir wie feinstes Olivenöl hinunter. Erzähle weiter. Was ist aus dem Ornament später geworden?“
„Dem christlichen Mittelalter, in dem man vor allem Jenseitiges, nämlich ewiges Leben wollte, war die lebensvolle Ranke natürlich suspekt. Man hat sie daher durch die vermeintlich geistigere Weinrebe ersetzt, weil, wie das Evangelium Johannes berichtet, Jesus damit sich und seine Anhänger verglichen haben soll.“
„Und dabei ist aus der Stadt der Liebesgöttin sicher die Stadt der göttlichen Liebe geworden.“
„In Aphrodisias trat an die Stelle der Göttin der Liebe der Liebe Gott. Den betörenden Namen der Stadt hat man ausgelöscht. Um jede Erinnerung an die anziehende Göttin zu tilgen, nannte man die Stadt nicht etwa Agapepolis, also Stadt der göttlichen Liebe, sondern rauh und abweisend Stauropolis, Stadt des Kreuzes. An die Stelle der biegsamen Akanthusranke trat nun das linienstarre Kreuz. Die Spiele und alle sonstigen Spielchen wurden verboten und der offene Tempel der Aphrodite durch allerhand Umbauten in eine geschlossene christliche Basilika verwandelt, worunter sein Charme, wie man sich vorstellen kann, nicht unerheblich gelitten hat.“
„Wie ging es weiter mit der Akanthusranke?“
„Als man tausend Jahre später begann, sich wieder mehr für die Alten und das wirkliche Leben zu interessieren, hat sie erneut Pilaster, Architrave und Bögen und überhaupt alle möglichen Gegenstände überwuchert, welche die Menschen liebten. Ich besitze Säulen, Tafelaufsätze, Vasen, Teller und allerhand Schnitzereien aus neuerer Zeit, die mit der Ranke wunderbar geschmückt sind.“
„Vielleicht ist unser Weg wie diese Ranke, die bei allen Verzweigungen stets weiter kommt und offenbar auch sonst nicht tot zu kriegen ist.“
„Den Alten kam es bei ihren Friesen nicht darauf an, dass die Bewegung voran geht“, wandte Piranesi ein. „Dies zeigen gerade die Mäanderfriese. Es gibt nämlich auch solche, in denen eine mäandernde Bewegung mit einer gegenläufigen Bewegung gleicher Art verwoben ist. Ich fürchte, dass die Akanthusranke nur ein Nebenprodukt des Mäanders ist und wir uns in diesem Raum nach Art der Doppelmäander zugleich vorwärts und rückwärts bewegen.“
„Wieder wie Huhn und Ei“, sagte Salametti. „Man kann beim Huhn nach vorne an das Ei denken, das es legen wird, oder zurück an das Ei, aus dem es gekommen ist. Letztendlich geht das Leben aber, wie die Ranke und selbst der windungsreichste Fluss, doch nur in eine Richtung und in die sollten wir gehen. Lasst uns also weiterlaufen. Der Faden wird uns schon helfen.“ Damit packte er Piranesi am Arm und zog ihn hinter sich her.
„Die Dinge sind nicht so einfach, wie du denkst. Wir haben den Faden über unzählige Architekturteile und daher ziemlich unregelmäßig verlegt. Außerdem sehen wir ihn immer nur bis zur nächsten Ecke und vielleicht noch ein paar Strecken hier und dort. Der Faden gibt keinen Überblick. Wir können mit ihm nur alle Einzelheiten wiederholen oder deren Wiederholung vermeiden, was nichts anderes ist, als neue Einzelheiten zu finden. Nie wird uns der Faden einen erhöhten oder gar wegweisenden Standpunkt geben. Der Faden hätte uns nur geholfen, wenn wir ihn im Pilasterraum oder schon am Ausgang der Cloaca maxima befestigt hätten.“
„Wir werden den richtigen Standpunkt finden, wenn wir ihn brauchen“, beendete Salametti das Gespräch.
V
Während sie dergestalt hilflos umherirrten, näherte sich ein würdiger Alter in hellenistischem Gewande, der ein Buch voller Gleichungen und geometrischen Figuren in der Hand hielt, welches Spuren langen und häufigen Gebrauches zeigte.
„Ich sehe”, sagte der Alte. “dass ihr euch in diesem verwirrenden Raum verirrt habt und nicht weiter wisst. Ich habe viel über diesen Raum nachgedacht und denke, dass ich euch helfen kann. Dieser Raum ist, wie ihr gesehen habt, sehr vielfältig. Wenn ihr mit ihm zurechtkommen wollt, müsst ihr ihn daher vereinfachen. Dazu müsst ihr aus den Niederungen der Einzelheiten heraustreten. Und dafür braucht ihr keinen Faden sondern eine Richtschnur. Die Richtschnur aber ist eine Gerade, die zum Ziel führt. Die Gerade wiederum ist die kürzeste Verbindung zwischen zwei Punkten. Sie befindet sich notwendigerweise über den Einzelheiten, die am Rande des Weges liegen. Zieht also die Gerade durch zwei Punkte und ihr habt sowohl Richtung durch als auch Überblick über den Raum. Nur so könnt ihr der täuschenden Vielfalt der Einzelheiten entgehen.“
„Die Lösung unseres Problem ist, wie ihr meint, die Linie“, antwortete Piranesi. „Das ist eine schmale Basis für zwei Personen, die schwer miteinander auskommen. Am besten wäre, wenn ich nicht weiter zusammen mit diesem Hühnermenschen durch den Raum gehen müsste. Könnt ihr uns Wege zeigen, auf denen wir getrennt zu unserem Ziel kommen?“
„Auch mir wäre dies am liebsten“, ergänzte Salametti, „denn irgendwie sind wir wie Huhn und Ei. Auf Dauer können sie doch nicht beieinander bleiben.“
Der Alte antwortete: „Das Grundgesetz des Raumes lautet, dass sich alle Linien einer Ebene schneiden, ausgenommen die Parallelen. Wenn ihr also getrennte Wege gehen wollt, müsst ihr parallel zueinander laufen. Dann werdet ihr euch, auch wenn ihr nahe beieinander seid, nie mehr ins Gehege kommen.
Piranesi schien dies einleuchtend, weswegen er Salametti dazu überredete, dass sie getrennte Wege gehen. Sie vereinbarten, jeder solle in einem bestimmten Abstand seine Linie ziehen und beide darauf achten, dass der Abstand erhalten bleibt. Die Schwierigkeit bestand allerdungs darin, die Richtung der Linie zu bestimmen, an der entlang ihre Wege verlaufen sollten. Denn der Zielpunkt konnte nicht beliebig gewählt werden. Am sinnvollsten schien es ihnen daher, den Zielpunkt in der Richtung zu wählen, die dem zuletzt zurückgelegten Weg gegenüber lag. Frohen Mutes ging jeder an sein Werk.
Schon bald stellte sich aber heraus, dass die Verwirklichung des Vorwurfes alles anderes als einfach war. Die Bauten und Wege des Raumes waren nicht auf die Linie ausgerichtet, die sie einzuhalten bestrebt waren. Daher waren allerhand Umwege und Überbrückungen nötig. Erschwert wurde alles noch dadurch, dass größere Bauteile die Sicht auf die Linie zeitweilig versperrten, mit der Folge, dass sie Gefahr liefen, das Ziel aus den Augen zu verlieren. Immer wieder mussten sie sich daher vergewissern, ob sie noch auf dem geraden Weg waren. Piranesi ging zur Sicherheit häufig sogar noch einmal ein Stück zurück. Davon abgesehen, konnte man die Linie wegen der Unübersichtlichkeit des Raumes immer nur in Etappen abstecken. Daher mussten sie, nachdem ein Zwischenziel erreicht war, jeweils sicherstellen, dass das nächste Zwischenziel vom Ausgangspunkt aus gesehen noch auf der Gesamtgeraden lag. Auch hier erschwerten dazwischen liegende Bauten, Wände und Treppen die Kontrolle.
Aber auch dann, wenn sie geradewegs einem vorläufigen Ziel zustrebten, stellten sich Probleme. Als Zwischenziel hatte Piranesi einmal eine weithin sichtbare Terrasse gewählt, an deren Ecken vier mit Gittern verbundene runde Wachtürmchen angebracht waren.
Unter erheblichen Mühen war es ihm gelungen, die Richtung auf dieses Ziel beizubehalten. Schließlich war die Terrasse zum Greifen nahe. Er war von ihr nur noch durch einen tiefen Graben getrennt, den eine steinerne Brücke überspannte. Drüben angekommen stand er aber vor einer Wand, die keinen Durchlass hatte. „Seltsam“, sagte er sich, „ich habe mich dem Ziel auf dem denkbar geradesten Weg genähert, bin aber dennoch nicht angekommen. Der direkte Weg scheint nicht unbedingt der richtige zu sein.“ Es schien ihm geradezu, dass das Ziel um so schwerer zu erreichen war, je mehr er sich darauf konzentrierte. Piranesi vermutete, dies sei auch der Grund dafür, dass er entgegen der Behauptung des Griechen immer wieder mit Salametti zusammenstieß, was letzterer unter Berufung auf die Verwandtschaft von Huhn und Ei jeweils dazu nutzte, von Piranesi Hilfe bei der Einhaltung eines geraden Weges zu verlangen, mit der er völlig überfordert war.
VI
In diesem Augenblick bemerkten die beiden einen Mann, der sie seit längerem beobachtet hatte. Er trug die wallende Kleidung altorientalischer Juden und hielt eine Mappe in seiner Hand, in der lose Blätter lagen. Sein Kopf war nach Art der Wüstenbewohner in ein Tuch gewickelt, welches sein Gesicht so weitgehend verbarg, dass man sich von ihm kein klares Bild machen konnte.
„Seid nicht verzweifelt“, sprach sie der Jude an, „ihr fühlt euch in diesem Raum gefangen. Ich verspreche euch aber, dass ihr erlöst werden werdet.“
„Du hast gut reden“, sagte Piranesi, „sag uns lieber, wie wir hier schnellstmöglich wieder herauskommen.“
„Eure Knechtschaft in diesem Raum wird ein Ende haben. Denn vor euch liegt eine ebene Bahn.“
„Ich sehe nur ein unüberwindliches Gebirge von Mauern, das nur von undurchschaubaren Abgründen unterbrochen wird“, widersprach Piranesi.
Der Jude schlug nun einen hohen Ton an und verkündete mit ekstatischem Singsang: „Alle Täler werden erhöht werden und alle Berge und Hügel erniedrigt werden und was uneben ist, wird gerade und was hügelig ist, wird eben werden.“
„Dein Wort in Gottes Ohr oder besser umgekehrt“, sagte Piranesi. „Wohin sollen wir also gehen?“
„Geht in Richtung auf dieses Zeichen und seid zuversichtlich“, sagte der Mann und deutete auf die Kreuzung zweier Galerien, die durch einen Bogen weit in der Ferne sichtbar war.
„Versuchen wir es also mit dieser Richtung“, sagte Piranesi und marschierte los. „Hoffentlich hat er Recht“, sagte er zu Salametti, als der Mann außer Hörweite war. „Es war reichlich viel Zukunft in seinen Worten. Ich hatte den Eindruck, als wolle er eine unerfreuliche Vergangenheit und eine ebensolche Gegenwart zugunsten einer besseren Zukunft wegreden.“
„Ich glaube, dass er sich hier auskannte“, sagte Salametti und schritt mit neuer Kraft eine Treppe hinauf.
„Mich würde nicht wundern, wenn wir ihn oder seinesgleichen an diesem Kreuz wiederträfen, dass man dort feststellt, wir seien auf dem richtigen Wege, weil wir am prophezeiten Ort angekommen sind, und dass die Bestätigung dieser Prophetie dann als Ausweis für die Berechtigung gilt, uns auch den weiteren Weg weisen zu können.“
Dazu sollte es allerdings nicht kommen. Denn entgegen den Versprechungen des Juden wurde der Weg nicht einfacher und die Höhen und Tiefen blieben, was sie schon immer waren. Überall standen und lagen weiterhin Wände, Säulen und Balken im Weg. Und so dauerte es nicht lange, dass die beiden Männer das Ziel, das ihnen der Jude bezeichnet hatte, aus den Augen verloren. Aus dem gleichen Grund konnten sie auch nicht zurückblicken, um festzustellen, wo sie hergekommen waren.
VII
Nachdem sie wieder geraume Zeit umhergeirrt waren, gelangten sie in einen Raum, der ganz von einem ungeheueren Rad ausgefüllt und dennoch scheinbar grenzenlos war. Der Anblick des Rades löste bei Piranesi völlige Verwirrung aus, zumal er weder eine Achse desselben feststellen konnte, noch dass eine solche irgendwo hätte befestigt werden können.
„Was ist dies nur für ein Raum?“, fragte er. „Vielleicht ist es ein Fehler, diesen Raum von einem Anfang her verstehen zu wollen. Womöglich hat er, wie dieses Rad, gar keinen solchen und daher auch kein Ende.“
„So darf man nicht denken“, sagte Salametti. „Es würde bedeuten, dass wir uns im Kreise bewegen und keine Hoffnung hätten, hier je wieder hier herauszukommen“.
„So sieht es aber gerade aus.“
„Wie der Jude hat aber auch Don Fiore versprochen, dass am Ende alles eine Lösung finde.“
„Don Fiore?“
„Der Pfarrer meiner Kirche im Stadtviertel Ripa, wo ich mein Häuschen habe. Dieses Gotteshaus steht am Tiberufer und hat einen Turm, der wie ein Finger in Richtung Himmel zeigt, wo am Ende alles hingeht. Ich glaube, die Kirche ist fast so alt wie Rom.“
„Du meinst Santa Maria in Cosmedin, gegenüber dem alten Rundtempel, der einst dem siegreichen Herkules gewidmet war. Sie ist alt, aber doch nicht so alt wie Rom oder der Tempel.“
„Ja, die Kirche, die am Ende des Circus Maximus nicht weit vom Eingang des schmutzigen Kanals steht, den wir nie hätten betreten sollen.“
„Sie steht sogar ziemlich genau auf der Cloaca maxima. Die Kirche ist eine merkwürdige Mixtur aus Vorgängerbauten verschiedenster Art. Es würde mich nicht wundern, wenn man für ihre Fundamente die mächtigen Quader der Tribünen des benachbarten Circus Maximus verwendet hätte. In ihren Inneren kann man noch den Grundriss der Statio Annonae erkennen, der Stelle, an der man im alten Rom Getreide an die bedürftige Bevölkerung verteilte, eine Aufgabe, welche die Kirche auf ihre Weise ebenfalls übernommen hat. Außerdem sind in der Kirche die Reste gab eines weiteren Herkulestempels verbaut, der hier einmal stand.“
„Herkules in der Kirche, das ist in der Tat eine schöne Mixtur.“
„Rund um den Platz, an dem deine Kirche steht, hatte man sogar gleich vier Tempel zu Ehren des Herkules errichtet, was sicher damit zu tun hat, dass er ein sehr tatkräftiger Mann war. Dort war nämlich der erste Marktplatz Roms, das Forum Boarium, genannt nach dem Viehmarkt, der sich an einer flachen Stelle des Tibers gebildet hatte, die den Hirten früher als Übergang über den Fluss diente.“
„Das gefällt mir. Herkules hat mit Viehzucht zu tun.“
„Er war sogar ein Viehdieb. Die zehnte seiner zwölf großen Taten war die Entführung der prächtigen Rinderherde des Riesen Geryon. Dieser war ein drachenartiges Wesen, dessen Leib aus drei völlig verschiedenen Teilen zusammengesetzt war. Mich hat diese Tat immer besonders interessiert, da bei ihr auf merkwürdige Weise die Grenzen der Welt in Frage gestellt werden. Geryon lebte nämlich jenseits der westlichen Weltgrenze, die Herkules mit den nach ihm benannten Säulen an der Meerenge von Gibraltar fixiert hatte. Herkules ging also bei dieser Tat über die damaligen Grenzen der Welt hinaus.“
„Mir scheint, da dreht sich einiges im Kreise. Mich hat Herkules eher wegen seiner Manneskraft interessiert. Am Tiberufer erzählt man sich, dass er fünfzig Schwestern geschwängert und von ihnen fünfzig Söhne hatte. Eine solche Zeugungskraft würde ich mir von meinen Hähnen wünschen. Unsere Frauen schwärmen natürlich von ihm und seinen Muskeln, ein Vergleich, bei dem ein Christenmensch nur verlieren kann.“
„Mit dem Muskelkoloss, der im Palazzo Farnese steht, kann allerdings kaum ein Sterblicher mithalten. Die Alten pflegten den Körper, weil sie davon überzeugt waren, dass er den Geist stützt und rege hält. Daher auch die sportlichen Spiele, die anfangs so eine Art Gottesdienst mit dem Körper waren. Herkules selbst rief die Spiele von Olympia ins Leben, die über tausend Jahre abgehalten wurden. Diese haben die Christen, für die der Körper und seine Betätigung eine eher lästige Begleiterscheinung des Lebens war, kaum dass sie in Rom an der Macht waren, verboten, so wie sie es auch mit den Spielen von Aphrodisias und anderen schönen Sachen taten. Das Verbot sprach übrigens Kaiser Theodosius I aus, der gleiche, der den Auftrag zur Abfassung des Glaubensbekenntnisses gab, das du jeden Sonntag in Santa Maria aufsagst.“
„Eine Tätigkeit, die eher Muskelschwund verursacht.“
„Deine Kirche ist auch sonst noch interessant. Sie erhielt ihre heutige Form von Papst Hadrian I., der mit seiner Namenswahl ohne Zweifel an den Kaiser gleichen Namens anknüpfte. Unter diesem Kaiser war der Machtbereich des Reiches nämlich so ziemlich am größten. Außerdem war es so gut organisiert und verwaltet, wie es sich die Kirche für ihre Zwecke nur wünschen konnte, all das auch noch mit vergleichsweise friedlichen Mitteln. Auf ein Territorium, das sich von mosaikreichen Volubilis am Fuße des Atlasgebirges im Westen bis zum goldgelb schimmernden Säulenwald der Oasenstadt Palmyra im Osten und vom uralten Elephantine unterhalb des ersten Nilkataraktes im Süden bis nach Eboracum, dem heutigen York, im Norden erstreckte – auf dieses wunderbare Gebiet, das in seinen Hauptteilen so praktisch um das angenehm warme Mittelmeer gruppiert war, erhoben die Päpste natürlich gerne Anspruch.“
„Dein Blick schweift immer weiter in die Ferne. Wir sollten lieber über Don Fiore und sein Versprechen reden, das uns eher weiter hilft. Don Fiore sagt, so wie alles einen klar bestimmten Anfang gehabt habe, gebe es auch ein Ende, das vorherbestimmt sei, und der Weg zwischen beiden Punkten sei ohne weiteres zu erkennen. Er vergleicht das mit seiner Kirche, in der das Allerheiligste, auf das ja alles hinausläuft, dem Eingang gegenüber liegt, weswegen auch eine prachtvolle und schön regelmäßige Reihe von Säulen darauf zuführt.“
„Altrömische, genauer gesagt korinthische Säulen.“
„Ja, ja, dich interessiert vor allem der Stil der Säulen. Bleiben wir aber bei Don Fiore. Er meint sogar, das Ende, der Zeitpunkt der Abrechnung und Erlösung also, könne ziemlich genau errechnet werden und sei nicht mehr weit.“
„Woher will er das wieder wissen?“
„Er hat festgestellt, dass die meisten Zeichen und Vorboten, die nach der Geheimen Offenbarung des Johannes das kommende Ende anzeigen, schon erschienen sind, sodass nur noch wenig fehlt.“
„Schon mancher hat vergeblich darauf gehofft, die Schwierigkeiten, welche ihm die Wirklichkeit bereitete, mit einem großen Reinemachen lösen zu können.“
„Don Fiore kann sich auch auf den Satz ’Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben’ berufen, den Jesus sagte, wie ebenfalls das Evangelium des Johannes berichtet.“
„Auf Sätze kann man sich leicht berufen. Es ist aber gerade die Frage, ob dieser Weg auch die Wahrheit des Lebens ist.“
„Man kann natürlich alles bezweifeln. Meine Frage ist, warum ausgerechnet wir an der Vorstellung zweifeln sollten, dass es einen Weg gibt, der zum Ziel führt. Denn bei Raumverhältnissen, welche so unklar sind, wie die, mit denen wir es nun einmal zu tun haben, kann sie uns nur nützlich sein. Immerhin haben wir damit zumindest eine Chance, hier wieder herauszukommen. Außerdem ist eine schlecht oder gar nicht begründete Hoffnung besser als keine. Und dann hat Don Fiore als Mann meiner Kirche allen Grund, bei der Wahrheit zu bleiben. Denn in der Vorhalle von Santa Maria ist ein großer runder Stein mit einem haarigen, merkwürdig grimmig dreinschauenden Gesicht, in dessen Mitte der Mund der Wahrheit ist. Wer seine Hand dort hineinsteckt, dem wird sie abgebissen, wenn er Unwahres gesagt hat.“
„Don Fiore kann die Hand zum Beweis seiner Wahrhaftigkeit ohne Risiko hineinstecken, denn niemand weiß besser als er, dass hinter dem Mund nichts anderes als eine nackte Kirchenmauer ist. Übrigens war der Stein einmal der Wasserspeier eines altrömischen Brunnens und das Gesicht ist das irgendeiner Flussgottheit. Wahrscheinlich gab der Bildhauer dem Gesicht deswegen eine so ernste Miene, weil er zum Ausdruck bringen wollte, dass sich dieses Wasserwesen seiner ewigen Wichtigkeit bewusst sei. Den Römern war reines Wasser wichtiger als eine absolute Wahrheit.“
„So etwas würde Don Fiore nicht gerne hören.“
„Papst Hadrian I. hätte es auch nicht geschmeckt, weswegen er und seine Kollegen die alten Wasserleitungen, welche ja die positiven Gegenstücke der Kloake sind, auch nicht sonderlich gepflegt haben.“
„Du schweifst schon wieder ab. Warum sollten wir für unser Problem mit dem Raum nicht eine Lösung nach dem Muster von Santa Maria finden, wo alles zu einem Ziel führt?“
„Weil wir nicht wissen, ob die Wirklichkeit unseres Raumes dem Modell der Kirche entspricht. Die Päpste hatten die Dinge gerne übersichtlich und gerichtet, um so den Mythos vom einmaligen Anfang und klar bestimmten Ende zu versinnbildlichen, der das ganze biblische Denken von der Schöpfungsgeschichte über den Sündenfall und das Erscheinen Christi bis hin zum Jüngsten Gericht bestimmt. Daher haben sie die meisten neuen Kirchen nach einem ähnlichen Schema wie Santa Maria gebaut. Ihr Raum ist wie ein langer Kasten mit flacher Decke, den man auf einer Schmalseite betritt, um am anderen Ende zum Ziel vorzustoßen. Niemand weiß dies besser als ich. Ich habe diese Basiliken in Kupfer gestochen und ihre Gerichtetheit mit einigen perspektivischen Kniffen sogar noch besonders hervorgehoben.“
„Warum sollte unser Raum aber nicht so sein, wie ihn die Päpste dargestellt haben?“
„Weil er möglicherweise eine runde und damit endlose Form hat, wie der Herkules-Tempel bei Santa Maria oder gar dieses Rad hier, das wie ein unberechenbares Schicksal über uns hängt und nicht einmal eine klare Achse hat. Oder wie die Bauwerke des Kaisers Hadrians, der die runde Form nicht nur für viele Bauten seiner Villa in Tivoli
wählte, wo er das Leben resümierte und genoss, sondern interessanterweise auch für sein riesiges Grabmal, in dem er das Leben beschließen wollte, Bauten, die übrigens kirchliche Würdenträger in einer Weise, die sie lange für einen Akt der Frömmigkeit hielten, heruntergewirtschaftet oder missbraucht haben. Hadrians Villa in Tivoli hat ein Kardinal geplündert und die Päpste haben die Engelsburg, die einmal das Grabmal des Kaisers war, als Fluchtburg genutzt, wenn sie, wie so häufig, unsanft mit der Wirklichkeit außerhalb ihres so phantasievoll ausgeschmückten Palastes konfrontiert wurden.“
„Wozu sie den Vatikan über den Passetto mit der Engelsburg verbanden?“
„Richtig – mit dem langen Geheimgang, der auf der hohen Mauer verläuft, welche die Päpste um ihr jenseitiges Reich gezogen haben – eine Art umgekehrte Cloaca maxima.“
„Eine umgekehrte Cloaca maxima? Was soll denn das wieder heißen?“
„Nun, der Passetto verläuft ungefähr genauso hoch über der Erde, wie der Abwasserkanal unter ihr. Wie die Cloaca führt er auch zum Tiberufer, wo die Engelsburg steht. Außerdem verlässt der Unrat, den das Leben mit sich bringt, die Stadt durch den unterirdischen Kanal, während umgekehrt der Geist, der die mangelnde Reinlichkeit des Lebens so wenig zur Kenntnis nehmen wollte, von dem abgeschotteten Palast durch den oberirdischen Gang in die Stadt hinein gelangte.“
„Na ja – über Kloaken habe ich am Tiberufer schon bessere Sprüche gehört.“
„Mag sein, dass ich die Dinge etwas zugespitzt habe. Die Bedeutung der Cloaca maxima für die Stadt kann man dennoch nicht hoch genug veranschlagen.“
„Dass sie Bedeutung hat, kann man nicht bezweifeln – in ihr verschwinden Hühner!; und selbst Menschen können sich darin ganz schön verlieren.“
„Aber zurück zur runden Form“, sagte Piranesi. „Zu Zeiten des Kaisers Hadrian wurde sie auch in ihrer vollkommensten Ausprägung, der Kugel, zum Bauen verwendet, und zwar im Pantheon, das der Kaiser selbst entworfen haben soll. Die Kuppel dieses Bauwerks ist eine Halbkugel, deren Radius wiederum der Höhe des Tambours entspricht, auf dem sie ruht. Damit bezieht sich der Bau auf die überkommene Vorstellung, dass die Welt die Gestalt einer Kugel habe, weil diese als die Form, die alle irgend vorhandenen Gestalten in sich schließt, allein dem Leben angemessen sei.
Das Pantheon war keinem einzigen Gott, auf den alles zuläuft, sondern den vielen, ja sogar allen Göttern gewidmet, die das Leben hervorbringt, was die Päpste allerdings nicht daran hinderte, sie in eine Kirche für ihren einzigen und absoluten Gott umzuwandeln.“
„Was sollten sie sonst tun? Das Pantheon liegt gleich neben Santa Maria sopra Minerva, wo die Inquisition tagt, die derartige Vielgötterei zu bekämpfen hatte.“
„Das ist es ja: sopra Minerva! Minerva war bei den Römern die Göttin der Weisheit und über ihrem Tempel haben sie eine Kirche gebaut, in der die Lehre, welche man für einzig richtig erklärte, mit Mitteln verteidigt wurde, die nicht unbedingt weise waren. Später, als die Kirche bemerkte, dass das Leben auf diese Weise an ihr vorbeizulaufen drohte, haben ihre Baumeister das Pantheon übrigens zum Muster für die Kirchen der Päpste gemacht, bis hin zur Kuppel des Petersdoms.“
„Sagtest du nicht eben, dass die Päpste die Linie schätzten.“
„Schon – aber die Künstler waren schon immer etwas weiter als die Päpste.“
„Dann wäre die Kuppel also ein Kuckucksei, das ihnen die Künstler in ihr ungemütliches Nest aus geraden Linien gelegt haben. Hat der Vogel, der aus dem Ei schlüpfte, nicht alles durcheinander gebracht?“
„Die Kirche hat immer wieder fremde Eier ausgebrütet, ohne letztendlich ihre Linie aufzugeben. Im Zuge des Kuppelbaus hat sie sogar die alte Weisheit wieder entdeckt, dass der Körper kein unwichtiger Teil des Menschen ist. In ihrem Palast, im Vatikan, ist eine große bunte Kapelle, die Michelangelo im ausmalte, der gleiche, der auch die Kuppel des Petersdomes entwarf. Dort sind eine Menge Muskeln zu sehen. Im großen Fresko vom Jüngsten Gericht, das Michelangelo an der Stirnwand der Kapelle anbrachte, wird Jesus nicht mehr als Asket abgebildet, der von Entbehrungen geprägt ist, wie auf den mittelalterlichen Bildern, sondern wohlgenährt und mit einem durchtrainierten Körper, der einem Herkules Ehre machen würde.“
„Weswegen man Frauen am besten nicht in solche Kapellen lässt.“
„Lässt man ja auch nicht, jedenfalls nicht richtig.“
„Wie ging es weiter?“
„Man hat schließlich beim Bauen überhaupt versucht, dem Leben gerechter zu werden und die Formen in lebhafte Bewegung versetzt.“
„Du meinst bei so verrückten Kirchen wie Sant`Agnese auf der Piazza Navona.“
„Kein schlechtes Beispiel. Du scheinst dich mit Kirchen auszukennen.“
„Ich mag die Kirche. Wenn Markttag auf der Piazza ist, stelle ich meinen Hühnerstand vor ihrem Hauptportal auf. Mit ihrer Kuppel in der Mitte gibt sie mir den richtigen Hintergrund für mein Geschäft und mit den beiden Seitentürmen, die wie ausgebreitete Arme aussehen, führt sie mir die Kunden zu.“
„Womit Du Dich in bester altrömischer, um nicht zu sagen herkulischer Tradition befindest. Übrigens ist Sant` Ivo, die nicht weit von Sant`Agnese liegt, sogar ein noch besseres Beispiel dafür, welch rasante Bewegung die Bauform seinerzeit erfasst hat. Obwohl ihrem Grundriss etwas gänzlich Gerades, nämlich ein gleichseitiges Dreieck – wegen der Dreifaltigkeit -, zugrunde liegt, geht es hier äußerst rund zu. Mein Kollege Borromini, der auch der Baumeister von Sant` Agnese ist, hat in die Spitzen des Dreiecks einen Zirkel gestochen und diese von dort aus kreisförmig abgeschnitten; außerdem hat er den Zirkel mit dem gleichen Radius noch in die Mitte der Dreiecksschenkel gesetzt und sie mit einem Halbkreis nach außen ausgebuchtet. Dadurch sind abwechselnd nach innen und außen gewölbte Linien entstanden, die sich dann überall im Aufbau der Kirche wieder finden, was das Bauwerk sehr lebhaft macht. St. Ivo ist übrigens die Kirche des Schutzheiligen der Juristen, die ja wahrhaft viel mit dem Leben zu tun haben.“
„Weshalb ihre Denkweise wohl den Menschen so kurvenreich und mal nach innen und mal nach außen gewölbt erscheint.“
„Auch so kann man das Bauwerk verstehen.“
„Wir drehen uns wirklich im Kreis. Du landest immer wieder bei Gebäuden.“ sagte Salametti schließlich in der Absicht, das Gespräch zu Ende zu bringen.
„Den Vorwurf kann ich zurückgeben. Die Vielfalt deiner Themen ist auch begrenzt.“
VIII
Während dieses Gespräches waren die beiden durch einen engen Treppenaufgang in einen Raum gelangt, der von weiten, rechtwinklig zueinander stehenden Bögen mit Rustikaverkleidung überspannt war.
Durch einen der Bögen, aus dem einige Keilsteine heraus zu rutschen drohten, fiel der Blick auf eine Kolonnade, die zu einem Gebäude mit mächtigem Säulenportikus und Giebeldach führte, welches eine Seite eines höher gelegenen, offenbar weitläufigen Platzes begrenzte. Dahinter ragte ein Turm mit mittelalterlichen Zinnen in die Höhe. Durch den zweiten Bogen war eine Säulenreihe zu erkennen, die auf einem engen, ebenfalls rustizierten Bogen stand. Über diesen Säulen lag ein Gebälk, das zugleich die Basis für eine darüber liegende Säulenreihe war. Durch den engen Bogen wiederum konnte man in der Ferne weitere übereinander stehende Kolonnaden erkennen. Im Vordergrund sah man zwischen allen möglichen Architekturteilen, darunter einem mächtigen Stück Architrav mit Doppelmäander, eine überlebensgroße Folterszene. Eine nackte Figur spannte hier ein dickes Seil, das an den Füßen einer zweiten, ebenfalls nackten Person befestigt war, indem sie es mittels langer Hebel auf einer dicken Achse aufwickelte. Eine dritte nackte Figur, die auf einem Rundsockel mit einem Figurenrelief stand, schien die Szene zu überwachen. Sie hielt einen spitzen Gegenstand über die angebundene Person, als wolle sie ihn demnächst auf sie fallen lassen. Über der Szene hing eine achteckige schwarze Ampel, in der allerdings keine Kerze angezündet war.
Auf dieses verschachtelte Panorama und die ganze Szenerie blickte mit Forscherblick ein alter Mann mit schütterem Haupthaar und einem langen Bart, der fein in Wellen gekämmt war. Vor ihm stand eine Staffelei, auf der eine Leinwand lehnte.
„Der sieht ja aus wie die Figur mit dem Mund der Wahrheit“, entfuhr es Salametti.
„Er sieht zumindest ebenso wichtig und sehr würdig aus“, sagte Piranesi und ging auf den Kollegen zu.
Als er sich der Leinwand näherte, bemerkte er, dass auf deren oberen Teil einige der Bauten abgebildet waren, die man in der Ferne sehen konnte. Dazwischen klafften große Lücken. Den unteren Teil des Bildes, in dem nur einige Architekturteile angedeutet waren, durchzogen allerhand Linien, welche in Abständen, die sich stetig verringerten, teils quer zum unteren Bildrand verliefen, teils auf bestimmte Punkte zulaufend in die Tiefe führten.
„Ich sehe, dass du dich sehr genau mit diesem Raum befasst“, sagte Piranesi, der die Technik zur bildlichen Raumaufteilung nur zu gut kannte, zu dem Alten.
„Ich versuche, seine Gesetze von einem einheitlichen, festen Standpunkt zu verstehen“, antwortete dieser.
„Wir haben es versucht, indem wir den Raum durchwandert haben. Wir haben dabei nicht erkennen können, nach welchen Regeln er gebildet ist.“
„Ich habe Probleme mit den Fluchtpunkten. Es gibt offenbar mehrere und sie sind nicht leicht zu finden. Auch sonst habe ich einige Ungereimtheiten festgestellt.“
„Ich weiß, was du meinst. Diese Extravaganzen können ziemlich in die Irre führen. Sie sind sicher auch der Grund dafür, dass wir solche Schwierigkeiten mit dem Raum haben. Wie aber konnte es zu solchen Ungereimtheiten kommen?“
„Von den Malern sagt man, jeder male sich selbst. Ähnliches scheint für die Baumeister dieses Raumes zu gelten.“
„Willst du damit sagen, dass der Schöpfer dieses Raumes so wunderlich wie diese Räume war?“
„Er muss ziemlich kompliziert und mitunter exzentrisch gewesen sein.“
„Vielleicht hast du Recht. Es könnte aber auch sein, dass es noch andere Gründe dafür gibt, dass diese Räume so merkwürdig sind“, sagte Piranesi und deutete auf die Folterszene.
„Mir ist nichts Menschliches fremd. Ich versuche, diese Gründe zu finden.“
„Wie aber willst du den Raum, so wie er nun einmal ist, erfassen?“
„Die Malerei ist eine Wissenschaft. Sie beschäftigt sich mit den Dingen, so wie wir sie vorfinden. Keine menschliche Forschung aber kann eine wahre Wissenschaft heißen, wenn sie ihren Weg nicht durch die mathematische Darlegung und Beweisführung nimmt. Alles Wissen wiederum ist eitel und voller Irrtümer, das nicht von der Sinneserfahrung, der Mutter aller Gewissheit, zur Welt gebracht wird und nicht im wahrgenommenen Versuch abschließt. Denn wenn wir schon an der Gewissheit eines jeden Dinges zweifeln, das durch Sinne wirklich hindurch passiert, um wie viel mehr müssen uns dann die Dinge zweifelhaft sein, die sich gegen diese Sinne auflehnen wie zum Beispiel die Wesenheit Gottes und der Seele, um die man ohne Ende diskutiert und streitet und bei denen es wirklich zutrifft, dass jederzeit, wo Vernunftgründe und klares Recht fehlen, Geschrei deren Stelle vertritt; bei den sicheren Dingen kommt dies nicht vor.“
„Hier unten sagt man Dinge, die ich noch nie gehört habe“, stellte Salametti fest. „Ich glaube nicht, dass du so etwas bei Tageslicht sagen würdest.“
„Du bist in der Tat ziemlich mutig“, meinte auch Piranesi. „Draußen ziehst du dir mit solchen Äußerungen die Inquisition auf den Hals.“
„Ich habe nicht die Absicht, mit diesen Dingen an die Öffentlichkeit zu gehen. Vielleicht wird man es nach meinem Tod zur Kenntnis nehmen.“
„Aber wie willst du nun weiter vorgehen?“
„Die wissenschaftlichen und wahren Anfänge der Malerei stellen zunächst fest: was ist der schattenverursachende Körper und was primitiver und sich ableitender Schatten; was ist Beleuchtung, das heißt Finsternis, Licht, Farbe; was ist Körper, Figur, Lage, was Entfernung und Nähe, was Bewegung und Ruhe. Diese Dinge werden mit dem Geist allein begriffen. Daraus geht dann die Werkbetätigung hervor. In dieser Reihenfolge hoffe ich der Wirklichkeit des Raumes so nahe wie möglich zu kommen.“
„Wie ich sehe, hast du die Methode für deine Vorgehensweise gut bedacht. Ich hoffe, du hast damit schon so viel über die Natur dieses Raumes erfahren, dass du uns helfen kannst, aus diesem Durcheinander wieder herauszufinden.“
„Mich interessiert nicht so sehr, wie man sich in diesem Raum zurechtfindet, sondern wie man ihn richtig darstellt. Ich fürchte daher, dass ich euch nicht sehr nützlich bin.“
„Künstler“, sagte Salametti abschätzig. „Lasst uns weitergehen.“
„Verachte mir die Künstler nicht“, sagte Piranesi. „Aber du hast nicht ganz Unrecht. Dieser gute Mann bringt uns vorläufig nicht voran. Wir brauchen jemanden, der sich mit den Dingen selbst und nicht so sehr mit ihrer Darstellung befasst.“
So gingen die beiden ohne neue Hoffnung weiter.
„Der Alte meinte, das Werk sei der Spiegel seines Schöpfers“, dachte Piranesi bei sich. „Vielleicht sollte ich im Umgang mit Proportionen und Fluchtpunkten etwas vorsichtiger sein. Womöglich ist unser Problem die Folge meiner Extravaganzen.“ Und er gelobte, dass er, wenn er aus diesem Raum wieder rauskomme, zum Dank eine Reihe von Veduten radieren werde, bei denen er sich genauer an die Regeln halten würde, die der Alte formuliert hatte. „Ich könnte eine Wallfahrt zu den Tempeln von Paestum machen“, überlegte er, „denn gegenüber den Griechen habe ich noch einiges wieder gutzumachen.“
IX
Als sie durch den ersten Bogen schritten, deutete Salametti auf einige Büsten, die in dessen Zwickel angebracht waren:
„Kennst du die Personen, die dort oben abgebildet sind? Unter den Büsten scheinen Namen angebracht zu sein.“
„Einer der Namen ist mir bekannt. Die Büste stellt, offenbar Petronius dar, wozu auch der leicht spöttische Gesichtsausdruck passt. Er ist der Verfasser des „Satyricon“, eines Romans aus dem ersten Jahrhundert unserer Zeitrechnung, der uns leider ähnlich unvollständig aber in ebenso beeindruckenden Teilen überliefert ist wie die Bauten der Römer; das Werk ist übrigens einer von nur zwei Romanen, die wir von den Römern haben.“
„Worum geht es darin?“
„Es geht ziemlich wüst und sehr unchristlich zu.“
„Wüst und unchristlich? Davon musst du mir mehr erzählen!“
„Das ist nicht ganz einfach, denn die Handlung ist nicht gerade ordentlich. Es wird über hehre Themen wie Malerei, Literatur und Redekunst schwadroniert, aber auch ein ungeheuerliches Gelage geschildert. Vor allen aber werden die drei männlichen Protagonisten in nicht enden wollende erotische Abenteuer verwickelt, unter einander und mit allen möglichen anderen Personen. dabei wird ausgerechnet die Hauptfigur Priapus, der Gott der Fruchtbarkeit, immer wenn es darauf ankommt, mit dem Versagen der Fähigkeit geplagt, für die er eigentlich steht.“
„Wenn man sich das vorstellt, wünscht man sich, dass man den Roman vollständig lesen könnte.“
„Übrigens wurden die Fähigkeiten des Priapus, in dem sich die Anlagen seiner lebenslustigen Eltern Venus und Bacchus auf erstaunliche Weise potenzierten, von den Römern völlig ungeniert zur Schau gestellt.“
„Wofür die Christen vermutlich wenig Verständnis hatten.“
„In der Tat. Sie haben alle Darstellungen, deren sie habhaft wurden, vernichtet, weswegen wir nur noch dort einige haben, wo die Christen nicht oder erst zu einem Zeitpunkt hingekommen sind, als sie solche Dinge wieder zu schätzen anfingen.“
„Und das wäre wo?“
„In Pompei zum Beispiel. Es wurde durch einen Ausbruch des Vesuvs verschüttet, als die Verehrung des Priapus offenbar auf dem Höhepunkt stand.“
“Schade! Dort werde ich wohl nie hinkommen.”
X
Piranesi und Salametti folgten der Kolonnade, welche sich an den Bogen anschloss, und gelangten, nachdem sie den großen Platz passiert hatten, zu dem Turm mit den mittelalterlichen Zinnen. Zwischen den Zinnen bemerkten sie einen jungen Mann, der in die Höhe des Raumes blickte. Salametti rief mehrfach zu ihm hinauf, um ihn nach dem Weg zu fragen. Der Mann war jedoch so sehr in die Betrachtung des Raumes vertieft, dass er sie nicht hörte. Die beiden suchten daher nach dem Eingang des Turmes und stiegen, nachdem sie ihn gefunden hatten, über eine Wendeltreppe in die Höhe. Oben gelangten sie in ein Stübchen, das nur spärlich möbliert war. Auf einem Tisch lag eine große Zeichnung, auf der mehrere ineinander liegende Halbkugeln abnehmender Größe zu sehen waren, zwischen welche die fünf regulären geometrischen Körper eingefügt waren. Daneben lagen Papiere mit endlosen Zahlenkolonnen. Der Mann, den sie von unten gesehen hatten, stand, von allerlei Messgeräten umgeben, auf der Terrasse vor der Stube und beobachtete die Umgebung durch die hohen Zinnen.
„Ich sehe, dass auch du versuchst, diesen merkwürdigen Raum zu verstehen“, sprach Piranesi ihn an.
„Ich versuche, das kosmographische Mysterium zu ergründen“, antwortete der Mann, der in der Mitte seines dritten Lebensjahrzehnts stehen mochte, mit schwäbischem Akzent.
„Glaubst du, dass dieser Raum eine nachvollziehbare Ordnung hat?“
„Der Raum ist von einem vollkommenen Schöpfer geschaffen worden und muss daher selber vollkommen sein. Es kann somit, auch wenn zunächst alles verwirrend scheint, kein Zweifel daran bestehen, dass in ihm große Harmonie herrscht.“
„Wie aber willst du diese Ordnung feststellen. Sie liegt nicht offen zu Tage?“
„Als Geschöpfe dieses vollkommenen Wesens nehmen wir an seiner Vollkommenheit teil. Dadurch sind wir in der Lage, auch die Harmonie seiner Schöpfung zu erkennen.“
“Ich habe auf der Zeichnung, die in der Stube auf dem Tisch liegt, gesehen, dass du Kugeln und Polyeder, das Runde also und das Eckige, dem die Gerade zu Grunde liegt, in eine Beziehung setzt. Bist du der Meinung, dass diese Figuren und die Verhältnisse derselben zueinander in all dem zu finden sind, was wir hier draußen sehen?“
„Davon bin ich überzeugt. Diese Figuren haben universelle Bedeutung. Sie sind uns von den Alten, genauer gesagt den Griechen, überliefert worden, auf denen unsere Zeit in ähnlicher Weise fußt, wie die Kolonnade auf dem rustizierten Bogen, die zugleich das Fundament für eine weitere Kolonnade bildet.“- dabei deutete er in die Ferne, wo die übereinander stehenden Strukturen, die er beschrieben hatte, zu sehen waren. „Diese Figuren sind vollkommen regelmäßig und müssen daher der Ausdruck der universellen Harmonie sein. Das kannst du in dieser Schrift nachlesen, die ein weiser Grieche vor langer Zeit verfasst hat.“ Er deutete auf ein offensichtlich viel gelesenes schmales Buch, das auf der Brüstung zwischen den Zinnen lag.
Salametti schlug die erste Seite des Bandes auf, wo sich ein Bild des Verfassers befand, und rief sofort erstaunt aus:
„Der Mann trägt die Züge des Mannes, der wie der Mund der Wahrheit aussieht, des Malers, der unten in dem Bogen sitzt und sich bemüht, den Raum auf die Leinwand zu bekommen.“
Tatsächlich war dort eine Figur abgebildet, die den kahlen Charakterkopf des Malers hatte. Sie war in eine leuchtend rote Toga gehüllt und hielt den Zeigefinger der Rechten in Richtung Himmel, während sie das Buch, um das es ging, in monumentaler Vergrößerung unter dem linken Arm trug.
„Wie diese altehrwürdige Schrift zeigt“ fuhr der Schwabe fort, „waren die Alten davon überzeugt, dass Tetraeder, Oktaeder, Ikosaeder und Würfel die Formen der kleinsten Teile der Elemente seien, aus denen sich der Kosmos zusammensetzt, von Feuer also, Luft, Wasser und Erde; und dass im übrigen die Form des Dodekaeder dem Kosmos als Ganzes zugrunde liege. Die Frage, die ich zu lösen versuchte, ist, ob im Raum diese Formen auch im Großen zu entdecken sind.“
„Wie bist du darauf gekommen, dass dies der Fall sein könnte?“
„Ich habe, ähnlich wie der weise Grieche, zuerst versucht, den Raum mit allerhand Zahlen zu verstehen und nachgeschaut, ob die Gegenstände, die sich darin befinden, in bestimmten Verhältnissen zueinander stehen, ob etwa die Abstände zwischen ihnen das Zweifache, Dreifache, Vierfache usw. sind. Viel Zeit habe ich mit dieser Arbeit, mit diesem Zahlenspiel verloren. Es ergab sich weder in den Verhältnissen selber noch in den Unterschieden eine Gesetzmäßigkeit.“
„Weil es eben Spielereien waren“, stellte Salametti fest.
„Fast den ganzen Sommer“, fuhr der junge Mann fort, „habe ich dann mit der Annahme unsichtbarer Zwischenglieder verloren. Ich glaube, durch göttliche Fügung ist es so gekommen, dass ich schließlich durch Zufall bekam, was ich durch keine Mühe vorher erreichen sollte. Ich zeichnete in einen Kreis viele Dreiecke, die einfachste Fläche und zugleich das Zeichen für die heilige Dreifaltigkeit, sodass das Ende des einen immer den Anfang des nächsten bildet. Nun entstand durch die Punkte, in denen sich die Dreieckseiten schnitten, ein kleiner Kreis; denn der Halbmesser des Kreises, der einem solchen Dreieck einbeschrieben ist, beträgt die Hälfte des Halbmessers des umschreibenden Kreises.
„Verstehst du das noch?“, flüsterte Salametti zu Piranesi.
„Es klingt ein bisschen wie der Grundriss von St. Ivo“, antwortete dieser ebenso leise.
„Eine solche Antwort war von dir zu erwarten.“
„Das Verhältnis zwischen den beiden Kreisen“, erklärte der Schwabe mit Anzeichen wachsender Begeisterung, „war nun für den Augenschein ganz ähnlich dem, das zwischen den beiden großen Bögen herrscht, die wir dort hinten sehen. Gleich habe ich mit einem Viereck die Entfernung zwischen dem Portikus und dem einen Bogen, mit einem Fünfeck die Entfernung zwischen dem Portikus und dem anderen Bogen, mit einem Sechseck die zwischen dem Portikus und dem Turm ausprobiert. Da es das Auge verlangt, habe ich, um die Höhe des Turms zu bestimmen, auf dem wir uns befinden, noch ein Quadrat an das Dreieck und an das Fünfeck angefügt. Das Ende dieses vergeblichen Versuches war zugleich der Anfang eines letzten, glücklichen. Wenn sich nun, dachte ich, fünf Figuren unter den übrigen unendlich vielen ausfindig machen ließen, die von den anderen besondere Eigenschaften voraus hätten, so ginge die Sache nach Wunsch.“
„Wünschen kann man viel“, murmelte Salametti vor sich hin.
„Nun aber“, fuhr der junge Mann unbeirrt fort, „drängte ich aufs Neue vorwärts. Was sollten ebene Figuren bei den räumlichen Gegenständen? Man muss eher zu festen Körpern greifen. Siehe, liebe Wanderer, nun habt ihr meine Entdeckung und den Stoff zu meinen ganzen Überlegungen. Auf diese Weise kam ich darauf, dass diesem Raum überall die fünf regulären Polyeder der Alten zu Grunde liegen, Gebilde die viele besondere Eigenschaften haben, die etwa, dass ihnen, wiewohl sie eckig und ganz aus Dreiecken zusammengesetzt sind, jeweils drei Kugeln mit einem gemeinsamen Mittelpunkt gemein sind, eine Umkugel, auf der all ihre Ecken liegen, eine Inkugel, die alle ihre Flächen berührt und eine Kugel, auf welcher die Mittelpunkte der Kanten liegen.“
„Dagegen sind die Bauwerke deines Hadrian ja noch ziemlich übersichtlich“, meinte Salametti zu Piranesi.
„Die Kugel aber“, führte der Mann weiter aus, „ist, wie wir ebenfalls der Schrift des Griechen entnehmen können, die Gestalt, die der Schöpfer dem Lebenden, da es nie altert oder untergeht, allein für angemessen halten konnte, denn sie schließt alle irgend vorhandene Gestalten in sich. Darum, so schreibt der Grieche, verlieh ihm der Schöpfer die kugelige, vom Mittelpunkt aus nach allen Endpunkten gleich weit abstehende kreisförmige Gestalt, die vollkommenste und sich selbst ähnlichste aller Gestalten, indem er das Gleichartige für unendlich schöner ansah, als das Ungleichartige. Die Außenseite gestaltete er aber aus vielen Gründen ringsum vollkommen glatt, denn da die Welt so kunstvoll gestaltet war und sie selbstgenügsam alles in sich und durch sich tut und erleidet, benötigte sie nichts, was nach außen gerichtet gewesen wäre, weder also so etwas wie Augen und Ohren noch Mund oder Arme. Und da der Schöpfer die Welt gleichmäßig in demselben Raume und in sich selbst herum führte, machte er sie zu einem im Kreise sich drehenden Kreise, weswegen sie, da sie sich nur in sich bewegte, auch nicht so etwas wie Beine brauchte.“
„Die Beschreibung dreht sich so sehr im Kreise, dass mir fast schwindelig wird“, sagte Salametti leise. „Diese Welt ist wie ein Ei, dass niemals ausgebrütet wird, weswegen so ziemlich alles fehlt, womit das Leben weiterkommt. Über die genannten Körperteile hinaus vermisse ich vor allem auch das Teil, welches ein Herkules, und, wie jeder weiß, nicht nur er, besonders zu schätzen wusste.“
„Du hast aus sehr unterschiedlichen Teilen einen bewundernswerten Entwurf für die Darstellung der inneren Gesetze dieses Raumes geschaffen“, sagte Piranesi schließlich. „Ich kann mir vorstellen, dass es dir große Befriedigung verschaffte, zusammenzufügen, was auf den ersten Blick nicht zusammen zu gehören scheint, und daraus ein schönes und schlüssiges neues Ganzes zu schaffen.“
„Den Genuss, den ich aus meiner Entdeckung geschöpft habe, mit Worten zu beschreiben, wird mir nie möglich sein.“
„Ich hoffe, dass deine Leser diese Begeisterung teilen“, sagte Salametti. „Das Problem ist nämlich, dass jemand, der derart auf der Höhe ist, Gefahr läuft, mit eingeschränktem Blick in die Welt zu schauen. Den Hahn, der hoch auf der Henne steht, interessiert auch nur noch ein ziemlich begrenzter Teil dessen, was sonst um ihn herum ist.“
Der junge Mann blickte fragend auf Piranesi.
„Wir haben“, erläuterte dieser, „soeben mit jenem Maler gesprochen, der paradoxerweise so aussieht, wie auf dem Bild, das den Autor dieser alten Schrift darstellen soll. Dieser Mann meinte, alles Wissen sei eitel und voller Irrtümer, das nicht von der Sinneserfahrung zur Welt gebracht werde und nicht im wahrgenommenen Versuch abschließe. Die Frage ist daher, ob wir auf die Verbesserung des Verständnisses für diesen Raum nicht schlechterdings allzu lange, wenn nicht ewig umsonst warten müssen, wenn sie a priori mit Hilfe der Verhältnisse der regulären Körper bewerkstelligt wird statt auf Grund von Beobachtungstatsachen, die a posteriori gewonnen werden.“
„Es ist richtig, dass mein System noch durch Beobachtungen bestätigt und dass es vielleicht auch modifiziert werden muss“, antwortete der Schwabe.
„Diese Beobachtungen solltest du aber nicht von diesem Turm machen“, warf Salametti dazwischen. „Denn der Ausblick auf den Raum ist ziemlich von oben herab und im Übrigen verstellt durch die hohen Zinnen, welche dich umgeben.“
„Ich mache nicht nur eigene Beobachtungen. Ich benutze vor allem die umfangreichen Aufzeichnungen über die Beobachtungen des Raumes, die mir mein dänischer Lehrmeister hinterlassen hat. Seit einiger Zeit stelle ich allerdings auch gänzlich neue Überlegungen an. Dabei ergaben sich Hinweise darauf, dass die Verhältnisse der Dinge des Raumes möglicherweise nicht durch Kreise sondern durch Ellipsen bestimmt sind. Wenn dies der Fall sein sollte, wird es unabsehbare Auswirkungen auf unser Bild vom Raum und die Verhältnisse der Dinge, die sich darin befinden, zueinander und natürlich auf meine Modelle haben, so ungeheuerlich, dass ich noch gar nicht darüber nachzudenken wage. Ich werde mich aber von der Möglichkeit solcher Umwälzungen nicht beirren lassen und weiterforschen, bis ich die wahren Gesetze dieses Raumes erkannt habe. Allerdings bin ich fest davon überzeugt, dass diese Gesetze auch dann, wenn sie anders lauten sollten, als ich es bisher angenommen habe, vollkommen sind und dass alles harmonisch zusammenklingt, so wie Musik.“
„Ihr seid, wie ich sehe, noch mitten in außerordentlich gewichtigen Überlegungen“, stellte Piranesi fest. „Auch ihr könnt uns daher vorläufig nicht weiterhelfen. Wir werden wohl weiter auf unsere wandernde Weise versuchen müssen, mit diesem Raum zurecht zu kommen.“
XI
Darauf machten sich Piranesi und Salametti wieder auf den Weg. Als sie aus dem Turm traten, bemerkte Piranesi, dass über dem Eingang eine Figur mit zwei Gesichtern angebracht war, die in entgegen gesetzte Richtungen blickten.
Draußen meinte Salametti: „Nach dem, was wir von dem Maler gehört haben, hätte ich gedacht, dass wir niemanden mehr finden würden, der den Raum derart aus der Höhe und ‚nach Wunsch’ mit Hilfe von Figuren zu verstehen versucht, die irgendein Grieche vor über zweitausend Jahren ausgeklügelt hat.“
„Es könnte sein, dass die Künstler mehr vom Raum wissen, als die Naturphilosophen, was mich übrigens nicht weiter wundern würde“, sagte Piranesi. „Allerdings könnte die Denkweise dieses Mannes doch eine Rolle für das künftige Verständnis des Raumes spielen.“
„Mir kommt sie ziemlich widersprüchlich und irgendwie unausgegoren vor.“
„Ist sie wohl auch. Aber der Widerspruch ist selber zweideutig. Er kann ein Hinweis darauf sein, dass etwas unsinnig ist. Er kann aber auch weiterführen.“
„Wie soll ich das verstehen?“
„Hast du die Figur mit den zwei Gesichtern gesehen, die über dem Eingang des Turmes angebracht ist? Die Römer haben auf diese Weise den Gott Janus dargestellt, der für sie besonders wichtig war, übrigens ein Gott, den sie nicht von den Griechen übernommen haben, was zeigt, dass sie keineswegs nur im Schlepptau derselben waren. Janus war für die Römer der Gott des Anfangs, weswegen der Januar, den man nach ihm benannte, der erste Monat des Jahres ist. Allerdings war es ein Anfang, der sich, wie das Jahr, immer wiederholte.“
„Wie das Ei – ein alter und doch immer wieder neuer Anfang.“
„So kann man es sehen. Janus blickt mit einem Gesicht, einem alten, in die Vergangenheit, mit einem anderen, einem jungen, in die Zukunft. Die beiden Gesichter sind aber zwei Seiten eines Kopfes, was sagen soll, dass der Anfang immer auch ein Ende ist und dass also die Sicht auf die Zukunft immer in einem Zusammenhang mit dem Blick in die Vergangenheit steht. Vielleicht liegt die Bedeutung der Denkweise dieses Mannes nicht darin, dass er den Raum anhand der uralten Polyeder zu verstehen versucht, sondern, dass er im Raum das sieht, was diesen idealen Figuren in allgemeinerer Weise gemeinsam ist, nämlich die Grundsätze der Geometrie, letztendlich also Zahlen und ihre Verhältnisse. Diese alte Vorstellung könnte Teil des Neuen sein.“
„Das sind im Augenblick aber noch ungelegte Eier.“
„Sagen wir unausgebrütete – oder besser angebrütete“, antwortete Piranesi. „Immerhin ist der Mann, der ja noch jung ist, bereit, die alten Vorstellungen einer Prüfung anhand der Tatsachen zu unterziehen, woran der Grieche, schon weil er die Realität der Tatsachen bezweifelte, nie gedacht hätte.“
XII
Unter dieser Unterhaltung gelangten die beiden zu einer breiten Treppe, die rechts und links von gewaltigen Rüstungstrophäen flankiert war.
Auf ihren unteren Stufen saß unter zwei majestätischen Bannern ein Mann in alt-englischer Tracht, der immer wieder fein geschnittenes Schinkenfleisch in eine heiße Pfanne legte, um alsdann die Veränderungen insbesondere der Größe, Dicke und Härte des dergestalt behandelten Fleisches zu messen und die entsprechenden Werte in einer langen Tabelle zu notieren.
„Was ihr braucht“, sagte der Mann, nachdem Piranesi ihm ihr Problem dargestellt hatte, „ist eine – in jedem Einzelfall – gültige Regel, nach der ihr einen zuverlässigen Anschluss der einzelnen Etappen der Raumwanderung erreicht. Ohne eine solche Regel werdet ihr jeden Anschluss, möglicherweise also tausende oder abertausende solcher Anschlüsse auf höchst umständliche Weise einzeln überprüfen müssen. Euer Fortschritt wird also langsamer als der einer Schnecke sein. Ihr könnt aber hoffen, dass ihr mit Hilfe eines Verfahrens, das ich entwickelt habe, schon nach einer gewissen Anzahl, vielleicht schon nach hundert Versuchen eine Regel findet. Mit diesem Verfahren werdet ihr nämlich feststellen, dass gelungene Anschlüsse Gemeinsamkeiten aufweisen. Dies wird euch helfen, die misslungenen Anschlüsse zu erkennen und schließlich zu vermeiden. Bei Anschlüssen, die Besonderheiten aufweisen, müsst ihr zunächst noch jeweils prüfen, ob auch sie der Regel standhalten. Ist dies in einer Anzahl der Fall, die ausreichend groß ist, so mögt ihr davon ausgehen, dass die Regel allgemeine Gültigkeit besitzt. Wenn nicht müsst ihr eine neue finden.“
„Mein Freund Pietro stellt endlose Listen über die Zahlen auf, die beim Würfeln mit seinen Freunden gefallen sind“, warf Salametti ein. „Er sucht darin die Regel, nach der sich die Zahlen wiederholen, um einen Vorteil gegenüber seinen Spielkumpanen zu haben. Er war sich immer wieder sicher, diese Regel gefunden zu haben. Wenn es aber darauf ankam, hat er doch so oft wie immer verloren.“
„Ihr müsst beim Erstellen der Regel sehr sorgfältig sein“, fuhr der Engländer fort, „auf dass ihr am Ende nicht in die falsche Richtung geht. Das Problem sind dabei die Idole, denn sie halten euch davon ab, eurem eigenen kritischen Urteil zu folgen. Nicht selten setzt der Mensch eine Ordnung der Dinge voraus, die sich nicht wirklich feststellen lässt. Dies ist ein Idol der Menschennatur. Idole der Höhle etwa sind Vorlieben, die ihr selber habt. So kann euch euere Eile, diesen Raum zu verlassen, zu voreiligen Lösungen verführen. Gefährlich sind insbesondere die Idole des Marktes, die euch durch die Suggestion von Begriffen verleiten. Begriffe sind ja nichts anderes als Vereinfachungen, die sich unser Geist zur Erleichterung der Orientierung geschaffen hat. Sie sind daher mit großer Vorsicht zu verwenden. Ähnliches gilt für die Idole der Bühne, worunter ich die hergebrachten Gewohnheiten von Denksystemen verstehe. Hier hat vor allem der schriftgewaltige Schüler des berühmten griechischen Weisen viel Verwirrung gestiftet, der verschiedene Abhandlungen über die Logik als dem Werkzeug der Wissenschaft geschrieben hat, welche unter dem Titel ‚Organon’ zusammengefasst wurden. Er hat geglaubt, dass die Dinge des Raumes durch bloßes Nachdenken und Schlussfolgerungen zu verstehen seien und damit die Naturphilosophie zum Leibeigenen seiner Logik gemacht. Diese Logik setzt aber immer erst ein, wenn der Irrweg längst eingeschlagen ist. Wir brauchen daher dringend ein Neues Organon und daher habe ich ein solches verfasst. Weiter gibt es die Idole der Schule. Sie bestehen in der Annahme, dass einige Grundregeln blind hingenommen werden können. Davor will ich euch besonders warnen. Denn nicht selten ist das am unsichersten, was wir nicht in Frage stellen. Alles in allem sollt ihr bei der Arbeit weder einer Spinne gleichen, welche die Dinge aus ihrem eigenen Inneren heraus spinnt, noch sollt ihr Ameisen sein und nur zusammentragen. Seid wie die Bienen, die sammeln und ordnen.“
Während dieser Ausführungen war Piranesi bleich geworden. Eine Regel nach hundert Etappen und das auch nur möglicherweise! „Nicht genug, dass ich mich in einem Raum verlaufen habe, den ich nicht begreifen kann“, dachte er bei sich. „Der Aufwand, der erforderlich ist, um ihn zu verlassen, scheint auch noch seinem Ausmaß zu entsprechen, ganz abgesehen davon, dass ich diesen Hühnerfreund mit mir schleppen muss, der kaum mit der tabellarischen Genauigkeit vorgehen wird, die der Engländer fordert.“
XIII
Unterdessen mischte sich ein Italiener in das Gespräch, der ein Fernrohr in der Hand hielt.
„Auch Ameisen ordnen“, warf er ein, „sonst wüssten sie nicht, was sie zusammentragen sollen. Denn wir gehen, auch wo wir nur zu sammeln scheinen, mit einer Vorstellung an das Werk, darüber nämlich, warum und zu welchem Zweck wir dies tun. Diese Vorstellung kann aber mehr oder weniger entwickelt sei. Es ist daher eine große Vereinfachung, wenn ihr die erste und größte Arbeit in die Entwicklung einer zweckmäßigen Vorstellung, also einer vorläufigen Regel steckt, zumal ihr, anders als Ameisen und Bienen, die Fähigkeit habt, dies bewusst zu tun und ihr euch, wenn ihr es nicht ausdrücklich tut, unbewusst ohnehin so verhaltet, nur eben unkontrolliert. Die Überprüfung dieser Hilfskonstruktion, den Vergleich also mit der Wirklichkeit, könnt ihr ohne weiteres später anstellen und eure vorläufige Regel dann, so weit erforderlich, korrigieren oder aufgeben. Denkt euch also einen Vorwurf mit dem möglichen Ergebnis aus, der die Dinge in ähnlicher Weise zusammenzieht, wie dieses Fernrohr die Distanzen. Je besser der Vorwurf, desto schneller habt ihr eine brauchbare Regel. Wenn ihr so vorgeht, braucht ihr mit großer Wahrscheinlichkeit weit weniger als hundert Versuche.“
„Noch so ein Künstler“, sagte Salametti und wollte weitergehen, wurde aber von Piranesi zurückgehalten, der erklärend hinzufügte:
„Wir haben vor kurzem einen Maler getroffen, der mit einer ähnlichen Methode ans Werk ging. Er konnte uns aber nicht weiterhelfen.“
„Solche Vorwegnahmen haben in der Tat etwas von der Vorgehensweise des Künstlers“, sagte nun wieder der Engländer. „Denn sie öffnen den Idolen Tür und Tor. Über diese Hilfskonstruktionen können Erwartungen, Wünsche und Illusionen, aber auch Interessen ins Spiel kommen, nicht zuletzt solche, die euch gar nicht bewusst sind. Und diese Vorlieben können nicht nur die Richtung eurer Forschungen bestimmen, sondern auch auf die Interpretation der Ergebnisse zurückwirken, die ihr erreicht zu haben meint. Haltet euch lieber an die Dinge selbst und zwar an ihre wesentlichen Eigenschaften und das sind solche, die ihr messen und zählen könnt.“
„Ihr streitet um Huhn und Ei“, warf nun Salametti dazwischen und fing laut an, einen italienischen Gassenhauer auf den Text zu trällern: „Ob`s Huhn war vor dem Ei, das ist doch einerlei, denn ganz wie dem auch sei, es gibt nun mal die zwei.“
Die drei anderen schwiegen verblüfft. Nachdem die letzten Töne des Liedes vielfach gebrochen im Raum ausgeklungen waren, fing der Engländer wieder an, mit Schinken und Pfanne zu hantieren, wobei er nach jeder Aktion seine tabellarischen Notizen ergänzte. Offenbar hatte er schließlich eine Regel gefunden, die ihm vorläufig ausreichend schien, denn er machte sich nun an die Erweiterung des Versuchsprogramms. Er schickte sich an, dem Schinken ein Ei hinzuzufügen.
„Ich werde mit meiner Methode bald heraus haben, was das beste Frühstück für England ist“, meinte er und wollte gerade das Ei am Rand seiner Pfanne aufschlagen, als sich Salametti mit dem Schrei „Das ist mein Ei“ auf den Engländer stürzte, um ihm dasselbe aus der Hand zu reißen.
„Bei Eiern ist Vorsicht geboten“, entgegnete dieser mit der Ruhe eines englischen Gentleman, „schon weil sie leicht zerbrechen. Ein Ei gleicht zwar dem anderen, ihre Identität wäre jedoch erst einmal zu beweisen“. Und er fuhr in der Manier dessen, der mit Anschuldigungen dieser Art umzugehen weiß, fort:
„Den Beweis der Identität kannst du wegen der Ähnlichkeit von Eiern nur führen, indem du dein Ei gegen meines hältst. Offensichtlich bis du dazu aber nicht in der Lage, da du dein Ei ja vermisst. Du wirst also schwerlich nachweisen können, dass ich, wie du behauptest, eine Handlung begangen habe, die bestraft zu werden verdient. Deine Behauptung ist übrigens ein treffendes Beispiel für ein Idol der Höhle. Denn es war das Vorurteil des verletzten Eigentümers, das dich dazu verleitete, das Ei, welches ich in Besitz habe, für das deine zu halten.“
„Du willst doch nicht etwa behaupten“, protestierte Salametti, „dass hier unten, wo Tiere allenfalls in Stein gehauen vorkommen und kein Korn wächst, ein Ei sei, das nicht von meinem flüchtigen Huhn stammt. Das nimmt dir kein englisches und nicht einmal ein römisches Gericht ab.“
„Gerichte“, antwortete der Engländer mit einer wegwerfenden Handbewegung und schlug das Ei auf. Er zerrührte es neben dem Schinken, der sich mittlerweile mächtig gewellt hatte, und machte dazu eine Miene, als habe er die Menschheit, zumindest aber einem außerordentlich wichtigen Teil derselben, um eine nutzbringende Entdeckung bereichert. „Baken and eggs!“ stellte er mit dem Stolz dessen fest, der die Macht hat, Dinge zu benennen und damit den Ausgangspunkt für alle weiteren Beschäftigungen mit dem Gegenstand zu setzen.
„Übrigens kann ich dir einen Tipp für ein Experiment geben, das für dich sehr nützlich sein dürfte“, sagte der Engländer, um Salametti zu beruhigen. „Als Hühnerhändler hast du, zumal in der Sommerhitze Roms, doch immer das Problem, deine geschlachteten Hühner frisch zu halten. Versuche einmal, ob du ihre Haltbarkeit dadurch erhöhen kannst, dass du sie mit Schnee oder Eis füllst. Das Experiment ist sehr einfach, denn ein Misserfolg lässt sich leicht feststellen. Allerdings solltest du aufpassen, dass du dich dabei nicht erkältest. Das kann einem das Leben kosten.“
Während Salametti mit dem Engländer um das Ei stritt, hatte sich Piranesi auf die Suche nach einer Regel für die Etappenanschlüsse begeben. Er begann zu zeichnen und überdachte alle bisherigen, insbesondere die letzten Anschlüsse, indem er Brücken und Galerien, Wände und Gänge abschritt und von allen Seiten begutachtete. Die Ergebnisse notierte er sorgfältig in einer Art Protokoll, das im Laufe der Zeit zu einer langen Liste anwuchs. Bald rauchte ihm der Kopf von all den Überlegungen und Beobachtungen, zumal er sich zwischen den Vorschlägen des Engländers und denen des Italieners nicht recht entscheiden konnte. Das Ergebnis war, dass es ihm nicht gelang, eine für alle Fälle gültige Regel aufzustellen.
Nach einiger Zeit trat der Italiener, der Piranesis hilflosen Versuche beobachtet hatte, wieder auf ihn zu und sagte:
„Du mühst dich damit ab, Gegebenes und Mögliches in den Griff zu bekommen und findest keinen Weg durch die Fülle der Dinge. Dabei steht alles in einem großen Buch geschrieben, das stets offen vor deinen Augen liegt. Doch du kannst die Regeln, nach denen alles aufgebaut ist, nicht verstehen, wenn du nicht zuvor die Sprache und die Schriftzeichen erlernst, mit denen das Buch geschrieben ist. Diese Sprache ist, das hat der Engländer verkannt, Mathematik und die Schriftzeichen sind Dreiecke, Kreise und sonstige geometrische Figuren.“
„Don Fiore“, wandte Salametti ein, „sagt, es gebe nur ein Buch, in dem alles über die Welt geschrieben stehe – und das ist kein Mathematikbuch.“
„Ich kenne ihn und seinesgleichen besser als mir lieb ist. Sie berufen sich auf das heilige Buch und auf die Schriften eines Griechen, dem Schüler des großen griechischen Weltweisen, dem sie, wiewohl er doch wahrlich ein Heide war, fast schon den Status eines Heiligen einräumen. In Wirklichkeit haben sie aber keine Ahnung davon, wie man diesen Raum verstehen kann. Dafür sind sie aber sehr empfindlich. Ich fürchte, ich habe sie beleidigt, weil ich ihre naiven Meinungen über die Verhältnisse des Raumes, die auf den abwegigen Vorstellungen des Griechen beruhen, in einem Dialog einer Figur namens Simplicio in den Mund gelegt habe.“
„Ich finde es auch nicht fair, Menschen mit Namen zu belegen, gegen die sie ständig anzukämpfen haben“, sagte Salametti.
„Besonders geärgert hat sie wahrscheinlich, was ich Simplicio, der bei vielen Diskussionsbeiträgen ohnehin nicht eben die beste Figur macht, am Schluss des Dialoges gegen mein Argument vorbringen ließ, man könne die Richtigkeit einer Theorie über das Eintreffen der Effekte nachweisen, welche sie vorhersagt. Ich habe Simplicio – auf eine Bemerkung anspielend, die der Papst mir gegenüber einmal gemacht hatte – einwenden lassen, dass eine solche Vergewisserung schon deswegen fragwürdig sei, weil Gott diese Effekte immer auch auf einem anderen Weg hervorbringen könne. Dadurch hat sich der Papst, der mir bis dato durchaus gewogen war, offenbar unter seinem Niveau dargestellt gefühlt, ein Niveau das übrigens keinesfalls das schlechteste ist.“
„In solchen Dingen verstehen die hohen Herren keinen Spaß“, sagte Salametti. „Angesichts von Santa Maria sopra Minerva muss dich wirklich der Hafer gestochen haben.“
„Manches bewegt sich eben erst, wenn man es auf die Schippe nimmt. Das Ende vom Lied war, dass sie mich tatsächlich nach Santa Maria sopra Minerva zitiert haben, wo sie ja schon manchem Kollegen übel mitgespielt, und dass sie mir den Prozess gemacht haben. Ich habe meinerseits versucht, mit ihnen zu spielen, indem ich behauptete, dass die – durch Beobachtungen natürlich wohlbegründeten – Meinungen über den Raum, welche die beiden anderen Gesprächspartner in meinem Dialog vertreten, nicht die meinen seien, sondern nur Gegenpositionen, welche den Problemstand verdeutlichen sollten. Sie haben mir aber, was immerhin für ihren richterlichen Scharfsinn spricht, nicht geglaubt und haben mich zu Kerkerhaft verurteilt.“
„Weshalb du jetzt hier bist?“, fragte Piranesi.
„In gewisser Weise. Die Haft wurde kurz darauf in Hausarrest umgewandelt, weswegen ich mich hier eigentlich zu Hause fühle. Außerdem musste ich schwören, stets geglaubt zu haben, gegenwärtig zu glauben und in Zukunft mit Gottes Hilfe zu glauben, dass alles das, was Fiore und seine Genossen für wahr halten, predigen und lehren, wahr ist, wobei ich allerdings fürchte, dass der Teil ihrer Forderung, der die Zukunft betrifft, selbst die Fähigkeiten dessen übermäßig strapazieren könnte, der sich, wie ich, um nichts mehr bemüht, als darum, die Zukunft berechenbar zu machen. Schließlich musste ich, damit ich nicht mehr auf falsche Gedanken komme, drei Jahre lang jede Woche die sieben Bußpsalmen beten, was ich aber auf meine Tochter delegiert habe, mit der Folge, dass mir doch wieder allerhand interessante Gedanken gekommen sind. Das ganze Theater konnte nämlich nichts an meiner Überzeugung ändern, dass derjenige, der hier einen Weg ausmessen möchte, bestimmen muss, in welchem Verhältnis die Dinge des Raumes zueinander stehen, und dass er dazu die Gesetze studieren muss, welche zwischen ihnen herrschen.“
„Wie lernen wir diese Gesetze kennen?“, fragte Piranesi.
„Vielleicht kann dir hierbei ein Franzose helfen, der sich mit diesen Dingen viel befasst hat, insbesondere damit, wie man die idealen Denkformen, die wir aus der Mathematik kennen, auf die Tatsachen, wie man also gewissermaßen die Algebra auf die Geometrie anwenden kann.“
„Und wo finden wir den Franzosen?“, fragte Piranesi.
„Wenn er denkt, ist er da“, antwortete der Italiener, fügte aber gleich hinzu, dass er, nicht zuletzt um sich ein Theater der geschilderten Art zu ersparen, sehr zurückgezogen lebe, sich nur ungern in seiner Ruhe und Muße stören lasse und im Übrigen spät aufstehe. In der Tat fanden sie den Franzosen erst nach einigem Suchen in einem abgelegenen Raum, der sich durch ungewöhnlich übersichtliche Formen auszeichnete. Er saß gedankenversunken in einer großen fensterartigen Öffnung und blickte in die Welt hinaus.
XIV
„Ihr seid lange ohne eine klare Vorstellung durch diesen Raum geirrt“ sagte der Franzose zu Piranesi, nachdem dieser ihm sein Problem geschildert hatte. „Euch fehlte aber das Mittel, ihn in den Griff zu bekommen. Daher seid ihr von dem ausgegangen, was ihr mit euren Augen wahrgenommen habt. Unsere Sinne können uns aber täuschen. Das, was ihr seht, ist nicht notwendig das, was ist. Vermutlich seid ihr deswegen auf keinen rechten Weg gekommen. Wir werden daher anders an die Sache herangehen müssen. Wenn wir eine feste Basis für unsere Überlegungen haben wollen, müssen wir zuerst einmal alles in Zweifel ziehen. Nur so können wir verhindern, dass wir einem Vorurteil erliegen.“
„Ähnliches sagte uns schon ein schinkenbratender Engländer“, warf Piranesi ein. „Schon dabei wussten wir kaum mehr, an was wir uns eigentlich halten sollen. Und dies hat uns in die Schwierigkeiten geführt, in denen wir nun stecken.“
„Es gibt einen Ausweg aus dem Dilemma“, sagte der Franzose. „Er resultiert daraus, dass man nicht alles bezweifeln kann. Wir können die Tatsache, dass wir zweifeln – und das heißt, dass wir denken -, nicht selbst bezweifeln. In diesem Umstand haben wir einen festen Ausgangspunkt und von ihm aus können wir nach einer klaren Methode Schritt für Schritt alles wieder aufbauen, was wir durch den Zweifel aufgehoben haben. Wir müssen aber kleine Schritte gehen. Dass ihr Schwierigkeiten mit dem Weg hattet, lag unter anderem daran, dass ihr euch zu viel vorgenommen habt. Dadurch erschien der Weg verwinkelt und dunkel. Aber nicht die Wirklichkeit ist dunkel, sondern die Vorstellung, die wir uns davon machen. Um zu einer klaren Vorstellung zu gelangen, muss das Problem in seine einzelnen Elemente zerlegt werden, so weit, bis man zu Sätzen kommt, an deren Richtigkeit niemand zweifeln kann.“
„Was sind aber die Grundelemente all dessen, was um uns herum ist“, fragte Piranesi.
„Es sind Säulen und Architrave, Bögen und Giebel, mit anderen Worten Linien, Drei- und andere Vielecke und Kreise. Überall in diesem Raum sehen wir, mehr oder weniger versteckt, solche geometrischen Formen, ja ich möchte so weit gehen zu sagen, dass alles was ist, geometrisch ist. Geometrisches lässt sich, wie ich bewiesen habe, in mathematischer Sprache ausdrücken. Dies bedeutet, dass wir unser Problem mit den Mitteln der Mathematik angehen können. Damit erreichen wir eine klare Vorstellung von den Dingen, so klar nämlich wie die reinen Formen der Mathematik. Ja noch mehr wird möglich. Wir werden mit dieser Methode nicht nur unseren jetzigen Standpunkt richtig beschreiben können. Wir werden ganz allgemein die Gesetze finden, nach denen die Dinge im Raum existieren. Und das bedeutet nichts anderes, als dass ihr die Dinge begreifen werdet, noch bevor sie da sind. Wir werden daher auch euren künftigen Standort beschreiben können und zwar mit eben jener mathematischen Exaktheit, welche die Dinge offenbaren, wenn man sich ihnen mit der richtigen Methode nähert. Am Ende werdet ihr feststellen, dass nicht nur das nicht ist, was ihr seht, sondern dass geradezu das ist, was ihr nicht seht.“
Während Salametti irgendetwas von Eiern einer Henne murmelte, die von keinem Hahn bestiegen worden sei, begannen Piranesi und der Franzose sich in allerhand Formeln zu vertiefen. Letzterer zeichnete emsig verschiedene Kurven zwischen senkrecht aufeinander stehenden Geraden und machte lange Berechnungen, die zu Piranesis Verwunderung immer in kurzen Gleichungen endeten. Schließlich verkündete er, dass er das Problem der Berechnung des weiteren Wegs im Grundsatz gelöst habe. Er erläuterte seine Lösung am Beispiel einer ebenen Kurve, wobei er zur Verdeutlichung auf den mächtigen Brückenbogen verwies, der vor ihnen den Raum überspannte.
„Der Bogen dieser Brücke gehorcht meiner Gleichung“, sagte er stolz. „In gleicher Weise werdet ihr auch Säulen, Pfeiler, Gewölbe, Architrave und all die anderen Dinge in diesem Raum in den Griff bekommen. Mit meiner Methode könnt ihr also alle Schwierigkeiten lösen, die bei der Fixierung der gesuchten Linie etwa noch auftauchen können. Die Dinge werden so sein, wie ihr sie zuvor errechnet habt.“
„Wenn du Recht hast, würde mit deiner Methode ein Menschheitstraum in Erfüllung gehen“, sagte Piranesi. „Du schließt von Verallgemeinerungen, die du aus vorangegangenen Erfahrungen mit Ursachen und Wirkungen gezogen hast, auf konkrete Ereignisse, die vor uns liegen, von Vorangegangenem also auf das Folgende. Dabei meinst du, dass zwischen beiden Zuständen ein zwingender Zusammenhang bestehe.“
„Womöglich wie zwischen Ei und Huhn“, warf Salametti ein.
„Ja, ja, wie Huhn und Ei“, wiegelte Piranesi ab und fuhr fort: „Du leitest also aus etwas Vergangenem ein Versprechen auf etwas Zukünftiges ab. Damit bedienst du den Traum der Menschen, möglichst Gewissheit über die Zukunft zu erhalten. Die Methode erinnert mich an das Verfahren eines Juden, den wir unterwegs getroffen haben. Er verkündete ausgehend vom dem, was schon geschehen ist, dass es auf ein Endziel, nämlich die Erlösung von allem Übel zugehe. Er versuchte dabei die Notwendigkeit des Zusammenhanges zwischen Ausgangs- und Zielpunkt durch ein kunstvolles Geflecht von ankündigender Vorausschau und bestätigender Rückbezüglichkeit glaubhaft zu machen, welches das Muster dafür wurde, wie Seinesgleichen schließlich das Alte und das Neue Testament und letzteres mit dem Jüngsten Tag verknüpft haben. Bei dieser Art zu Denken ist allerhand Glaube und vor allem Hoffnung im Spiel, was, wie ich fürchte, der Grund dafür ist, dass wir das Ziel, das er uns voraussagte, nie erreicht haben. Ich frage mich daher, ob deine Art der Verknüpfung von Vergangenem und Zukünftigem nicht auch von einer Zuversicht lebt, wie sie der Glaube gibt, ob deine Prognose also vielleicht nur eine neue Form der Prophetie ist, die nur dem Gläubigen und selbst diesem nicht auf Dauer Sicherheit gibt. Muss man nicht befürchten, dass die Hoffnung auf ein Ziel, auf ein angestrebtes Ergebnis und seine mögliche Verwendbarkeit, dass also der vorausgesetzte Zweck die Verknüpfung von Vorangegangenem und Künftigem beeinflusst und dass daher nicht die Erkenntnis des wahren Zusammenhanges der Dinge, sondern die Richtung herauskommt, die deinen Erwartungen oder gar Wünschen entspricht? Laufen wir auf die Weise nicht wieder Gefahr, uns nur vorzustellen, dass wir in die richtige Richtung gehen?“
„Man sagt doch,“ fügte Salametti hinzu, „es gebe viele Wege nach Rom. Ich wette, dass die Beschränkung auf eine Linie zur Folge hat, dass man die Straßen verpasst, in denen entscheidende Dinge geschehen.“
„Mathematische Schlüsse sind folgerichtig und daher zwingend“, antwortete der Franzose. „Wenn die Voraussetzungen stimmen, werdet ihr daher notwendig die richtige Richtung einhalten.“
„Wenn sie stimmen!“, warf Salametti ein.
„Wenn dem so ist“ sagte Piranesi,“ dann frage ich mich, warum andere große Völker nicht auch solche scheinbar zwingenden Methoden hervorgebracht haben. Die Alten etwa haben große Bauten erstellt und auch sonst Dinge geleistet, die uns noch heute in Erstaunen versetzen, ohne dass sie eine derartige Verknüpfung von Vergangenem und Künftigem gekannt hätten. Dem entsprechend war ihnen auch die Vorstellung, dass die Entwicklung auf einen Endpunkt zulaufe, nicht bekannt. Sie waren vielmehr davon überzeugt, dass das, was sich in der Zukunft ereignet, von der gleichen Art sein wird wie das, was bereits geschehen ist und dass sich daher alles wiederhole. Natürlich haben sie, wie alle Menschen, auch etwas über die Zukunft erfahren wollen. Dafür haben sie aber das Orakel befragt, das ihnen eine mehr oder weniger genaue Auskunft gab, an die sie sich schicksalsergeben gehalten haben. Der Gedanke, die Zukunft beherrschen oder gar vorherbestimmen zu wollen, war ihnen hingegen völlig fremd. Ähnliches soll auch von den Chinesen gelten, die, wie man neuerdings hört, möglicherweise noch Größeres als die Römer geleistet haben, und etwa auch von den Ägyptern, die uns in allem vorausgegangen sind. All diese Völker hatten keine Propheten der Art, wie man sie bei den Juden findet.“
„Die Leistungen der Römer und all der anderen großen Völker beruhen im wesentlichen auf der bloßen Erfahrung“, antwortete der Franzose. „Sie haben festgestellt, dass eine Brücke nicht zusammenbricht, wenn man sie tief fundiert und mit möglichst großen Quadern baut. Auch auf diese Weise kann man Großes zustande bringen.“
„Wenn man das römische Reich als Ganzes betrachtet, haben die Römer sogar mehr zu Stande gebracht als wir. Wir haben nur in wenigen der Gebiete, welche einmal zum römischen Reich gehörten, Wohlstand und fast nirgends Frieden erreicht“, warf Piranesi ein.
„Die Alten kannten aber nicht die unsichtbaren Gesetze, welche der innere Grund dafür sind, dass eine Brücke etwa stabil ist, weswegen sie beim Bau meist weit mehr getan haben, als für den Zweck, den sie erreichen wollten, notwendig gewesen wäre. Diese Gesetze aber sind mathematischer Natur. Die Römer und die Völker, die ihr genannt habt und auch noch einige andere, haben sich, da sie nicht recht in der Lage waren, die Mathematik auf die Dinge der Natur anzuwenden, im Wesentlichen im Kreis bewegt.“
„Wir haben einen alten Griechen getroffen, der uns riet, auf einer geraden Linie zu gehen. Er hatte ein Buch voller mathematischer Formeln und Zeichnungen von geometrischen Körpern bei sich. Ein Deutscher hat uns ein Buch eines anderen Griechen gezeigt, welcher der Meinung war, dass die regulären geometrischen Körper dem Aufbau der Welt zu Grunde liegen. Auch die Bauwerke der Alten, allen voran ihre Tempel, sind, wie ich bei meinen Gebäudeaufnahmen festgestellt habe, sehr genau durchkalkuliert. Sie sind, so weit ich sehe, gänzlich linear und symmetrisch. Das unterscheidet sie deutlich von den Hervorbringungen der Chinesen, die meist bewegt und geschwungen und mit Ausnahme der runden Form, die sie liebten, weit weniger linear sind, eine Lebensfülle, die wir ja neuerdings, vor allem mit unseren Wasserpflanzen- und Muschelornamenten, kräftig nachzumachen bemüht sind. Ähnlich geordnet ging es auch beim Bau der römischen Städte zu, die sehr sorgfältig geplant sind. Die Art wie die Römer die beiden Hauptstraßen einer Stadt, die decumanus maximus und die cardo maximus im rechten Winkel aufeinandergestellt und an Hand dieser die ganze Stadt aufgeteilt haben, erinnert stark an die Achsen der Koordinatensysteme, in die du deine Kurven zeichnest. Selbst durch das von Alters gewachsene Gewirr von Rom haben sie eine vollkommen gerade Linie gezogen, die als Via del Corso noch heute vorhanden ist.“
„Ich kann nicht bezweifeln, dass die Alten einen Keimling für die Früchte gesetzt haben, die wir jetzt ernten. Es gab einzelne Forscher, die versucht haben, den Dingen auf den unsichtbaren Grund zu gehen und sie mathematisch zu erfassen, etwa der bekannte Grieche aus Syrakus, der sein Aha-Erlebnis in der Badewanne hatte. Auch haben ihre Astronomen den Himmel zu berechnen versucht und waren insoweit in gewissem Umfang in der Lage, Prognosen zu formulieren. Die Alten sind sich der Bedeutung ihres Ansatzes aber offenbar nicht voll bewusst geworden. Sie haben vor allem nicht versucht, die Erkenntnisse aus ihren Beobachtungen in übergreifenden mathematischen Theorien zusammenzuführen. Vielleicht wollten sie die himmlisch reinen Formen der Mathematik nicht mit dem Schmutz der irdischen Dinge beflecken. Vielleicht lag es auch daran, dass ihnen wirkliches mathematisches Denken erschwert war, weil sie die Null nicht kannten und sie daher die Zahlen so notierten, dass man mit ihnen nicht schriftlich rechnen konnte.“
"Willst du damit sagen, dass ich die Welt nicht verstehe, weil ich nicht gut schriftlich Rechnen kann?“, protestierte Salametti. „Ich kann dir garantieren, dass ich mich beim Verkauf von Hühnern und Eiern noch nie zu meinen Ungunsten verrechnet habe.“
„Die Römer“, fuhr der Franzose fort, „haben, um bei deinem Beispiel zu bleiben, zwar erkannt, dass sich eine Stadt leichter verwalten lässt, wenn man die Strassen im rechten Winkel zueinander führt. Sie haben daraus aber keine weitergehenden Schlüsse gezogen. Die Alten, allen voran die Griechen, haben nur geahnt, dass die Dinge viel mit Zahlen und Geometrie zu tun haben, und ergingen sich daher in allerhand Zahlenspielereien.“
„Das haben auch die Neuen getan“, warf Salametti ein. „Wir trafen einen jungen Deutschen, der sich in solchen Zahlenspielereien bei dem Versuch verfangen hatte, sich den Raum verständlich zu machen.“
„Die Dinge sind in der Tat noch ziemlich neu. Die Alten haben die Zahlenverhältnisse, sieht man einmal ab von Leuten wie dem Mann in der Badewanne, die keine rechten Nachfolger fanden, nicht aus den Tatsachen herausgezogen, sondern über dieselben geworfen, und dies aus Überlegungen, die meist wenig mit den Tatsachen, sondern mehr mit Gedanken über dieselben zu tun hatten. Erst wir, die wir das wahre Verhältnis der Zahlen zu den Dingen und damit die inneren Gesetze der Natur erkannt haben, können fortschreiten, denn wir können errechnen, was möglich ist und damit in gewissem Maße die Zukunft voraussehen. Nehmt meine Formeln und ihr werdet sehen, dass ihr damit wunderbar vorwärts kommt.“
XV
Damit schickte er die beiden wieder auf den Weg. In der Tat war Piranesi nach den ersten Anwendungen davon überzeugt, dass die Formeln des Franzosen geeignet seien, sie auf dem geraden Weg zu halten. Es kam ihm vor, als habe er einen langen dunklen Tunnel verlassen und sei in einen Garten mit vielerlei Sichtachsen getreten, in dessen Mitte zwischen heckengesäumten Parterren mit wunderbar symmetrischen Buchsbaumornamenten eine schnurgerade Allee verlief, deren Bäume von allen Seiten gleichmäßig beschnitten waren und dadurch die Form von Kästen angenommen hatten. Und so durchquerte er mit neuem Eifer den übersichtlicher gewordenen Raum. Salametti folgte ihm murrend im vereinbarten Parallelabstand.
Doch das errechnete Glück währte nicht unbegrenzt. Als sich entgegen den Versprechungen des Griechen beider Wege wieder einmal kreuzten, wartete Salametti mit der Behauptung auf, er habe abseits der Linie, die sie verfolgten, einen besseren Weg gefunden. Manche Erschwernisse und viele Hindernisse, so klagte er, täten sich erst auf, weil sie dieser Linie folgten.
„Ich hoffe, dass du diese Erkenntnis genügend gründlich in Zweifel gezogen hast, denn immerhin wirst du die Berechnungen widerlegen müssen, die ich auf Grund der Formeln des Franzosen angestellt habe. Und dazu hast du Beweise nach der mathematischen Methode zu liefern.“
„Mathematik hin oder her“ antwortete Salametti. „Du hantierst mit tauben Eiern. Ein Huhn sucht nicht nach Beweisen, sondern nach Futter. Dazu muss es nichts widerlegen, sondern allenfalls etwas wegscharren. Es würde sich auch nie an eine solche gerade Linie binden lassen, schlicht deswegen, weil es dann verhungern würde.“
„Hühner“ sagte Piranesi verächtlich, „Hühner“ mögen ihre Probleme auf diese oder jene Weise lösen. Uns, die wir mit Verstand gesegnet oder, wenn du willst, belastet sind, hilft das nicht. Ich fürchte, wir werden uns auf unsere Weise helfen müssen. Außerdem irrst du, wenn du glaubst, dass das Huhn frei seiner Wege geht. Es geht, wie mir der Franzose erklärt hat, seinem Bauplan gemäß vor, der von der Konsequenz eines mathematischen Modells ist und übrigens bereits im Ei vorliegt. Das Huhn ist nichts anderes als ein Automat, schon weil es nicht zweifeln kann. Und jetzt mach` dich wieder auf deinen Weg, auf dass wir vorwärts kommen.“ Widerwillig trottete Salametti zurück auf seine Parallele.
Nicht lange danach trafen beide erneut zusammen. Diesmal meldete Salametti Zweifel daran an, dass man sich auf einer geraden Linie befinde. „Woher weiß du eigentlich, dass wir geradeaus gehen?“ fragte er. Als Piranesi wieder auf den Franzosen und darauf verweisen wollte, dass dieser hierfür den grundlegenden Beweis nach den Regeln der Mathematik geliefert habe, fiel ihm Salametti ins Wort:
„Der Franzose hat Gebilde aus lauter regelmäßigen Linien gezeichnet. Gerades Rechnen führt zu geraden Ergebnissen. Woher aber weiß du, dass die Dinge in diesem Raum, an die du deine Linien, Dreiecke und Kurven anlegst, so regelmäßig sind wie die geo- metrischen Figuren. Weder Huhn noch Ei, die doch wahrhafte Dinge des Raumes sind, sind regelmäßig oder gerade. Wie weit würdest du kommen, wenn du sie mit Dreiecken und Linien erfassen wolltest?“
„Schaue dich doch in diesem Raum um, in dem wir uns bewegen“, antwortete Piranesi. „Alles was du hier siehst, Brücken und Balken, Giebel und Fenster, kann auf die Gerade zurückgeführt werden. Dies gilt selbst für Bögen und Rundungen, führt doch durch jeden ihrer Punkte die Gerade, die den Bogen tangiert, sodass man sagen kann, erst die Menge der Geraden mache den Bogen.“
„Das Runde besteht aus lauter Geraden?“, lachte Salametti. „Ebenso gut könntest du sagen, das Huhn bestehe aus lauter Eiern, nachdem doch jedes Huhn aus einem Ei hervorgeht. Hast du die Linie, die wir suchen, je gesehen? Tausend Bauwerke und Bauteile liegen dazwischen, die du nicht genau kennen kannst. Deine Linie ist vielleicht nicht mehr als ein Gespinst deines ausufernden Gehirnes.“
XVI
Unterdessen waren die beiden in einen Raum gelangt, dessen Mitte von einem gewaltigen Pfeiler beherrscht wurde, an dem Köpfe angebracht waren, welche Eisenringe im Mund trugen.
Auf dem Sockel des Pfeilers, vom dem sich in erhabener Symmetrie zwei mächtige Bögen in die Höhe wölbten, stand eine große Lampe, die den Raum weithin ausleuchtete. Von dort näherte sich den beiden Streithähnen ein anderer Engländer. Er trug eine lange Lockenperücke und hielt einen Apfel in der Hand, den er immer wieder in die Luft warf, als wolle er prüfen, welche Kraft auf ihn einwirkte, wenn er ihn wieder auffing.
„Ihr streitet, wie ich noch im übernächsten Gewölbe gehört habe, darüber, wie sich die Dinge im Raum zueinander verhalten. Warum streitet ihr? Es ist die Fülle der Dinge, die Unordnung und Unregelmäßigkeit suggeriert. Von einer höheren Warte aus betrachtet, lässt sich jedoch sehr wohl eine sinnvolle, weil einfache Ordnung erkennen. Natürlich mutet uns die Erde, auf der wir uns bewegen, unregelmäßig und geradezu ungeordnet an. Berge und Täler, Wälder und Felder, Bachläufe und Seen, Mensch und Tier scheinen regellos und chaotisch. Sobald ihr jedoch die Gesetze betrachtet, nach denen sich alle Dinge verhalten, findet ihr Einfachheit und Ordnung und wenige Regeln, die für alles gelten. Wasser etwa fließt auf Grund einer Kraft, die den ganzen Kosmos beherrscht, immer nach unten und schafft dadurch Täler, die wiederum die Höhen zu Bergen und die Vertiefungen zu Seen macht. Wälder und Felder leben nicht anders als Tier und Mensch von diesem Wasser nach immer gleichen Gesetzen. So greift alles auf klare Weise ineinander und eines ist ans andere angeordnet. Die Welt ist eine große Maschine, in der jedes Teil zu anderen Teilen gehört und eines vom anderen abhängt, in der alles bewegt und zugleich bewegt wird. Betrachtetet alles von großer Höhe und alsbald schwindet alles, was als einzelnes ein besonderes Sein zu haben scheint. Selbst unsere Erde, die so wunderbar vielgestaltig ist, wird, wenn ihr euch weit genug von ihr entfernt, zu einer einfachen Kugel in einem großen Spiel weiterer Kugeln, die nach ewigen Gesetzen umeinander kreisen.“
„Was nützt mir dieser Blick aus dem Weltraum“, protestierte Salametti. „Ich lebe am Tiberufer, wo ein ziemliches Gewirr herrscht, das heißt zur Zeit wäre ich gerne dort. Ich muss mit meinen Hühnern fertig werden und mit meinen Kunden, und dann auch noch mit den Frauen. Die hören nicht auf ewige Gesetze.“
„Und doch“, beharrte der Engländer, „können weder Kunden und Hühner noch Frauen etwas daran ändern, dass die Gegenstände im Raum nach einfachen Regeln zueinander geordnet sind und sich daher alles einfach berechnen und aufeinander beziehen lässt. Es ist somit durchaus möglich, die Linie zu errechnen, die ihr sucht. Mag sein, dass der Franzose sich die Rechnung angesichts der komplizierten Verhältnisse, die wir hier unten haben, etwas zu einfach gemacht hat. Aber es gibt differenziertere Methoden und ich bin gerne bereit, mit diesen alles noch einmal nachzurechnen, damit alles seine Richtigkeit hat.“
Damit begann er mit allerlei neuen Zeichen zu hantieren, stellte lange Reihen und Gleichungen auf und zeichnete Kurven, die immer steiler oder flacher werdend, ins Unendliche verliefen.
„Mein Ausgangspunkt ist“, sagte er schließlich, „dass die Gegenstände in einem Raum sind, der unendlich groß ist. Wollt ihr den Weg darin finden, so müsst ihr diese Größe in Rechnung ziehen. Es nützt nichts, wenn ihr euch mit den Strecken begnügt, die von einem zum anderen Gegenstand gehen, und dass ihr diese zu addieren versucht. Ihr müsst die Tatsache, dass die Reihe der Gegenstände unendlich ist, von vornherein mitberücksichtigen. Erst wenn ihr den letzten Wert der Größen dadurch bestimmt habt, dass ihr euch demselben unaufhörlich nähert, ohne ihn je zu erreichen, erst wenn ihr also das Verhältnis abnehmender Größen gefunden habt, könnte ihr von der Kenntnis dieser Verhältnisse zur Bestimmung des Verhältnisses zwischen endlichen Größen zurückkehren. Diese Kurven“, fuhr er fort, indem er auf seine Blätter deutete, „diese Kurven, die ich zuerst erfunden habe, obwohl mir ein Deutscher dies streitig zu machen versucht, berücksichtigen das Unendliche. Sie werden euch daher zeigen, wie ihr Richtung in den Raum bekommt.“
Er erläuterte ihnen ausführlich, wie die neuen Kurven zu handhaben seien. Dann verabschiedete er sich mit der Versicherung, dass seine Kurven ihnen nützlicher sein würden, als die seines deutschen Widersachers. Als Physiker verstehe er nämlich mehr von der Anordnung der Dinge im Raum als jener Alleswisser, der ohnehin Probleme mit den Realitäten habe, weil er sie nicht in den Dingen, sondern hinter ihnen suche, ein Fehler, der im übrigen auf dem Kontinent, der in diesen Dingen ziemlich tatsachenverachtend sei, in Anlehnung an einen weltfremden Griechen von Anfang an und immer wieder gemacht worden sei.
Piranesi und Salametti folgten auch diesem freundlichen Rat. Ein weiteres Mal vermaßen sie ihre Wege im gehörigen Parallelabstand und machten sich wieder auf den Weg durch das Gewirr der Architekturen.
Eine erstaunlich lange Zeit schien es, als kämen sie auf diese Weise gut voran und jeder ging fröhlich auf seinem Weg. Es schien, als seien viele der Probleme, mit denen sie sich zuvor herumgeschlagen hatten, ein für allemal gelöst. Die Fragen, die offen waren, erschienen nur als Details einer umfassenden Theorie, die den Raum im Ganzen erklärte. So herrschte bei ihnen die Zuversicht derer, welche die Gewissheit haben, auf einem festen Fundament zu stehen, von dem aus alle Einzellösungen abgeleitet werden können.
Der Mann wäre auch ein guter Baumeister geworden, ging es Piranesi durch den Kopf, während er seine Berechnungen nach der Methode des Engländers durchführte. Er hätte sicher Bauwerke erstellt, bei denen alles so gewesen wäre, wie es zu sein hatte. Jeder Teil wäre dort gewesen, wo er hingehörte und wäre notwendiger Ausdruck eines Ganzen gewesen, das nie mehr als die Summe seiner Teile ist. Noch lieber hätte der Mann allerdings wohl eine ganze Stadt gebaut, dachte Piranesi schließlich.
Obwohl dies nach ihren Berechnungen nicht hätte passieren dürfen, stießen Piranesi und Salametti nach einiger Zeit dann aber doch wieder aufeinander. Dabei entwickelte sich der folgende Disput:
„Du rechnest mit den Gegenständen im Raum“, sagte Salametti. „Deine Mathematiker sagen, dass deine Rechnungen richtig sind. Aber ist auch der Raum richtig? Passen deine Rechnungen zum Raum? Was ist das überhaupt für ein Raum, der ein Ende haben soll, das wir suchen, und der zugleich ohne Ende sein soll, wie der Engländer behauptet. Ich würde mich nicht wundern, wenn bald jemand käme und uns erklärte, man könne sich den ganzen Baukram in diesem Raum, an den wir ja alle unsere Berechnungen hängen, begrenzt und zugleich unbegrenzt teilbar vorstellen. Was soll man von solch unklaren Verhältnissen halten?“
„Dieser Hühnermensch stellt merkwürdige Fragen“, dachte Piranesi. „Wie könnte ein Mensch ein Haus bauen, wenn er solche Überlegungen zu berücksichtigen hätte?“
Während Piranesi noch darüber grübelte, ob diese Fragen Sinn machen, bemerkte er in einiger Entfernung wieder den lockigen Engländer, der mit allerlei Messungen und Verrichtungen zu Gange war. Nachdem Salametti ihm keine Ruhe ließ und weiter am Raum herumnörgelte, legte Piranesi dem Engländer die Frage vor, nicht ohne sich zuvor von der merkwürdigen Fantasie Salamettis zu distanzieren.
„Die Frage nach der Struktur des Raumes ist nicht völlig unberechtigt“, antwortete der Engländer. „Sie ist aber sehr ungewöhnlich und wird eigentlich nie gestellt. Deshalb habe ich sie euch gegenüber, wiewohl ich mir darüber durchaus meine Gedanken gemacht habe, nicht aufgeworfen. Ich habe auch Zweifel, ob es eine wirkliche Frage ist. Ich bin nämlich davon überzeugt, dass der Raum seinem Wesen nach so beschaffen ist, dass er ohne Rücksicht auf etwas außer ihm Liegendes immer gleich und unbeweglich bleibt. Ihr könnt mit ihm also als einer festen Größe rechnen. Wäre der Raum nicht so, wie er ist, könnte nicht alles so ineinander greifen, wie es der Fall ist.“
„Das klingt so“, brummte Salametti vor sich hin, „als wolltest du sagen, wo ein Huhn ist, da ist auch ein Ei. Ich selbst könnte das nur wünschen, denn damit wäre ich meinen Problemen einen großen Schritt näher gekommen. Doch bislang habe ich nicht nur kein Ei gesehen, mir ist sogar das Huhn abhanden gekommen.“
XVII
In diesem Moment trat ein Deutscher hinzu und mischte sich mit Grundsätzlichkeit und Umständlichkeit, die den Vertretern dieses Volksstammes eigentümlich ist, in die Diskussion ein. „Ihr habt beide Recht und Unrecht“, begann er. „Der Raum erscheint uns in der Tat widersprüchlich, so wie es Salametti feststellte. Da das Sein aber nicht zugleich so und anders sein kann, müssen wir den Widerspruch nicht in der Sache, sondern bei uns, das heißt in der Tätigkeit unserer Vorstellung suchen. Und in der Tat erklärt sich der Widerspruch, wenn wir den Raum nur als menschliche Anschauungsform verstehen, die wir über die an sich zusammenhanglosen Empfindungen werfen, mit denen uns die Erscheinungen der Dinge affizieren. Der Raum ist also, wie die Zeit, die Grundlage unserer gesamten Sinnenwelt. Er ist aber nicht der Gegenstand unserer Empfindung, sondern nur eine – angeborene – Form, nach dem wir unsere sinnlichen Empfindungen anordnen. Diese Anschauungsform ist nun aber die des mathematischen Raumes, wie ihn jener Grieche schon vor langer Zeit beschrieben hat. Und so hat der Engländer doch wieder Recht, insofern als es uns nicht möglich ist, die Körper in einem anderen als jenem Raum vorzustellen. Mit anderen Worten, es ist müßig über die Struktur des Raumes zu spekulieren. Denn daraus folgt nichts für die nähere Bestimmung eures Weges. Ihr könnt ihn nicht anders als in diesem Raum, der euch vorgegeben ist, ermitteln.“
„Der will ein Hühnchen verspeisen, ohne zuvor die Schale des Eies zu zerbrechen, in dem es steckt“, murmelte Salametti, der es sich angesichts der Weitschweifigkeit des Deutschen inzwischen auf der Kante eines Simses bequem gemacht hatte. Piranesi, der all dem mit Verwunderung gefolgt war, brachte Salametti mit einem Rippenstoß zum Schweigen.
„Was willst du dagegen einwenden?“, sagte er, „immerhin können wir nun ohne weiteres wieder unserer Wege gehen.“ Er dankte dem Deutschen und sie setzten ihren Weg fort.
XVIII
Nach einiger Zeit war es wieder Salametti, der zu mäkeln begann. „Gut“ sagte er, „nehmen wir an, dass wir uns auf geraden Wegen befinden, wiewohl ich nicht verstehe, dass sie sich immer wieder kreuzen. Aber woher wissen wir, dass wir damit vorwärts kommen? Wer sagt uns, dass wir uns unserem Ziel überhaupt nähern? Ich sehe in diesem immer gleichen Gewirr von behauenen Steinen und hölzernen Konstruktionen nichts, was daraufhin deuten würde, dass sich irgendetwas ändern könnte. Ich wüsste daher gerne…“.
Salametti deutete plötzlich auf einen Mann mit hoher Stirn und sorgfältig geschorenem Bart, der ihnen eilig entgegenkam. Die Beiden blickten ihn in der Erwartung an, dass er, wie alle, mit denen sie in diesen Gemäuern zusammen getroffen waren, mit ihnen ohne weiteres in Kontakt treten würde. Der Mann grüßte sie aber nur kurz und ging zügig weiter.
„Wer hier an einem vorbeigeht, ohne Fragen zu stellen“, sagte Piranesi, „für den ist dieser Raum kein Problem.“
„Dann sollten wir auf keinen Fall versäumen, an den Erkenntnissen teilzuhaben, welche dieser Mann über den Raum haben muss“, antwortete Salametti. Er lief sofort hinter dem Fremden her und rief: „Du weißt offensichtlich, wie dieser Raum zu verstehen ist, scheinst es aber nicht nötig zu finden, dieses Wissen mit uns zu teilen.“
Der Mann drehte sich verwundert um und sagte mit einem Anflug von Freude im Gesicht: „Dieser Anschein täuscht. Nichts liegt mir ferner, als meinen Mitmenschen die Achtung zu verweigern oder die Erkenntnisse vorzuenthalten, welche ich über diesen Raum gewonnen habe. Vielmehr bin ich davon ausgegangen, dass ihr kein sonderliches Interesse an meinen Überlegungen habt.“
„Wir kannst du so etwas denken. Wer hier unten ist, ist doch auf jede Hilfe angewiesen“, sagte Salametti.
„Das sollte man meinen. Meine Erfahrungen sind aber ganz anders. Ich habe meine Erkenntnisse über den Raum in einem Buch zusammengetragen, das nicht weniger als eintausendeinhundertundzwölf Abschnitte hat – schon daraus könnt ihr ersehen, dass ich nicht dazu neige, meine Gedanken zurückzuhalten. Das Buch habe ich verschiedenen Personen in meiner Heimatstadt Neapel geschickt, Leuten, von denen ich auf Grund ihrer Profession oder wegen ihrer geistigen Statur annahm, dass sie meine Erkenntnisse interessieren würden. Mir ist aber wahrhaftig, als hätte ich in dieser Stadt mein Werk in die Wüste geschickt; ich fliehe alle öffentlichen Plätze, um keinem zu begegnen, dem ich es geschickt habe; wenn sich aber das Zusammentreffen nicht umgehen lässt, so grüße ich, ohne zu halten; niemand gibt mir bei dieser Gelegenheit auch nur das geringste Zeichen, dass er es erhalten habe, wodurch ich in der Meinung bestärkt werde, dass ich mein Buch in einer Wüste herausgegeben habe.“
„Ich bin Architekt“, sagte Piranesi, „bei mir würde ein Buch, das sich mit einem Raum befasst, der so vielfältig bebaut ist wie dieser, auf fruchtbareren Boden fallen. Ich habe dieses Buch allerdings nicht erhalten.“
„Mir würde schon eine Kurzfassung deines Buches reichen“, warf Salametti dazwischen.
„Ich bin vom mangelnden Echo auf mein Werk so beeindruckt“, sagte der Neapolitaner, „dass ich mittlerweile schon glaube, ich hätte es jedem zugesandt, den ich hier unten sehe. Ich muss euch daher um Verzeihung bitten. Ihr seid mir, wie ich nun sehe, tatsächlich nicht bekannt.“
„Das lässt sich ändern“, sagte Salametti. „Ich heiße Giovanni und bin Hühnerverkäufer.“
„Und ich Giovanni Battista. Ich bin von Haus aus Jurist“, sagte der Neapolitaner.
„Ich heiße ebenfalls Giovanni Battista“, fügte Piranesi lachend hinzu.
“Drei Giovannis!“ stellte der Neapolitaner erfreut fest.
„Und zwei davon Täufer!“, rief Piranesi.
„Von denen allerdings nach dem, was ich mir hier unten schon alles anhören musste, dieser da eher ein Heide ist“, sagte Salametti, indem er auf Piranesi deutete. „Ich bin dafür rechtschaffen getauft.“
„Wir stehen alle mitten im Leben“, stellte der Neapolitaner weiter fest. „Wir sollten uns verständigen können. Sagt mir, wie ich euch weiterhelfen kann.“
„Ich würde gerne wissen, ob wir in diesem Raum, den wir seit langem durchwandern, weiterkommen“, sagte Salametti. „Wir haben uns bislang auf das Versprechen eines alles bezweifelnden Franzosen verlassen, wonach man unseren Weg berechnen und daher sehen könne, wohin er führt. Der Raum hat aber bislang mehr oder weniger gleich ausgesehen. Ich kann keine Änderung feststellen, die darauf hindeuten würde, dass wir in irgendeiner Weise fortgeschritten sind.“
„Wenn ihr nach der Methode des Franzosen, der mir nur allzu bekannt ist, vorgeht, könnt ihr Änderungen im Raum auch nicht ermitteln. Mit dieser Methode schaut ihr nur darauf, wie die Dinge sind. Wollt ihr in diesem Raum jedoch eine Richtung finden, müsst ihr auch herausfinden, wie die Dinge einmal waren. Nur durch den Vergleich der Zustände könnt ihr Änderungen und damit möglicherweise eine Richtung feststellen.“
„Der Franzose“, sagte Salametti, „war vollkommen davon überzeugt, eine sichere Methode für die Erkenntnis der Dinge des Raumes gefunden zu haben. Er stützte diese Überzeugung auf den Glauben, dass er, nachdem er alle überkommenen Vorstellungen in Frage gestellt hatte, alles an Hand einfachster und daher, wie er meinte, zweifelsfreier Erkenntnisse auf geometrische Weise wieder aufgebaut habe.“
„Diese Methode“, antwortete der Neapolitaner, „setzt voraus, dass der Erkennende den Vorgang des Erkennens begutachten kann. Dies ist aber schon deswegen zweifelhaft, weil der menschliche Geist nicht erkennen kann, wie er selber funktioniert, so wie das Auge alles sehen kann, nur nicht sich selbst. Erkenntnisse, die auf diese Weise erlangt werden, sind keinesfalls zweifelsfrei. Sie sind meist eine Form des Selbstbetrugs.“
„Dass mit dieser Methode etwas nicht stimmt, merkt selbst ein Hühnerverkäufer“, sagte Salametti. „Sie hat uns auch nicht weitergebracht. Wie aber finden wir heraus, ob und wie wir weiterkommen?“
„Dazu müsst ihr folgenden beachten: Dieser Raum hat zwei Aspekte. Er ist einerseits etwas Allgemeines und Ewiges. Insoweit kann man sich ihm mit den allgemeinen Denkgesetzen und Erfahrungen, in gewisser Weise daher auch mit den mathematischen Mitteln nähern, die der Franzose verwendet hat. Der Raum ist aber auch etwas Individuelles und Vergängliches. Dieser Aspekt ist mit der Methode des Franzosen nicht zu erfassen. Mit der Beschränkung der Erkenntnis auf das, was zählbar ist, kann man daher nicht einmal die Hälfte der Wirklichkeit erkennen. Erst wenn ihr beide Aspekte vereinigt, könnt ihr euch ein Bild von eurem Standpunkt im Raum und von dem Weg machen, den ihr zurückgelegt habt.“
„Wie aber können wir die andere Hälfte erkennen?“
„Sie ist für uns besser zu erfassen als das Allgemeine und Ewige. Um etwas zu erkennen, muss man die Ursachen ermitteln, die zu dem geführt haben, was man erkennen will. Und das ist nur dem richtig möglich, der das zu Erkennende selbst geschaffen hat. Daraus folgt, dass wir die physische Welt nie richtig verstehen können. Denn diese Welt wurde von Gott geschaffen. Wir können uns ihr mit mathematischen Mitteln allenfalls nähern. Es wird jedoch immer nur ein Versuch bleiben. Denn die Punkte, Linien, Flächen und Figuren, die wir dabei verwenden, sind bloße Fiktionen, Formen also, die der Mensch erfunden hat.“
„Dann hätte der Franzose den Raum mit seiner Methode also nicht erkannt, sondern nur konstruiert“, sagte Piranesi.
Genau. Und anschließend ist er als der Schöpfer der Welt, die er geschaffenen hat, aufgetreten und hat darüber berichtet, wie sie angeblich in Wirklichkeit gebaut sei. Damit hat er sich nichts weniger als die Rolle Gottes angemaßt. Er hat sich selbst zum Maß aller Dinge gemacht.“
„Jetzt wird mir klar, warum mir dieser Raum, der doch augenscheinlich von wuchernder Fülle ist, so maßgeschneidert und durchsichtig wie ein streng beschnittener Garten vorgekommen ist, als ich ihn mit den Augen des Franzosen sah.“
„Ein bloßer Blick auf ein Huhn hätte dich gelehrt, dass dies nicht die Wirklichkeit sein konnte“, warf Salametti ein.
„Da muss ich ihm recht geben”, sagte der Neapolitaner. „Was nun den individuellen und veränderlichen Teil des Raumes betrifft, so ist der Mensch sehr wohl in der Lage, ihn zu erkennen. Denn diesen Teil hat er selbst geschaffen. Dies aber bedeutet, dass das Gemachte das Wahre und das Wahre das Gemachte ist.“
„Die Wahrheit ist aber, dass vor uns ein ziemliches Durcheinander liegt“, gab Salametti zu bedenken.
„Das Wahre liegt nicht immer offen zu Tage“, antwortete der Neapolitaner. „Vieles ist im Schutt der Jahrtausende verborgen und muss aus der Verkleidung befreit werden, in der es auf uns gekommen ist. Aus dem, was wir ausgraben, können wir dann erkennen, welcher Weg durch dieses scheinbare Durcheinander führt.“
„Wie aber sollen wir herausfinden, was hinter diesem Mummenschanz von Architekturrequisiten verborgen ist?“, unterbrach Salametti den Neapolitaner erneut.
„Dazu bedarf es einer neuen Wissenschaft, einer Wissenschaft davon, was der Mensch hervorgebracht hat, wenn du so willst einer Wissenschaft des Geistes, also einer Art Gegenstück zu jenem Neuen Organon, welches ein großer Engländer für das Unveränderliche formuliert hat.“
„Meinst du den Engländer, der hier unten gestohlene Eier brät?“, fragte Salametti.
„Hat er etwa auch gestohlen?“
„Er gibt erhebliche Verdachtsmomente.“
„Bislang wurde nur behauptet, dass er sich als Richter habe bestechen lassen.”
“Das wundert mich nicht”
“Habt ihr ein Problem mit ihm gehabt.“
„Salametti stritt mit ihm, wie es seine Gewohnheit ist, über Huhn und Ei, was uns hier nicht weiter interessieren sollte”, erläuterte Piranesi. “Ich wüsste vielmehr gerne was nun das Neue an dieser Wissenschaft ist.”
„Nun, sie unterscheidet sich von der Art der Wissenschaft, welche die Naturphilosophen pflegen, dadurch, dass sich derjenige, der sie betreibt, nicht als Betrachter versteht, der vom Gegenstand seiner Betrachtungen getrennt ist, sondern als Teil des zu Betrachtenden. Die Wissenschaft vom Gemachten erforscht einerseits die Ursprünge und Wirkungen der Hervorbringungen des Geistes, ist aber andererseits selbst eine seiner Hervorbringungen. Der Betrachter betrachtet daher in dem Gegenstand seiner Betrachtung in gewisser Weise auch sich selbst.“
„Das würde bedeuten, dass die Methode dieser Wissenschaft zugleich ihr Gegenstand ist“, stellte Piranesi fest.
„Bei der Art, wie ihr redet, wird einem ja schwindelig“, stöhnte Salametti.
„Von einer solchen Wissenschaft haben wir bisher noch nichts gehört“, fuhr Piranesi fort. „Wie bist darauf gekommen?“
„Durch die Betrachtung des Rechtes. Bei kaum einer anderen Hervorbringung des Menschen wird deutlicher, wie wenig der Zustand, den wir heute vorfinden, ohne die Kenntnis dessen zu verstehen ist, was früher war. Ich habe am Beispiel des römischen Rechtes, das ja für uns noch heute maßgeblich ist, nach den allgemeinen Gesetzen gesucht, nach denen sich das Recht entwickelt. Dadurch bin ich darauf gestoßen, dass sich die verschiedenen Hervorbringungen des Menschen nach ähnlichen Gesetzen verändern und schließlich, dass sie für das Ganze dessen gelten, was der Mensch als gesellschaftliches Wesen zustande gebracht hat.“
„Aber woraus zieht diese neue Wissenschaft ihre Erkenntnisse?“, fragte Piranesi.
„Aus den Untersuchung aller möglicher Setzungen des Menschen, Mythen etwa und Gebräuchen, vor allem aber der Sprache.“
„Die Steine und Balken, die wir hier sehen, sind aber ziemlich sprachlos“, wandte Salametti ein.
„Auch dieser Anschein trügt. Wer ihre Zeichen zu lesen weiß, findet darin eine fein ausgearbeitete Grammatik, einen klaren Satzbau und ein genau umrissenes Vokabular.“
„Das kann ich als Architekt bestätigen“, sagte Piranesi. „Diese Architekturelemente stehen alle in einem Zusammenhang. Sie waren ohne Zweifel einmal Teile eines großen Ganzen, das vom Menschen erstellt und von ihm – allerdings im Zusammenwirken mit der Natur – auch wieder zerstört wurde. Ich habe mein ganzes Leben der Klärung der Frage gewidmet, wie diese Teile und das Ganze zusammenhängen und wie sie entstanden und verfallen sind.“
„Die Sprache ist das Lexikon des Geistes“, fuhr der Neapolitaner fort. „In ihr sind die Denkhaltungen und Erfahrungen der Menschen wie in einem Lagerhaus aufbewahrt. Wenn es uns gelingt, ihre verborgenen Aussagen zu entziffern, können wir die grundlegenden Vorstellungen und Absichten der Baumeister dieses Raumes verstehen.“
„Das Ganze nützt mir allerdings nur, wenn man auf diese Weise herausfinden kann, wo der Ausgang des Raumes ist“, sagte Salametti.
„Dass wir einen solchen Ausgang finden, kann ich dir nicht versprechen. Der Schöpfer ist der Ursprung des Geschaffenen und steht daher mit diesem in einem notwendigen Zusammenhang. Soweit der Mensch diesen Raum geschaffen hat, kann er sich von ihm nicht lösen.“
„Dann wären wir also Gefangene des Raumes, den wir selbst geschaffen haben“, stellte Piranesi fest.
„Da das Geschaffene das Wahre ist, ist dieser Raum, den wir geschaffen haben, wahr. Aus der Wahrheit aber kann man nicht einfach austreten.“
„Es muss aber doch irgendwie weiter gehen“, sagte Salametti besorgt. „Wir können hier nicht einfach stehen bleiben.“
„Dieser Raum ist, wie schon sein Zustand zeigt, nicht ein für alle Mal gegeben“, antwortete der Italiener. „Als Geschaffener unterliegt auch er der Veränderung. Diese aber erfolgt nicht willkürlich, sondern nach einem Gesetz. Ich habe dieses Gesetz in langer Gedankenarbeit am Beispiel Roms erkannt. Ich habe nämlich festgestellt, dass sich das Schicksal geschaffener Räume in mehreren Stadien vollzieht. Die Entwicklung verläuft von wilden und heroischen zu vernünftigen und zivilen Zuständen, vom Chaos also zur Ordnung. Nach einem Zeitalter der Götter folgt eine aristokratische Ära, die in eine Epoche der Menschen übergeht. Es gibt jedoch, wie das Beispiel Roms zeigt, keinen immerwährenden Fortschritt. Vielmehr erschlaffen in der Periode der höchsten Ordnung die gestalterischen Kräfte und es beginnt ein Rücklauf in ein neues barbarisches Zeitalter, das wieder der Ausgangspunkt für einen neuen Lauf durch den Raum ist.“
„Mit anderen Worten“, stellte Salametti enttäuscht fest, „du kannst uns nicht sagen, wie wir hier herauskommen.“
Und zu Piranesi gewandt, sagte er: „Der Mann ist Jurist und hängt in ähnlicher Weise im Netz seiner Gesetze wie die Naturphilosophen, die er deswegen kritisiert. So wie diese meinen, die Wiederholbarkeit einzelner Experimente sei der Beweis für die Richtigkeit ihrer allgemeinen Theorien, denkt er, dass die Entscheidung des Einzelfalls das Muster für künftige Fälle sein müsse. Das heißt, dass unser persönliches Schicksal seinem Stadiengesetz folgen muss. Damit werden wir zum Gefangenen seiner Gesetze.“
„Ich sagte dir schon, dass die Juristen viel vom Leben verstehen“, antwortete Piranesi. „Ihre Weisheit besteht darin, einen Einzelfall vernünftig zu entscheiden ohne künftige – und übrigens auch frühere – Fälle aus dem Blick zu verlieren. Daraus resultiert natürlich ein gewisse Einschränkung deiner Freiheit.“
„Dennoch will ich nicht glauben, dass wir in unseren eigenen Schöpfungen auf ewig gefangen sind. Das Huhn ist auch der Schöpfer des Eies und kann sich trotzdem von ihm trennen.“
„Es kann sich aber nicht davon verabschieden, Eier zu legen.“
„Wir sind hier hereingekommen, wir werden auch wieder herauskommen. Lasst uns weitergehen.“
Daraufhin verabschiedeten sie sich von dem Neapolitaner und machten sich wieder auf den Weg.
XIX
Sie waren noch weit gegangen, da gelangten sie an einen massiven steinernen Bogen, der mit dicken Eisenstäben vergittert war. Durch das Gitter konnte man in einen tiefer liegenden, düsteren Raum mit einer Gewölbedecke blicken, die von hohen Säulen gestützt war. Im fahlen Licht waren einige Figuren bei ernsten Verrichtungen zu erkennen. An der Wand saß in erhöhter Position ein grimmig dreinblickender alter Mann mit Kappe und pelzbesetzter Robe. Vor ihm standen in gebeugter Haltung zwei halbnackte Männer, die mit schweren Ketten an Händen und Füßen gefesselt waren. Sie waren von mehreren Personen umringt, welche die Ketten hielten. Zu beiden Seiten des Alten saß ein Schreiber an einem Pult, auf dem sich Papiere stapelten.
„Magnasco muss hier gewesen sein“, sagte Piranesi nachdenklich.
„Magnasco?“, fragte Salametti, „das ist unmöglich. Der hat sich noch nie auf Dinge eingelassen, die schwer zu verstehen sind. Er würde sich nie in diese krummen Welten wagen.“
„Woher kennst du Magnasco?“
„Pietro? – es ist der Systemspieler, den ich erwähnte, als wir mit dem Engländer sprachen, der dauernd Schinken briet. Er wohnt nicht weit von mir. Wir haben auf dem Markt vor Santa Maria in Cosmedin einen gemeinsamen Stand und zusammen schon manches Huhn und viele Eier verkauft.“
„Ich meine Alessandro Magnasco, ein guter Bekannter von mir. Er hat Bilder gemalt, auf denen solche Räume und Szenen zu sehen sind.“
„Du hast merkwürdige Freunde. Wie kann man auf die Idee kommen, derart düstere Sachen zu malen? Es gibt doch genug schöne Dinge im Leben.“
„Die hat Josef Vernet gemalt – übrigens auch ein Freund von mir. Bei ihm findest du lichtdurchflutete Landschaften, in denen sich an einem schönen Abend fröhlich gestimmte Menschen nach dem Essen auf der Terrasse eines Uferpalastes, die von einer heiteren Balustrade umgeben ist, versammelt haben und auf eine Bucht hinausschauen, auf der sich Fischerboote und Segelschiffe tummeln; im Vordergrund prächtige Bäume auf Felsen, in der Ferne hohe Berge mit Burgen und so weiter.“
„Von solchen Bildern kann man doch nie genug bekommen.“
„Es gibt auch genug davon. Vernet hat sich eines bewährten Musters bedient. Es wurde von zwei seiner Landsleute gelegt, welche vor einiger Zeit nach Rom kamen. Sie wurden, wie ich, von der Stadt gefangen genommen und sind hier schließlich auch gestorben. Sie und ihre Nachfolger, deren Zahl Legion ist, versetzen den Betrachter gerne in heroische Küsten- und Hafenlandschaften oder arkadische Gefilde, die mit antiken Helden ausstaffiert oder von Hirten bevölkert sind, welche ergriffen alte Grabmonumente bestaunen oder mit Pferden, Mauleseln, Kühen, Ziegen, Schafen und möglichst einem Hund mit weiß-rotbraun geflecktem Fell ein flaches Gewässer durchqueren, wobei im Vordergrund meist ein prächtiger alter Baum oder ein schönes Bauwerk stehen und weit im Hintergrund goldgelb die Sonne untergeht. Solche Bilder kannst du in fein umrahmten, vertäferten Nischen über einem edel geschwungenen Sofa und umgeben von Büchern mit goldschimmernden Ledereinbänden in manchen Wohnungen, über den Durchgangstüren von Palästen und so ziemlich in allen Bildersammlungen finden.“
„Mir reichen solche Darstellungen.“
„Es gibt aber auch andere Dinge, wie wir gerade gesehen haben. Es wundert mich eigentlich, dass du dafür so wenig übrig hast“, sagte Piranesi und ging weiter.
XX
Nicht weit von dem Gewölberaum fanden sie in einer Art Zelle einen Mann, der am Boden saß. Er war mit den Füßen an die Wand gekettet und wirkte erschöpft. Seine Kleider waren abgerissen und schmutzig. Dennoch konnte man daran noch erkennen, dass er von guter Herkunft war. Der Mann arbeitete unter einer achteckigen schwarzen Ampel, aus der das Licht einer Kerze fiel, an einem Manuskript und war in diese Arbeit so vertieft, dass es Piranesi und Salametti zunächst nicht gelang, seine Aufmerksamkeit zu erlangen. Piranesi hob einige der beschriebenen Blätter auf, die am Boden lagen, und entzifferte französische Worte.
„Wir bitten um Verzeihung dafür, dass wir dich bei einer Arbeit stören, die offensichtlich gewichtig ist“, sprach Piranesi den Mann schließlich an, „aber nach dem, was ich auf den Blättern gelesen habe, die hier liegen, scheinst du dich mit dem Weg zu beschäftigen, den wir suchen. Vielleicht kannst du uns, auch wenn deine eigene Beweglichkeit auf traurige Weise eingeschränkt ist, sagen, in welche Richtung der Weg führt, den wir suchen.“
„Dazu müsste ich wissen, wo ihr hergekommen seid“, antwortete der Mann. Piranesi schilderte ihm daraufhin ihren bisherigen Gang durch den Raum und wen sie bislang alles getroffen hatten.
„Es ist richtig“, sagte der Mann, der sich als Franzose zu erkennen gab, „dass ich mich mit der Frage beschäftige, in welcher Richtung es weitergeht. Ich versuche gerade, den Entwurf eines Werkes über den Fortschritt zum Abschluss zu bringen, weiß allerdings nicht, ob mir Zeit und Umstände die Möglichkeit lassen, es zu vollenden, zumal es in diesen finsteren Verließen kein Buch gibt und ich alles aus meinem Kopf produzieren muss.“
„Du bist gefesselt und schreibst über den Fortschritt“, sagte Piranesi, „das lässt mich wenig Gutes für unseren weiteren Weg ahnen.“
„Mein Schicksal ist nur ein kleiner Unfall auf dem großen Weg, welcher auf eine Weise durch den Raum führt, die im Grunde erfreulich ist. Dieser Unfall tut nichts zu Sache, denn er ändert nichts daran, dass der Weg auch dann unaufhaltsam weiterführt, wenn Aberglaube und Tyrannei bemüht sind, auf ihm Hindernisse aufzutürmen.“
„Warum bist dann aber du, der, wie mir scheint, zu diesem Weg Einiges zu sagen hat, in derartigen Umständen?“, fragte Piranesi.
„Die Meinungen darüber, in welcher Weise fortgeschritten wird, sind unterschiedlich und werden recht leidenschaftlich vertreten. Eine Zeit lang wird daher selbst im Namen des Fortschritts und der Freiheit noch gefesselt, gefoltert und gelitten werden. Vor allen die neuere Geschichte zeigt aber, dass die Menschheit dieses Stadium überwinden wird. Denn es widerspricht der Vernunft.“
„Du nimmst dein Schicksal sehr gelassen“, stellte Piranesi fest.
„Dich tröstet sicher das Wissen davon, dass am Ende die Erlösung steht“, warf Salametti ein.
„Ich glaube nicht an die Erlösung des einzelnen Menschen, aber daran, dass die Menschheit vorwärts kommt. Es befriedigt mich, dass ich dazu einen Beitrag leisten kann. Macht euch also keine Sorgen um mich. Wichtig ist nur die Erkenntnis, dass der allgemeine Weg in die richtige Richtung führt. Ich bin zuversichtlich, dass ihr euch auf diesem Weg befindet.“
„Es wäre gut, wenn wir darüber sicher sein könnten“, sagte Salametti.
„Euer bisheriger Weg war“, fuhr der Franzose fort, „bei allen Schwierigkeiten, die ihr durchgemacht habt, eine ständige Verbesserung der Methode, den richtigen Weg zu finden. Dabei haben euch die weisen Männer geholfen, die ihr befragt habt. Ihr habt die Bindung an einen angeblichen Ursprung gelöst, indem ihr den Faden verlassen habt, mit dem ihr an ihn gebunden schient. Ihr habt gelernt, eure Vorurteile zu erkennen und nicht auf Grund anscheinender Autoritäten oder des bloßen Augenscheins zu urteilen. Auch wisst ihr nun, dass ihr euch vor der eigenen Phantasie hüten müsst und dass ihr den Raum nicht konstruieren, sondern beobachten sollt. Außerdem habt ihr gelernt, dass man vieles errechnen kann. All dies ist möglich geworden, weil ihr euren Geist durch den Gebrauch der Vernunft aus den Fesseln befreit habt, die ihm durch Unwissenheit und Herkommen angelegt waren. Auf Grund dieser Freiheit wird es euch gelingen, auch künftig den richtigen Weg zu finden. Ihr seht also, dass ihr selbst dort, wo es euch schien, dass ihr nicht fortgeschritten seid, große Schritte auf eurem Weg gemacht habt. Denn ihr habt dabei die Methode für künftige Schritte erlernt.“
„Unser Problem ist aber, dass dieser Raum immer tiefer wird, je mehr wir in ihn eindringen“, wandte Piranesi ein. „Jede Verbesserung der Methode, den Raum zu erfassen, ist offenbar zugleich die Ursache dafür, dass wir neue Raumfluchten finden. Wie können wir hoffen, all dies in den Griff zu bekommen? Werden unsere Kräfte nicht irgendwann erschöpft und wir nicht mehr in der Lage sein, weiter fort zu schreiten?“
„Die Befürchtung ist unbegründet“, antwortete der Franzose. „Je mehr ihr in diesen Raum vordringt, desto mehr wird sich auch euer Instrumentarium verbessern, ihn zu erfassen. Denn in dem Maße, in dem sich die Tatsachen mehren, lernt ihr auch, sie zu klassifizieren und auf allgemeinere Tatsachen zurückzuführen. Ihr werdet neue Zusammenhänge kennen lernen und in umfassenderen Formen darstellen. Am Ende werdet ihr weitere Wege zurücklegen, ohne den Aufwand an Kraft zu vergrößern.“
„Ich kann nur hoffen, dass dies nicht nur schöne Worte sind“, warf Salametti ein. „Ein Huhn kann in diese oder jene Richtung laufen, ja es ändert seine Richtung so oft, dass es geradezu als der Inbegriff der Unbeständigkeit gilt, weshalb es ja, wie wir nur zu deutlich erfahren haben, auch schier unmöglich ist, ihm zu folgen. Das Huhn findet seine Körner sicher nicht auf Grund allgemeiner Zusammenhänge und schon gar nicht sieht es voraus, wo Körner liegen können. Ein solches Federtier läuft ständig umher und stößt dadurch auf seine Nahrung, eine Methode, mit der bekanntlich sogar ein blindes Huhn ein Korn finden kann. Es gibt somit viele Wege und Ziele. Wo aber ist unser Weg?“
„Wenn ihr voraussehen wollt, in welche Richtung eure Schritte führen“, antwortete der Franzose, „müsst ihr von der Geschichte der Fortschritte ausgehen, die ihr bereits gemacht habt. Ihr werdet in der Geschichte des Weges, den ihr zurückgelegt habt, ausreichende Hinweise auf die Richtung finden, in die ihr weiterzugehen habt.“
„Wir haben einen Neapolitaner getroffen, der im Raum eine Richtung festgestellt haben will. Er meinte aber, dass wir irgendwann wieder von vorne anfangen“, wandte Piranesi ein.
„Das widerspräche der Vernunft. Ich kann und will es mir daher nicht vorstellen“, sagte der Franzose.
„Wie aber können wir aus unserem bisherigen Weg eine Richtung ersehen?“, fragte Piranesi. „Die Trümmer und Brocken, die uns überall im Weg lagen, haben uns mal hier und mal dorthin verschlagen.“
„Unser Weg“, sekundierte Salametti, „gleicht eher dem eines Huhns, das der Zufall in der Gegend umher treibt, als einem solchen, der von Methode und Instrumentarium bestimmt wäre, wie du dich auszudrücken beliebst. Tatsächlich sind wir ja auch einem Huhn nachgelaufen, das, wie gesagt, nicht weiß, wo es am Ende hin will. Ich sehe, wiewohl ich nichts sehnlicher wünsche, noch immer keinen Weg in dieser ‚Geschichte’, der weiterführen würde.“
XXI
„Wer den Raum vernünftig ansieht, den sieht er auch vernünftig an“, warf nun ein weiterer Deutscher in breitem Schwäbisch ein, der einen langen Talar trug und sich inzwischen der Gruppe zugesellt hatte.
„Willst du damit sagen“, unterbrach ihn Salametti, „dass ich das Huhn schon gefunden hätte, wenn ich nur ordentlich nach ihm geschaut hätte? Wir haben alles abgesucht. Das Huhn ist aber keinen geraden Weg gelaufen. Und also sind auch wir, als wir es fangen wollten, kreuz und quer gegangen. Wo ist demnach der Weg, der so vernünftig sein soll?“
Der Deutsche fuhr fort: „Euer Weg war in der Tat nicht geradlinig und doch waren eure Abwege keine Irrwege. Erst dadurch, dass ihr von einer in die andere Richtung gewechselt seid, habt ihr euch dem richtigen Weg genähert. Denn die treibende Kraft des Fortschritts ist der Widerspruch. Wenn ihr immer wieder Positionen eingenommen habt, die im Widerspruch zueinander standen, so bedeutet dies nicht, dass ihr ziellos umher geirrt seid. Jede Stufe, die ihr erreicht hattet, war eine Durchgangsstation bei der Bestimmung eures wahren Weges. Jede Position wurde zwar aufgehoben, zugleich aber wurde sie in der neuen Position aufbewahrt, wodurch ihr zugleich eine höhere Position, das heißt eine solche, eingenommen habt, die eurem Ziel näher war. Euer Gang ist also notwendig so verlaufen, wie ihr ihn gegangen seid.“
„Mag sein, dass du für den Weg Recht hast, den wir hinter uns haben“, warf Piranesi ein. „Wie aber geht es weiter? Ich sehe, dass vor uns eine Kreuzung liegt, an der man in viele Richtungen abzweigen kann. Weißt du, welche die richtige Richtung ist?“
„Unsere Erkenntnis“, fuhr der Deutsche fort, „geht darauf, die Einsicht zu gewinnen, dass das von der ewigen Wahrheit bezweckte wie auf dem Boden der Natur, so auch auf dem Weg durch diesen Raum herausgekommen ist. Unsere Betrachtung ist insofern eine Theodizee, eine Rechtfertigung Gottes, sodass die Irrwege im Raum begriffen, der suchende Geist mit den Irrwegen versöhnt werden sollte. In der Tat liegt nirgend eine größere Aufforderung zu solch versöhnender Erkenntnis als in eurem Gang durch diesen Raum. Und diese Aussöhnung kann nur durch Erkenntnis der Affirmation erreicht werden, in welchem jenes Negative zu einem Untergeordnetem und Überwundenem verschwindet durch das Bewusstsein, teils was in Wahrheit der Endzweck des Raumes sei, teils dass derselbe in ihm verwirklicht worden sei und nicht der Irrweg neben ihm sich letztlich geltend gemacht habe.“
„Ich wollte eigentlich nur wissen, welches der richtige Weg ist“, wiederholte Piranesi seine Frage.
„Die abstrakte Veränderung überhaupt, welche in eurem Gang durch den Raum vorgeht, kann, wie es auch der Franzose tat, längst in einer allgemeinen Weise gefasst werden, sodass sie zugleich einen Fortgang zum Besseren, Vollkommeneren enthalte. Hierbei lässt sich – anders als in der statischen Natur, in der sich alles immer nur wiederholt – eine andere Bestimmung überhaupt sehen, als in den bloß natürlichen Dingen, nämlich eine wirkliche Veränderungsfähigkeit und zwar zum Besseren, ein Trieb zur Perfektibilität.“
„Wo ist das Ende des Raumes?“, setzte nun Salametti nach.
„Dieser Raum ist nicht dem Zufall und äußerlichen zufälligen Ursachen preisgegeben. Der Raum wird von der Vorsehung regiert und also liegt ihm ein Plan zu Grunde. Auf diesem Plan ist der Weg ersichtlich.“
„Mir ist es, wiewohl ich Architekt bin, nicht gelungen, einen Plan dieses Raumes zu erstellen“, sagte Piranesi. „Offenbar seid ihr damit weitergekommen. Könnt ihr uns sagen, was dieser Plan über die Richtung unseres Weges sagt?“
„Die Richtung des Weges muss sich aus dem Endzweck der Welt ergeben.“
„Und der wäre?“, fragte Salametti.
„Der Endzweck der Welt ist das Bewusstsein des Geistes von seiner Freiheit. Dieser Endzweck ist, worauf in eurem Gang durch den Raum hingearbeitet worden, dem alle Opfer auf dem weiten Altar der Erde und in dem Verlauf der langen Zeit gebracht worden. Dieser Endzweck ist, was Gott mit der Welt will, Gott aber ist das Vollkommenste und kann darum nichts als sich selbst, seinen eigenen Willen wollen. Durch das, was ihr von mir erfahren habt, habt ihr nun endgültig das Bewusstsein von eurer Freiheit erreicht. Damit ist die Suche nach dem Weg abgeschlossen. Jetzt braucht ihr den Weg, den ihr gekommen seid, nur noch zu Ende gehen. Denn das was ist, ist nun auch vernünftig, ebenso gut wie das, was vernünftig ist, auch ist.“
„Ich fürchte, wir werden von diesem Mann nichts Genaueres erfahren“, sagte Piranesi zu Salametti und verabschiedete sich von dem Deutschen. „Außerdem bringt er durch die Hintertür wieder die Ideen des weisen Griechen und damit Gott ins Spiel, was wir, wie mir schien, schon hinter uns hatten. Im Übrigen spricht er von der Vorsehung, die doch spätestens seit dem alles bezweifelnden Franzosen zur ’Vorhersehung’ geworden ist.“
XXII
Über diese Ausführungen waren Piranesi und Salametti müde geworden. Sie ließen sich daher unter einer Brücke nieder, wo sie alsbald in tiefen Schlaf versanken. Als sie wieder aufwachten, schien es ihnen, als hätten sie nie tiefer geschlafen.
Piranesi berichtete Salametti, er habe im Traum vier groteske Szenen gesehen, in denen ein undurchschaubares, völlig verschnörkeltes Durcheinander von allen möglichen Gegenständen geherrscht habe.
„Ich sah Gebäudereste, Gräber und Altäre, umgestürzte Säulentrommeln und Vasen, Wappen und Trophäen und verschiedene Statuen, darunter einen Muskelmann mit der Statur des farnesischen Herkules und Hermen von Satyrn, den wollüstigen Begleitern des Bacchus. Auf einem Podest ruhte eine vieldeutig dreinblickende Sphinx und hoch auf einer Mauer lag ein Delfin, das Symbol für Apollo, den Gott der Künste. Dazwischen waren Totenköpfe und Skelettteile verstreut und überall krochen Schlangen umher. Alles war dazu von exotischen Pflanzen und Muschelornamenten überwuchert, wobei Gewachsenes und Erfundenes unmerklich ineinander übergingen.“
„Du hast bizarre Träume“, stellte Salametti fest.
„Ich weiß auch nicht recht, was ich davon halten soll. Alles drehte sich irgendwie um Erinnerung – an die Vergangenheit, die Vergänglichkeit und an den vergeblichen Versuch der Zeit, die Ewigkeit zu messen. Waren mit den vier Szenen die vier Elemente oder die vier Temperamente gemeint, in deren Rund sich die natürlichen und menschlichen Dinge abspielen? Ging es um die vier Jahreszeiten, die sich in ewigem Kreislauf wiederholen oder um die Alter der Menschheitsgeschichte, von denen der Neapolitaner sprach. Vielleicht ist es auch um etwas ganz anderes gegangen, um Dimensionen, von denen wir uns allenfalls etwas träumen lassen. Alles war mehrwürdig unfolgerichtig. Und doch hatte ich immer das Gefühl, dass es um etwas Wahres ging.“
„Sehr erhellend ist das nicht.“
„Der Inhalt war nun einmal sybillinisch und dies nicht nur wegen der Fülle und Unterschiedlichkeit der Requisiten, die zusammenwürfelt waren. Eine große Säule etwa, die schräg im Bild lag, schien in ihrem weiteren Verlauf zum Baum zu werden. Auch die Begrenzung des Raumes, in dem sich alles abspielte, war mehrdeutig. Meist verlor sie sich im Nebulösen. Sie konnte aber auch der Rand eines mehrfach gefalteten Zeichenblattes sein, wodurch sich die ganze Szene zum Bild im Bild verwandelte. Auf diese Weise bin ich zum Betrachter des Betrachtenden geworden.“
„Es scheint, dass du von der neuen Wissenschaft des Neapolitaners geträumt hast.“
„Aber nicht genug. Der rechte Rand dieses scheinbaren Zeichenblattes war auch noch so umgebogen, dass man ein Stück seiner Rückseite sehen konnte, auf der wiederum ein Baumstamm abgebildet war, der die Szene auf der Vorderseite des Blattes begrenzte.“
„Deine Phantasie ist reichlich verwickelt. Die Dinge drehen sich so sehr im Kreise, dass mir wieder mal fast schwindelig wird. Gab es denn wirklich keinen festen Punkt, keinen Hinweis darauf, wie alles zu verstehen ist?“
„Vielleicht liegt der Schlüssel zu all dem in der Hand, die wie eine höhere Macht von oben in eines der Bilder hineinreichte. Die Hand, die ich übrigens von einem anderen Bild kenne, goss aus einer Phiole eine Flüssigkeit in einen Kelch.“
„Aus einer Phiole?“
„Eine Art Glaskolben, das Gefäß, in dem die Alchimisten ihre Elixiere zusammenbrauten.“
„Was für Elixiere?“
„Mittel, die den Menschen von den lästigen Beschränkungen des Erdendaseins befreien sollten.“
„Von solchen Beschränkungen kann man sich doch am besten mit Gold befreien, vor allem von dem Zwang, Hühner und Eier verkaufen zu müssen, um durch das Leben zu kommen. Schließlich kann man Gold in so ziemlich alles verwandeln, was man zum Leben braucht.“
„Gold ist sicher viel, aber bei weitem nicht alles.“
„Es ist nicht zu unterschätzen. Es war sogar die Währung des Paradieses, wo einem die gebratenen Hühner doch eigentlich ohne weiteres in den Mund fliegen sollten. Nach der biblischen Beschreibung des Garten Eden, die uns Don Fiore so häufig vorlas, gab es im Land Hawila, welches ein Teil des Paradieses war, Gold, und es heißt, dass es kostbar gewesen sei. Das ist aber nur dann der Fall, wenn man es gegen andere wichtige Dinge eintauschen kann.“
„Die Alchimisten suchten in der Tat nach einem Mittel, mit dem man alles in alles verwandeln kann, eine Universalremedur, die sie den Stein der Weisen nannten. Dabei ging es ihnen, wie den meisten Menschen, natürlich in erster Linie darum, Gold herzustellen.“
„Woran sie aber offensichtlich ebenso gescheitert sind wie ich an dem Versuch, ohne Hühnerverkäufe ein Auskommen zu finden.“
„Zu ihrem Glück, muss man sagen. Denn wer Gold herzustellen versucht, handelt nicht eben weise. Wenn es ihnen gelungen wäre, massenhaft Gold aus Materialien herzustellen, die weniger wert sind, wäre es schnell nicht mehr kostbar gewesen.“
„Ich wäre auch glücklich, wenn ich ohne Hühnerverkäufe durchs Leben käme. Schließlich gibt es ja noch die Frauen.“
„Dieses Glückes wäre ich mir nicht so sicher. Ich fürchte, das Nichtstun ist nur für denjenigen ein Glück, der viel zu tun hat.“
„Es ist aber ein Unterschied, ob man etwas tun muss oder ob man es kann. Man könnte auch nur gelegentlich Hühner verkaufen und sich ansonsten den schönen Dingen des Lebens widmen. Aber sprich weiter. Was haben die Alchimisten mangels der Möglichkeit, Gold herzustellen, gemacht?“
„Da sie den Stein der Weisen, der alle Probleme gelöst hätte, nicht finden konnten, haben sie versucht, Mittel zu finden, die wenigstens einen Teil der Beschränkungen des Menschendasein beseitigen, körperliche Gebrechen etwa, aber auch die Grenzen des Geistes, zum Beispiel den Mangel an Menschenwitz und Kunst. Ein solches Mittel könnte mit der Flüssigkeit in der Phiole gemeint sein.“
„Wie kommst du darauf?“
„Die vier Szenen waren das Produkt einer auf`s Äußerste entzündeten Phantasie. Bei der Flüssigkeit, die von außen ins Bild kommt, dürfte es sich daher um einen Trank handeln, der den Geist entfesselt und beflügelt, der ihn in eine höhere Sphäre hebt, eine Art Spiritus – Gläubige würden es wahrscheinlich den Heiligen Geist nennen, der ja gerne wie von Außen in die natürlichen Dinge eingreift.“
„Und uns beschränkte Menschlein tatsächlich zu allem Möglichen erheben kann.“
„Die Sache ist allerdings wie mit dem Zeichenblatt, von dem ich gesprochen habe. Solche geistigen Mittel erlauben uns, Dinge zu sehen, die nicht wirklich da sind oder sie in einer Art zu sehen, die nicht wirklich ist, die aber, wie uns der Neapolitaner lehrte, dennoch wahr sind, weil wir sie geschaffen haben. Man kann es mit dem Liebeswahn vergleichen. Der Liebende entzündet sich vollkommen für das Objekt seiner Leidenschaft, an dem andere aber möglicherweise nichts besonders Anziehendes finden.“
XXIII
Salametti berichtete nun, er sei im Traum durch ein außerordentlich weitläufiges, wunderbar helles und übersichtliches Gebäude ohne jeden Schnörkel gewandelt, dessen zahlreiche Räume jeweils von flachen, zu quadratischen Vierecken gleicher Größe gruppierten Treppen umrissen wurden, die merkwürdigerweise immer nach oben führten.
„Die Ecken jedes Quadrates waren durch Bögen verbunden, welche von Pfeilern aus wiederum je vier Säulen gestützt wurden. Hier und da floss aus einem Löwenkopf, der im Sockel eines Pfeilers angebracht war, Wasser in ein einfaches, halbrundes Brunnenbecken. In der Mitte des wohlerhaltenen Baus aber lag eine riesige Rotunde, über welcher der Himmel zu sehen war.“
„Salametti träumt von Bauwerken!“, sagte Piranesi erstaunt. „Und dazu noch von solchen. An dir ist ein ordentlicher Architekt der griechischen Richtung verloren gegangen.“
„Dafür geht es bei dir für einen Baumeister ziemlich unordentlich und wenn ich deine Ruinenträume betrachte auch nicht gerade aufbauend zu.“
„Ich habe auch schon errechnete Bauwerke der Art entworfen, wie du sie erträumt hast. Sie können, wie man an den Kolonnaden des Petersplatzes schön sehen kann, durch ihre unendlichen Wiederholungen und ihre grandiose Symmetrie durchaus einigen Eindruck machen. Solche Gebäude haben in ihrer Beschränkung auf das scheinbar Wesentliche aber etwas Lehrhaftes. Und ich habe etwas gegen eine Anordnung der Dinge, die mit der Geste des Gesetzgebers auftritt.“
„Auf den du aber auch wieder nicht verzichten willst.“
„Ich bin, wie du weißt, der letzte, der etwas gegen Gesetze oder die hätte, welche sie anwenden“, sagte Piranesi, der merklich unruhig wurde, „solange dabei das Leben nicht aus dem Blickfeld gerät, zu dem eben auch das Ungereimte, Unsaubere und Unordentliche gehört. Die Griechen neigten zur Idealisierung. Noch mehr“, fuhr er, indem er sich zusehends erregte, fort, „ist dies allerdings bei ihren heutigen Anhängern der Fall, allen voran bei jenem weltfremden Deutschen, den man vor nicht langer Zeit zum Oberaufseher der Antiken in Rom ernannte, der aber auf unserem herrlich lebhaften römischem Boden griechischer sein wollte, als es die Griechen vermutlich je waren, eine Haltung, zu der mein verehrter Landsmann und Kollege Palladio nicht wenig beigetragen hat.“
„Meinst du den Deutschen, der kürzlich in Triest das Opfer eines ziemlich blutigen Verbrechens wurde? Darüber wurde am Tiberufer viel gesprochen.“
„Das Leben hat ihn, Gott hab ihn selig, auf jene nicht eben ideale Weise eingeholt, welche ein Teil desselben ist.“
„Was stört dich an dem Deutschen.“
„Zunächst einmal, dass nach seiner Darstellung die Römer nur die schlechteren Griechen sein sollen.“
„Und was ist dagegen einzuwenden, dass er den Wildwuchs des Lebens beschneiden und etwas Ordnung und Richtung in sein Chaos bringen wollte.“
„Nicht nur, dass das Leben darunter leiden kann. Ich habe mittlerweile auch erhebliche Zweifel, ob das Gleichartige wirklich für unendlich schöner anzusehen ist, als das Ungleichartige, was der Deutsche unter Berufung auf den weisen Griechen behauptet, dessen Buch uns der junge Schwabe zeigte. Schön ist, was wir lieben. Wir können und dürfen aber nicht nur das lieben, was vollkommen und ebenmäßig ist. Auch das Unvollkommene hat ein Recht, geliebt zu werden. Ein Weiteres aber liegt mir besonders am Herzen. Was wir lieben, das schmücken wir. Das Ornament ist eine Liebeserklärung an die Wirklichkeit. Man kann daher überhaupt nicht genug davon haben. Wenn es nach meiner Meinung über die Architektur ginge, könnte man es geradezu übereinander häufen. Das Ornament muss daher, wie bei den Römern, wo es so wunderbar blühte, die Herrscherin der Baukunst sein. Die griechische Partei aber will es in einer Weise beschränken, dass es blutleer und vollkommen leblos wird; sie sagen, es störe ihre Ordnung, die angeblich eine höhere Bedeutung hat.“
„Willst du damit sagen, dass der Mangel an Ornament die Lieblosigkeit ist?“
„Das Ornament veredelt die Wirklichkeit. Es stellt gegen ihre gefühllose Zwiespältigkeit den Anspruch auf Menschlichkeit. Die Beschränkung des Ornamentes ist daher der Verzicht auf Humanisierung, sie ist ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit.“
„Das sind schwere Anschuldigungen. Welchen Beweis kannst du für diese Anklage vorbringen?“
„Schau dir doch die Werke an“, rief Piranesi, der mittlerweile nur noch mühsam an sich halten konnte, „schau dir doch all das an, was ohne einen Schluck aus der Phiole nach dem Ideal der edlen Einfalt errichtet wurde. Es ist meist alles andere als inspiriert. Wenn du das Prinzip der Beschränkung, das dieser Baugesinnung zu Grunde liegt, zu Ende denkst, führt es zur Vernichtung der Baukunst, ja überhaupt der Kunst.“ Und er fügte – inzwischen wütend – hinzu: „Lässt du an einem Gebäude alle Extravaganzen und alles weg, was nicht unbedingt nötig ist, landest du bei der Hütte, die von vier geraden Wänden und einem darüber gelegten Dach gebildet wird, mit anderen Worten bei dem Hausbau, den die skytischen und insbesondere die gotischen Barbaren exekutierten, welche den Untergang des blühenden römischen Reiches herbeigeführt haben.“
Piranesi!“, rief Salametti erstaunt, „du verlierst dich und, wie mir scheint, auch deine Fassung wieder einmal in Gedanken über Bauwerke. Du vergisst, dass unser Problem darin besteht, wie wir aus diesem Raum heraus kommen. Ob jemand für oder gegen das Ornament ist, kann uns doch völlig egal sein.“
„Wenn Bauwerke im Spiel sind, ist mir nichts egal“, gab Piranesi zurück. „Vom Bauen sind wir immer und alle tief betroffen. Hinter den Fassaden, die sich der Welt zuwenden, steckt weit mehr, als es dir scheinen mag.“
XXIV
Bevor sich die beiden wieder auf den Weg machten, schauten sie noch einmal nach dem Franzosen, um sich bei ihm, da er ihnen so viel Zuversicht gegeben hatte, zu bedanken. Sie fanden den Mann reglos in einer Ecke seiner Zelle. Sein Manuskript war ihm aus den Händen geglitten und lag neben ihm am Boden. Piranesi und Salametti versuchten ihn anzusprechen, erhielten jedoch keine Reaktion. Der Mann war – offensichtlich an Entkräftung – gestorben. Piranesi nahm das Manuskript an sich, weil er hoffte, es könne ihnen dabei behilflich sein, den Weg zum Licht des Tages zu finden. Ein Blick auf die letzten Seiten zeigte ihm, dass der Franzose sein Werk vor seinem Tod noch zu Ende führen konnte. Denn das letzte Kapitel handelte über den Fortschritt, den die Menschheit in der Zukunft machen werde. Piranesi setzte sich auf einen Säulenstumpf und las den Anfang dieses Kapitels. Der Text war so mitreißend, dass er bis zum Schluss weiterlas. Salametti wartete inzwischen ungeduldig auf einer Brücke.
„Wenn der Mann Recht hat“, stieß Piranesi schließlich voller Begeisterung aus, „können wir uns auf Einiges gefasst machen. Er glaubt, dass die Zukunft Dinge bringen wird, die wir uns heute noch gar nicht vorstellen können, und alles immer besser wird. Er meint etwa, dass es keine feste Grenze für die Länge des Lebens gebe und man es insofern als unbegrenzt ansehen könne, was die Monopolstellung, die Don Fiore und seine Leute in dieser Frage beanspruchen, ziemlich beeinträchtigen würde.“
„Dann müsste es eigentlich auch einmal Hühner geben, die ewig Eier legen“, stellte Salametti erfreut fest.
„Er ist auch fest davon überzeugt, es werde bald jemanden geben, der die Gesetze dieses Raumes so genau formuliert, dass er die weiteren Schritte ebenso sicher voraus bestimmen kann, wie der Italiener mit dem Fernrohr und der apfeltragende Engländer das Ergebnis von Experimenten anhand der Naturgesetze.“
„Dann sollten wir unsere Suche auf diese Person konzentrieren.“
„Im Übrigen ist er von einer Zuversicht, die geradezu ansteckend ist. Nicht einmal sein eigenes trauriges Schicksal hindert ihn daran, aus der Entwicklung, welche die Dinge bisher genommen haben, zu schließen, dass sich letztlich alles zum Besseren wenden wird.“
„Hoffentlich hat er Recht“, sagte Salametti. „Don Fiore sagt, unser Schicksal sei nur durch die Vorstellung zu ertragen, dass am Ende die Erlösung steht und wir in das Paradies eingehen.“
„Die letzten Zeilen, die der Franzose geschrieben hat, zeigen, dass er genügend Trost aus der Erkenntnis zieht, zum Fortschritt beigetragen zu haben. Er sagt sogar, dass es ihm die reinste Freude bereitet habe.“
„Wenn dem so ist, dann müsste Don Fiore auch in dieser Frage Unrecht haben. Ich weiß auch hier nicht, ob wir uns solche Zweifel erlauben können.“
„Der Franzose jedenfalls will nicht in das Paradies. Er begnügt sich, wie er ausdrücklich schreibt, mit dem Elysium, ein Ort, mit dem schon die Alten vorlieb nahmen. Einer unserer Landsmänner, ein Florentiner, der ein großes Gedicht, eine Art Weltschauspiel, schrieb, meinte, dieser Ort sei in der Nähe der Hölle. Der Franzose sieht die Sache nicht so düster. Für ihn ist dieser Ort das Reich der Vernunft, in dem es bekanntlich hell ist. Dort sieht er sich in Gesellschaft vieler Weiser, Leute, von denen Don Fiore nur wenige in sein Paradies lassen würde.“
Die beiden standen noch eine Zeit lang vor der Leiche und gingen derart zwiespältigen Gedanken nach. Schließlich bedeckten sie den Franzosen mit seinem Mantel. Piranesi nahm sein Halstuch, wickelte darin sorgfältig das Manuskript und band sich das kleine Paket an den Gürtel. Dann setzten sie ihren Weg fort. Sie gingen in die Richtung, die nach ihren Berechnungen der Richtung entgegengesetzt verlief, aus der sie gekommen waren.
XXV
Kurz darauf trafen sie einen Deutschen, der ein außerordentlich dickes Buch bei sich hatte. Er trug einen dichten, schwarzen Bart, der sein Gesicht weitgehend verdeckte.
„Der sieht ja aus wie ein Gespenst?“, sagte Salametti erschreckt.
„Ich denke eher wie jemand, der glaubt, dass er etwas außerordentlich Wichtiges zu sagen habe“, meinte Piranesi.
Der Mann kam auf die beiden zu und sagte: „Ich sah aus meiner Studierstube, dass ihr im Raum umhergeirrt seid und mit dem Deutschen diskutiert habt, der hier mit einem langen Talar herumläuft. Seid ihr dadurch weitergekommen?“
„Ich nicht“, sagte Salametti.
„Auch ich muss zugeben, dass ich ihn kaum verstanden habe“, fügte Piranesi hinzu.
„Kein Wunder“ sagte der Mann, „er drückt sich nicht gerade einfach aus. Was er sagt ist abstrakt und vom Katheder gesprochen. Sein Ansatz ist aber recht brauchbar, er muss nur vom Kopf auf die Füße gestellt werden. Ihr habt nämlich wenig von der schönen Feststellung, dass der absolute Geist zum Bewusstsein seiner Freiheit gekommen oder dass das Wirkliche vernünftig sei. Die Wirklichkeit der konkreten Menschen, eure Wirklichkeit also, ist alles andere als vernünftig. Denn ihr findet euch in diesem Raum nicht zurecht, da er euch völlig fremd ist. Es geht daher nicht darum, sich nur eine Vorstellung davon zu machen, wie die Dinge sind. Sie müssen vielmehr verändert werden.“
„Was können wir hier schon ändern?“ fragte Piranesi. „Alles um uns herum ist ziemlich massiv.“
„Ihr habt in diesem Raum viele Schritte in sehr unterschiedliche Richtungen gemacht. Ihr habt eure Richtung immer wieder geändert, wenn ihr gespürt habt, dass sie nicht richtig war. Dabei seid ihr, auch wenn es euch nicht so erschienen ist, stets weiter fortgeschritten. In diesem Punkte ist dem Kathedermann Recht zu geben. Mittlerweile habt ihr die größten Schwierigkeiten hinter euch gebracht. Jetzt gibt es nur noch einen großen Schritt zu machen.“
„Und der wäre?“, fragte Salametti.
„Folgt mir! Ich habe das wirkliche Gesetz, nach dem alle bisherigen Schritte erfolgt sind, erkannt und ausführlich beschrieben“ – dabei deutete er auf das dicke Buch in seiner Hand. „Ich habe dabei auch festgestellt, wie der letzte Schritt sein muss, der euch endlich ans Licht führt. Er folgt notwendig aus den bisherigen Schritten.“
„Ähnliches haben wir von einem Franzosen gehört“, sagte Piranesi. „Er erwartete, dass einer kommen wird, der die Gesetzlichkeit erkennt, nach der die weiteren Schritte im Raum zu erfolgen haben. Du redest so, als hättest du das Gesetz entdeckt. Ich bin gespannt, was du herausgefunden hast.“
„Der erste Schritt besteht darin zu klären, wer von euch die weitere Führung übernimmt“, sagte der Bärtige.
„Ein Architekt ist naturgemäß in der Führungsposition“, meinte Piranesi, „insbesondere, wenn es um Bauwerke geht.“
„So haben die Privilegierten schon immer argumentiert“, wehrte der Bärtige ab. „Die Führung gebührt aber nicht dem, der sie schon immer hatte, sondern dem, dessen besonderes Interesse mit dem allgemeinen Interesse übereinstimmt. In unserem Fall ist dies derjenige, der das stärkste Interesse daran hat, ins Freie zu kommen.“
„Das habe natürlich ich“, platzte Salametti dazwischen, „ich muss mich um meine Hühner kümmern. Bei diesem angeblichen Architekten hingegen weiß man nicht so genau, ob er überhaupt so schnell hier wieder heraus möchte. Der Mann diskutiert gerne. Ich habe den Eindruck, dass er, statt draußen im Licht des Tages Neues aufzubauen, sich hier unten am liebsten endlos in die dunklen Merkwürdigkeiten dieses Raumes vertieft. Ich würde mich nicht wundern, wenn er sie am Ende gar noch abzeichnen würde.“
„Ich bezweifle, dass dieser Hühnermensch weiß, wie es weiter gehen soll“, sagte Piranesi, „er hat keine Erfahrung in solch` gewichtigen Dingen. Ich werde mich von ihm nicht führen lassen.“
„Dann wirst du mit meiner Hilfe dazu gezwungen werden müssen“, sagte der Deutsche.
„Der Franzose hat gesagt, der Fortschritt bestehe darin, dass die Tyrannei beseitigt und allgemeine Gleichheit eingeführt werde.“
„Das ist das Ziel, dass auch uns vorschwebt und das wir eines Tages auch erreichen werden. Vorläufig werden wir aber nur mit einer straffen Führung weiterkommen. Denn das Endziel kann man nur durch eine grundlegende Veränderung der bisherigen Verhältnisse erreichen. Dies ist, da alles völlig festgefahren ist, nicht ohne eine radikale Umwälzung möglich, die wiederum nur der bewerkstelligen kann, der keine Privilegien zu verlieren hat.“
„Also ich“, platzte wiederum Salametti dazwischen.
„Richtig“, sagte der Deutsche, „und ich werde dir nicht nur erklären, wie du die Führung auch gegen den Willen Piranesis übernehmen kannst. Ich werde dich auch mit dem notwendigen Rüstzeug für deine neue Rolle ausstatten“ – wieder verwies er auf das dicke Buch. „Im Übrigen wird dir die Führung umso leichter fallen, als es nun ein klares Ziel und daher nur eine Richtung gibt.“
„Was sicher beides in diesem Buche genau beschrieben ist“, freute sich Salametti.
„Dieses Buch ist für dich jetzt möglicherweise etwas zu langwierig. Vorläufig wird dir ein kleines Manifest genügen, dass ich gemeinsam mit einem Kollegen verfasst habe“, sagte der Bärtige und zog eine dünne Schrift aus der Tasche, die er Salametti übergab.
„Du wirst das Wichtigste verstanden haben, wenn du dies gelesen hast“, sagte er und überließ die beiden ihrem Schicksal.
Während Piranesi ratlos im Raum umher schaute, ließ sich Salametti auf einem Säulenkapitel nieder, das der Steinmetz nicht fertig gestellt hatte, und vertiefte sich in das Manifest. Piranesi bemerkte, dass seine Miene immer erregter wurde. Nach einiger Zeit verkündete Salametti, er wisse nun, wie es weitergehe. Er stand entschlossen auf, sagte, er habe einen genauen Plan und marschierte, ein Lied auf den Lippen, zügig die nächste Treppe hinauf. Piranesi folgte ihm missmutig und widerwillig. Die Treppe schien kein Ende zu nehmen. Salametti schritt jedoch unverdrossen immer weiter. Kein Aufwand schien ihm zu groß zu sein. Schließlich hielt Piranesi, dem die Kräfte schwanden, an und stellte Salametti zur Rede.
„Es ist nicht gut, wenn jemand in Fragen, die so komplex sind, wie die, welche uns betreffen, einsame Entscheidungen trifft. Vier Augen sehen mehr als zwei und zwei Köpfe können besser als einer denken. Wir müssen unbedingt darüber reden, ob wir noch auf dem richtigen Weg sind.“
„Geredet wurde schon genug“, wies ihn Salametti zurecht, „wir sind hier nicht auf einem Hühnerhof, wo jeder durcheinander gackern kann. Wir haben einen klaren Plan und kommen nur weiter, wenn derjenige, der weiß, wo es hin geht, die Richtung bestimmt. Und das bin nun einmal ich. Du wirst also deine Neigung, alles zur Diskussion zu stellen, einschränken und lernen müssen, Linie zu halten. Später, wenn alle Widersprüche aufgelöst sind, wirst du wieder unbegrenzt reden können. Allerdings werden dann deine Bedürfnisse soweit befriedigt sein, dass du nur noch ein begrenztes Interesse am Diskutieren hast.“
„Nehmen wir an, dass die Richtung, die du eingeschlagen hast, richtig ist. Das ändert nichts daran, dass die Anstrengung, die du verlangst, um dahin fortzuschreiten, zu groß ist. Ich weiß nicht, ob ich sie durchstehen kann. Wir müssen einen Weg nehmen, der nicht so steil ansteigt.“
„Die Anstrengung ist nötig, weil das Ziel sie erfordert. Auf den Einzelnen kann es dabei nicht ankommen. Das hat sogar schon der Franzose erkannt, dessen Schrift du bei dir führst. Strenge dich eben an.“
„Er hat aber auch gesagt, beim Fortschritt gehe es darum, den Menschen in seine Rechte und in die Würde seiner Natur einzusetzen.“
„Das sind schöne Worte. Ich werde mit dir darüber nicht mehr lange diskutieren. Du hast die Wahl, mitzugehen oder in einem der Verließe zu landen, die hier zur Genüge vorhanden sind. Hühner, die sich zu weit außerhalb des Hofes herumtreiben, müssen in Gottes – ich meine in des Deutschen – Namen in den Stall. Dahin wird, wenn ich es erwische, übrigens auch das Huhn kommen, das uns all das hier eingebrockt hat.“
Damit ging Salametti wieder voran. Piranesi gab den Widerstand auf und trottete lustlos hinter Salametti her. Wenn sie Rast machten, beschäftigte er sich nun mit den überreich verzierten Profilen und Zierleisten der Simse, Architrave und Stürze, die am Wegesrand lagen, etwa den verschiedenen Formen des Eierstabmotivs oder der Blattwelle, den diversen Lorbeer- und Palmettenfriesen und den lebensprallen Fruchtschnüren. Außerdem machte er sich Gedanken darüber, mit welchen Figuren und in welchen Stilen man Kamine und Möbel schmücken könne und malte sich Paläste, Häfen und Plätze mit gigantischen, in sich verschachtelten Rundformen im Stile des Kolosseums aus, die mit Ehrensäulen, Mausoleen, Statuen und Trophäen gefüllt und von Friesen, Tafeln und allen möglichen Ornamenten übersät waren.
Nach einer Zeit, die ihm unendlich schien, stellte Piranesi fest, dass Salametti unsicher wurde. Ihm fiel insbesondere auf, dass Salametti anfing, angebliche Fortschritte mit großen Worten zu preisen und zwar umso mehr, je öfter sie die Richtung gewechselt hatten. Außerdem bemängelte Salametti nun immer häufiger, dass Piranesi zum gemeinsamen Fortkommen nicht das beitrage, was man von ihm erwarten könne. Piranesi glaubte auch feststellen zu können, dass Salametti müde wurde. Das änderte sich allerdings noch einmal, als Salametti in der Ferne einen mächtigen runden Turm mit kraftvoller Rustikaverkleidung und breitem Kranzgesims bemerkte, der im Zentrum einer langen Raumflucht stand.
„Siehst du den Turm?“, fragte er Piranesi. „Er ist so rund und lebensprall, wie die Bauten des Kaisers Hadrians. Wenn wir dort angekommen sind, werden wir es geschafft haben.“
„Hoffentlich schaffen wir es dort hin und vor allen hinein“, antwortete Piranesi.
„Es liegen noch einige Hindernisse im Weg. Wir werden unsere Anstrengungen daher noch einmal verstärken müssen.“
Piranesi reagierte auf die Ankündigung neuer Strapazen mit einem matten „ja, ja“, versicherte, er werde alles tun, was in seinen Kräften stehe, verharrte aber in lähmender Gleichgültigkeit. Unter weiteren unmenschlichen Entbehrungen gelangten die Beiden schließlich in die große Raumflucht.
Zwischen ihnen und dem prachtvollen Turm lag nur noch ein tiefer Graben, der durch eine dünne Brücke überspannt wurde, an deren Geländer ein Banner von der Art hing, wie man sie aus dem Fenster des päpstlichen Arbeitszimmers im Vatikanpalast hing, wenn er den Gläubigen eine Botschaft zu verkünden hatte. Während Piranesi abwartend stehen blieb, rannte Salametti hektisch über die Brücke auf den Turm zu. Drüben angekommen musste er feststellen, dass die Brücke gegen die nackte Wand führte. In ihr waren zwar zwei Fenster, eines rund, das andere rechteckig. Sie waren aber mit massiven Eisenstäben so fest vergittert, dass ein Betreten des Turmes völlig ausgeschlossen war. Salametti war ratlos. Er starrte durch die Gitter und blätterte in dem Manifest, das ihm der Deutsche gegeben hatte. Schließlich kam er mit hängenden Schultern über die Brücke zurück und sagte:
„Ich bin mit meinem Latein am Ende. Nicht nur, dass ich in der Schrift keine Lösung finde. Mir ist überhaupt der Glaube an eine Lösung zweifelhaft geworden. Daher werde ich die Führung wieder abgeben. Ich hoffe, dass du die Kraft hast, uns aus diesen Problemen herauszuführen.“
„Ich werde es versuchen“, sagte Piranesi. Und er fühlte, dass in ihm die Lebensgeister wieder erwachten.
XXVI
Während beide noch darüber nachdachten, wie es weiter gehen könnte, hörten sie von Ferne ein Husten, das im Raum vielfach wieder hallte. Sie folgten dem Geräusch und gelangten über allerhand umgestürzte Säulen und umher liegende Architrave in einen Raum, in dem Pfeiler, Strebebögen und Wände dergestalt dicht neben- und übereinander gestaffelt waren, dass auf engstem Raum eine große Vielfalt von Raumsegmenten entstanden war.
Die Statik dieses Raumgewirrs erschien Piranesi besonders prekär. Er hatte größte Probleme, die tragenden Elemente zu erkennen. Einige Pfeiler, die möglicherweise eine tragende Funktion besaßen, waren sogar nur aus lose übereinander geschichteten Steinplatten aufgehäuft, die dazu noch gänzlich unterschiedliche Größen hatten.
Mitten in diesem Durcheinander fanden sie einen jungen Deutschen, der mit allerhand Zeichnungen hantierte, auf denen sich Gebilde von merkwürdiger Unregelmäßigkeit zeigten. Sie schienen einander ähnlich, unterschieden sich aber bei näherem Hinsehen in manchen Einzelheiten.
„Ich nehme an, dass du den Raum zu erfassen versuchst“, sprach ihn Piranesi an. „Aber du zeichnest ungewohnte Bilder. Ich sehe keine geraden Linien, die doch zum Raum gehören.“
„Wie das Huhn zum Ei“, warf Salametti dazwischen.
„Die Dinge, die du gezeichnet hast“, fuhr Piranesi fort, „sind krumm und nicht gerade übersichtlich. Wie lässt sich darin eine eindeutige Richtung finden?“
„Deine Frage setzt einen Raum voraus, der durch gerade Linien gekennzeichnet ist“, antwortete der Deutsche. „Es ist richtig, dass man bislang sowohl einen solchen Begriff des Raumes als auch die ersten Grundbegriffe für die Konstruktion im Raum als etwas dergestalt Gegebenes vorausgesetzt hat. Aber was sagt uns, dass diese Annahme richtig ist?“
„Wir brauchen doch nur in unsere unmittelbare Umgebung zu schauen“, antwortete Piranesi. „Auch wenn manches unübersichtlich erscheint, spricht nichts dafür, dass diese Räume selbst ungerade wären. Wir wissen noch immer genau, was senkrecht oder oben ist und ob ein Weg gerade oder krumm verläuft. Ohne die Einbettung in einen allgemeinen Raum aus geraden Linien wäre dies nicht zu beurteilen.“
„Es bedarf einer erheblichen Phantasie“, antwortete der Deutsche, „in diesem Durcheinander von Bauformen und Trümmern eine gerade Raumvorstellung zu entwickeln. Ich denke, dass eine solche Vorstellung sich jedenfalls nicht unmittelbar aus diesen Räumen ergibt. Und vielleicht sollte man überhaupt vorsichtig sein mit solchen allgemeinen Vorstellungen von Räumen, in die alles Konkrete eingebettet sein soll. Es mag sein, dass in unserer unmittelbaren Umgebung alles so ist, als ob es geradlinig wäre. Vermutlich werden wir, wenn wir in diesem Raum Messungen vornehmen würden, auch zu geraden Ergebnissen kommen.“
„Warum belassen wir es dann nicht dabei?“, fragte Salametti.
„Wer sagt uns, dass all dies nicht nur bis zu dieser Mauer und bis zur Decke des Gebäudeteiles gilt, in dem wir uns gerade befinden? Woher wissen wir, dass dies auch für große Räume richtig ist? Ich denke, wir müssen uns, um diese Frage zu beantworten, etwas näher mit der Geraden befassen, die ihr, wie die meisten Menschen für so eindeutig haltet. Was ist die Gerade denn eigentlich? Sie ist bloß eine Linie, deren Krümmung gleich Null ist, ein Einzelfall unbegrenzt vieler Linien also, die alle ungerade sind.“
„Mit diesem Argument, kann man alles krumm machen“, sagte Salametti.
„Das ändert nichts daran, dass man die Dinge auch so sehen kann. Das gleiche gilt für Flächen. Ebene Flächen kann man als Grenzfälle gekrümmter Flächen ansehen. Warum, so frage ich daher, sollte dies nicht auch für Räume gelten? Schließlich unterscheiden sie sich von Flächen in gleicher Weise, wie diese von den Linien, dadurch nämlich, dass ihnen eine weitere Dimension hinzugefügt ist. Damit ändert sich aber nichts Grundlegendes. Daraus folgt allerdings, dass die Zahl der Räume in ähnlicher Weise vielfältig sein muss, wie die Anzahl der möglichen Linien und Flächen. Und dementsprechend müssen alle Räume außer einem einzigen ungerade, krumm und verbogen sein wie die Gebilde, die ihr hier gezeichnet seht. Ja wir können den vertrauten drei Dimensionen weitere hinzufügen, sodass wir zu noch komplizierter Räumen kommen.“
„Wohin führt diese Spielerei mit vielen Räumen“, fragte Piranesi. „Wir können uns nicht in mehreren Räumen befinden. Was uns interessiert, ist unser Raum. Welcher der vielen Räume ist also der Raum, durch den wir gehen?“
„Ich weiß nicht, wohin diese Beschäftigung führen wird, die du als Spielerei bezeichnest. Vielleicht wird man es später herausfinden. Ich weiß auch nicht, in welchem der möglichen Räume wir uns befinden. Statistisch ist es, folgt man meinen Überlegungen, sehr unwahrscheinlich, dass ausgerechnet dieser Raum so gerade ist, wie du es gerne haben möchtest. Aber es ist zu früh, derartige Fragen zu beantworten. Um den Raum zu verstehen, müssen wir erst einmal klären, welche Hypothesen ihm zugrunde liegen und auf welche allgemeinen Gesichtspunkte man diese zurückführen kann.“ Ein Hustenanfall hinderte den Deutschen, weiter zu sprechen.
„Ein Landsmann von dir“, sagte nun Piranesi, „hat uns gelehrt, dass wir das Wesen des Raumes nicht näher zu erkennen in der Lage sind, dass er in seiner linearen Form vielmehr die allgemeine Vorstellungsweise sei, die all unserer Erkenntnismöglichkeit vorausgeht. Deine Frage pocht also an der Erkenntnisordnung, die jener Deutsche mit viel Autorität hergestellt hat.“
„Nun, vielleicht geht es bei dieser Art der Erkenntnis zu ordentlich zu. Ich bin Mathematiker und bin nicht an die Lehren der Denker gebunden, die aus welchen Denkgewohnheiten oder Rücksichten auch immer entstanden sind. Für mich gilt eine andere Ordnung. Meine Überlegungen zeigen, dass der Raum keine letzte Gegebenheit ist. Er lässt sich sehr wohl auf allgemeinere Grundsätze zurückführen, anhand deren, anders als mein verehrter Landsmann angenommen hat, doch einiges über sein Wesen ausgesagt werden kann. Der Raum ist nämlich nur ein Fall einer mehrfach ausgedehnten Größe. In einer solchen Mannigfaltigkeit, wie wir Mathematiker sagen, herrschen keine einheitlichen Maßverhältnisse, vielmehr ändern sich diese von Ort zu Ort je nach den inneren Eigenschaften der Mannigfaltigkeit, sodass zwar, wie wir bereits festgestellt haben, hier in diesem Gebäudeteil und an jedem anderen Ort gerade Verhältnisse zu herrschen scheinen, nicht jedoch zwingend von einem zum anderen Ort. Ich bezweifle, dass die Maßverhältnisse des Raumes ein für allemal und fertig da sind und dass das Wirkliche gewissermaßen nur darin einzuziehen braucht. Vieles spricht vielmehr dafür, dass der Grund der Maßverhältnisse in bindenden Kräften gesucht werden muss, die außerhalb der Mannigfaltigkeit wirken.“
„Wie kann man sich solche Kräfte vorstellen?“, fragte Piranesi verwundert.
„Vieles ist denkbar, zum Beispiel, dass die Gestalt des Raumes und seine Maßverhältnisse durch die Masse bestimmt werden, welche sich in ihm befindet, etwa von all den massiven Mauern und Säulen hier. Mit diesem weiten Ansatz geht unser Blick, wie ich denke, ein gutes Stück über die Beschränktheit der herkömmlichen Begriffe hinaus. Auf diese Weise wird, wie ich hoffe, der Fortschritt des Erkennens der Zusammenhänge der Dinge nicht mehr durch überlieferte Vorurteile gehemmt sein. Wenn wir uns unter diesen Voraussetzungen der Frage nähern, welcher der vielen Räume nun unser Raum ist, werden wir zwar sinnvollerweise von der Auffassung ausgehen, die durch unsere Erfahrung bewährt ist, der Auffassung also, zu der jener Engländer den gedanklichen Grund gelegt hat, der hier mit dem Apfel durch die Gegend läuft. Auf Grund unseres weiteren Blickwinkels können wir jetzt aber Tatsachen berücksichtigen, die sich aus der bisherigen Erfahrung nicht erklären lassen und dadurch den unseren Begriff des Raumes allmählich umarbeiten.“
Wieder wurde der Deutsche durch einen Hustenanfall unterbrochen. „Was meinst Du“, fragte ihn Piranesi, „mit Tatsachen, die sich aus der bisherigen Erfahrung nicht erklären lassen und die möglicherweise zu ungleichmäßigen Maßverhältnisse im Raum führen?“
„Diese Frage kann ich nicht beantworten“, antwortete der Deutsche, „ich bin Mathematiker. Deine Frage betrifft aber den Raum, wie er hier um uns ist und damit das Gebiet der Physik, welches die Natur meiner Überlegungen mir jetzt nicht zu betreten erlaubt Vielleicht wird sie jemand später klären können.“ Erneut schüttelte ihn ein starker Husten.
„Was suchst du in diesem düsteren und feuchten Gemäuer?“, fragte Piranesi besorgt. „Dein Husten kann dadurch nur schlimmer werden. Niemand kann mehr als du daran interessiert sein, hier wieder herauszukommen. Da dein Interesse und das unsrige identisch sind, wärst du der ideale Führer für uns.“
„Eigentlich habe ich diese südlichen Gefilde aufgesucht, um mich von diesem Brustleiden zu heilen, dessen Zeuge ihr geworden seid. Aber es hat mich immer wieder in diese seltsamen Räume verschlagen und Gott weiß, ob und in welcher Weise ich wieder aus ihnen herausfinde. Aber ich glaube nicht, dass ich euch wirklich zu Diensten sein kann. Ich stehe noch zu sehr am Anfang meiner Überlegungen, um daraus praktische Konsequenzen ziehen zu können.“
Und so verließen Piranesi und Salametti den merkwürdig verschachtelten Raum und setzten ihren Weg fort.
XXVII
„Der Plan“, rief Piranesi nach einer Weile so laut aus, dass es in der Tiefe des Raumes lange widerhallte, „der Plan, den ich anfangs zu zeichnen versucht habe, wollte nicht mit den tatsächlichen Räumen übereinstimmen, obwohl ich ihn genau nach den Regeln gefertigt hatte, die mir meine Lehrer beigebracht und mit denen Architekten doch schon immer Gebäude und Räume gebaut und analysiert haben. Dem Plan fehlten Räume, die wir vorgefunden haben, ebenso wie er Räume enthielt, die so nicht vorhanden waren. Waren das nicht Tatsachen, die sich aus der bisherigen Erfahrung nicht erklären ließen, die raumbestimmenden Tatsachen also, von denen der Deutsche gesprochen hatte? Wie ist es möglich, dass ich dies vergessen konnte? Wir müssen diese merkwürdige Erfahrung dem Deutschen mitteilen. Lasst uns daher zu ihm zurückkehren.“
„Was habe ich mit den Rechnereien dieses Deutschen zu tun“, protestierte Salametti. „Er wusste doch selbst nicht, ob sie für irgendetwas gut waren.“
Piranesi war aber schon losgeeilt, weswegen Salametti ihm notgedrungen folgen musste. Sie gingen den Weg zurück, den sie glaubten, gekommen zu sein. Bald hatten sie sich jedoch zwischen Wänden und Säulen verlaufen, die sie zuvor nicht gesehen hatten. Es gelang ihnen nicht, den Raum wiederzufinden, in dem der Deutsche gewesen war.
„Ich habe schon immer gesagt, dass mit diesem Raum etwas nicht in Ordnung ist“, sagte Salametti, „aber keiner der gelehrten Herren, zu denen du dich ja mittlerweile zu zählen scheinst, hat mir glauben wollen. Man braucht doch nur ein Huhn anzuschauen, um zu wissen, dass der Raum keine Schuhschachtel sein kann. Ein Ei ist ja geradezu der Inbegriff der Unregelmäßigkeit gegen den Kasten von einem Raum, in dem wir uns angeblich bewegen.“
„Ich weiß nicht, ob man Huhn, Ei und Raum so miteinander in Verbindung bringen kann“, antwortete Piranesi. Beide schwiegen eine Zeit lang und sannen diesem merkwürdigen Gedanken nach.
„Übrigens“ hob Salametti nach einer Weile wieder an, „ich frage mich schon seit einiger Zeit, wieso hier unten all diese seltsamen Leute herumgeistern.“
„Es sieht so aus, als habe man sie nicht dort unterbringen können, wo sie eigentlich hingehören.“
„Du hast Recht. Die meisten scheinen weder in den Himmel noch in die Hölle zu passen. – So wie sie zwischen all den Steinen herumklettern, könnte man meinen, dass sie Eier suchen.“
„Das Ei des Kolumbus vielleicht.“
„Was meinst du damit?“
„Nun, sie scheinen nach einer einfachen, aber verblüffenden Lösung für das Raumproblem zu suchen, ein Einfall, auf den bisher noch keiner gekommen ist, eben ein Ei des Kolumbus. Eigentlich ist es allerdings ein Ei des Brunelleschi.“
„Des Brunelleschi?“
„Kolumbus hat die Lösung des Problems des Seeweges nach Indien, der seinerzeit umständlich um ganz Afrika ging, auf eine Weise versucht, auf die zuvor niemand gekommen ist, nämlich indem er einfach nach Westen um die Erde segelte. Man hat dies mit der verblüffenden Lösung für das Problem verglichen, wie man ein Ei auf die Spitze stellt. Jemand hat das Problem nämlich kurzerhand dadurch gelöst, dass er das Ei mit eben der Spitze vorsichtig auf den Tisch schlug, sodass es auf der Fläche stehen kann, die durch das Eindrücken der Spitze entsteht. Und weil die beiden Lösungen in ähnlicher Weise überraschend einfach sind, hat man die Lösung des Eierproblems auch dem Kolumbus zugesprochen. Es wird aber berichtet, dass Brunelleschi dieses Problem schon zwei Menschenalter früher auf die genannte Weise gelöst habe.“
„Er muss ein schlauer Kopf gewesen sein.“
„Tatsächlich hat Brunelleschi für unsere Welt Erstaunlicheres geleistet als Kolumbus. Mit ihm ging die neuere Kuppelbauerei los, von der wir gesprochen haben. Er soll für den Geniestreich mit dem Ei den Auftrag für den Bau der Kuppel über der Vier- ung des mittelalterlichen Domes von Florenz bekommen haben, der ersten großen Kuppel der neueren Zeit. Sie ist größer als die des Pantheons, welches das Muster abgab, und sogar als die des Petersdoms, für welche sie das Vorbild war.“
„Du bist wieder drauf und dran, dich in architektonische Hintergedanken zu verlieren, diesmal mit dem wunderlichen Ergebnis, dass der Bau von Kuppeln wichtiger sein soll, als die Entdeckung der Neuen Welt.“
„Ich komme schon zur Sache. Brunelleschi hat etwas getan, das möglicherweise wirklich folgenschwerer war, als die Erweiterung der äußeren Welt, die wir Kolumbus verdanken – denn diese hat doch, wie mir scheint, vor allem der Habgier neue Perspektiven eröffnet. Auch Brunelleschi hat eine neue Welt entdeckt, eine Welt, welche allerdings mehr in unserem Inneren liegt. Er hat die mathematisch-geometrische Perspektive erfunden, mit der man seitdem den Raum von einem einheitlichen Blickwinkel zu erfassen versucht – das ist die Sache mit dem Fluchtpunkt hinter dem Horizont, auf den alles zuläuft, und den abnehmenden Größenverhältnissen – du erinnerst dich, dass der malende Alte davon sprach.“
„Ich weiß noch, dass er seine Leinwand mit allerhand regelmäßigen Linien überzogen hatte.“
„Brunelleschi brachte auf diese Weise die Raumvorstellung auf die Leinwand, welche der Grieche in die Welt gesetzt hat, der das abgegriffene Geometriebuch mit sich führte. Er ist damit einen Weg konsequent zu Ende gegangen, den schon die Alten betreten hatten, auf dem sie aber in ähnlicher Weise stecken geblieben sind, wie bei ihren Versuchen, die Mathematik auf die Gegenstände des Raumes anzuwenden. Diese Darstellung des Raumes scheint uns heute völlig selbstverständlich. Sie ist aber, was ich äußerst bemerkenswert finde, anderen großen Kulturen ebenso unbekannt geblieben wie die genannte Verwendung der Mathematik. Dies gilt etwa für so große Kulturen wie die chinesische und die indische. Besonders deutlich wird es aber bei den Ägyptern, welche die Darstellung auf übereinander geschichteten Standlinien anordneten.”
„Der Alte schien mit Brunelleschis Methode, wiewohl er sie als wissenschaftlich bezeichnete, nicht sehr erfolgreich zu sein. Er klagte, dass er unseren Raum damit nicht richtig in den Griff bekomme.“
„Brunelleschis Zentralperspektive löst das Problem des Raumes möglicherweise ebenso wenig, wie Kolumbus` Fahrt nach Westen wirklich nach Indien führte. Diese Perspektive hatte einerseits eine verstärkte Fixierung auf die Linie zu Folge, was die Ursache für unsere und des Alten Probleme sein kann. Anderseits hat der einheitliche Gesichtspunkt, der ja jeweils frei gewählt ist, die Menschen auch gelehrt, dass man die Welt aus sehr verschiedenen Perspektiven betrachten kann, was auch wieder ein Grund für unsere Probleme sein kann.“
„Der Mann hat Kuppeln gebaut und Linien gezogen. Es scheint, dass er sich nicht zwischen dem Runden und dem Geraden entscheiden konnte.“
„Die Entscheidung war zu seiner Zeit nicht mehr so ohne weiteres möglich. Die Wiederentdeckung des Runden war ja keine Wiedergeburt in einem leeren Raum. In diesem Raum hatte sich inzwischen das Gerade eingenistet.“
„Wie dem auch sei, wir könnten jemanden gebrauchen wie diesen Brunelleschi, der ein Problem auf verblüffend einfache Weise lösen kann.“
XXVIII
Unter diesen Gesprächen gelangten Piranesi und Salametti an den Rand eines Raumes, der sich tief unter ihnen ausbreitete. Er wurde von keiner der Konstruktionen überspannt, die sonst überall zu finden waren und sein Ende war nicht abzusehen. Piranesi und Salametti konnten sich keine Vorstellung davon machen, wie es weiter gehen könnte. In diesem Augenblick erblickten sie in einiger Entfernung ein merkwürdiges Wesen. Es war ein riesiger Drache, welcher einen freundlichen Menschenkopf, einen Schlangenleib und Raubtierpranken hatte, die bis unter die Achsel behaart waren. Brust und Rücken waren mit Knoten und Ringen von großer Farbigkeit bemalt. Während der obere Teil seines merkwürdigen Leibes auf einer Plattform ruhte, hing sein schlangenartiger Schwanz in weiten Windungen in den Raum hinein. Das Untier war so groß, dass es die mächtigen Mauern, auf denen es saß, zu erdrücken schien. Da ihn die Kreatur freundlich ansah, ging Salametti ohne weiteres darauf zu.
„Dieser Drache hat Flügel“, stellte er begeistert fest, ,,mit seiner Hilfe können wir den Abgrund überqueren“.
„Ich weiß nicht, was ich von dieser Kreatur halten soll“, gab Piranesi zu bedenken. „Sie hat zwar eine schöne Zeichnung, ist aber aus Teilen zusammengesetzt, die nicht zueinander passen wollen. Ihr Gesicht ist freundlich, der Schwanz biegt sich am Ende jedoch zurück wie der Stachel eines Skorpions. Auch ihre haarigen Pranken sind bedenklich. Ich weiß nicht, ob man ihr vertrauen kann.“
„Ich habe Vertrauen zu geflügelten Wesen“, antwortete Salametti und kletterte auf die Schultern des Drachen. Piranesi zögerte eine Weile und wog ihre Lage gegen die Risiken eines Fluges ab.
„Ganz ohne Vertrauen geht es im Leben nicht“, meinte er schließlich und kletterte ebenfalls auf den Rücken des Drachen, wo er sich neben Salametti niederließ. „Letztendlich muss man immer sich selber vertrauen.“
Der Drache schob sich sachte rückwärts, bis er den freien Raum fühlte, und wand sich dann wie ein Aal in die Tiefe. Unwillkürlich klammerten sich Piranesi und Salametti aneinander fest.
„Diese Strecke werden wir wohl nicht in Parallelen zurücklegen können“, lachte Salametti.
„Die Parallelen“, schoss es Piranesi durch den Kopf. „Wir sind uns immer wieder in die Quere gekommen. Vielleicht hatte der Grieche Unrecht mit seiner Behauptung, dass sich Parallelen nie schneiden. Was wäre, wenn diese Annahme, die er als das Grundgesetz des Raumes bezeichnete, falsch ist? Hätten wir dann unser Ziel möglicherweise gerade deswegen nicht erreicht, weil wir einer Geraden folgten? – Unsinn“, sagte er sich schließlich, „welche andere Möglichkeit hätte es gegeben? Hätten wir vielleicht in Kurven durch den Raum laufen sollen? Ganz abgesehen davon, dass es unendlich viele Kurven gibt.“
Der Drache glitt bei ständig steigender Geschwindigkeit weiter in die Tiefe des Raumes. Piranesi fühlte ein Brausen in den Ohren und einen stetig anwachsenden Druck auf den Augen. Zu seiner Verwunderung stellte er aber fest, dass er keinen Fahrtwind verspürte. Nach einiger Zeit bemerkte er, dass sich das Manuskript des Franzosen von seinem Gürtel gelöst hatte und über Bord gegangen war. Da der Drache weiter beschleunigt hatte, schwebte es in einiger Entfernung hinter ihnen durch den Raum. Kurz danach glitt Salametti, dem die Sinne geschwunden waren, das Manifest des bärtigen Deutschen aus den Händen, welches er in nostalgischer Erinnerung an seine einstige Führungsrolle noch immer bei sich geführt hatte. Piranesi machte keinen Versuch, es festzuhalten, weswegen es ebenfalls zurückblieb. Er schaute hinaus in den Raum, um festzustellen, in welche Richtung der Drache flog. Es gab jedoch keinen anderen Gegenstand, auf den er eine Richtung hätte beziehen können. Das Einzige, was er sah, waren die beiden Bücher, die nach Art eines Kometenschweifes hinter dem Drachen herzogen. „Ich könnte von unserem Standpunkt auf dem fliegenden Drachen eine Linie durch die beiden Bücher in die Tiefe ziehen“, überlegte Piranesi. „Diese Linie müsste eigentlich anzeigen, aus welcher Richtung wir gekommen sind. Wenn der Franzose und der Deutsche, welche die beiden Schriften verfasst haben, Recht haben, müsste man dann aus dem Weg, der hinter uns liegt, schließen können, in welche Richtung wir uns weiter bewegen. Demnach müssten wir in die Richtung fliegen, die dem Blick zu den Büchern entgegengesetzt ist. Doch nützt mir diese Überlegung wirklich? Die Bücher im Raum sind vollständig abhängig von unserem Standpunkt. Nicht nur ihre Richtung, auch ihr Bewegungsimpuls stammt ganz von uns. Das aber bedeutet, dass sie selbst keinen eigenen Standpunkt und daher als Gegenstände des Raumes keine eigene Wirklichkeit haben. Genau genommen kann ich nicht einmal sagen, ob die Bücher vor oder hinter uns sind. Möglich ist schließlich auch, dass wir uns allesamt quer durch den Raum bewegen. Aus der Lage der Bücher kann man daher keine Schlüsse auf unsere Richtung ziehen. Ja ich muss feststellen, dass ich nicht einmal weiß, ob wir uns überhaupt bewegen.“
Während Piranesi noch diesen Gedanken nachhing, näherte sich der Drache in elegantem Schwung einer gewaltigen Brücke, auf der er sanft landete. Piranesi und Salametti stiegen ab und der Drache verschwand lautlos. Als sie sich umschauten, stellten sie fest, dass sie sich wieder in dem Raum mit der Inschrift ‚Quid est spatium?’ und dem Folterrad befanden.
„Es sieht so aus, als seien wir wieder dort angelangt, wo wir angefangen haben“, staunte Piranesi.
„Dann sind wir ja bald wieder zu Hause“, freute sich Salametti.
„Die Sache ging mir reichlich schnell“, gab Piranesi zu bedenken. „Ich fürchte, dass ein Spuk oder Betrug im Spiel ist. Es könnte auch Selbstbetrug sein. Der Drache war ziemlich mehrdeutig.“
„Das wäre mir egal, wenn ich auf diese Weise wieder ans Tiberufer und zu meinen Hühnern käme. Ich glaube daran, dass ich bald wieder zu Hause bin.“
„Es mag ja sein, dass der Glaube Berge versetzt. Aber er versetzt nicht auch noch dich selbst und möglichst gleich nach Hause. Ich fürchte, wir müssen erst einmal klären, wo wir wirklich sind. Es wäre gut, wenn wir einen Beweis dafür fänden, dass das Unwahrscheinliche wirklich ist“.
„Du bist so ungläubig wie der Apostel Thomas. Hörst du übrigens die Töne?“, fragte Salametti und horchte in den Raum hinein.
XXIX
In der Hoffung, nähere Aufklärung über ihren wahren Standort zu erhalten, folgten Piranesi und Salametti der Richtung, aus der die Töne kamen. Dabei kamen sie zu einem der beiden Portale der Pilasterhalle. Piranesi stellte allerdings verwundert fest, dass es nicht das Portal mit dem Kreis war, durch das sie die Halle anfangs verlassen hatten, sondern das Portal der Gegenseite, über welchem die liegende Acht angebracht war. Sie betraten die Pilasterhalle, die vollkommen leer war. Die Töne kamen aus dem Portal der gegenüberliegenden Seite, über welchem der Kreis war. Piranesi und Salametti durchquerten daher die Pilasterhalle und traten durch das andere Portal. Dort fanden sie sich wiederum in dem Raum mit der Inschrift. Allerdings war hier ein Mann, der fremde Tracht und einem mächtigen Schnauzbart trug. Er saß zwischen den Spitzen des großen Folterrades und fuhr, ein Lied vor sich her singend, darauf im Kreis herum.
Die beiden hielten ein und lauschten. Als der Mann geendet hatte, fragte Salametti:
„Weißt du, was für ein Lied das war?“
„Es war eine Art Drehorgellied.“
„Ich konnte nicht verstehen, worum es ging.“
„Es war davon die Rede, dass alles gehe und alles komme und dass das Rad des Seins ewig rolle; auch dass alles sterbe und blühe, breche und neu gefügt werde, dass sich das Haus des Seins ewig gleich baue und dass der Pfad der Ewigkeit krumm sei. Auch eine Kugel kam vor, zu der sich jedes Hier im Dort rolle. Hadrian hätte das Lied wohl gefallen.“
„Deinem Kaiser vielleicht.“
„Den meine ich auch. Der Papst hätte dem Mann eher die Inquisition auf den Hals gehetzt.“
„Apropos ewig gleich gebautes Haus. Verstehst du, wie wir durch zwei Portale, zwischen denen eine große Halle liegt, in den gleichen Raum gelangen konnten?“
„Das ist in der Tat bemerkenswert” sagte Piranesi. „Nach dem, was wir eben gehört haben, müsste es uns der Sänger erklären können“. Er wandte sich mit der Frage an den Mann. Der sprang vom Folterrad und setzte sich vor die beiden auf einen Stein.
„Diese Tore haben zwei Gesichter“, sagte er in feierlich-ekstatischem Tonfall, „zwei Wege kommen hier zusammen. Diese lange Gasse zurück; die währt eine Ewigkeit. Und jene lange Gasse hinaus, das ist die andere Ewigkeit. Sie widersprechen sich, diese Wege. Aber sie widersprechen sich nicht ewig. Wer einen von ihnen weitergeht – und immer weiter und immer ferner, der kommt von der anderen Seite in die Pilasterhalle zurück, aber nur für einen Augenblick; dann muss er alles noch einmal laufen und so weiter.“
„Hast du das gehört?“, sagte Piranesi leise zu Salametti. „Zwei Gesichter, der Anfang immer auch ein Ende – Janus ist wieder da.“
„Wie? Es soll keinen Ausweg geben?”, fragte Salametti. “Was ist mit dem Augenblick? Können wir ihn nicht nutzen, um aus diesem Kreis auszubrechen?“
„Der Augenblick“, antwortete der Deutsche „ist der Moment des Verweilens und der Ruhe, welcher zwischen dem Aufstieg und dem Abstieg der Sonne liegt. Es ist der Mittag, der Punkt, in dem die Zeit weggeflogen und sich der Blick in den Brunnen der Ewigkeit zu öffnen scheint. Aber er ist kürzer, als er dir vorkommt. Schon bald musst du weiter gehen.“
„Soll das heißen, dass das ganze Theater nach einem Mittagsschlaf, der dazu auch noch äußerst kurz ist, wieder von vorne anfängt?“, fragte Salametti alarmiert.
„Was laufen kann von allen Dingen“, sagte der Mann, „muss es noch einmal laufen.“
„Das darf nicht sein“, verzweifelte Salametti. „Ich muss zu meinen Hühnern. Deswegen kann ich und will ich dir so etwas nicht glauben, ebenso wenig wie ich es dem Neapolitaner geglaubt habe, den wir vor Kurzem getroffen haben; er behauptete Ähnliches.“
„Du hast ein schönes Lied gesungen und sprichst auch sonst in treffenden und wohl gesetzten Worten“, schaltete sich nun Piranesi ein. „Man hat uns aber gelehrt, dass wir nicht Worten vertrauen, sondern den Raum kritisch beobachten und berechnen sollen. Ich frage mich daher, wie es möglich ist, dass wir nach so kurzem Flug mit dem Drachen wieder dort angekommen sind, wo wir losgegangen sind. Schließlich haben wir uns in mühsamer Wanderung ständig bemüht, uns von unseren Ausgangspunkt wegzubewegen.“
XXX
Die Frage beantwortete ein Mann, der in tiefe Gedanken versunken auf einem Stein vor der Inschrift ‚Quid est spatium?’ saß.
„Ihr habt euch, wie ich vermute, den Empfehlungen vieler anerkannter Kenner des Raumes folgend so gerade fortbewegt, wie dies unter den gegebenen Umständen möglich war. Dabei habt ihr euch allerdings von eurem Ausgangspunkt nicht so weit fortbewegt, wie ihr meint. Eurer Annahme über den zurückgelegten Weg liegt die Vorstellung zu Grunde, dass die gerade Linie die kürzeste Entfernung zwischen zwei Punkten sei. Daraus habt ihr umgekehrt gefolgert, dass die Entfernung von eurem Ausgangspunkt umso größer werde, je weiter ihr euch auf der Gerade von ihm fortbewegt habt. Diese Vorstellung ist ebenso wie die damit zusammenhängende Behauptung, dass sich die Parallelen im Raum nicht schneiden oder dass die Winkelsumme im Dreieck hundertachtzig Grad betrage, weit verbreitet und wurde schon von einem Griechen in die Welt gesetzt, der euch im Raum unweigerlich begegnet ist.“
„Wir haben ihn getroffen“, sagte Salametti. „Wir haben allerdings auch uns selbst immer wieder getroffen, obwohl wir nach dem Rat des Griechen auf Parallelen gewandert sind, die sich angeblich nicht schneiden sollen.“
„Das wundert mich nicht“, fuhr der Deutsche fort. „Wir haben bei genauerer Betrachtung festgestellt, dass die Vorstellung des Griechen nicht mit der Wirklichkeit übereinstimmt. Es ist sogar das Gegenteil der Fall. Tatsächlich ist die gerade Linie im Raum nämlich die längste Verbindung zwischen zwei Punkten.“
„Das ist eine äußerst seltsame Behauptung“, wunderte sich Salametti, „ich bin gespannt, wie du das begründen willst.“
„All das hängt damit zusammen, dass der Raum nicht jener selbstgenügsame gerade Kasten ist, den der Grieche und übrigens auch ein Engländer, der gerne mit einem Apfel durch die Gegend läuft, vorausgesetzt haben. Er hat nicht nur die drei Dimensionen des Kastens, sondern noch eine weitere Dimension.“
„Und die wäre?“
„Die Zeit!“
„Die Zeit soll zum Raum gehören?“, protestierte Salametti fassungslos. „Der Mann bringt alles durcheinander. Er will Huhn und Ei in einem Topf kochen. Am Ende wird er uns noch verkaufen, dass er mit seinem komischen Raum eigentlich die Zeit meint.“
„Unsere Beobachtungen zwingen uns zu dem Schluss“, sagte der Deutsche, „dass die Zeit Teil des Raumes ist. Wenn man dies weiter denkt, kommt man dazu, dass die Form des Raumes nicht absolut, sondern abhängig ist von den Gegenständen, die sich in ihm befinden. Ein Raum, der so angefüllt ist von schwergewichtigen Gegenständen, wie der, welchen ihr durchwandert habt, ist daher vielfach verbogen.“
„Das klingt so, als hättest du die Tatsachen gefunden, von denen ein kränkelnder Deutscher, den wir unterwegs getroffen haben, vermutete, dass sie den wirklichen Raum bestimmen“, sagte Piranesi. „Der Mann hat dazu allerhand Berechungen angestellt. Du solltest dich mit ihm zusammentun.“
„Da meine Feststellungen nur auf alten Beobachtungen und neuen Überlegungen beruhen, die ich nach der Arbeit des Tages im stillen Kämmerlein angestellt habe, und ich all das noch nicht berechnen konnte, könnte ich einen solchen Mann gut gebrauchen“, sagte der Deutsche.
„Du wirst ihn an seinem Husten erkennen“, sagte Salametti.
„Was folgt aber nun aus der Krümmung dieses merkwürdigen Raumes“, fragte Piranesi.
„Sie bedeutet, dass es im Raum unter Berücksichtigung der vierten Dimension Verbindungen gibt, die kürzer als die gerade Linie sind.“
„Was meinst du mit „unter Berücksichtigung der vierten Dimension?“, fragte Piranesi
„Denk an einen Wurm, der sich auf der gekrümmten Fläche befindet, welche von einer Seite des Apfels zur anderen Seite führt, somit auf einem zweidimensionalen Objekt. Er kann den Weg zur anderen Seite abkürzen, indem er sich durch den Apfel frisst, indem er also die dritte Dimension berücksichtigt. Gleiches gilt auch für das Verhältnis von dritter und vierter Dimension. Man kann den Weg von einer Region des Raumes in eine andere dadurch verkürzen, dass man durch so etwas wie das Wurmloch der vierten Dimension geht.“
„Die Zeit selber ist ein Kreis“, murmelte zustimmend der Mann mit dem Schnauzbart, der noch bei ihnen war.
„Ich habe es geahnt“, platzte es nun aus Salametti heraus, „diesen Raum versteht kein Mensch. Wenn das so weiter geht, stimmt bald überhaupt nichts mehr. Kreis oder Linie, sie helfen uns offensichtlich beide nicht weiter. Allerdings ist diese nicht weiter verwunderlich, denn letztendlich ist auch der Kreis nur eine Linie. Wir müssen sehen, dass wir hier schnellstens rauskommen, bevor wir verrückt werden.“
„Manchmal muss ich Salametti zustimmen“, sagte Piranesi, „ich muss gestehen, dass auch ich mir von all dem keine rechte Vorstellung machen kann. Das alles erinnert mich an das Gefühl vollkommener Halt- und Orientierungslosigkeit, welches ich bei der Fahrt auf dem Rücken des Drachen hatte.“
„Darüber brauchst du dich nicht grämen“, antwortete der Deutsche. „Mit diesem Problem befindest du dich in guter, um nicht zu sagen in allgemeiner Gesellschaft. Der Mangel an Anschaulichkeit ist schon seit einiger Zeit das Kennzeichen für die Art, wie man bei uns über die Dinge nachdenkt. Er ist mit meiner Theorie nur in eine höhere Dimension gerückt.“
„Ein Franzose“, sagte Salametti, „hat uns schon vor einiger Zeit mit solch` tauben Eiern abzuspeisen versucht. Er wollte uns weismachen, dass das sei, was man nicht sehe.“
„Ich fürchte aber, dass es tatsächlich weitgehend der Fall ist. Dass der Raum krumm und die Zeit eine seiner Dimensionen sei, geht über unser Vorstellungsvermögen hinaus. Man kann es in der Tat nicht sehen.“
„Etwas ähnliches hat uns schon ein anderer Deutscher gesagt“, sagte Piranesi. „Er meinte aber kategorisch, dass wir überhaupt nicht in der Lage seien, die wirkliche Natur des Raumes zu erkennen. Woher weißt du also mehr über den Raum?“
„Wir können uns den Raum zwar nicht vorstellen, wir sind aber in der Lage ihn zu beschreiben und rechnerisch zu erfassen. Ich kann ihn euch, wenn ihr wollt, mit Hilfe in einer verblüffend einfachen Formel darstellen. Sie drückt aus, dass sich Masse vollständig in Energie und umgekehrt verwandeln lässt.“
„Ein Ei des Kolumbus, das nicht eines des Brunelleschi wäre?“, fragte Salametti .
„Es klingt eher nach einem Stein der Weisen“, meinte Piranesi, „einer neuen Art Universalremedur, mit der sich alles in alles verwandeln lässt.“
„Ich will aber keine Formeln mehr“, wehrte Salametti ab, „sie sehen nur am Anfang einfach aus. Am Schluss sind sie fast so kompliziert wie Hühner. Und er zog, da er eine weitere endlose Diskussion befürchtete, Piranesi am Ärmel von dem Deutschen mit der Bemerkung weg: „Warum fragst du so viel? Wenn er Recht hat, sind wir bald draußen.“
„Übrigens“, fügte der Deutsche noch hinzu, „wegen der hohen Geschwindigkeit, mit der ihr auf dem Rücken des Drachen durch den Raum geflogen seid, ist die Zeit für euch langsamer vergangen, als dort, wo ihr euch jetzt befindet. Ihr werdet daher feststellen, dass die Verhältnisse hier während eurer Abwesenheit wesentlich weiter fortgeschritten sind, als ihr erwartet.“
„Willst du damit sagen, dass die Zeit an verschiedenen Orten unterschiedlich abläuft?“, fragte Piranesi.
„Die Zeit ist nicht weniger relativ als der Raum. Das folgt aus der Tatsache, dass sich das Licht unabhängig davon, welche Geschwindigkeit das System hat, von dem es ausgeht, immer gleich schnell bewegt. Daraus wiederum folgt Vieles, was für euch sehr ungewohnt ist. Aber das kann ich euch jetzt nicht im Einzelnen erklären. Ihr werdet aber gleich feststellen, dass meine Behauptungen von den Tatsachen, bestätigt werden.“
„Der Mann stellt alles auf den Kopf“, sagte Salametti und versuchte Piranesi noch heftiger von ihm wegzuziehen. Mich würde nicht wundern, wenn er auch noch den Zusammenhang von Huhn und Ei wegrechnen würde.“
„Dass einem gegebenen Ereignis“, erwiderte der Deutsche, „immer ein bestimmtes anderes Ereignis vorangegangen sein muss wie das Huhn dem Ei, ist neuerdings tatsächlich ins Gerede gekommen und diejenigen, welche diese Meinung vertreten, berufen sich dabei auch auf mich.“
„Dir ist wohl gar nichts heilig!“, rief Salametti aus.
„Einiges schon“, antwortete der Deutsche, „aber ich habe Kollegen, die interpretieren Phänomene, die ich und inzwischen auch andere beobachtet haben, so, dass der genannte Zusammenhang der Dinge, den man immer für so sicher wie das Amen in der Kirche gehalten hat, zweifelhaft erscheint. Man hat nämlich festgestellt, dass wenn man die Dinge im Raum ganz genau unter die Lupe nimmt, keine eindeutigen Vorhersagen mehr darüber möglich sind, wie sie sich verhalten. Die Folge ist natürlich, dass man auch keine Rückschlüsse mehr auf Ereignisse ziehen kann, die ihr Verhalten bewirkt haben.“
„Soweit es Hühner betrifft, kenne ich diese Phänomene. Wir haben nicht nur das Verhalten meines entlaufenen Huhnes nicht eindeutig voraussagen und es daher nicht einfangen können. Als Eierhändler stehe ich auch immer vor dem Problem, nie zu wissen, wann und wo meine Hühner Eier legen. Das erschwert natürlich die Voraussagen über meine Lieferfähigkeit.“
„Und doch kommst du irgendwie über die Runden, so wie man trotz der Unbestimmtheiten, welche in diesem Raum zu herrschen scheinen, nicht völlig unfähig wird, sich darin sinnvoll zu bewegen.“
„Die Erfahrung zeigt, dass von mehreren Hühnern immer einige ein Ei legen. Sie zeigt im Übrigen auch, dass eine gewisse Menge von Hühnern in der Summe immer ähnlich viele Eier hinterlässt. Wenn ich also die nötige Menge Hühner habe, kann ich in etwa sagen, wie viele Eier ich am Ende des Tages haben werde.“
„Genauso argumentieren auch meine Kollegen. Sie sagen, es gäbe nur eine Wahrscheinlichkeit dafür, dass ein bestimmtes Ereignis stattfinde.“
„Das heißt aber noch lange nicht, dass es keine eindeutige Ursache dafür gäbe. Vielleicht sind deine Kollegen mangels geeigneter Beobachtungsinstrumente bloß nicht in der Lage, genau festzustellen, was sich zwischen den Gegenständen im Raum tatsächlich abspielt, so wie ich nicht weiß, was im Innersten meiner Hühner los ist. Immerhin ist dieser Raum nicht gerade übersichtlich.“
„Eine solche Überlegung liegt nahe. Meine Kollegen behaupten aber, eine eindeutige Feststellung des Zusammenhanges von Ereignis und dem, was ihm vorausging, sei deswegen nicht möglich, weil der Zustand vor dem Ereignis prinzipiell uneindeutig sei.“
„Soll das etwa heißen, dass ich mein Huhn deswegen so schlecht erwische, weil der Zustand, den es einnimmt, bevor ich es in den Griff bekommen kann, vieldeutig ist?“
„So kann man sich die Auffassung verdeutlichen, welche viele meiner Kollegen vertreten. Sie glauben, dass es vor dem Zugriff nur ein Potential für den Zustand der Dinge gäbe, verschiedene Möglichkeiten also, von denen sich beim Zugriff dann eine realisiert, allerdings ist es – und das ist das Entscheidende – eben nie die gleiche, weswegen man sie ja auch nicht voraussagen kann.“
„So etwas Ähnliches habe ich immer schon geahnt, auch wenn ich es nicht so ausgedrückt hätte.“
„Das würde bedeuten“, mischte sich nun Piranesi, welcher die Diskussion mit wachsendem Interesse verfolgt hatte, ein, „dass, ein Gegenstand, sagen wir eine Katze, die sich hier unten verfangen hätte, …“
„Wie kommst du auf eine Katze“, unterbrach ihn Salametti, „wir suchen doch mein Huhn“…,
„Gut also – es würde bedeuten, dass Salamettis Huhn, bevor wir es ergreifen, zugleich hier und dort sein könnte, ja womöglich in diesen Räumen oder außerhalb davon. Da sich das Huhn aber, wenn wir es sehen und zu fassen bekommen, tatsächlich an einem bestimmten Ort befinden muss, müsste der Zustand, sich an diesem Ort aufzuhalten, durch eben unseren Zugriff, das heißt eigentlich schon durch unsere Beobachtung zustande gekommen sein, mit anderen Worten, der bisherige vieldeutige Zustand müsste sich bei der Beobachtung in einer Art plötzlichem Kollaps zu Gunsten eines bestimmten Zustandes ändern.“
„Angesichts der geschilderten Feststellungen sind einige meiner Kollegen tatsächlich bereit, an einen solchen Spuk zu glauben – und es sind keineswegs die Dümmsten oder gar Phantasten.“
„Damit würde aber derjenige, der das Geschehen eigentlich nur als Beobachter zu verfolgen beabsichtigt, zum Gestalter desselben.“
„Auch diese Folgerung nehmen diese Kollegen in Kauf.“
„Wir haben einen Neapolitaner getroffen, der uns lehrte, dass sich der Naturphilosoph im Gegensatz zu demjenigen, welcher die Wissenschaft von den Hervorbringungen des Geistes betreibt, vom Gegenstand seiner Betrachtung getrennt, sich ihm eben gegenüber stehend sieht. Nach dem, was du uns berichtest, würde diese Unterscheidung nicht gelten. Der Beobachter wäre Teil der Wirklichkeit, die er eigentlich außer sich wähnt. Das wäre eine sehr merkwürdige Wirklichkeit.“
„Die Unterscheidung“, sagte der Deutsche, „die zuerst der Neapolitaner und nach ihm eigentlich alle getroffen haben, soll nach der Meinung vieler, welche sich mit den Dingen des Raumes im kleinsten Detail befasst haben, tatsächlich zweifelhaft sein. Sie meinen, dass sie nur die Methode widerspiegele, mit der man die Dinge des Raumes bislang angegangen sei. Sie sei ein Teil des Wechselspieles, das immer zwischen dem Raum und dem Betrachter stattfinde. Somit beschreibe sie den Raum nicht unabhängig vom Beobachter, sondern als einen Gegenstand, der dessen jeweiliger Fragestellung ausgesetzt war. Damit sei diese Methode aber nur eine Folge der allgemeinen geistigen Entwicklung der Menschheit, genau genommen der Europäer, die diese Art zu Denken hervorgebracht und kultiviert haben. Man nehme damit immer auf uns selbst Bezug.“
„Wenn man dem Neapolitaner folgt, müssten wir die Dinge des Raumes dann besonders gut verstehen können. Er war nämlich der Meinung, dass man nur das richtig erkennen könne, was man selbst gemacht habe.“
„Nun mit der Folge allerdings, dass man im wesentlichen das sehen würde, was man auch selbst in die Welt gesetzt hat.“
„Wenn ich es genau bedenke, ist mir diese Sicht der Dinge gar nicht so fremd. Je mehr ich über diesen Neapolitaner nachdenke, umso sympathischer wird er mir.“
„Und mir wird schon wieder ziemlich schwindelig“, stöhnte Salametti.
„Das lässt sich noch steigern“, sagte der Deutsche verschmitzt. „Es gibt nämlich noch andere Deutungen der geschilderten Unbestimmtheiten. Eine – sie klingt ziemlich abenteuerlich ist aber durchaus ernst gemeint – geht dahin, dass sich die Dinge im Augenblick des beobachtenden Zugriffs in mehrere Welten aufspalten und dass wir, da wir uns jeweils nur in einer dieser Welten befinden, dann den Zustand wahrnehmen, der sich in dieser Welt verwirklicht hat. Die anderen Möglichkeiten der Wirklichkeit, wenn denn dieser Begriff auf diesen Zustand überhaupt noch passt, finden dann in den anderen Welten statt, in die wir aber als Teil der einen Welt nicht hineinsehen können.“
„Diese Interpretation des Raumes ist mir besonders sympathisch. Sie liefert eine schöne Erklärung dafür, warum es hier Räume gibt, die der normale Sterbliche nicht zu sehen bekommt.“
„Nach dieser Theorie würdest allerdings auch du sie nicht sehen können“, sagte der Deutsche.
„Künstler sehen manchmal mehr als Naturphilosophen“, entgegnete Piranesi augenzwinkernd.
„Künstler!“, brummte Salametti abschätzig, „Künstler kommen in solche Räume zwar hinein, aber offensichtlich nicht wieder heraus. Dazu braucht es einen Hühnerzüchter. – Aber“, fuhr er fort, indem er sich an den Deutschen wandte, „du sprichst immer nur von deinen Kollegen, die sich so wundersames ausgedacht haben. Was glaubst du nun eigentlich?“
„Du fragst nach meinem Glauben? Ich bin davon überzeugt, dass unsere Erkenntnisse über den Raum und die Dinge, die sich darin befinden, nicht notwendig von den Bedingungen abhängen, unter denen sie überprüft werden können. Ich glaube, dass dieser Raum von einem Schöpfer geschaffen wurde, der sich an Gesetze gehalten hat, die unabhängig von uns gelten, insbesondere das Gesetz des eindeutigen Zusammenhangs von Ursache und Wirkung. Wenn meine Kollegen Recht hätten, würde es im Innersten des Raumes wie beim Würfelspiel zugehen, wo der Zufall herrscht. Ich aber glaube: Gott würfelt nicht.“
„Und doch sagst du, dass sich deine Kollegen für ihre Theorien auf dich berufen.“
„Es ist richtig, dass ich Einiges entdeckt habe, was ihre Theorien in Gang gebracht hat. Ausgerechnet dafür und nicht etwa für meine Erkenntnisse über Zeit und Raum, die man aus welchen Gründen auch immer zuerst nicht recht glauben wollte, hat man mir sogar den höchsten Ehrenpreis verliehen. Dafür glaube ich ihnen nicht, was sie aus meinen Beobachtungen herausgedeutet haben.“
„Wenn sich diejenigen, welche sich mit den Dingen so genau befasst haben wie du und deine Kollegen, nicht einig sind, was soll dann unsereins von all dem glauben? Ich sehe, dass wir auch auf diese Weise nicht richtig weiter kommen. Lasst und weitergehen“, sagte Salametti zu Piranesi.
XXXI
In diesem Moment kam ein Pole auf sie zu, der die Diskussion aus einiger Entfernung mitverfolgt hatte. „Ihr habt euch ausgiebig mit den großen und kleinen Dingen dieses toten Raumes befasst“, sagte er mit französischem Akzent, „Es wundert mich nicht, dass ihr mit ihm dennoch nicht zurecht gekommen seid. Denn die Orientierung ist hier nicht so möglich ist, wie man es sich landläufig vorstellt. Und dies hat etwas mit dem wirklichen Leben zu tun.“
„Mit dem wirklichen Leben“, freute sich Salametti, „damit hätte ich wirklich gerne wieder einmal etwas zu tun, mit Hühnern zum Beispiel und Eiern.“
„Die Methoden“, fuhr der Pole fort, „mit denen ihr versucht habt, euch im Raum zu orientieren, gelten nämlich nur für bestimmte geometrische Objekte. Es sind dies Objekte der Art, wie sie in dem Buch beschrieben sind, das der sattsam bekannte Grieche mit sich führte, der überall hier in der Gegend herumläuft. All diese Objekte, Dreiecke, Würfel oder sonstige mehr oder weniger dreidimensionale Räume, werden von stetig verlaufenden Linien begrenzt. Objekte dieser Art kommen im Leben aber nicht vor.“
„Richtig“, sagte der Mann mit dem Schnauzbart, der ihnen noch immer folgte. „Erst das Übersehen des Individuellen und Wirklichen gibt uns den Begriff und die Form, wohingegen die Natur keine Begriffe und Formen kennt, sondern nur ein für uns unzugängliches und undefinierbares X.“
„Ein undefinierbares X?“, ging es Piranesi durch den Kopf. „Das klingt nach dem Geheimnis Roms, das ich zu ergründen suche.“
„Die wirklichen Räume“, fuhr der Pole fort, indem er verwundert auf den Mann mit dem Schnauzbart blickte, „die wirklichen Räume sind von der Art wie der Raum, welchen ihr durchwandert habt. Er wurde von Bögen, Galerien, Treppen, Säulen, Giebeln, Simsen und sonstigen architektonischen Gegenständen gebildet, die dazu noch mit allerlei Ornamenten verziert sind, welche das Leben repräsentieren. Das Besondere dieser Raumelemente ist, dass sie alle eine gewisse Ähnlichkeit aufweisen. Sie beruht einerseits darauf, dass sie von Menschen einer bestimmten Zeit und Gegend, nämlich den Römern geschaffen wurden, andererseits und vor allem aber darauf, dass sie in jedem Detail aufeinander Bezug nehmen.“
„Ewig baut sich das gleiche Haus des Seins“, summte der Mann mit dem Schnurrbart vor sich hin.
„Das mit der Ähnlichkeit hatten wir schon“, warf Salametti ein. „Ich hoffe, dass du uns nicht wieder mit einem Faden helfen willst, wie die hübsche Griechin, die wir am Anfang unserer Wanderung getroffen haben. Sehr weit sind wir damit nämlich nicht gekommen.“
„Die Griechen“, antwortete der Pole, „haben sich viele schöne Gedanken über die Geometrie gemacht. Sie haben daraus in einer Art idealem Athen ein wunderbar weiträumiges, symmetrisches und lichtdurchflutetes Gebäude konstruiert. Man kann es sich in der Form einer Basilika mit kassettierten, von einer Vierungskuppel unterbrochenen Tonnengewölben vorstellen, wo sich die großen Denker in wallende Togen gekleidet unter einem gewaltigen Bogen, auf dessen Unterseite ein Doppelmäander angebracht ist, wie in einer Schule beim ernsten Spiel mit ihren schönen Gebilden zusammenfinden.“
„Bist du sicher, dass diese Schule in Athen ist?“, unterbrach Piranesi das prachtvolle Gedankengemälde des Polen. „Mir kommt es so vor, als hätte ich dieses Szenario schon in Rom gesehen, zumal die Togen und vor allem Basiliken der Art, die du schilderst, auch wenn der Name aus dem Griechischen kommt, eine Erfindung der Römer sind – letztere sind übrigens ihr wichtigster Beitrag zur Architektur der folgenden Zeiten.“
„Wobei die Vierungskuppel allerdings erst später hinzukam, durch Brunelleschi, den Eierschlaukopf“, sagte Salametti stolz darauf, in architektonischen Dingen endlich einmal mitreden zu können.
„Salametti!“, rief Piranesi erstaunt, „du träumst nicht nur von Gebäuden, du beginnst nun auch noch, die Abfolge der Dinge an Hand derselben zu betrachten. Das war dir bislang doch völlig Wurst.“
„Wenn Eier im Spiel sind, ist es mir nichts Wurst“, gab Salametti zurück.
„Meine Schilderung dieser Schularchitektur“, setzte der Pole, der diesen Dialog mit einigem Erstaunen verfolgt hatte, seine Ausführungen fort, „ist nur ein Bild. Worauf es mir ankommt, ist zu zeigen, dass die Griechen mit ihrer Art zu Denken am Leben, das keineswegs nur, ja sogar eher selten auf einfache Weise schön und schlüssig ist, vorbei gedacht haben. Was es für die Geometrie bedeutet, wenn ein Objekt aus lauter ähnlichen Elementen zusammengesetzt ist, haben sie ebenso wenig bedacht, wie die Frage, welche Rolle die Zeit im Raum spielt. Erst wir haben herausgefunden, dass die Orientierung in Gebilden, die aus verkleinerten Elementen ihrer selbst bestehen, nach anderen Gesetzen erfolgt, als in Gebilden der Art, mit denen schon der berüchtigte Grieche operierte. Bei geometrischen Körpern der „griechischen“ Art sind die Begrenzungslinien, an denen ja alle Messungen ansetzen, glatt.“
„Von dieser Glätte berichtete uns schon ein junger Deutscher, der sich auf einen weisen Griechen berief“, sagte Piranesi. „Seinem Gebilde fehlte in der Tat alles was man zum Leben braucht, Augen, Mund, Ohren, Arme und Beine.“
„Und noch anderes, was hoch zu achten ist, nicht zuletzt für die Fortsetzung des Lebens“, fügte Salametti hinzu.
„Diese Glätte“, fuhr der Pole fort, „erlaubt es aber erst, dass man die Dimensionen dieser Gebilde in ganzen Zahlen ausdrücken kann. Nur dadurch kann man an ihnen leicht Messungen durchführen – wie man anhand derselben, ich sagte es schon, überhaupt vielerlei schöne und vordergründig schlüssige Überlegungen anstellen kann.“
„Die aber nicht einmal auf ein Ei zutreffen, geschweige denn auf ein Huhn“, warf Salametti ein.
„Bei den Rändern selbstähnlicher Gebilde“, sagte der Pole weiter, „kommt man auf diese Weise nicht sehr weit. Sie bestehen aus lauter Verkleinerungen ihrer selbst, sodass sich bei jeder Annäherung immer wieder neue Verästelungen zeigen.“
„Wie bei der Feder eines Huhnes“, schwatzte Salametti wieder dazwischen.
„Kein schlechtes Beispiel“, stellte der Pole anerkennend fest. „Die Dimensionen solcher Gebilde sind nicht mehr mit geraden Zahlen, wie wir es im Alltag tun, sondern nur noch mit gebrochenen Zahlen zu erfassen. Schon aus diesem Grunde ist es so gut wie unmöglich, sie vollständig zu vermessen. Die Ränder einer Feder etwa werden immer länger, je mehr man sich ihr nähert, um sie auszumessen. Sind die Grundformen aber auch noch ungeordnet, wie es in dem Raum der Fall ist, den ihr durchquert habt, wird die Form des Objektes, welches aus der Wiederholung solcher Elemente gebildet wird, besonders komplex. Sie ähnelt den Formen, die wir aus der Natur kennen, Formen, die zugleich regelmäßig und unregelmäßig sind, so wie bei diesem Zweig“ – dabei zog er einen mit vielen Blättern und Blüten besetzten Mandelzweig hervor.
„Es ist schön“, sagte Salametti beim Anblick des blühenden Zweiges, „wieder einmal etwas zu sehen, dass nicht nur aus Stein und aus lauter Geraden und Bögen besteht, zumal letztere ja ebenfalls aus lauter Geraden bestehen sollen.“
„Wir haben festgestellt“, fuhr der Pole fort, „dass die Natur ihre Aufgaben weitgehend mit Formen löst, die in solcher Weise zusammengesetzt sind. Sie hat daher eine ganz andere Geometrie als die, welche der Grieche entwickelt hat. In Lebensräumen, die sich so gebildet haben, kann man sich natürlich nicht mit den Methoden orientieren, die ihr verwendet habt.“
„Da hätten wir es!“, rief Salametti, „ich sagte doch, dass der Raum dem Huhn ähnelt, das durch ihn flattert. Wer weiß besser als ich, wie unberechenbar und schlecht zu greifen diese Viecher sind. Kein Wunder, dass wir uns in diesem Raum nicht zurechtfinden konnten.“
„Immerhin kommen wir mit meinen Berechnungen den Dingen der Natur ein gutes Stück näher“, sagte der Pole.
„Das ist alles schön und gut. Es ist aber auch nicht das Gelbe vom Ei, sondern allenfalls Schale“, widersprach Salametti. „Letztendlich ist es wieder nur Geometrie, Zahlenwerk und Formelkram. Was mich interessiert, ist, wie wir aus diesem Albtraum von einem Raum wieder rauskommen, wie ich zurück zu meinen Hühnern, zu den Frauen und überhaupt wieder an das Ufer des Tibers finde. Alles was ich bislang weiß, ist, dass wir mit den Mitteln, mit denen wir uns in diesem Raum bewegt haben, nicht weiterkommen und dass es Dimensionen gibt, von denen wir uns nichts träumen ließen. Das richtige Leben ist offenbar etwas anders, es muss eine völlig andere Dimension haben.“
„Eine andere Dimension!“, unterbrach ihn Piranesi aufgeregt. „Der Deutsche, den wir zuletzt getroffen haben, sagte, dass es eine Abkürzung gebe, wenn man in eine weitere Dimension gehe.“
„Richtig, er sprach von Wurmlöchern“, antwortete Salametti.
„Das ist es!“, rief Piranesi aus. „Was wir brauchen, ist eine neue Dimension, ein Wurmloch in die Wirklichkeit.“
XXXII
Nach einer Weile des Schweigens begann Piranesi: „Apropos Abkürzung. Im großen Weltgedicht des Florentiners, von dem ich dir erzählte, ist von einem Loch durch den Mittelpunkt der Erde die Rede, durch das der Dichter und sein Begleiter, nachdem sie die Höllenkreise bis zur letzten, eisigen Tiefe mühsam durchwandert hatten, auf kurzem Wege aus ihrem infernalen Albtraum wieder heraus und auf die andere Seite der Welt, nämlich auf den Läuterungsberg und von dort in das Paradies gelangten.“
„Wenn das kein Wurmloch war! Sie müssen in eine neue Dimension gegangen sein.“
„Es heißt dort in der Tat, das Loch sei von einem Wurm gebohrt worden. Und die neue Dimension ist die Lehre von der höheren Wirklichkeit.“
„Eine verblüffend einfache und saubere Lösung“, stellte Salametti fest. „Eine solche höhere Wirklichkeit könnten wir gebrauchen. Wer aber war der Wurm?“
„Es war der Satan. Er soll das Loch bei seinem Sturz vom Himmel auf die Erde gebohrt haben.“
„Der Teufel erleichtert den Weg in den Himmel?“
„Ich glaube weniger, dass sich seine Absicht auf den Himmel bezog. Er hat auf diese Weise eher die Wirklichkeit auf Erden wiederhergestellt.“
„Wie kann man die Wirklichkeit wiederherstellen?“, fragte Salametti erstaunt. „Dazu müsste sie ja einer erst einmal beschädigt haben.“
„Die alten Philosophen und Gottesgelehrten haben es fast geschafft. Sie haben im Schlepptau des weisen Griechen versucht, die Wirklichkeit zu säubern und sie auf das Wahre, Schöne und Gute zu beschränken. Zu diesem Zweck haben sie dem Falschen, Unschönen und Bösen, dem Teil der Wirklichkeit also, für den der Satan zuständig ist, mittels verblüffender Schlüsse das Sein abgesprochen, was die Wirklichkeit verkürzt und damit beschädigt hat.“
„Sie haben das Böse wegdiskutiert? Welch` wunderbar einfache und saubere Lösung für ein äußerst verwickeltes und ziemlich unreines Problem! Ist so etwas denn möglich?“
„Wer die Welt kennt, kann eigentlich nicht bezweifeln, dass das Böse und das Gute die beiden Seiten einer einzigen Medaille sind.“
„Eben! Schließlich kann ich mit dem Geld, das ich mit meinen Hühnerverkäufen verdiene, Gutes und Schlechtes tun.“
„Man hat das Schlechte aber dennoch mit allerhand logischen Tricks und erstaunlichen Schlüssen als einen bloßen Mangel an Gutem bezeichnet.“
„Das nenne ich eine wahre Wortverdreherei. Wohin führt eine solche Logik?“
„Letztendlich zur Verneinung des Todes. Das Vergehen erscheint den Menschen natürlich als das Böse oder Ungeordnete schlechthin, zumal es – anders als das Werden, für welches das Leben einen wunderbar organisierten, verschwenderischen Aufwand betreibt – ziemlich planlos und lieblos von statten geht. Logischerweise hat man daher auch dem Tod die Wirklichkeit abgesprochen und angenommen, der Mensch oder jedenfalls seine Seele sei unsterblich. Damit ist man natürlich in die neue Dimension vorgestoßen.“
„Die durch das Wurmloch eröffnet wurde.“
„Ein Loch, durch das man allerdings eher aus der Wirklichkeit heraus gekrochen sein dürfte.“
„Wie der Dichter und sein Begleiter. Sie müssen in eine merkwürdige Welt gekommen sein.“
„Ohne Zweifel. Wie schwer diese Welt ohne richtige Wirklichkeit zu fassen ist, zeigen die Probleme, welche die Künstler hatten, die das große Gedicht später bebildern wollten. Von der Höllenwanderung gibt es unzählige Darstellungen, in denen die Szenerie und das Geschehen mit dramatischen Licht- und Schatteneffekten detailreich so geschildert werden, dass selbst kleine Kinder davon fasziniert sind. Zu den weiteren Stationen der Weltwanderer ist den Künstlern aber nicht mehr viel eingefallen. Die Szenen des Paradieses verlieren sich meist in kostrastarmer Helle.“
„Hat man nicht befürchtet, dass alles nur blutleere Dichtung sein könnte?“
„Durchaus nicht. Man hat die höhere Welt, die man so eröffnet glaubte, wie der weise Grieche, sogar die wahre Wirklichkeit genannt.“
„Vielleicht ist es die wahre Wirklichkeit. Ich hätte nichts gegen ein ewiges Leben – wenn es nicht gerade in der Hölle stattfindet.“
„Für dich hast du nichts dagegen. Deinen Hühnern, die doch auch zum Leben gehören, würdest du die Unsterblichkeit aber nicht zugestehen.“
„Weil ich sie verkaufen muss, um ein Auskommen zu haben, von dem ich leben kann, ganz abgesehen davon, dass auch meine Kunden den Tod der Hühner zum Leben brauchen.“
„Das ist es! Dieser Teil fehlte der Wirklichkeit des Griechen. Und eben diesen hat ihr der Satan wieder hinzugefügt. Er kam vom Reich des Wahren, Schönen und Guten, das weit entrückt irgendwo in der Höhe liegt, herunter auf die Erde, wo das Leben stattfindet, in welchem es auch verlogen, hässlich und bösartig, mit anderen Worten wirklich zugeht.“
„Du stellst die biblischen Dinge auf den Kopf. Wenn du Recht hättest, dann hätten wir mit der Herabkunft des Teufels nicht das Paradies verloren, sondern eine verlorene Wirklichkeit wieder gewonnen.“
„So ist es: eine Wirklichkeit, die sich im Himmel verloren hatte. Das Abendland hat fast zwei tausend Jahre gebraucht, um diese Himmelfahrt der Wirklichkeit zu beenden. Das ganze Mittelalter ist ein einziges tastendes Unterfangen, sie wieder auf die Erde herunter zu bringen. Jahrhunderte lang hat man etwa darüber gestritten, ob die Allgemeinbegriffe eine eigene Wirklichkeit haben. Noch der Deutsche mit dem Talar sprach vom seinem absoluten Geist, als handele es sich um etwas, was man ‚begreifen’ könne. Die ersten mutigen Schritte zurück zur Erde kamen dann von den Künstlern – zum Beispiel von dem Alten, der wie der Mund der Wahrheit aussah und die Wirklichkeit mit Hilfe der Mathematik herunter auf die Leinwand zu ziehen versuchte. Mit einigem Abstand und zunächst noch unsicher schwankend folgten die Naturphilosophen – denke an den jungen Schwaben, der sich noch ganz mit dem Himmel befasste und darin die idealen geometrischen Formen der Alten unterzubringen versuchte, aber schon auf dem Weg in die neue Zeit war. Den entscheidenden Sprung machte der Italiener mit dem Fernrohr, der die Zahlen und ihre Verhältnisse, die bislang mehr oder weniger den himmlischen Dingen vorbehalten waren, endgültig auf die Erde herunterholte.“
„Wodurch er allerdings den irdischen Dingen den kargen Stempel der Zahlen aufdrückte.“
„Ihnen zugleich aber auch einen gewissen himmlischen Schimmer gab, denn die Zahlen kamen ja von weit oben.“
„Damit wären wir wieder bei dem weisen Griechen. Es scheint, dass jedenfalls seine Ideen nicht tot zu kriegen sind.“
„Es ist in der Tat merkwürdig, dass sowohl die Nachkommen des Juden, die alles schnurgrade von einem Anfang aus- und auf eine Ende zugehen sehen, als auch diejenigen, welche ein letztendlich nicht weniger gerades, nämlich notwendiges, wenn auch gelegentlich Umwege machendes Fortschreiten von Vorangegangenem zum Folgenden annehmen, Anleihen bei jemandem gemacht haben, der sich alles in einander kreisend vorstellte.“
„Offenbar ein Ei, aus dem mehrere Hühner hervorgegangen sind.“
„Die dann Zwillinge sein müssten.“
„Aber zurück zum Teufel. Wenn er, wie du sagst, die Wirklichkeit wiederhergestellt hat, wäre er so etwas wie ein Schöpfer. Für diese Ketzerei wird dir Don Fiore den Kopf abreißen.“
„Gute Köpfe sind dafür schon genug gerollt und noch mehr eingezogen worden. Der Maler wollte sich, wie wir gehört haben, zu seiner Meinung über die Wesenheit Gottes und die Seele nur hier unten im Schutz der Dunkelheit äußern. Der Franzose, der meinte, dass die tatsächliche Welt seinen Gleichungen gehorche, hat sich in eine abgelegene Ecke zurückgezogen, wo er sich vor der Inquisition sicher glaubte. Und der Italiener mit dem Fernrohr hatte die größten Schwierigkeiten mit Don Fiore und Seinesgleichen und ist, um sich seinen Kopf zu erhalten, zum Schauspieler geworden.“
„Maler, Kuppelbauer, Mathematiker, Philosophen, Naturphilosophen, Dichter und Gottesgelehrte“, drängte Salametti schließlich auf Beendigung des Gespräches. „Jeder hat uns neue Dimensionen eröffnet, die eigene Wurmlöcher haben. Dennoch hat uns keiner den Weg zeigen können, der uns hier herausführt. Die Wirklichkeit, die wir suchen, lässt sich offenbar nicht durch schöne Reden finden. Wir müssen diese endlosen Diskussionen beenden und zu Taten schreiten.“
„Was aber sollen wir tun?“
„Unsere Probleme begannen im Pilasterraum. Dorthin sind wir durch die Cloaca maxima gekommen. Unser Wurmloch kann daher nur die Cloaca maxima sein“.
„Das Ei des Salametti!“, rief Piranesi aus. „Eine verblüffend einfache, wenn auch nicht unbedingt saubere Lösung.“
„Gehen wir also zurück in die Halle und suchen nach der alten Kloake.“
XXXIII
Während sie zurück zum dem Portal liefen, über dem der Kreis angebracht war, fragte Salametti, den das vorangegangene Gespräch nachdenklich gemacht hatte, noch einmal nach.
„Was dachte eigentlich dein Hadrian über die Unsterblichkeit? Warum hat er sich ein so riesiges Grabmal gebaut?“
„Die Römer beschäftigten sich weit weniger als die Griechen mit Fragen, die nichts anderes als weitere Fragen aufwerfen. Sie hielten daher nicht viel von einem Leben nach dem Leben. Sie haben sich lieber mit der Organisation des Diesseits als mit Spekulationen über das Jenseits befasst und eher Rechtsbücher als philosophische Traktate verfasst. Man zog das Leben vor, das man tatsächlich erleben kann.“
„So wie im Satyricon oder in Aphrodisias.“
„Petronius hat die Dinge zugespitzt, so wie es sich vielleicht mancher in seinem Träumen ausgemalt hat. Sein Satyricon verrät aber doch einiges von der Haltung, welche die Römer gegenüber dem Leben hatten. Diese Haltung ist natürlich auch der Grund dafür, dass sie sich nach Aphrodisias hingezogen fühlten.“
„Und doch haben sie Grabmäler und überhaupt Gebäude von einer Festigkeit gebaut, die wie für die Ewigkeit war. Das spricht nicht gerade dafür, dass sie mit dem Tod alles für beendet hielten.“
„Selbstverständlich hatten auch die Römer mit der Endlichkeit ein Problem. Auch sie haben sich die letzten Dinge zu erleichtern versucht, aber dadurch, dass sie zu Lebzeiten etwas taten, was sie der Nachwelt in guter Erinnerung halten sollte. Und dazu sind Bauwerke nun einmal besonders geeignet.“
„Aufbauend ist es sicherlich, insbesondere für Architekten, was ich dir nicht sagen muss.“
„Für mich weniger. Ich lasse eher in einem neuen Medium wiederaufleben, was andere gebaut haben, womit ich, wie ich zugeben muss, auch nicht schlecht über die Runden komme. Kürzlich habe ich dabei übrigens einen Bau aufgenommen und radiert, der sehr schön zeigt, wie die Römer über den Tod dachten. Es handelt sich um das Grabdenkmal der Plautier, das zwischen Rom und Tivoli in ähnlich eindrucksvoller Weise an einer Brücke, dem Ponte Lucano, steht wie das Grabmal Hadrians am Ponte Aelius, den man heute ‚Engelsbrücke’ nennt – sie wurde übrigens auch von Hadrian gebaut; ihre ursprüngliche Bezeichnung stammt von seinem Beinamen Aelius. Wie so vieles, was der Kaiser schuf, galt sie lange als das schönste Bauwerk seiner Art. Ich habe ihre Fundamente rekonstruiert, die nicht weniger eindrucksvoll als die Brücke selbst sein müssen…“
„Der Name Hadrian verleitet dich zu Abschweifungen, vor allem, wenn Bauwerke im Spiel sind.
„Hadrian war nun einmal ein großer Baumeister und überhaupt ein erstaunlicher Herrscher.“
„Erstaunlich finde ich vor allem, wie viel Geld er für völlig überzogene Bauwerke verschwendet hat.“
„Ich weiß, dass du nicht viel von der Baukunst hältst. Vielleicht begeistert Dich aber, dass eine der ersten Amtshandlungen dieses Kaisers war, den Bürgern die Schulden gegenüber dem Staat rückwirkend für sechzehn Jahre zu erlassen.“
„Das ist grundsätzlich nicht schlecht. Allerdings zahle ich gar keine Steuern.“
„Wie – nicht einmal Gebühren für deinen Marktstände?“
„Man muss die richtigen Leute kennen, nicht irgendwelche Architekten. – Aber Du wolltest mir eigentlich über das Grabmal der Plautier berichten.“
Du wolltest mir aber über das Grabmal der Plautier berichten.“
„Ich komme schon zur Sache. Dieses Geschlecht, das seinen Aufstieg in den Wirren der untergehenden Republik erlebte, baute sich voller Stolz auf den Beitrag, den es in verschiedenen hohen Ämtern zum Gemeinweisen geleistet hatte, mitten in der Landschaft ein mächtiges Rundgrab und verewigte seine Taten auf riesigen Marmortafeln, welche davor aufgestellt wurden. Ich habe auf meiner Radierung die Größe des Grabmonumentes und besonders die der Tafeln mit perspektivischen Kniffen ins Riesenhafte gesteigert.“
„Große Grabmäler sind aber doch immer ein Protest gegen die Endlichkeit – nicht anders als vergrößert dargestellte.“
„Es ging weder den Plautiern noch mir darum, über den Tod zu lamentieren oder ihn zu heroisieren. Vielmehr zeigen solche Monumente eine Einstellung gegenüber den Mitmenschen, von der diese bei allen Eitelkeiten und Machtdemonstrationen, die dabei auch im Spiel gewesen sein mögen, letztendlich mehr haben als vom Streben weltverneinender Individuen nach einem ewigen Leben. Ähnlich wie die Plautier ließ auch Hadrian sein Grabmal aus Stolz auf das erstellen, was er im Diesseits geschaffen hat.“
„Bauen als Gegengewicht zur Endgültigkeit des Todes? Dann müsste so mancher Prälat an der Unsterblichkeit gezweifelt haben.“
„Daran habe ich auch keinen Zweifel.“
„Von derartigen Tröstungen haben aber nur die hohen Herren etwas. Der kleine Mann kann nicht viel in die Landschaft setzten. Oder soll ein Geflügelzüchter etwa besonders prachtvolle Hühnerställe bauen? Ich kann dieser Sicht der letzten Dinge daher nur eines abgewinnen: wer nicht an die eigene Unsterblichkeit glaubt, muss sich nicht diese seltsamen Gedanken über die Unsterblichkeit der Hühner machen, mit denen du mich beinahe verwirrt hast.“
XXXIV
Unterdessen waren Piranesi und Salametti durch das Tor in die Pilasterhalle getreten. In deren Mitte fanden sie nun einige Männer in einfachen grauen und blauen Überanzügen, welche gelbe und weiße Helme aus einem glänzenden Material auf ihren Köpfen trugen, welches Piranesi und Salametti noch nie gesehen hatten. Die Männer hielten lange Papiere in den Händen, anhand derer sie in die Tiefe des Raumes deuteten. Am Anfang der langen Halle hantierte ein weiterer Mann. Er schaute durch das Okular eines Gerätes, von dem ein merkwürdig feiner roter Lichtstrahl von gestochener Schärfe kerzengerade zu einer Messlatte am anderen Ende der Halle lief. Im Hintergrund war ein schweres mahlendes Geräusch zu hören.
„Mir scheint, als sei all dies nicht aus unserer Zeit“, sagte Piranesi verwundert. „Vielleicht ist dies der Beweis für die Theorie des Deutschen, den wir im letzten Raum trafen, dass die Zeit für uns langsamer als in diesem Raum verlaufen ist.“
Salametti war erstmals völlig sprachlos.
Die Männer schauten Piranesi und Salametti verwundert an. Einer der Männer – er trug unter seinem Überanzug ein weißes Hemd mit einer Krawatte – fragte, wo sie denn auf einmal herkämen und was sie hier unten wollten.
„Eben das wollte ich dich fragen“, antwortete Piranesi.
„Wir sind die Vorhut des Bautrupps, der den neuen Tunnel durch den Untergrund Roms treibt“, sagte der Mann mit der Krawatte. „Der Tunnel wird die neue Schlagader der Stadt und soll dem ewigen Verkehrschaos in ihren verwinkelten Strassen ein Ende bereiten.
„Was sollen dabei all die Papiere und Gerätschaften?“
„Wir legen anhand unserer Pläne gerade die genaue Richtung des Tunnels fest. Er wird vollkommen gerade sein und die ganze Stadt durchqueren.“
„Ein Tunnel quer durch den Untergrund von Rom? Ihr wisst nicht, was ihr tut“, antwortete Piranesi. „Die Verhältnisse hier sind außerordentlich komplex. Es ist unmöglich, dadurch einfach eine gerade Linie zu ziehen.“
„Das kann ich mir nicht vorstellen. Wir haben schon manchen Tunnel durch schwierigen Untergrund gebohrt“, gab der Mann zu bedenken.
„Dieser Tunnel aber soll durch Rom gehen, eine Stadt, in der man seit über zweieinhalb Jahrtausenden alles Menschenmögliche übereinander geschichtet hat. Der Untergrund dieser Stadt ist gänzlich unübersichtlich. Ihr werdet euch darin verlieren.“
„Dafür haben wir unseren Geometer. Er kennt sich aus mit Dreiecken und rechten Winkeln und kann mit Hilfe seines Lasertheodoliten selbst durch das größte Dickicht noch eine gerade Linie ziehen. Im Grunde haben wir diese Technik übrigens von den alten Römern gelernt. Sie haben einen kerzengraden Tunnel durch den Rand eines ehemaligen Vulkankraters gehauen, um einen Ablass für den Albaner See zu schaffen. Damit lösten sie das Problem des schwankenden Pegelstandes, das den Uferbewohnern in ähnlicher Weise zu schaffen machte, wie der Straßenverkehr den Römern von heute. Obwohl sie den Tunnel, der mehr als einen Kilometer lang ist, von zwei Seiten angegangen sind, haben sich die Mineure genau in der Mitte getroffen, was einen sicheren Umgang mit Winkel und Lineal voraussetzt. Was die alten Römer mit ihren Mitteln geschafft haben, werden wir umso leichter hinkriegen. Schließlich haben wir in zweitausend Jahren in der Vermessungstechnik einiges dazugelernt.“
„Was nicht heißt, dass ihr näher an der Wirklichkeit seid“, antwortete Piranesi. „Ich bin selbst Architekt und verstehe auch sonst mit Linien und Winkeln umzugehen. Ich kenne aber auch den Raum, der unter dieser Stadt liegt. Er und Rom sind keinesfalls so, wie ihr euch das vorstellt. Es gibt hier andere und auch mehr Dimensionen, als ihr euch träumen lasst.“
„Ich verstehe nicht, wo das Problem ist“, erwiderte der Mann. „Schau dir nur den Raum an, in dem wir uns gerade befinden. Es ist wunderbar gerade.“
„Alles Gerade lügt, alle Wahrheit ist krumm“, murmelte der Mann mit dem Schnauzbart, der ihnen noch immer folgte.
„Ähnliches hat, wie man berichtet, ein chinesischer Weiser schon vor weit über zweitausend Jahren gesagt“, fügte Piranesi hinzu.
„Das sind schöne Sprüche“, sagte der Mann mit der Kravatte. „Ich finde, dieser Raum ist von einer Übersichtlichkeit, die geradezu mustergültig ist.“
„Die Übersicht wird euch fehlen, sobald ihr die Portale an den Längswänden der Halle passiert habt“, warnte Piranesi. „Der Pilasterraum, in dem wir uns jetzt und daher nur für einen Augenblick befinden, ist nämlich nur der gerade Grenzfall auf einem Kreis, der durch die beiden Portale geht, ein Kreis, auf dem unendlich viele ungerade Räume liegen. An diesen Räumen haben Generationen von Menschen gearbeitet, weswegen sie durch jenes unentwirrbare Geflecht von Beziehungen gekennzeichnet sind, die das Leben schafft. Die Statik dieser Gebilde ist mit den Methoden, die bei euch üblich sind, nicht zu berechnen.“
„Wir werden diese Portale zubetonieren. Unser Plan sieht vor, dass wir durch die Wände an den Schmalseiten der Halle brechen.“
„Der Raum, von dem ich spreche, ist überall. Ihr werdet immer Räume antreffen, die mit euren Methoden nicht zu erfassen sind. Man kann sie nicht so leicht durchstechen wie den Rand des Kraters, in dem der Albaner See liegt, ein Gebilde, das fast so einfach und übersichtlich wie die Formen der griechischen Geometrie und daher leicht zu vermessen ist. Das komplexe Gefüge dieser Räume ist äußerst schwer zu berechnen. Man hat die größten Probleme, ihre tragenden Elemente zu erkennen.“
„Wer eine klare Vorstellung von dem hat, was er will, kann es auch erreichen. Wir haben klare Pläne und die Mittel sie umzusetzen. Ich habe daher überhaupt keinen Zweifel, dass wir auch diese Sache in den Griff bekommen werden. Schließlich ist unsere Aufgabe, Probleme zu lösen, nicht sie hinzunehmen oder bloß zu diskutieren.“
„Ihr solltet wenigstens erst einmal eine Probebohrung machen, um zu erkunden, was der Raum aushalten kann.“
„Dazu haben wir nun wirklich keine Zeit“, sagte der Mann und wandte sich wieder den anderen Männern zu.
XXXV
Inzwischen war das mahlende Geräusch stetig näher gekommen und immer lauter geworden. Schließlich begannen die Steinquader an einer Schmalseite der Halle zu zittern und sich zu bewegen. Nach einiger Zeit stürzte die Wand mit lautem Getöse zusammen und eine große Staubwolke breitete sich aus. Als sich der Staub gelegt hatte, zeigte sich in der zusammengebrochenen Wand eine riesige, runde Maschine, deren flache Vorderseite sich im Kreise drehte. Daran waren verschiedene Bohrköpfe befestigt, die nun im Raum rasselnd leer liefen. Nachdem die Maschine abgestellt worden war, herrschte zunächst eine merkwürdige Stille. Der Mann, der die Maschine führte, kam aus dem Bohrloch in die Halle und fragte, in welcher Richtung es weiter gehe. Der Mann mit der Krawatte rief ihm zu, dass am anderen Ende der Halle weitergebohrt werde und fügte hinzu: „Wir müssen sehen, dass wir vorwärts kommen.“ Der Maschinenführer setzte darauf das Gerät wieder in Bewegung. Die Maschine kroch wie ein langer Lindwurm aus dem Tunnel, den sie bereits gegraben hatte, und schob sich auf Panzerketten lärmend von hinten nach vorne durch die Halle, bis sie dieselbe ganz ausfüllte. Am anderen Ende angekommen, begann sie wieder zu rotieren und fraß sich langsam in die Wand hinein.
„Dein Ei wird jetzt wohl zerdrückt werden“, sagte Piranesi.
„Wenn es der Engländer nicht schon in die Pfanne gehauen hat“, gab Salametti zu Bedenken.
„Wir können also nur noch hoffen, dass das Huhn überlebt.“
„Schlau genug sind die Tierchen. Immerhin hat es uns keine Gelegenheit gegeben, es gefangen zu nehmen.“
Piranesi, der das Spektakel des Bohrwurms verwundert verfolgt hatte, versuchte den Mann mit der Krawatte noch einmal zu warnen. Er schrie heftig gestikulierend gegen den Lärm der Höllenmaschine an. Der Mann, der sich nun offenbar belästigt fühlte, tat so, als könne er ihn nicht hören und folgte gemeinsam mit den anderen Mineuren der Maschine.
„Die Herren werden sich noch wundern“, sagte Salametti, „ich denke, es ist besser, wenn wir uns jetzt davon machen. Während du mit dem Mann gesprochen hast, habe ich die alte Kloake wiedergefunden. Kommst du mit zurück in das wirkliche Rom?“
„Ich möchte sehen, ob die alten Konstruktionen halten“, antwortete Piranesi.
„Ich nicht“, sagte Salametti, „mir reicht, was ich gesehen habe. Ich werde mich mit derart wunderlichen Dingen nicht weiter abgeben. Vielleicht sehen wir uns draußen mal wieder.“ Damit verabschiedete er sich von Piranesi und verschwand ohne weiteres Zögern in dem alten Abwasserkanal.
Piranesi begab sich zu einem der Portale in der Längswand der Halle und blickte in den dahinter liegenden Raum.
Er sah, wie sich die Bohrmaschine, die sich inzwischen durch die Schmalseite der Halle gearbeitet hatte, langsam der Wand mit der großen Inschrift näherte. Sie walzte das Folterrad nieder und setzte unmittelbar unter der hölzernen Galerie, welche auf die Wand zuführte, zu Bohren an. Nach einiger Zeit hörte Piranesi ein Knacken im Gebälk. Kurz darauf brach die Galerie ächzend zusammen. Die Bohrmaschine hatte die Konsole, auf der die Galerie auflag, weggefräst. Die Maschine arbeitete sich nun weiter in die Wand mit der Inschrift vor. Diese begann nach einiger Zeit zu schwanken, mit der Folge, dass die große Figur, die in der Höhe saß, kopfüber herunterstürzte. Sie blieb an der schweren Kette hängen, welche hoch oben am Scheitel eines Brückenbogens befestigt war, und baumelte im Raum. Schließlich krachten die zyklopischen Quader zusammen, aus denen die Wand aufgebaut war. Piranesi konnte im Vorbeifallen gerade noch die Worte ‚Quid est..’ von der Inschrift erkennen. Kurz darauf rauschte das Fragezeichen, das in einen gesonderten Block eingemeißelt war, gefährlich nahe an ihm vorbei. Die Quader durchschlugen den Boden und fielen in die darunter liegenden Räume, wo sie, wie das donnernde Geräusch, das sie erzeugten, verriet, große Verwüstungen anrichteten. In der Folge brachen weitere Bereiche des Bodens ein. Dadurch verlor der Teil des Bohrmaschinenzuges, der noch nicht in die Wand eingedrungen war, seine Unterlage und rutschte langsam in den Abgrund. Der schwere Schwanz zog den Kopf der Maschine aus dem Bohrloch zurück und der ganze lange Zug krachte in die Tiefe. Mit dem Zusammenbrechen der Wand, auf der sich die Inschrift befand, hatten die Galerien in der Höhe eine wichtige Stütze verloren. Eine Zeit lang konnten sie sich kraft ihrer Verbundenheit noch gegenseitig stützen. Sie gerieten aber bald in eine schwankende, sich selbst verstärkende Bewegung und brachen endlich mit Getöse ebenfalls zusammen. Als Piranesi bemerkte, dass das Gefüge des ganzen Raumes ins Wanken geriet, wagte er nicht länger, dem Schauspiel zuzusehen. Er flüchtete in die benachbarte Halle, die abgesehen von den Löchern, welche die Tunnelbohrmaschine hinterlassen hatte, noch unversehrt war, und von dort in die Cloaca maxima. Hinter sich hörte er immer wieder Schläge, die zeigten, dass gewaltige Strukturen zusammenbrachen. Wie bei einem Feuerwerk steigerte sich die Zahl der Schläge, bis nur noch ein einziges rasendes Krachen und Brechen zu hören war. „Hadrians tiburtinisches Paradies auf Erden“, schoss es Piranesi durch den Kopf, während er hastig durch den geraden Kanal stolperte, „seine unerklärliche Zerstörung muss das Werk der Mineure sein.“ Dann konnte er in der Ferne durch eine runde Öffnung den Himmel sehen.
XXXVI
Als Piranesi den Ausgang der Cloaca maxima erreicht hatte und in die Helle des Tages trat, war es vollkommen still. Besorgt schaute er um sich, konnte aber nichts Auffälliges feststellen. Rom lag ewig wie eh und je in der Mittagssonne. Neben dem Ausgang der Cloaca maxima lag Salametti und deutete lachend auf eine Stelle im Gras des Tiberufers. Dort saß ein Huhn, das so bunt gescheckt war, wie das Tier, welches sie gesucht hatten, und legte ein Ei.
Piranesi begab sich in sein Atelier am Corso, der wie mit dem Lineal durch das Gewirr der Gassen gezogenen alten Schlagader Roms, und radierte mit der erdenklichsten Liebe zum lebendigen Detail die Akanthusranke samt Bordüre, die er im Untergrund Roms skizziert hatte. Dann begann er die ersten Zeichnungen zu dem Zyklus von sechzehn Radierungen, die er „Carceri d`Inventione“ nannte, was „Erfundene Gefängnisse“ aber auch „Gefängnisse der Erfindung“ bedeuten kann.
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