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Keine Ursache – grosse Wirkung – Die Entdeckung der Zahl „Null“ und ihre Folgen

 

Die Einführung einer Zahl für das Nichts im Europa der zweiten Hälfte des Mittelalters gilt als einer der folgenreichsten Akte des menschlichen Geistes. Ohne die „Null“, so heißt es, hätten sich weder die technisch-wissenschaftliche Zivilisation des Westens noch die modernen Formen des Wirtschaftens entwickeln können. Merkwürdigerweise ist die Null aber dort, wo sie ihre größte Wirkung entfaltete, nicht erfunden worden. Das Abendland war nicht nur nicht in der Lage, die Null zu selbst zu konzipieren, sondern hatte damit auch noch lange, nachdem es sie von anderen Kulturen übernommen hatte, seine Probleme. Damit befanden sich die Europäer in bester Gesellschaft mit den meisten anderen Völkern. Dies wirft die Frage auf, welche geistigen Widerstände der Erfindung der Null entgegenstanden.

 

Die Null ist zunächst einmal das Herzstück des heute allgemein verbreiteten Positions- oder Stellenwertsystems der Zahlenanordnung, eines Notationsverfahrens, bei dem jede Ziffer eine doppelte Bedeutung hat. Wie jede „normale“ Zahl repräsentiert sie in erster Linie eine bestimmte Menge („2“ etwa bedeutet: 2 x 1). Darüber hinaus hat sie aber noch einen Wert, der sich aus ihrem Verhältnis zu anderen Ziffern, also ihrer Position oder Stellung, ergibt (als letzte Ziffer bedeutet 2: 2 x 1; als vorletzte: 2 x 10; als vorvorletzte: 2 x 100 etc.). Die Null hat in diesem System die Funktion, das Fehlen von Einheiten innerhalb einer Stelle, mit anderen Worten, eine Leerstelle, zu bezeichnen. Das Positionssystem hat den Vorteil, dass man große Zahlen einfach ausdrücken und damit schriftlich rechnen kann. Dies unterscheidet es von den vielfältigen sonstigen Zahlensystemen, die allesamt auf dem kombinierten Additions- und Multiplikationsprinzip beruhen. In Systemen dieser Art werden Zahlen durch bloßes Aneinanderreihen von Zahlensymbolen gebildet, wobei größere Teilzahlen durch Multiplikation von kleineren Zahlen entstehen (die Zahl „757“ etwa wird durch ein Zeichen für 500, zwei Zeichen für 100, eines für 5 x 10, eines für 5 x 1 und zwei für 1 gebildet). Dieses Verfahren macht das Lesen komplexer Zahlen zu einer regelrechten Kopfrechenoperation. Vor allem aber kann man damit nicht schriftlich rechnen. Addition und Subtraktion sind allenfalls noch in einfachen Fällen möglich, Multiplikation und Division sowie alle komplexeren Rechnungen sind ausgeschlossen.

 

Das Positionssystem der Zahlen ist für uns heute so selbstverständlich, dass wir kaum mehr nachvollziehen können, dass es in Europa erst seit einigen Jahrhunderten existiert. Nicht weniger erstaunlich ist, dass es auch der europäischen Antike nicht bekannt war. Dies gilt um so mehr, als wir gemeinhin die Vorstellung haben, die Kultur der Antike sei in Sachen der Entwicklung des Geistes und gerade auch der Mathematik weit fortgeschritten gewesen und habe – nach einem vorübergehenden Schlaf im Mittelalter – durch ihre Wiedererweckung im Zeitalter der Renaissance entscheidend zum Beginn der Neuzeit und damit auch zur Entstehung der technisch-wissenschaftlichen Zivilisation des Westens beigetragen. Die antiken Zahlensysteme sind Musterbeispiele für das Additionsprinzip. Mit römischen Zahlen – man denke an obiges Beispiel – konnte man nur das Ergebnis einer gegenständlich durchgeführten Rechnung festhalten. Zur eigentlichen Rechnung musste man sich Hilfsmitteln wie der Finger oder des Abakus, des antiken Rechenbrettes, bedienen. Aber auch mit letzterem waren nur begrenzte Rechenoperationen möglich.

 

Welch‘ eine Leistung des Geistes bereits die bloße Entwicklung eines Positionssystemes ist, zeigt die Tatsache, dass es in der Geschichte der Menschheit nur vier Mal konzipiert wurde. Alle anderen Völker schlugen sich mit dem Additionssystem durch.

 

Das älteste Positionssystem stammt von den Babyloniern und ist fast viertausend Jahre alt. Aus Gründen, über die man nur spekulieren kann, basierte es auf dem eher unhandlichen Sexagesimalsystem, einem Verfahren, bei dem die Grundeinheit der Stellen nicht wie im Dezimalsystem die Zahl 10, sondern die Zahl 60 ist. Die Stellenschritte erfolgen daher nicht in Zehnerpotenzen (10, 100, 1000 etc.), sondern in Sechzigerpotenzen (60, 3600, 216.000, etc.). Wegen der Größe dieser Einheiten waren die Babylonier gezwungen, die Zahlen innerhalb der Stellen nach dem Additionssystem zu untergliedern, was das Rechnen noch immer zu einem komplizierten Unterfangen machte. Hinzu kam, dass sich die Babylonier zur Bezeichnung der Leerstellen über ein Jahrtausend mit Provisorien behalfen. Erst einige Jahrhunderte vor unserer Zeitrechnung wurde ein Zeichen eingeführt, welches die Funktion der Null hatte. Reste des babylonischen Sexagesimalsystem, das nichtsdestoweniger außerordentlich erfolgreich war, finden sich übrigens noch heute in unserer Zeitmessung sowie bei den Bogen- und Winkelmaßen (Stunde, Grad, Minute, Sekunde).

 Ein Positionssystem entstand zu Beginn unserer Zeitrechnung auch in China. Es beruhte auf dem Dezimalsystem, hatte aber nur wenige Zahlzeichen aus senkrechten und waagrechten Strichen, was zur Folge hatte, dass man sich innerhalb der Stellen wieder des Additionssystemes bedienen musste. Ein Zeichen für die Null taucht auch hier mit erheblicher Verspätung, nämlich erst im 8. Jahrhundert auf. Darüber, ob die Null eine Erfindung der chinesischen Mathematiker war, oder ob sie durch buddhistische Mönche von Indien kam, streiten die Gelehrten, wobei sie je nach nationaler Perspektive zu unterschiedlichen Ergebnissen kommen.

Das einzige Volk außerhalb des eurasischen Kulturraumes, das ein Positionssystem kannte, waren die mesoamerikanischen Mayas. Neben einer höchst dekorativen Bilderzahlschrift, in der die Ziffern im wesentlichen durch Menschenköpfe symbolisiert wurden – wir können sie vor allem auf den Stelen in den versunkenen Mayastädten bewundern – bildeten sie ihre Zahlen auch mittels Punkten und waagrechten Strichen, wobei die Stellen vertikal angeordnet waren. Für die Null verwendeten sie ein Symbol in der Form einer Muschel. Wie alle präkolumbianischen Völker Mittelamerikas benutzten die Mayas das Vigesimalsystem, eine Zahlenordnung, deren Grundeinheit 20 beträgt, was im Positionssystem Stellenschritte von 20, 400, 8000 etc. zur Folge hat. (Dieses System, dessen Ausgangspunkt nicht, wie im Dezimalsystem, die 10 Finger, sondern Finger und Fußzehen waren, kannten übrigens auch die Kelten, was Spuren etwa in der französischen Zahl „quatrevingt“ oder im englischen „score“ hinterlassen hat). Die Mayas, bei denen die Mathematiker höchstes Ansehen genossen, entwickelten offenbar schon früh eine Null zur Kennzeichnung von Leerstellen. Ob sie mit ihrem System schriftlich rechneten, ist allerdings zweifelhaft. So weit wir wissen, benutzten die Mayas ihr Zahlensystem vor allen zur graphischen Darstellung der zum Teil außerordentlich hohen Daten ihres komplizierten Doppelkalenders, (auf einer Stele in Tikal im nördlichen Guatemala etwa fand sich die mythische Zahl von 1.841.641.600 Tagen). Die kalendarische Funktion der Zahlen ist auch der Grund dafür, dass die Mayas das Vigesimalsystem modifizierten. Um Jahreszahlen besser ausdrücken zu können, hatte die zweite Stelle nicht 20 sondern nur 18 Einheiten à 20 (= 360 Tage). Dies verdeutlicht zwar einerseits die erstaunliche geistige Flexibilität der Mayas im Umgang mit Zahlen. Andererseits war ein solches System für das schriftliche Rechnen nicht geeignet. Wie wenig die mesoamerikanischen Völker die Bedeutung des Stellensystems und der Null für das Rechnen erkannt hatten, zeigt denn auch die Tatsache, dass die Azteken, die mit den Mayas unter anderem auch das Kalendersystem teilten, später wieder nur Zahlen verwendeten, die nach dem Additionssystem gebildet waren.

Das vierte Positionssystem schließlich erfanden die Inder. Wann es genau entstand, wissen wir nicht, es wurde aber möglicherweise schon einige Jahrhunderte vor unserer Zeitrechnung entwickelt. Die einmalige Leistung der Inder bestand darin, die drei Elemente zu kombinieren, die unser System noch heute kennzeichnen. Sie verbanden nicht nur, wie die Chinesen, Positions- und Dezimalsystem, sondern führten dazu auch noch für jede der 10 Ziffern ein eigenes Zeichen ein. Dies machte das schriftliche Rechen endgültig zu einem Kinderspiel. Rechenoperationen, für die Spezialisten früher mehrere Tage benötigten, kann damit ein achtjähriges Kind in wenigen Minuten durchführen. Wann die Inder die Null als eigenes Zeichen einführten, ist ebenfalls nicht sicher, denn die frühesten Urkunden stammen offenbar erst aus dem 9. Jahrhundert n. Chr. Dies ist, da die Null in China bereits ein Jahrhundert früher dokumentarisch belegt ist, der Grund für den erwähnten Prioritätsstreit zwischen proindischen und chinesischen Gelehrten. Wie die Babylonier und die Mayas haben auch die Inder ihr System in der Hauptsache für astronomische Berechnungen im Dienste der Astrologie eingesetzt. Ihr Ansatz scheint hierbei ziemlich pragmatisch gewesen zu sein. Große Gedanken über die Voraussetzungen und Implikationen der Null haben sie sich offenbar nicht gemacht.

 

Das indische System gelangte im 9. Jahrhundert in den vorderen Orient, von wo es schließlich nach Europa kam. Auf arabischer Seite war hieran maßgeblich der große arabisch-iranische Gelehrte Ibn Musa al Charismi beteiligt, nach dem man das System einschließlich der damit verbundenen Rechenregeln im Abendland ursprünglich „Algorithmus“ – dies ist die latinisierte Form von al Charismi – nannte, ein Begriff der heute allgemein auf eng verkettete Rechenschritte angewandt wird. Die Null hieß bei den Arabern in Anlehnung an das entsprechende indische Wort „Sifr“, was so viel wie „leer“ bedeutete. Als pars pro toto hat diese Bezeichnung schließlich dem ganzen „Ziffern“ – System seinen Namen gegeben.

 

Der erste Abendländer, der sich mit diesen Dingen näher befasste, war der französische Mönch Gerbert von Aurillac, ein hochgebildeter und weitgereister Mann, der das hindu-arabische System während eines Aufenthaltes im maurischen Spanien in den Jahren 967 bis 970 kennenlernte und es später als Lehrer an der Domschule von Reims propagierte. Das Abendland hatte aber erhebliche Probleme, das neue System zu verstehen und zu akzeptieren. So sprachen die Florentiner Behörden noch im Jahre 1299 ein Verbot des arabischen Ziffernsystems aus. Das erste Handelsbuch, das sich der hindu-arabischen Ziffern durchgehend bediente, schrieb der Italiener Giacomo Badoer erst in den Jahren 1436 bis 1460.

 

Warum nun bereiteten die Entwicklung des Positionssystemes und die Null den Menschen und insbesondere den Europäern solche Schwierigkeiten? Der Grund dürfte folgender sein: Die Zahl, für sich schon eine Meilenstein in der Entwicklung des menschlichen Geistes, stand ursprünglich für eine bestimmte Menge, etwa von Sachen. Sie war daher eindeutig. Im Positionssystem hat sie jedoch je nach Stellung einen unterschiedlichen Wert. Dadurch wird sie mehrdeutig. Um eine solche Vorstellung zu entwickeln, muss sich die Zahl von ihrem geistigen Ursprung emanzipieren, das heißt abstrakter und damit fungibler werden. Dies setzt eine Flexibilität des Geistes voraus, die sich in der Regel nur in Hochkulturen findet. Die Konzeption der Null als Zahl bedeutet noch eine darüber hinausgehende Abstraktion. Der Bezug der einzelnen Zahl zu einer bestimmten Menge ist im Positionssystem nur teilweise aufgehoben. Im Grunde findet ja in jeder Stelle nur eine Multiplikation der Zahl mit der Einheit dieser Stelle statt, was wieder zu einer bestimmten Menge führt (in der dritten Stelle etwa bedeutet „3“ 3 x 100 = 300). Die Konzeption der Null setzt aber voraus, dass der Bezug zu einer Menge völlig wegfällt. Der Inhalt der Null ist Nichts. Welche Schwierigkeiten einer solchen Vorstellung von der Zahl entgegenstanden, zeigt die Tatsache, dass Babylonier, Inder und Chinesen über viele Jahrhunderte keine eigenständige Null konzipierten, obwohl ihre Positionssysteme dies an sich zwingend erforderten. Tatsächlich war die Null bei ihnen, auch nachdem sie sie eingeführt hatten, nur ein technisches Hilfsmittel für das Rechnen mittels des Positionssystemes. Sie war ein Erinnerungszeichen für die Leerstelle. Die Bedeutung der Null als Zahl, das heißt einer Rechengröße, wurde erst wesentlich später erkannt.

 

Von einer derart abstrakten Sicht der Zahl war das Abendland lange weit entfernt. Dabei wirkte sich das Vorbild der Antike geradezu als Hindernis aus. Die mathematischen Vorstellungen Europas wurden seit dem Ende des 4. Jh. v. Chr. von dem antiken Denker Euklid bestimmt. Dieser hatte in seinen „Elementen“, dem Buch, das nach der Bibel wahrscheinlich am meisten gedruckt wurde, die Zahl als eine „aus Einheiten zusammengesetzte Menge“ und damit in eben dem konkreten Sinne definiert, der bereits der Konzeption eines Positionssystems entgegenstand. Auf dieser Basis war die Null als Zahl nicht zu denken. Europa diskutierte vielmehr sogar noch darüber, ob die „1“, die ja keine „Menge“ repräsentierte, eine Zahl oder nur der Ursprung der Zahlen sei, eine falsche Fährte, die schon Aristoteles gelegt hatte.

 

Gegen diese Prinzipien und Autoritäten konnten sich neue Gedanken lange Zeit nicht durchsetzen. Zwar hatte der syrische Bischof Severus Sebokt bereits im Jahre 662 n. Chr. vor einer übertriebenen Wertschätzung der Griechen in der Wissenschaft gewarnt und – leider ohne Einzelheiten mitzuteilen – auf die Überlegenheit der Inder in der Astronomie und Mathematik, insbesondere auf das Rechnen mit 9 (!) Ziffern hingewiesen. Seine Kritik war jedoch folgenlos. Wie wenig das Abendland zu einer funktionsorientierten Sicht der Zahlen in der Lage war, zeigt die Art, wie man noch Jahrhunderte später kosmische Katastrohpenszenarien mit runden Kalenderdaten verband. Zur Jahrtausendwende rechneten viele Christen mit dem fürchterlichen Auftreten des Antichristen, was voraussetzt, dass man Zahlen und ihre Systeme wie feststehende (Tat-)Sachen behandelt.

Die Ironie der Geschichte wollte, dass der Papst der Jahrtausendwende, Silvester II., eben jener Gerbert von Aurillac sein sollte, der mit dem Propagieren des hindu-arabischen Ziffernsystems einen so wichtigen Beitrag zur Flexibilisierung des europäischen Zahlendenkens leistete. Den Zeitgenossen kam eine solche Beweglichkeit des Geistes verständlicherweise verdächtig vor. Gerberts Gelehrsamkeit schien ihnen so ungeheuerlich, dass man meinte, er müsse mit dem Teufel im Bund gewesen sein. Es ist als hätten die Menschen der Jahrtausendwende die subtile Sprengkraft gespürt, die in der Vorstellung von der Zahlqualität des Nichts steckte, ein Gedanke, der im weiteren Verlauf des Jahrtausends dann in der Tat den Weg zur Mathematisierung des europäischen Denkens frei machte und damit mitursächlich für den Untergang der Glaubenswelt des Mittelalters und die Entstehung des modernen Weltbildes wurde.