Südlich von Ravenna, Dante’s einstigem Asyl, beginnt eine Reihe von Strandorten, die sich, kaum unterbrochen, über Milano Marittima und Rimini bis hinunter nach Cattolica zieht. In der Regel besteht der Kern dieser Marinas aus lieblos gebauten Hotelkomplexen längs einer Hauptstraße, welche der Küste folgt. Zahlreiche Querstraßen, nicht selten nur als solche benannt und durchnummeriert, führen auf der seeabgewandten Seite in Bungalow- und Reihenhaussiedlungen, in denen sich die Gebäude gleichen wie ein Ei dem anderen. In den Gärten sieht man vereinzelt Personen, die säuberlich Hecken schneiden oder Wege kehren. Auf der Seeseite führen die Traversalen zum flachen Strand, der durch eine unabsehbare Reihe von Bagnos in etwa gleich große Abschnitte geteilt wird. So weit das Auge reicht, ziehen sich Sonnenschirme und Strandliegen, farblich jeweils einem Bagno zugeordnet, in Reih und Glied den Strand entlang. Darauf und darunter liegen unzählige schlafende, schwätzende oder lesende Menschen, die ihr Heil in der Sonne suchen. In der Hauptstraße reiht sich ein Ladengeschäft an das andere. Die Verkaufsräume enthalten alles, was sich der Mensch an Nützlichem und Überflüssigem wünschen kann. Aufgeblasene bunte Schwimmutensilien aus Plastik quellen allenthalben bis auf die Straße hinaus. Abends flaniert hier gebräuntes Volk, füllt Gelaterias und Pizzerias, stellt sich und alles, aber auch alles, was es hat, zur Schau, schwatzt und schwänzelt und vertreibt sich die Zeit auf jede nur denkbare Weise. In den Spielsalons trifft sich die Jugend Europas. Gebannt sitzt man vor langen Reihen zappelnder Bildschirme. Apparate krachen und zischen, Kugeln rasen, elektronische Aggregate blitzen und listen erzielte Punkte auf. Man wähnt sich am Steuer rasender Rennwagen, im Cockpit von Flugzeugen und Raumschiffen, man schießt, kämpft und jagt – pausenlos, sich und andere.
Nördlich von Lido di Classe aber klafft eine große Lücke in der Reihe der Marinas. Bagnos und Strandschirme brechen plötzlich ab. Der flache, saubere Strand, den die Besucher der Bagnos vermutlich für naturgegeben halten, geht über in eine hügelige Dünenlandschaft, deren Wassersaum von Muscheln übersät ist. Dahinter erstreckt sich ein tiefer, dunkler Pinienwald. Hier herrscht eine Ruhe, die fast unwirklich erscheint.
Aus dem Hinterland ist dieser tote Winkel schwer zu erreichen. Die große Strasse, welche die Adriaküste sonst kaum verlässt, ist hier um mehrere Kilometer landeinwärts verschoben. Es gibt auch keine Stichstraße, die den Wald mit seinen uralten Pinien durchdringen und zum Meer führen würde. So kann man diesen Küstenstrich nur durch einen längeren Fußmarsch oder mit dem Fahrrad erreichen. Je weiter man sich von Lido di Classe entfernt, desto weniger werden denn auch die Sonnenanbeter. Schließlich finden sich in den Dünen nur noch hier und dort vereinzelte Menschen, die offensichtlich Einsamkeit suchen. Jeder Neuankömmling wird kritisch beäugt.
Auf halbem Weg zwischen Lido di Classe und Lido di Dante, der nächsten Sommermarina, wird der Strandweg durch einen Fluss unterbrochen. Bevor sich der Fluss mäandernd in das Meer wälzt, bildet er hinter den Dünen noch einige stille Gewässer, schilfumsäumte kleine Seen und Sümpfe, in denen sich allerhand Wasservögel tummeln. Im seinem trüben, langsam dahinziehenden Wasser schwimmen im Gruppenzickzack unzählige kleine Fische umher. Ein Schiffer senkt von einem Kahn ein flaches Netz in Tiefe, in dem die silbrigen Flitzer kurz darauf, aus ihrem Element gezogen, verzweifelt zappeln und in die Höhe springen.
Eine Brücke über den Fluss gibt es nicht. Wer dem Strand weiter folgen will, muss den Fluss durchwaten. Eine geeignete Stelle ist mit krummen Ästen gekennzeichnet. Am anderen Ufer gelangt man in eine Marina anderer Art. Verstreut in Gärten, in denen Wein, Tomaten und Pfirsiche wachsen, stehen auf dem Flussufer kleine ebenerdige, meist hölzerne Häuschen einfachsten Zuschnitts. Man sitzt unter Bäumen und unterhält sich. Eine Hauptstraße oder Geschäfte gibt es nicht.
Auf den Veranden der Hütten liegen Schlafsäcke und allerlei Gegenstände von Menschen, die lange unterwegs sind. Über einem Holzfeuer hängt an einer Kette ein Kochtopf. Auf dem Boden liegen um ihn herum junge Leute, die wilde Bärte tragen und tätowiert sind. In einem Pinienwäldchen sitzt in meditativer Haltung ein einsamer Heilsuchender. Nicht weit davon bilden Hunde und Menschen ein kaum zu entwirrendes Knäuel. Dazwischen spielen schmutzige Kinder. Eine Gruppe junger Männer kauert in einem Kreis. Einige schlagen Handtrommeln, die anderen lauschen andächtig, so als enthielten die endlos wiederkehrenden Rhythmen eine höhere Erkenntnis.
Nach dieser Siedlung sieht man nur noch wenige Menschen. Einige unbekleidete Männer stehen, die Hände in die Hüften gestützt, aufrecht in den Dünen und halten Ausschau. Einzelne streifen alleine durch den Pinienwald hinter dem Strand. Immer wieder bleiben sie stehen und blicken um sich.
Schließlich gelangt man nach Lido di Dante, wo wieder die Bagnos und das übliche Strandleben beginnen.
Es ist eine merkwürdiger Landstrich zwischen Lido di Dante und Lido di Classe. Früher war hier der Hafen von Classe, Standort der römischen Flotte, welche die Macht und die Herrlichkeit der einstigen Weltherrscher in der Osthälfte ihres Riesenreiches sicherte. Er ist versandet und von seiner früheren Größe ist nichts übriggeblieben. Ein Stück landeinwärts steht einsam das uralte Gotteshaus San Apollinare in Classe. Seinen weiten Innenraum bilden zwei würdige Reihen antiker Säulen, die so mächtig sind wie die Pinienstämme im nahen Wald. Auf der Stirnwand zeigt ein großes Mosaik den frühchristlichen Märtyrer auf einer paradiesischen Wiese inmitten friedlich grasender Schafe. Nicht weit davon ist heute der Vergnügungspark Mirabilandia. Dort stürzen sich die Bewohner der Marinas in die Abgründe einer kompliziert verschlungenen Berg- und Talbahn, fahren in wilder Wasserfahrt in die Tiefe und lassen sich in Kanzeln und Gondeln umherwirbeln. Abends starren sie bei rechnergesteuerter Musik gebannt in die geradlinigen Raumgebilde von Laserstrahlen. Schließlich kehren sie, geblendet durch ein turbulentes Feuerwerk, in ihre Marinas zurück.
Es ist ein Landstrich zwischen Lido di Dante und Lido di Classe, dessen Linien wundersam verwunden sind, ein Ort, an dem man sich sucht und sich verlieren kann. Hier verirrte sich einst auch einer der größten Gott- und Selbstsucher. Im dichten Wald von Classe stieß Dante auf eine Pforte mit der Aufschrift, wonach der, der sie durchschreite, alle Hoffnung fahren lassen soll. Er trat ein, durchmaß die neun Kreise der Hölle und fand nach Überwindung des Läuterungsberges sein Paradies.
Lieber Herr Heitmann, danke für diese Zeilen – schöner könnte man diese einzigartige Gegend nicht erklären. Ich selbst war erst letztes Jahr wieder in Lido di Dante und bin früh Morgens gegen Süden gewandert…
Finden Sie nachstehend 2 Links mit Photos von diesem Morgen:
http://flickr.com/photos/moxtra/1483703813/
Mit lieben Grüßen aus Wien,
Michael Ortner