Monatsarchiv: August 2008

Ein- und Ausfälle – Neue Managerkrankheit?

Man stellt neuerdings erstaunt fest, dass die Manager, welche gerade in ungeheuerlichen Dimensionen versagen, an „Gruppendenken“ leiden, einem Verhalten, das man dergestalt beschreibt, dass die Mitglieder einer bestimmten Gemeinschaft stur an einer selbst gezimmerten Definition der Realität festhalten und alle widersprechenden Informationen ausblenden. Wirklich erstaunt sein kann man über ein solche Verhaltensweise allerdings kaum. Keine kann sich auf höher angesiedelte und besser eingeübte Muster berufen.  

1862 Richard Wagner (1813 – 1883) Vorspiel zur Oper „Die Meistersinger von Nürnberg“

 

Wagners Oper „Die Meistersinger von Nürnberg“ ist ein Werk, welches wie kaum ein anderes örtlich verankert und aus einem Guß zu sein scheint. Dennoch hat es eine merkwürdig zerfahrene internationale Entstehungsgeschichte. Wagner arbeite während der langen Jahre, in denen damit befaßt war, nicht nur gleichzeitig an den Opern des „Ring der Nibelungen“. Das deutsch-bodenständige Werk ist auch die Frucht einer Zeit, in welcher der Komponist wie sein „Fliegender Holländer“ unstet durch die Welt irrte und von einer Kalamität in die andere geriet.

 

Die erste Prosafassung des Textbuches entstand bereits während eines Aufenthalt im böhmischen Marienbad im Jahre 1845. Wagner befaßte sich seinerzeit mit dem Projekt einer „komischen Oper“, weil er nach der mäßigen Resonanz seiner vorangegangenen tragischen Werke nicht zuletzt um des Geldes willen, das bei ihm immer knapp war, einen schnellen Erfolg suchte.

 

Wegen der vielfältigen anderen Aktivitäten des umtriebigen Sachsen lag das Projekt der komischen Erfolgsoper jedoch zunächst lange Zeit auf Eis. Seinem Naturell folgend hatte sich Wagner doch wieder tragischen Dingen zugewandt. Anfang der sechziger Jahre des letzten Jahrhunderts hatte er aber erneut Anlaß, schnellen Erfolg zu suchen. Inzwischen hatte er die tragische Oper „Tristan und Isolde“ fertiggestellt, ein schwieriges und handlungsarmes Werk, das zunächst keine Bühne spielen wollte. Der „Ring“ war unvollendet, dennoch aber bereits versetzt (an den Ehemann seiner Geliebten). Der Herr desselben war – wieder einmal – verschuldet und seine persönlichen Verhältnisse durch Frauengeschichten zerrüttet. Ohne Zweifel mit dem Gedanken an einen Vorschuß kündigte Wagner daher, noch bevor eine Note geschrieben war, dem Mainzer Schott-Verlag im Oktober 1861 die „Meistersinger“ mit dem Bemerken an, daß deren „schnellste Verbreitung über das Theater“ unter anderem wegen des leicht populären Stiles verbürgt sei.

 

Kurz darauf verfaßte Wagner in Venedig und Wien erweiterte Textentwürfe zu dem Lustspiel. Die endgültige Ausarbeitung des urdeutschen Stoffes fand schließlich im Winter 1861/62 ausgerechnet in Paris statt. Im April 1862 begann Wagner mit der Niederschrift der Musik. Zu diesem Zwecke quartierte er sich, um – auch finanziell – in möglichst engem Kontakt mit seinem Verlag zu sein, in einer Villa eines Gönners in Biebrich ein, einem Ort am Rhein, der Mainz gegenüber liegt. Bereits im Sommer dieses Jahres zog es ihn aber wieder nach Wien, wo er – vergeblich – auf die Aufführung des „Tristan“ hoffte. Auch in Wien trieb Wagner die Arbeit an den „Meistersingern“ zunächst voran. Dann geriet das Werk wieder ins Stocken, zumal der Komponist ausgedehnte Konzertreisen bis nach Moskau unternahm.

 

Im Frühjahr 1864 mußte Wagner, der wieder einmal den Genuß der finanziellen Mittel, welche mit dem Erfolg einhergehen, vor das Erringen desselben gezogen hatte, vor seinen Gläubigern aus Wien flüchten. Unterwegs spürte ihn der Kabinettsekretär König Ludwigs II. von Bayern in Stuttgart auf und brachte ihn nach München. Es folgte die turbulente bayrische Episode, in der Wagner schon deswegen nicht daran denken mußte, an der Erfolgsoper weiterzuarbeiten, weil Ludwig II. seine Schulden bezahlte und ihm ein hohes Gehalt aussetzte. Im Übrigen konnte er hier endlich den „Tristan“ zur Aufführung bringen. Erst nach seiner Flucht aus Bayern Anfang 1866 besann sich Wagner wieder auf die Notwendigkeit eines „schnellen“ Erfolges und setzte die Arbeit an den „Meistersingern“ fort. Er konnte sie aber, da ihm letztlich doch Qualität vor Erfolg ging, erst im Oktober 1867 in der  Idylle von Tribschen am Luzerner See beenden.

 

Daß das Werk angesichts dieser Entstehungsbedingungen dennoch das Bild einer vollendeten Einheit bietet, erklärt sich wohl auch dadurch, daß sich Wagner schon früh auf das musikalische Material festlegte. Das Werk ist im wahrsten Sinne des Wortes eine Kopfgeburt. Entgegen aller Opernpraxis und auch seiner eigenen Gewohnheit komponierte Wagner seinerzeit in Biebrich nämlich als erstes (nur) die Ouvertüre der Oper. Dies wirft ein interessantes Licht auf Wagners Arbeitsweise. Möglich wurde diese Reihenfolge nämlich durch eine Kompositionsmethode, die Wagner von Beethoven übernommen hatte. Danach wird ein Werk konsequent aus einmal gewählten Themen nach den Gesetzen entwickelt, die diesen Motiven innewohnen, ein Verfahren, das Wagner gerade in den „Meistersingern“ thematisiert. Dort fragt Stolzing, dem Hans Sachs die Gesetze des Meisterliedes erklärt: „Wie fang ich nach der Regel an?“, worauf Sachs antwortet: „Ihr stellt sie auf und folgt ihr dann“.

 

Auch ansonsten waren bei der Meistersinger-Ouvertüre die Verhältnisse auf den Kopf gestellt. Ihre Uraufführung fand im November 1862 im Gewandhaus im Leipzig statt, sechs Jahre bevor das ganze Werk gespielt wurde.

 

Der Oper selbst war übrigens das Schicksal beschieden, das Wagner erhofft hatte. Die Uraufführung im Juni 1868 in München war sein größter Theatererfolg. Das Werk verbreitete sich, wie vorausgesagt, binnen kurzem über die Bühnen der Welt. Die hochkomplexe Ouvertüre wiederum, ein Wunderwerk Wagner’scher Kontrapunktik und Leitmotivik, hat als das eigenständige Werk, das sie von Anfang an war, zusätzlich auch die Konzertpodien der Welt erobert.

Recht und Gerechtigkeit bei der Landnahme des Kolumbus in Amerika

In der Vorrede zum Bordbuch seiner ersten Amerikafahrt, das mit „Im Namen unseres Herrn Jesus“ überschrieben und an die „allerchristlichsten, allerhöchsten, erlauchtesten und mächtigsten Fürsten, den König und die Königin der spanischen Länder und der Inseln des Meeres“ gerichtet ist, stellt Christoph Kolumbus fest, er sei von den genannten Hoheiten, nachdem sie den Krieg gegen die letzten Mauren in Spanien siegreich beendet hatten, „in ihrer Eigenschaft als katholische Christen, als Freunde und Verbreiter des christlichen Glaubens und als Feinde der Sekte Mahomeds und jedes anderen Götzendienstes und Sektiererwesens“ zum Großadmiral gemacht und beauftragt worden, mit einer hinlänglich starken Armada auf dem Seeweg nach Indien zu fahren, um die dortigen „Fürsten, Völker und Orte aufzusuchen und die Möglichkeiten zu erwägen, wie man sie zu unserem heiligen Glauben bekehren könne“ (soweit in „wenigen“ Worten die Zusammenfassung des ersten Satzes des Bordbuches, welcher entsprechend der Bedeutung seines Autors, seiner Adressaten und der Ereignisse, die im Weiteren beschrieben werden, im Original fast drei Mal so lang ist).

 

Als Kolumbus am 12. Oktober 1492 in der Karibik erstmals Land sichtete – es handelte sich um eine Insel, auf der Menschen lebten, die er für Inder hielt -, wurden die Erwägungen der gewichtigen Vorrede auf folgende Weise konkretisiert:

 

Zunächst ging der Großadmiral , dem laut Vorrede auch die – vererbliche – Würde „des Vizekönig und Gouverneurs aller Inseln und des Festlandes, das er entdecken und erobern würde“, übertragen wurde, mit zwei seiner wichtigsten Leute in einem „mit Waffen versehenen Boot“ und ohne Zweifel in großartiger Uniform an Land und entfaltete die königliche Fahne. Seine beiden Begleiter schwenkten dazu je eine weitere Fahne, auf denen ein grünes Kreuz angebracht war, „welches rechts und links von den je mit einer Krone verzierten Buchstaben F und Y (für die katholischen Könige Ferdinand und Ysabella) umgeben war“. Dann versammelte er seine Führungsleute und einen eigens mitgebrachten Notar, die sicherlich ebenfalls gebührend gekleidet waren, am Strand und rief sie zu Zeugen dafür an, dass er im Namen des Königs und der Königin von der Insel Besitz ergriffen habe. Er forderte sie auf, die rechtlichen Unterlagen zu schaffen, „wie es sich aus den Urkunden ergibt, die dort schriftlich niedergelegt wurden“ (die Szene muss man sich aus der Sicht der herbeigeströmten Einheimischen vorstellen, die, so notierte der Großadmiral, nackt waren, wie Gott sie schuf,  und rechtsunkundig, wie Gott sie ebenfalls schuf, was die spanische Delegation ohne Zweifel voraussetzte).

 

Weiter stellte Kolumbus fest, dass man zur Bekehrung und Rettung der Eingeborenen augenscheinlich nicht des Schwertes bedürfe, da sie weder Waffen trügen, noch solche kennen würden. Die Liebe sei ausreichend. Dieselbe erwarb er sich im wesentlichen dadurch, dass er ihnen „rote Kappen und Halsketten aus Glas und andere Kleinigkeiten von geringem Wert“ schenkte.

 

Am 14. Oktober kristallisierten sich weitere Details der Christianisierungspläne des Großadmirals heraus. Den Gewohnheiten der christlichen Seefahrt entsprechend suchte er nach einem Platz, wo man eine Festung errichten konnte. Er fand auch eine kleine Halbinsel, auf der sechs Hütten standen und die nach seiner Einschätzung in wenigen Tagen Arbeit zu einer Insel umgestaltet werden könne. Er stellte aber fest, dass eine solche Umgestaltung angesichts der mangelnden Waffenkenntnisse der Einheimischen eigentlich gar nicht nötig sei. Davon, so meinte er, könnten sich Ihre Hoheiten bei den sieben Leuten überzeugen, die er – offenbar dort – ergreifen ließ, um sie mit nach Spanien zu nehmen (am folgenden Tag, so notierte Kolumbus, sprangen allerdings zwei dieser lieben Leute von Bord und gelangten „trotz aller unserer Bemühungen“ mit einem Kanoe, das sich den Schiffen der Armada genähert hatte, an Land, „worauf die beiden Flüchtlinge eilends davonliefen, vergeblich verfolgt von unseren Männern, die an Land gegangen waren, um auf sie Jagd zu machen“). Im Anschluss an die Überlegungen zum Bau einer Festung empfahl der Großadmiral den allerchristlichsten Königen, Folgendes zu erwägen: „Sollten Eure Hoheit den Befehl erteilen, alle Inselbewohner nach Kastilien zu schaffen, oder aber sie auf ihrer eigenen Insel als Sklaven zu halten, so wäre dieser Befehl leicht durchführbar, da man mit einigen fünfzig Mann alle anderen leicht niederhalten und zu allem zwingen könnte“ (letzterer Erwägung sind die Spanier später bekanntlich im wesentlichen gefolgt).

 

Ein paar Tage später notierte Kolumbus, die Eingeborenen hätten nicht nur keine Waffen, sondern auch keine Gesetze. Als er später von einem Stamm hörte, der Waffen trage, schloss er daraus, dass er von höherer Bildung sein müsse (vermutlich nahm er an, dass der Stamm dann auch Gesetze habe). Das Vorhandensein von Waffen, Gesetzen und höherer Bildung dürfte dann wohl der Grund dafür gewesen sein, dass bei den Erwägungen der allerchristlichsten Könige, wie man die Fürsten, Völker und Orte Amerikas bekehren könne, dann doch nicht so sehr die Liebe als das Schwert zum Zuge kam.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Eldorado

Von Gold hat der Mensch nie genug bekommen können – zu seinem Glück, das wesentlich größer als sein Verstand war.

Die Entdecker des 15. und 16. Jahrhunderts etwa zogen die Motivation für ihre abenteuerlichen Fahrten weitgehend aus der Hoffnung, neben dem Ursprungsort der Gewürze, die seinerzeit mit Gold aufgewogen wurden, die Gold- und Silberinseln im fernen Osten zu finden. Von solchen Inseln träumte man seit den Eroberungszügen Alexanders des Großen. Mitursächlich für die gewaltigen Energien, die diese Träume mobilisierten, war sicher, dass im Laufe der Zeit die Angaben über die Größe der Schätze immer phantastischer wurden. Aus Inseln mit großen Mengen von Edelmetall, wie es bei Plinius noch hieß, wurden nach und nach Inseln, die – einschließlich hoher Berge – ganz aus Gold und Silber bestehen sollten. Die katalanische Weltkarte aus dem Jahre 1375 wusste sogar, dass im Meer jenseits des indischen Festlandes genau 7548 Inseln liegen, deren „wunderbare Reichtümer an Gold, Silber und kostbaren Steinen“ man nicht alle aufzählen könne.

Kaum dass die Portugiesen den Seeweg nach Indien gefunden und bis nach Hinterindien vorgedrungen waren, schickten sie denn auch Expeditionen auf die Suche nach einer Goldinsel, die – einheimischen Behauptungen zufolge – südlich von Sumatra liegen und deren Strand ganz aus Goldkörnern bestehen sollte. Zwar kehrten die ausgesandten Schiffe alle unverrichteter Dinge oder überhaupt nicht zurück. Dies hatte aber keineswegs zur Folge, dass man an den Goldvorkommen zweifelte. Zur Aufrechterhaltung der Hoffnung reichte ein bloßes Gerücht. In den Hafenstädten des Ostens hieß es, vermutlich weil die Portugiesen es hören wollten, ein Schiff habe die Insel gefunden. Es sei allerdings, nachdem es ganz mit Gold beladen worden sei, auf ein Riff gelaufen und untergegangen. Das hatte, da man die versteckte Ironie dieser (Überladungs)Geschichte nicht sehen wollte oder konnte, zur Folge, dass man die Bemühungen um die Goldinseln verstärkte. Auf den Weltkarten waren sie bis in das 18. Jahrhundert mit dem Vermerk „locus incertus“ notiert.

Auch Kolumbus trat seine Fahrt nach Westen – allen Beteuerungen, vorrangig den christlichen Glauben bei den Heiden verbreiten zu wollen, zum Trotz – in erster Linie wegen des Goldes an. Da er davon ausging, Indien nach Umrunden der Weltkugel auf der Ostseite zu erreichen, dürfte er dabei auch an die Goldinseln gedacht haben, auf die man, wenn man nach Westen fuhr, noch vor dem indischen Festland stoßen musste. Schon einen Tag nach der Ankunft auf einer Insel, die er für einen Teil Indiens hielt, notierte er, nachdem er bei den Einheimischen Goldschmuck gesehen hatte, in seinem Bordbuch, er werde sich nun auf die Suche nach der Quelle des Goldes begeben. Die restlichen drei Monate seines (ersten) Aufenthaltes in „Indien“ waren, wie die Eintragungen in das Bordbuch zeigen, eine einzige Irrfahrt durch die Inselwelt der Karibik in der Hoffnung, die große Goldquelle des Ostens zu finden. Dass man trotz dürftiger Sucherfolge die Hoffnung auch hier nicht aufgab, hatte wieder mit dem Verhalten der Einheimischen zu tun. Die „Indianer“ merkten offenbar, dass die Gier der Ankömmlinge größer als ihr Verstand war. Sie sicherten sich daher mit immer neuen Ortsangaben über den Fundort von Gold Beachtung und die Gunst der ansonsten schwer berechenbaren Besucher.

Später vermuteten die Spanier eine Menge Gold im Nordwesten des südamerikanischen Halbkontinents. Anlass für diese Annahme waren einheimische Berichte über einen Priester-Fürsten, der sich bei einer Zeremonie ganz mit Goldstaub pudern lasse, um diesen verschwenderischerweise in einem See abzuwaschen. Auf der Suche nach diesem Fürsten, den man „El Dorado“ nannte, durchkämmten daraufhin zahlreiche Schatzsucher die Urwälder Südamerikas. Da man die Person nicht fand, wurde aus der konkreten Goldhoffnung im Laufe der Zeit das sagenhafte Goldland Eldorado, nach dem Generationen von Abenteuern – ebenfalls vergeblich – suchten.

Wie bekannt und in den Kirchen Spaniens noch heute zu besichtigen hat man in den Ländern der neuen Welt schließlich doch einiges an Gold und Silber gefunden und nach Europa gebracht. Es war jedoch keinesfalls genug und wesentlich weniger als erhofft. Gerade darin aber bestand das (Schatzsucher)Glück, das wie gesagt, größer als der (ökonomische) Verstand war. Denn hätte man so viel Gold gefunden, wie man sich erträumte, hätte das Edelmetall, ähnlich wie die Gewürze, deren Ursprungsort man auf den Inseln der Molukken finden konnte, allen Wert verloren.

Ein- und Ausfälle (Meinungsfreiheit 5)

Die Meinungsfreiheit wird keineswegs nur deshalb beansprucht, weil man manche Dinge verschieden, sondern weil gewisse Dinge niemand sehen kann.

1899 Franz Schmidt (1874 -1939) 1. Symphonie E-Dur

 

Im Gärungsprozess, der die europäische Kultur um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert erfasste, spielte Wien eine herausragende Rolle. In der Hauptstadt des k&k Vielvölkerstaates lebten seinerzeit so viele große Begabungen und wirksame Geister, wie kaum je an einem Ort. Sie waren auf den unterschiedlichsten Gebieten der Kultur und des sozialen Lebens tätig. Was sie jedoch in hohem Maße einte, war die Neigung, mit Nachdruck nach dem Stand der sozialen und kulturellen Entwicklung im Ganzen zu fragen. Zahlreiche Protagonisten des Geistesleben machten nicht nur alle Anstrengungen, sich des Weges zu vergewissern, den die Kultur bis dato zurückgelegt hatte. Sie suchten auch auf außerordentlich grundsätzliche Weise nach der Richtung, welche die Geisteswelt in der Zukunft nehmen sollte. Die Entwicklung der alteuropäischen Kultur strebte so in Wien in exemplarischer Weise jenem Kulminationspunkt zu, dem die Moderne folgte. Von den herausragenden Protagonisten dieser Entwicklung seien hier nur Siegmund Freud für die Humanwissenschaften, Gustav Mahler und Arnold Schönberg für die Musik sowie Gustav Klimt, Walter Olbricht, Otto Wagner und Adolf Loos für die Bildende Kunst und die Architektur genannt. Aber auch so „radikale“ soziale Umgestalter wir Theodor Herzl und Adolf Hitler sind durch die Atmosphäre Wiens in der Zeit der Jahrhundertwende geprägt. 
 
Die Vorstellung, dass es um das große Ganze ging, hatte nicht zuletzt den geistigen Nachwuchs erfasst. Auffällig viele junge Talente hielten sich nicht lange damit auf, sich Schritt für Schritt der tradierten Kulturtechniken zu bemächtigen und sich dann in der Hierarchie der Kultur langsam nach oben zu arbeiten, sondern wagten früh den großen Wurf. Solche jugendliche Himmelstürmer waren etwa die Literaten Hugo von Hofmannsthal, Stefan Zweig und Karl Kraus, der Philosoph Otto Weiniger und wiederum Arnold Schönberg. 

 Zu den jugendlichen Wiener Kraftgenies dieser Zeit gehörte auch der Musiker Franz Schmidt, der wie Schönberg und Kraus im Jahre 1874 geboren wurde. Als pianistisches Wunderkind und Cellist eignete er sich schon in jungen Jahren eine geradezu enzyklopädische Kenntnis der Musikliteratur an. Man sagte ihm nach, dass er auf der Basis eines phänomenalen musikalischen Gedächtnisses fast alle gängigen Werke auswendig spielen konnte. Im Alter von 22 Jahren machte sich Schmidt – möglicherweise beflügelt durch die Tatsache, dass er gegen vierzehn Mitbewerber eine Stelle als Cellist beim Paradeorchester der Wiener Philharmonikern erlangt hatte – daran, diese Kenntnisse in einem großen Werk zu verarbeiten. Wiewohl er bis dahin wenig und insbesondere nichts für Orchester komponiert hatte, nahm er sich dabei nichts weniger als die Fortführung der großen Tradition der Wiener Symphonik vor. Anlage und Größe des Werkes, das er dann in den Jahren 1896 bis 1899 schuf, zeigen, dass er auf Augenhöhe mit seinen großen Wiener Vorgängern, insbesondere mit Brahms und Bruckner agieren wollte, Komponisten, die sich aus Respekt vor der anspruchsvollen Form der Symphonie erst in ihrem vierten Lebensjahrzehnt an ein solches Vorhaben gewagt hatten.

In der schwelenden Diskussion darüber, welche Richtung der künstlerische Geist der Zeit einschlagen sollte, hat sich der junge Schmidt dabei auf die Seite der Sammler, Bewahrer und Vollender gestellt, einer Einstellung, der er bei aller – insbesondere auch persönlichen – Sympathie für den vorwärtsstürmenden Schönberg und seine Anhänger im großen und ganzen sein Leben lang treu bleiben sollte. Seine 1. Symphonie zeigt ihn als einen Künstler, der sich in großartig zusammenfassender Weise der bisherigen Entwicklung der Musik vergewissert. Das Werk ist daher in erster Linie ein Gang durch die wundervollen Bildungen, welche die Musikgeschichte bis dato hervorgebracht hatte. Vom barocken Figural- und Fugenwerk über kunstvoll motivisch-thematische Arbeit in der Form des Sonatenhauptsatzes und romantischer Waldhornseeligkeit bis zu Wiener Schrammelharmonik und Brucknerschen Scherzo-Rhythmen ist alles vertreten, was dem Musikkenner vertraut ist. Die Symphonie ist eklektisch in dem guten Sinne, in dem es die Architektur des 19. Jh. ist, die in ähnlich vielfältiger Weise auf die tradierten Formen anspielte. Es ist sicher kein Zufall, dass das Werk in einer Zeit entstand, als man im Herzen der Stadt die gigantischen Prunkbauten der Kaiserforen erstellte, die ebenfalls dem Sammeln und Bewahren dienten. Die Neue Hofburg steigerte die architektonische Tradition der Antike unmittelbar ins Ungeheure, das Kunsthistorische Museum und sein bauliches Pendant, das Naturhistorische Museum, nahmen sie mittelbar, nämlich in der Form der Neorenaissance auf. Schmidts Symphonie überträgt gewissermaßen die Monumentalität und imperiale Haltung dieser Bauten in Musik. Man kann das Spiel mit den historischen Formen der Musik wie eine Wanderung durch die prunkvollen Räume und kostbaren Sammlungen der großen Museen und die feierlichen, anders als bei Bruckner ganz weltlichen Choräle wie ein Durchschreiten der kolossalen Kolonnaden und Treppenhäuser des nie vollendeten Riesenbaus der Neuen Hofburg empfinden. Tatsächlich ist denn auch mehrfach die kaiserliche Hymne „Heil Dir im Siegerkranz“ zu hören.

Schmidts 1. Symphonie ist, anders als die drei Werke der gleichen Gattung, welche er noch komponieren sollte, heute so gut wie unbekannt. Sie wird in den einschlägigen Werken in der Regel nicht einmal erwähnt. Das mag nicht zuletzt daran liegen, dass sie als Jugendwerk gilt und ihre Aufführung durch technische Schwierigkeiten erschwert ist, mit denen Schmidt möglicherweise seine Kollegen als Mitglieder eines Orchesters, das als das beste der Welt galt, beeindrucken wollte. Die Symphonie, welche die Wiener Philharmoniker im Jahre 1902 erstmals spielten, wartet daher noch darauf, in die Traditionspflege einzugehen, von der sie selbst ein großartiger Teil ist.

 

Ein- und Ausfälle (Exklusivität)

Der Mensch neigt dazu, seine gesellschaftliche Position dadurch zu stärken, dass er andere ausschließt. Mit allen möglichen „Distinguierungen“ werden die Menschen eingeteilt in solche, die zu „Kreisen“ gehören, die gesellschaftliche Vorteile bieten, die „in“ sind, und solchen, die davon ausgeschlossen, also „out“ sind. Solidarische Gesellschaften bemühen sich, dieser Neigung zum Ausschluss Grenzen aufzuzeigen, kompetitive Gesellschaften hingegen bestätigen und verstärken sie. In welchem Maße letzteres in unseren westlichen Gesellschaften der Fall ist, zeigt die Tatsache, dass ein so unsolidarischer Begriff wie „exklusiv“ ausschließlich positiv besetzt ist.

1906 Léo Weiner (1885 – 1960) – Serenade für kleines Orchester Op. 3

Ein schöpferischer Musiker, der um 1880 in Europa zur Welt kam, befand sich zu Beginn seiner Reifejahre in keiner einfachen Position. Aufgewachsen unter der Herrschaft des spätromantischen Musikidioms, wurde er, kaum dass er sich seiner Maßstäbe vergewissert hatte, mit den epochalen Veränderungen der musikästhetischen Vorstellungen am Anfang des 20. Jahrhunderts konfrontiert. Ob durch Aktivität oder Passivität musste er dazu unvermeidlich Stellung nehmen. Der Sog dieses Paradigmenwechsels war so stark, dass es schwierig war, sich den Schubladen zu entziehen, in die man hineingezogen werden konnte. Wer nicht zu denen zählte, die angeblich die neue Zeit ausdrückten und denen die Zukunft gehören sollte, lief Gefahr, in Vergessenheit zu geraten, weil er einer vergangenen Zeit zugerechnet wurde.

Dieses Dilemma zeigt sich exemplarisch bei den vier großen ungarischen Musikern Ernst von Dohnány, Béla Bartók, Zoltán Kodály und Leó Weiner, die alle zwischen 1877 und 1885 geboren wurden. Sie kamen aus der selben Schule, studierten fast gleichzeitig am Budapester Konservatorium und hatten den gleichen Kompositionslehrer (Koessler). Sie waren auch persönlich miteinander bekannt und beeinflussten sich gegenseitig (Dohnány und Bartók stammten sogar aus dem gleichen Ort – Pressburg – und gingen in die gleiche Schule). Ihre ersten Kompositionen standen unter dem Einfluss der deutschen Romantik, wobei sich Dohnány an Brahms, Bartók an Richard Strauss und Weiner an Mendelssohn und Schumann orientierte. Kurz nach der Jahrhundertwende gingen ihre Wege aber auseinander. Bartók und Kodály traten – merkwürdigerweise auf dem retrospektiven „Umweg“ über die Volksmusik – den Weg in die Zukunft an. Sie sollten weltberühmt werden und gelten heute als die Repräsentanten der neueren ungarischen Musik. Dohnány und Weiner hingegen hatten anfangs zwar große Erfolge – bevor sich der Paradigmenwechsel durchgesetzt hatte, gab man ihnen sogar den ehrenvollen Beinahmen eines „ungarischen Brahms“ bzw. eines „ungarischen Mendelssohns“. Da sie dem einmal angenommenen Idiom aber treu blieben, gerieten sie als Komponisten zusehends ins Hintertreffen und sind heute trotz großer Produktivität weitgehend vergessen. Weiner hat es nicht einmal in die gängigen Musikführer geschafft. Dohnány machte sich in der Folge einen Ruf als Pianist und Dirigent und wurde zu einer zentralen Figur im ungarischen Musikleben der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, in welcher Rolle er nicht zuletzt dafür sorgte, dass Bartók und Kodály gespielt wurden. Weiner wurde zu einer Institution als Professor an der gemeinsamen besuchten Musikhochschule in Budapest, wo er über Jahrzehnte Generationen von Musikern heranzog. Zu seinen Schülern gehörten etwa Géza Anda und Georg Solti.

Von Weiners Musik sagt man, sie sei transparent, unaggressiv, verzichte auf unnötige Komplikationen und benutze überlieferte Formschemata, was sich ein wenig wie die Spiegelverkehrung der Beschreibung mancher Musik von Bartók anhört. Er verwendet gerne ungarische Elemente, allerdings in der Art der ungarischen Romantik etwa eines Franz Liszt. Ein schönes Beispiel hierfür ist die heitere Serenade für kleines Orchester, die Weiner mit einem erstaunlichem Geschick im Umgang mit der hochentwickelten spätromatischen Harmonik im Jahre 1906 im Alter von 21 Jahren schrieb, zu einen Zeitpunkt als Bartók Musik dieser Faktur gerade den Rücken kehrte.

Ein-und Ausfälle (Meinungsfreiheit 4 – Wärmetod)

Man hat immer wieder befürchtet, abweichende Meinungen würden die soziale Kohäsion unterminieren. Daher hat man vor allem in den Gesellschaften, welche den sozialen Zusammenhalt besonders betonen, größten Aufwand betrieben, abweichende Meinungen zu unterdrücken. Hätte man gewusst, wie wenig Wirkung Meinungen zeitigen, wenn jeder eine haben darf, hätte man sich eine Menge Mühe sparen können.

Ein- und Ausfälle – Nathans Weisheit

Man kann aus der Verwandtschaft der drei nahöstlichen Religionen, weise wie Nathan, den Schluss ziehen, dass ihnen ein gemeinsamer wahrer Kern zugrunde liege; oder man kann, was als unweise gilt, aus dem Umstand, dass jede die Wahrheit für sich in Anspruch nimmt, schließen, dass alle drei (gleich) weit davon entfernt sind.

Ein-und Ausfälle – Sprengkaft von Lessings „Natan der Weise“

Nach der Ringparabel in Lessings „Nathan der Weise“ soll der (originale) „Ring“, den jede der drei großen Offenbarungsreligionen vom Vater erhalten zu haben meint, die geheime Kraft haben, „vor Gott und den Menschen angenehm zu machen“. In einem Halbsatz streut Lessing allerdings mit fast schon maliziöser Beiläufigkeit ein, das gelte (nur) für den, „der ihn in dieser Zuversicht trug“. Tatsächlich enthält diese Einschränkung, die bei Boccaccio, der die Ringparabel auf die große europäische Bühne brachte, noch fehlt, eine Menge Sprengstoff. Denn sie reduziert die Kraft des Ringes weitgehend auf ein (sozial)psychologisches Phänomen. Kein Wunder, dass Lessing in einer Notiz, die sich in seinem Nachlass fand, feststellte, er „kenne keinen Ort in Deutschland, wo dieses Stück jetzt aufgeführt werden könnte“. In Deutschland kann man den „Nathan“ inzwischen überall spielen, wenn auch mancherorts möglicherweise nur deswegen, weil man das Gewicht des Nebensatzes nicht realisiert. Gerade dieser dürfte aber der Grund dafür sein, dass es in der Welt zunehmend mehr Orte gibt, an denen man das Stück nicht aufführen könnte.

Ein-und Ausfälle (Goethes Zauberlehrling)

Goethes Zauberlehrling  – eine Parabel über die Uferlosigkeit des Geistes („oben sei ein Kopf!“). Wer nicht das richtige Wort weiß, riskiert, in der Aktivität des Geistes (der Geister) zu ertrinken („Hab ich doch das Wort vergessen“). Besonders gefährlich ist das Spalten „alten Holzes“ mit dem „scharfen Beile“, denn solche (Haar-)Spaltereien vervielfältigen das Übel. Die Lösung des Problems: eine Autorität. Sie ruft die Geister nicht willkürlich (nämlich nicht allein, damit sie „nach seinem Willen leben“) oder aus Geschwätzigkeit (dass „zum Zwecke Wasser fließe“), sondern nur dann, wenn es des Geistes bedarf („denn als Geister, ruft euch nur, zu diesem Zwecke, erst hervor der alte Meister“).

 

1857/58 Richard Wagner (1810-1883) Wesendonk-Lieder

Wagner, der in der Hauptsache Vokalmusik komponierte, schrieb die Texte für seine Musik in aller Regel selbst. Die wichtigste Ausnahme von dieser Regel sind die sogenannten Wesendonk-Lieder. Deren Textvorlagen stammen von Mathilde Wesendonk, der Frau des reichen Kaufmannes Otto Wesendonk, welcher Wagner nach seiner politisch bedingten Flucht aus Sachsen im Schweizer Asyl finanziell unterstützte. Die Wesendonks, die an sich aus Deutschland stammten, führten in Zürich ein großes Haus und hielten literarisch-musikalische Gesellschaften ab, zu deren Besuchern neben Wagner etwa auch der Dichter Gottfried Keller und der Architekt Gottfried Semper gehörten. Angeregt durch die Künstler, die in ihrem Haus verkehrten, schrieb Mathilde Wesendonk auch selbst Gedichte. Daß die schwärmerisch-schwermütigen Gelegenheitsdichtungen einer Dilettantin vom Jahrhundert-Musiker Wagner vertont wurden, hatte seinen Grund in der besonderen persönlichen Beziehung zum Komponisten, in der es ziemlich dramatisch zuging.

Ihren Höhepunkt erreichte die Beziehung als Wagner im Spätsommer 1857 der unmittelbare Nachbar der Familie Wesendonk wurde. Seinerzeit bezog der Komponist auf Einladung von Otto Wesendonk mit seiner Frau Minna das „Asyl“, ein älteres Fachwerkhaus, das auf dem Grundstück der imposanten Villa stand, die sich die Wesendonks auf einem „grünen Hügel“ im Stil der italienischen Renaissance erbauen ließen. Über das, was danach geschah, schreibt Wagner später in seiner Autobiographie „Mein Leben“: „Wir waren durch die ländliche Nachbarschaft so nahe gerückt, daß eine starke Vermehrung der Beziehungen bloß durch die einfache tägliche Berührung nicht ausbleiben konnte“. Im Klartext heißt dies, daß Wagner sich endgültig in die fast 20 Jahre jüngere Mathilde verliebte, Besuche, Billette, Botschaften und Briefe hin- und her wechselten, Eifersuchtsszenen in allen Kombinationen abliefen und eben auch Gedichte übergeben und vertont wurden. Welche Hochspannung zwischen Villa und Asyl herrschte, zeigt nicht zuletzt die Tatsache, daß auf dem Hintergrund der Beziehung zu Mathilde Wesendonk Wagners aufregendstes und revolutionärstes Werk, die Oper „Tristan und Isolde“, entstand, in der es um eine Dreiecksbeziehung mit „liebestödlichem“ Ausgang geht.

Das Drama „Richard und Mathilde“ freilich endete so prosaisch wie dies im richtigen Leben eher der Fall zu sein pflegt. An einem Abend im April 1857 diskutierten die beiden Protagonisten über die Frage, wie die Figur des „Faust“ bei Goethe zu beurteilen sei. In der ihm eigenen Art, Hochgeistiges und Persönliches zu vermischen, nutzte Wagner die Auseinandersetzung dazu, seine Eifersucht auf Mathilde Wesendonks jungen italienischen Sprachlehrer De Sanctis zu Ausdruck zu bringen. Dabei muß er ziemlich aus der Rolle gefallen sein. Am folgenden Morgen versuchte er die Scherben mittels eines Briefes zu kitten, den er mit „Morgenbeichte“ überschrieb. Das Schriftstück, das einige interpretationsfähige Formulierungen enthielt – unter anderem tauchte darin mehrfach das Wort „Liebe“ (mit „!“) auf -, wurde von seiner misstrauischen Ehefrau abgefangen. Sie ging damit postwendend zu Mathilde und machte ihr heftige Vorhaltungen. Die Folge war, daß das komplizierte, künstlerisch verbrämte Beziehungsgeflecht zwischen Villa und Asyl zusammenbrach. Wagner floh, Mathilde mit großer Geste entsagend, nach Venedig, wo er die unaufgelöste Liebesspannung in der Weiterführung des Jahrhundertkunstwerkes „Tristan“ sublimierte.

Die Lieder nach den Texten Mathilde Wesendonks sind menschlich und künstlerisch im Kleinen, was der „Tristan“ im Großen ist. Ihre Musik ist weitgehend vom Tonfall, insbesondere von der irisierenden Harmonik der Oper geprägt. Die Lieder „Im Treibhaus“ und „Träume“, die in ihrem schopenhauerischen Pessimismus und ihrer buddhistisch angehauchten Allmystik der Gedankenwelt des „Tristan“ inhaltlich besonders nahe stehen, sind als Vorstudien zur Oper anzusehen. Wie wichtig der persönliche Hintergrund der Lieder war, offenbart sich nicht zuletzt darin, daß Wagner unter dem Einfluß offenbar noch immer glühender Gefühle – möglicherweise aber auch in weiterhin werbender Absicht – die Rangfolge der Werke seinerzeit auf den Kopf stellte. In einem „Tagebuch für Mathilde“, welches er in Venedig führte, schrieb er: „Besseres als diese Lieder habe ich nie gemacht, und nur sehr weniges von meinen Werken wird ihnen zur Seite gestellt werden können“.

Die Lieder, die zwischen Herbst 1857 und Sommer 1858 jeweils unmittelbar nach der Abfassung der Gedichte meist an einem Tag komponiert wurden, sind ursprünglich für Klavier und Sopran geschrieben. Instrumentiert wurden sie erst später von Felix Mottl. Die Rechtfertigung und das Modell für die Orchesterfassung lieferte Wagner selbst, indem er das Lied “Träume“ für acht Instrumente setzte. Diese Fassung brachte er Mathilde am Morgen ihres 29. Geburtstages (23.12.1857) als Überraschungsständchen im Treppenhaus der Wesendonk-Villa dar, was beim Hausherrn, der sich auf Geschäftsreise in New York befand, zu einigen Irritationen und in der Züricher Gesellschaft zu allerhand Gerede führte.

1857/1859 Richard Wagner (1813- 1883) Vorspiel und Liebestod aus „Tristan und Isolde“

Kaum ein Detail der europäischen Kunstmusik hat die Gemüter der Kenner so sehr erregt wie der zweite Takt (des Vorspieles) der Oper „Tristan und Isolde“. Am Anfang dieses Taktes steht der berühmt – berüchtigte „Tristan Akkord“. Der merkwürdige vierstimmige Akkord durchzieht samt seiner rätselhaften Weiterführung, immer wieder scheinbaren (Auf)Lösungen zustrebend, leitmotivisch die ganze Oper, um erst nach über vier Stunden unmittelbar vor dem Schlussakkord eine beruhigende Wendung zu nehmen. Das spannungsvolle Klanggebilde symbolisiert den Gegenstand der Oper, in der es um Liebesverlangen geht, dessen Erfüllung die Protagonisten mangels der Möglichkeit einer Befried(ig)ung auf Erden nach gemeinsamem Tod in einer höheren Seinssphäre suchen. Wagner lehnte sich bei der Konzeption dieser hochspekulativen Thematik an Gedanken Schopenhauers an, der seinerseits buddhistische Vorstellungen aufnahm.

 

Abgesehen von der illustrativen Funktion im Werk hat der Tristan-Akkord auch eine große Rolle bei der Deutung der neueren Musikgeschichte gespielt. Gegner und Freunde der modernen Musik ziehen ihn gemeinhin heran, wenn es um die Beantwortung der Frage geht, wie es zu der erstaunlichen Entwicklung der europäischen Kunstmusik seit Beginn des 20. Jahrhunderts kam. Für die Anhänger des Gedankens vom Fortschritt in der Musik ist die Tristan-Harmonik der Wendepunkt, mit dem das fundamental Neue beginnt. Mit dem Einsatz des harmonisch mehrdeutigen Tristan-Akkordes habe Wagner den Prozess der Auflösung der überkommenen Dur/Moll Harmonik eingeleitet und damit Platz für ungekannte neue Ausdrucksmöglichkeiten geschaffen. Für diejenigen, welche diese Entwicklung bedauern, ist der Tristan-Akkord so etwas wie eine Erbsünde. Nach ihrer Meinung hat Wagner damit ein grundlegendes Tabu der europäischen Musikgeschichte gebrochen und so den Weg für zahlreiche weitere Tabubrüche frei gemacht. Dies habe in die Atonalität und die sackgassenartigen Versuche geführt, die alte Harmonik durch andere Ordnungssysteme zu ersetzen.

 

Ob die Tristan-Harmonik tatsächlich eine derart entscheidende Rolle in der Musikgeschichte spielte, ist allerdings nicht so sicher. Mehrdeutige Akkorde hat es auch schon vor Wagner, insbesondere bei Franz Liszt gegeben. Außerdem betreffen die Neuerungen der Moderne nicht ausschließlich und möglicherweise nicht einmal in erster Linie die Harmonik. Satie, Debussy, Skriabin und Ives, welche die ersten Schritte in Richtung neue Musik gingen, änderten auch andere wichtige Parameter der Musiktradition. Auch Arnold Schönberg und seine Schüler, die das Ende der überkommenen Harmonik besiegelten, haben sich mit dem „Tristan“ in der Theorie erst befasst, nachdem sie sich in der Praxis schon von der Tradition verabschiedet hatten. Es spricht daher vieles dafür, dass die Vorstellung vom Tristan-Akkord als dem Prototyp des Tabubruchs eine retrospektive Konstruktion der Musikwissenschaft auf der Suche nach einem Ausgangspunkt für eine schlüssige Entwicklungslinie der neueren Musikgeschichte ist. Ähnlich wie für die Oper hat die Tristan-Harmonik daher wohl auch für die Musikgeschichte eher eine symbolische Bedeutung.

 

Die Wirkung des „Tristan“ war nichtsdestoweniger außerordentlich. Ungezählte Musikwissenschaftler und Denker haben die Struktur und die werkimmanente Funktion des Tristan-Akkordes zu deuten versucht. Wegen seiner Berühmtheit wird er auch immer wieder zitiert und zwar trotz oder gerade wegen des todernsten Kontextes, in dem er steht, auch in parodistischem Zusammenhang. Debussy etwa verwendete ihn in „Golliwogs Cakewalk“ aus „Childrens Corner“. Hindemith setzte das erotische Klanggebilde in der Musik zu seinem Puppenspiel „Das Nusch-Nuschi“ ein, wo es zum Entsetzen der Wagner-Gemeinde ausgerechnet zur Untermalung einer Szene diente, in der ein burmesischer General seine Männlichkeit durch den Biss eines Flussviehs namens Nusch-Nuschi verliert. Auf diese Weise war der Akkord sogar an einem veritablen Skandal beteiligt. Der Auftritt des respektlosen Hanauers löste in Stuttgart, wo das Puppenspiel im Jahre 1921 uraufgeführt wurde, ein heftiges kulturpolitisches Beben aus, das schließlich zum Rücktritt des Generalmusikdirektors Fritz Busch führte. Auch in der Literatur hat Wagners „Tristan“ Spuren hinterlassen. In Thomas Manns Novelle diesen Namens ist die Oper der Hintergrund der unheilvollen Aktivitäten eines lebensfremden und „unverantwortlichen“ L`art pour l`art Poeten. Hans-Ulrich Treichel hat in neuerer Zeit unter dem Titel „Tristan-Akkord“ eine äußerst gelungene Persiflage über den modernen Musikbetrieb geschrieben.

 

Das Tristan-Vorspiel, in dem der Akkord bereits in vielfacher Weise präsentiert wird, ist ein Werk von singulärer Dichte und außerordentlicher erotischer Suggestivkraft. Da Wagner erhebliche Probleme hatte, die hochkomplexe und technisch äußerst anspruchsvolle Oper, die 1859 fertig gestellt war, auf die Bühne zu bringen, führte er das Vorspiel zunächst bei verschiedenen Konzerten gesondert auf. Erstmals im Jahre 1863 verband er es dabei mit dem „Schlusssatz“ der Oper, den er auch als „Verklärung“ bezeichnete. Zusammen mit diesem Teil, der (erst) nach Wagners Tod die Bezeichnung „Liebestod“ erhielt, hat es sich unter der Bezeichnung „Vorspiel und Liebestod“ gewissermaßen als orchestrale Kurzform der Oper in den Konzertsälen etabliert.

 

Ein-und Ausfälle (Meinungsfreiheit 3)

Meinungsfreiheit bedeutet, dass jeder behaupten kann, im Besitze der (sozialen) Wahrheit zu sein. Daraus resultiert ein Wildwuchs von Strategien zur Glaubhaftmachung der jeweiligen Wahrheit und zur Abwehr von Wahrheitskonkurrenten. Daher ist es unter den Bedingungen von Meinungsfreiheit besonders schwer, eine eigene Meinung zu finden und besonders leicht, dieselbe zu verlieren.

1870 Richard Wagner (1813 – 1883) Siegfried Idyll

Wagners Leben war bekanntlich ein einziges Drama – künstlerisch, politisch, finanziell und nicht zuletzt menschlich. Wie eine Insel der Ruhe liegt darin das Siegfried Idyll, ein Werk, das Wagner einmal als seine liebste Komposition bezeichnete. Und doch beschreibt auch das Siegfried Idyll nur das mehr oder weniger glückliche Ende dramatisch verwickelter Verhältnisse.

 

Das Werk ist ein Weihnachts- und Geburtstagsgeschenk des 57-jährigen Komponisten für seine frisch angetraute junge Frau Cosima und markiert das Ende der langen und äußerst unruhigen Anfangsphase dieser Beziehung. Begonnen hatte diese 13 Jahre zuvor, im Jahre 1857, als Cosima, die Tochter Franz Liszts, ausgerechnet auf der Hochzeitsreise mit ihrem ersten Ehemann, dem großen Pianisten und Dirigenten Hans von Bülow, mehrere Wochen bei Wagner in Zürich Station machte. Bereits damit trat Cosima, wiewohl vorläufig noch in einer Nebenrolle, in Wagners ohnehin schon komplizierte Frauenbeziehungen.

 

Wagner wohnte seinerzeit mit seiner Frau Minna im  „Asyl“, einem Nebengebäude der Villa des reichen Kaufmannes Otto Wesendonk in Zürich, der den hochverschuldeten Komponisten finanziell unterstützte. Gleichzeitig unterhielt Wagner, der hier seine Treubruchsoper „Tristan und Isolde“ begann, mit dessen junger Ehefrau Mathilde zarte Bande, für die allerdings weder seine Frau noch Mathildes Mann viel Verständnis hatten. Die Spannung, die sich in diesem Vierecksverhältnis aufgebaut hatte, führte im Jahre 1858 zu einem ersten Höhepunkt des Wagener´schen Frauendramas. Minna fing einen heimlichen Brief Wagners an Mathilde ab und legte ihn offen. Im Zuge der Verwicklungen, die daraus resultierten, flüchtete Wagner aus dem Asyl und war damit von Minna und Mathilde getrennt. Dies hatte zur Folge, daß Cosima in den Vordergrund des Geschehens treten konnte. Wagners Geliebte wurde sie schließlich im Sommer 1864 in Starnberg, wo der Komponist seinerzeit auf Einladung König Ludwig II. von Bayern lebte.

 

Nach der Beziehung zu Mathilde Wesendonk befand sich Wagner damit ein zweites Mal in der Rolle des Tristan, desjenigen also, der einen Vertrauten oder Gönner mit dessen Frau hintergeht (als solcher freilich schuldlos, weil er „versehentlich“  einem Liebestrank erlag). Während eine Frucht der Wesendonk-Affäre, die möglicherweise nur platonischen Charakter hatte (darüber streiten die Gelehrten), ein Geistesprodukt, nämlich die Oper „Tristan und Isolde“ war, stellte sich als Folge der Starnberger Ereignisse bei Cosima von Bülow im Frühjahr 1865 eine leibhaftige Isolde ein. Für Hans von Bülow sah das neue Dreiecksdrama eine merkwürdige Doppelrolle vor. Er galt als Ehemann von Cosima einerseits als Vater von Isolde, andererseits hatte er die menschlich nicht unproblematische, musikhistorisch aber höchst bedeutsame Aufgabe, kurz nach der Geburt von Isolde die Treubruchsoper „Tristan und Isolde“ aus der Taufe heben zu dürfen.

 

Der Wechsel der Szene zum Schauplatz des Siegfried-Idylls erfolgte, als Wagner sich wieder einmal in die Politik einmischte und, nachdem er wegen derartiger Umtriebe früher schon aus Sachsen geflohen war, nunmehr auch Bayern schnellestens verlassen mußte. Er ging im Jahre 1865 zurück in die Schweiz, wo sein neues Asyl das wunderschön gelegene Landhaus Tribschen am Luzerner See wurde. Nach diesem Ort wurde das Siegfried Idyll ursprünglich als Tribschener Idyll bezeichnet.

 

Für eine idyllische Wendung der Handlung war freilich auch in Tribschen vorerst kein Raum. Fast zwei Jahre war Cosima zwischen ihren beiden Männern hin- und hergerissen und pendelte unter peinlichen Umständen zwischen München und Luzern, eine Zeit, in der sie, wiewohl noch immer mit Hans von Bülow verheiratet, ein weiteres Kind (Eva) gebar, dessen Vater Wagner war. Erst als Cosima im Herbst 1867 samt ihren vier Töchtern – zwei stammten aus der Ehe mit Hans von Bülow – ganz nach Tribschen zog, begannen sich die Dinge zu entspannen. Im Sommer 1869 – Wagner komponierte gerade den „Siegfried“ zu Ende –  kam der lang ersehnte Stammhalter zur Welt und erhielt den Namen des Titelhelden dieser Oper. Kurz darauf wurde Cosima von Hans von Bülow geschieden und konnte Wagner heiraten.

 

Das Siegfried Idyll, das unmittelbar danach im Oktober 1870 entstand, spiegelt die erlösende Ruhe, die nach all diesen Verwicklungen in Wagners persönlichen Verhältnissen eingetreten war. Seine Musik ist, wie immer bei Wagner, äußerst beziehungsreich. So enthält sie nicht nur musikalische Elemente der Oper „Siegfried“, was im Hinblick auf den frisch geborenen Sprößling nahe lag, sondern vor allem auch Motive, die bereits in der Zeit entstanden waren, in der Cosima in Starnberg seine Geliebte wurde. Andere Motive spielen auf Familien-Ereignisse an – so der Ruf von Fidis (Tochter Evas) Vogel, den die Trompete am Ende des Mittelteiles einwirft (der ursprüngliche Titel des Werkes lautete: Tribschener Idyll mit Fidi-Vogelgesang und Orange-Sonnenaufgang). Auch dramatische Verwicklungen sind nicht ausgelassen. Das ganze Werk ist durch ein intimes Programm geprägt, das Wagner dezenterweise zwar für sich behalten, von dem er aber gesagt hat, dass er es bis auf das „und“ schreiben könne. Zugleich ist es aber auch ein ganz aus sich selbst verständliches Stück „absoluter“ Musik, das zum Vorbild für viele spätere Orchesterstücke wurde.

 

Die Uraufführung fand nach heimlicher Vorbereitung am Morgen des Weihnachtstages 1870 im Treppenhaus von Tribschen statt. Cosima, die Geburtstag hatte, wurde von den leisen Anfangsklängen aufs Zärtlichste geweckt und erhielt anschließend die Partitur überreicht. Es ist als habe Wagner damit ein Ereignis konterkarieren wollen, das noch in die unruhige Zeit des Beginns seiner Beziehung zu Cosima gehört. Im Jahre 1857 hatte er nämlich Mathilde Wesendonk zum Geburtstag, der ebenfalls in der Weihnachtszeit lag, in Abwesenheit ihres Ehegatten frühmorgens im Treppenhaus ihrer Villa mit der Uraufführung eines der Wesendonk-Lieder überrascht, was im Hause Wesendonk zu erheblichen Turbulenzen führte.

Ein-und Ausfälle (Meinungsfreiheit 2)

Die Meinungsfreiheit wird meist von denen nicht sonderlich geschätzt, die selbst eine starke Meinung haben.

Ein- und Ausfälle (Meinungsfreiheit 1)

Dass der Schutz der Meinungsfreiheit auch den Schutz von allerhand Unsinn umfasst, hat seinen Grund nicht zuletzt darin, dass es außerordentlich schwierig ist, tatsächliche und vorgeschobene Meinungen von einander zu scheiden. Dazu gehört auch, dass wahre Überzeugungen und die Überkompensation von Zweifeln die gleichen Erscheinungsformen haben.

1854 Franz Liszt (1811-1886) Les Préludes

Die europäische Kunstmusik stand im 19. Jahrhundert auch im Dienst nationaler Selbstfindungsprozesse. Allenthalben bildeten sich nationale Schulen, die eine regionale Färbung der Musik pflegten. Im zersplitterten Deutschland, das seinerzeit noch heftiger als sonst auf der Suche nach seiner Identität war, unternahm es vor allem der deutschstämmige Ungar Franz Liszt, das spezifisch deutsche Element in der europäischen Musik zu definieren. Barock und Klassik hatten die Aufgabe der Instrumentalmusik in der Hauptsache in der (Weiter-)Entwicklung absoluter, d. h. rein musikalischer Formen und Ausdrucksmöglichkeiten gesehen. Liszt und seine Anhänger, die nach einer Begriffsbildung ihres wichtigsten Propagandisten Franz Brendel unter der Bezeichnung „Neudeutsche Schule“ auftraten, suchten der Musik dagegen durch die Verbindung mit außermusikalischen Aspekten, insbesondere dem Wort, neue, poetische Dimensionen zu eröffnen (sie beriefen sich dabei vor allem auf Beethovens naturschildernde „Pastorale“). Dadurch hoffte man die Musik nicht zuletzt zu einem gesellschaftsformenden Element quasireligiösen Charakters zu machen, das in die Zukunft wirkt und damit so etwas wie politische Qualität gewinnt. Exemplarisch ist dieses Konzept im Gesamtkunstwerk des ehemaligen politischen Extremisten Richard Wagner verwirklicht worden, der neben Liszt das zweite Schwergewicht der „Neudeutschen Schule“ bildete. Die Musik, die aus dieser Schule hervorging, ist denn auch als „Zukunftsmusik“ bezeichnet bzw. von ihren Kritikern als solche beschimpft worden.

 

Liszt hatte in seiner ersten Lebenshälfte als reisender Klaviervirtuose ein kosmopolitisches und mondänes Leben geführt. Zur Verwirklichung seiner musikpolitischen Ziele ließ er sich jedoch im nationalen Revolutionsjahr 1848, demselben, in dem Wagner Deutschland aus politischen Gründen verlassen musste, im provinziellen Weimar, Deutschlands Hauptstadt des Wortes, nieder. Nach dem Vorbild von Hector Berlioz komponierte er dort binnen acht Jahren neben zwei Symphonien, die Hauptfiguren der Literatur thematisieren (Faust und Dante), zwölf Symphonische Dichtungen mit außermusikalischen Bezügen. Begleitet war die umfangreiche kompositorische Aktivität von einem publizistischen Feuerwerk, bei dem in einer Heftigkeit polemisiert wurde, wie dies die Musikgeschichte bislang nicht kannte, die aber typisch für politische Auseinandersetzungen ist.

 

Die Symphonischen Dichtungen sind meist als Ouvertüren entstanden, mit denen andere Werke oder besondere Veranstaltungen eingeleitet wurden. Ihre Themen, die Liszt in der Regel literarischen Werken aber auch Gemälden entnahm, sind breit gefächert. Sie reichen von der Darstellung allgemein menschlicher Aspekte („Die Ideale“, „Von der Wiege bis zum Grabe“) und literarischer oder mythologischer Figuren (Hamlet, Tasso, Orpheus, Prometheus), über Naturschilderungen („Was man auf dem Berge hört“) bis zu politischen Huldigungen und Manifestationen („Hungaria“, „Hunnenschlacht“).

 

Eine Sonderstellung nimmt insoweit „Les Préludes“ ein, das im Jahre 1854 geschrieben wurde. Liszt hat es mit einer Vorbemerkung versehen, in der er einen Zusammenhang mit einem gleichnamigen Gedicht aus dem Zyklus „Meditations poetique“ des französischen Dichters Alfonse de Lamartine aus dem Jahre 1820 herstellte, die als Auftakt der Romantik in Frankreich gelten. Nach Liszts Darstellung ist das Leben nichts anderes als eine „Folge von Präludien zu jenem unbekannten Gesang, dessen erste und feierliche Note der Tod anstimmt“. Der exemplarische Lebenslauf des – natürlich männlichen – Romantikers besteht danach im Erwachen der Liebe, der Ernüchterung durch die Stürme des Lebens, dem Rückzug in die Idylle des Landlebens und der Sehnsucht, sich danach im Kriege zu bewähren. Tatsächlich hat „Les Préludes“ aber mit Lamartines Gedicht ebenso wenig zu tun, wie dieses mit Liszts Vorbemerkung. Die Komposition wurde ursprünglich als Vorspiel zu Liszts Männerchorzyklus „Les quatre Eléments“ geschrieben. Die Zuordnung zu Lamartines Gedicht erfolgte nachträglich und ist als Huldigung an den Dichter zu verstehen, mit dem Liszt persönlich bekannt war.

 

Diese Entstehungsgeschichte wirft ein interessantes Licht auf Liszt als Komponist. Als solcher wurde er von seinen Gegnern lange Zeit als Schwindler und Schaumschläger bezeichnet, ein Vorwurf, mit dem man nicht zuletzt deswegen relativ leicht Gehör fand, weil Liszt mit seiner exzentrischen Persönlichkeit durchaus einige Angriffsflächen bot. Man warf ihm vor, seine Musik habe keine eigenständige Bedeutung, jeder Takt sei vom außermusikalischen Programm diktiert. „Les Préludes“ zeigt jedoch exemplarisch, wie wenig berechtigt dieser Vorwurf ist. Tatsächlich ist der außermusikalische Impuls der „Symphonischen Dichtungen“ generell jeweils kaum mehr als eine Einstimmung des Hörers auf die Fragen, die den Komponisten beim Abfassen der Werke bewegten. Formal ist etwa „Les Préludes“ dem Typus der Symphonie nicht fern, wobei deren „absolutes“ Formschema allerdings in einem Satz zusammengedrängt ist. Heute werden die Kompositionen Liszts denn auch meist mit anderen Augen gesehen. Es wird anerkannt, daß Liszt bei aller Neigung zur (Selbst)Inszenierung ein außerordentlich innovativer und fruchtbarer Musiker war.

 

Unglücklicherweise ist mit „Les Préludes“ in neuerer Zeit in einer Weise Politik gemacht worden, die das Werk in Verruf geraten ließ. Das Oberste Kommando der Wehrmacht des Dritten Reiches hat daraus einige (Fanfaren)Takte als Erkennungsmelodie für seine Sondermeldungen „in Dienst“ genommen. Auch wenn das – ohnehin nachgeschobene – „Programm“ mit seiner naiven Kriegsromantik hierfür Ansatzpunkte geboten haben mag (was aber vermutlich nur wenigen bewusst war), ist es heute nicht mehr gerechtfertigt, das Werk deswegen zu verleugnen. Die Gemeinsamkeit zwischen dem Gründer der Neudeutschen Schule und und dem Gründer des tausenjährigen germanischen Reiches beschränkt sich auf den Umstand, daß sich beide aus eher randständiger Position (und vermutlich wegen derselben) bemüßigt fühlten, zu definieren, was Deutsch ist. Ansonsten hat der Kosmopolit Liszt mit dem Denken seiner späteren Usurpatoren ungefähr so viel zu tun wie Mozart mit einer Yogurtfirma, welche sich zu Werbezwecken einiger bekannter Takte aus „Don Giovanni“ bedient.

1854-1856 Franz Liszt (1811-1886) Dantesymphonie

Nach seinen Wanderjahren als Virtuose ließ sich Liszt in 1848 Weimar nieder und widmete sich der Konkretisierung seiner musiktheoretischen Vorstellungen, wonach die Kunstmusik aus den tradierten Formen der Wiener Klassik, die als starr und unfruchtbar geworden empfunden wurden, gelöst und durch außermusikalische Aspekte befruchtet werden müsse. Zur Illustration dieser (neudeutschen) Vorstellungen, die er mit Richard Wagner, aber auch dem Franzosen Berlioz teilte, komponierte er in den Jahren von 1848 bis 1856 exemplarisch zwölf symphonische Dichtungen, in denen er sich mit den verschiedensten außermusikalischen Themen befasste. Seine Bestrebungen gipfeln schließlich in zwei Kompositionen, bei denen er sich nichts geringeres als zwei der größten Werke der europäischen Literatur zum Vorwurf nahm: Goethes „Faust“ und Dantes „Göttliche Komödie“. Die beiden monumentalen Musikwerke sprengen in Anspruch und Umfang die Form der Symphonischen Dichtung, weswegen man sie als „Symphonien über eine Dichtung“ bezeichnen kann. Die symphonischen Dichtungen, so sagte Liszt später, seien eigentlich nur die Prolegomena zu diesen beiden Werken gewesen. Wie sehr dies der Fall ist, zeigt sich etwa bei der symphonischen Dichtung „Prometheus“, die musikalisch manches aus der „Dante-Symphonie“ vorwegnimmt.

 

Die Symphonie nach der „Göttlichen Komödie“ entstand in den Jahren 1854 bis 1856. Nach dem Vorbild von Dantes dreiteiligem Epos hatte Liszt zunächst ein Werk in ebenso vielen Sätzen im Sinn, die „Inferno“, „Purgatorio“ und „Paradiso“ überschrieben sein sollten. Er nahm davon jedoch Abstand, nachdem Richard Wagner, der unbestrittene Meister der musikalischen Illustratoren, geäußert hatte, dass man das Paradies musikalisch nicht darstellen könne. So blieb es bei den Sätzen „Inferno“ und „Purgatorio“. Als „Ersatz“ für das „Paradiso“ fügte Liszt einen (Frauen)Chor-Schluss auf den Text des biblischen „Magnificat“ an, für den er zwei Fassungen zur Auswahl stellte, einen jubelnd triumphierenden und einen ätherisch verklingenden, der meist gespielt wird.

 

In „Inferno“ greift Liszt aus der detailreichen Vorlage, die bis dato vor allem die bildenden Künstler inspiriert hatte, einige bekannte Szenen und Sentenzen heraus, so den Vers „Ihr, die ihr hier eintretet, lasst alle Hoffnung fahren“, der nach Dante über dem Eingang der Hölle angebracht ist. Er wird anfangs schicksalsschwer von einem Posaunenchor unisono und – mit Ausnahme des letzten Wortes – auf einer Tonhöhe vorgetragen. Das ominöse Motto zieht sich in der Folge immer wieder durch den dramatischen Anfangs- und Schlussteil des Satzes, in dem das Chaos der Unterwelt, die Verzweiflungsgesten der verdammten Seelen und das von allen Seiten widerhallende Höllengelächter geschildert wird. Im ruhigen Mittelteil spielt Liszt auf die anrührende Episode des Liebespaares Paolo Malatesta und Francesca da Rimini an, die, vom Gemahl der jungen Frau beim Ehebruch ertappt und erstochen, in nunmehr unerfüllbarer Liebe und doch auf ewig aneinander gebunden durch die Höllenkreise treiben. Unter der bitter-süßen Melodie dieser Szene, die zunächst das Englischhorn intoniert, zitiert Liszt hier in der Partitur den Dantevers: „Es gibt nichts Traurigeres, als sich im Elend an die schönen alten Zeiten zu erinnern.“ Der grandiose Satz, der in seiner Dreiteiligkeit praktisch eine eigenständige symphonische Dichtung darstellt, ist so etwas wie das akustische Gegenstück zu den effektvollen Holzstich-Illustrationen, die Gustav Doré wenige Jahre später zu diesem berühmtesten Teil von Dantes Hauptwerk veröffentlichen sollte.

 

In „Purgatorio“, das keine so spektakulär-anschauliche Szenerie wie das „Inferno“ bietet, wird durch außerordentliche Verlangsamung der musikalischen Zeit das Warten der Seelen auf den Übergang in das Paradies thematisiert. Es herrscht eine merkwürdig zeitlose Stimmung zwischen Melancholie und Erlösungserwartung. Wie schon im Mittelteil des ersten Satzes gelingt Liszt auch hier auf bemerkenswerte Weise, das Schattenhafte des Daseins der körperlosen Seelen in Klänge zu fassen. Die Musik scheint harmonisch und rhythmisch keinen Boden unter den Füssen zu haben. Liszt erreicht diese Wirkung abgesehen von der Verwendung einer äußerst flexiblen Harmonik auch durch starke Synkopierung und wechselnde Taktmaße, darunter – im ersten Satz – auch eines 5/4 und 7/4 Taktes, den er zu diesem Zwecke als Erster erfand. Der Satz gipfelt in einer groß angelegten „Lamento-Fuge“, die mit ihrem Gegensatz von strenger formaler Logik und musikalischer Unbestimmtheit das Irreale der Seelen-Lage auf die Spitze treibt.

 

Auch sonst erweist sich Liszt in diesem Werk wieder als außerordentlich innovativ. Die suggestive Wirkung seiner Musik erreicht er nicht zuletzt durch den konsequenten Einsatz seiner „Variantentechnik“, deren Vorbild Schubert war. Das musikalische Motiv ist dabei nicht mehr, wie in der Wiener Klassik, Teil eines in sich schlüssigen Ganzen, das zielgerichtet entwickelt wird, sondern hat eigenständige Bedeutung. Die musikalische Wirkung wird vor allem durch Sequenzierung des Motivs, das heißt durch Analogie erzielt.

 

Die Anhänger der absoluten Musik haben sich mit der „Relativierung“ der Musik, die aus dem außermusikalischen „Programm“ resultiert, immer schwer getan. Dies dürfte der Hauptgrund dafür sein, dass die Dantesymphonie wenig bekannt ist und selten gespielt wird. Wer aber bereit ist, sich auf das Abenteuer der Verbindung eines epochemachenden und epochespiegelnden Werkes der Literatur mit der Musik einzulassen, dem eröffnen sich gerade im Falle dieser ungeheueren Komposition ungeahnte Erlebnisräume.

 

In merkwürdigem Gegensatz zu der erhabenen Thematik und dem hohen Anspruch der Dantesymphonie steht das prosaische Gerangel, welches sich beiden Dioskuren der Neudeutschen Schule um dieses Werk lieferten. Liszt widmete die Symphonie Richard Wagner mit den Worten: „Wie Virgil den Dante, hast Du mich durch die geheimnisvollen Regionen der lebengetränkten Tonweiten geleitet – Aus innigstem Herzen ruft Dir zu: Tu se lo mio maestro, e il mio autore! und weiht Dir dieß Werk in unwandelbarer getreuer Liebe Dein Franz Liszt.“ Wagner, der wieder einmal in Geldschwierigkeiten war, schrieb aus Venedig, er könne sich für derart „pathetisch ernste Redenarten“ nichts kaufen, er brauche Geld, viel Geld und nichts als dies. Auf diese „Anwandlung von Geldbeutelzynismus“, wie Liszt Wagners prosaische Reaktion in einem Brief an Hans von Bülow beschrieb, der damals noch der Mann von Liszts Tochter Cosima war, welche Wagner später – ebenfalls ohne Rücksicht auf emotionale Verluste –  ehelichen sollte, kam aus Weimar die Antwort: „Da meine Dante-Sinfonie und die Messe (gemeint ist Liszts Missa Solennis von 1855) nicht als Bankaktien gelten können, wird es überflüssig sein, diese leeren Papiere nach Venedig zu senden. Als nicht minder überflüssig erachte ich auch fernerhin telegraphische Noth-Depeschen und verletzende Briefe von dort zu erhalten.“

Eine Pizza für die Wahrheit

Eine Frage, die sich viele Menschen stellen und die sich die Menschen wahrscheinlich schon immer gestellt haben, lautet, ob die Welt so kompliziert ist, dass man Juristen braucht oder weil es Juristen gibt. Über diese Frage, zu der jeder ein paar treffende Beispiele beisteuern kann, lässt sich bekanntlich endlos streiten. Der Jurist freilich, dem man nachsagt, er könne sich über alles und jedes endlos streiten, was gerne als Grund dafür herangezogen wird, dass die Dinge so kompliziert seien, der Jurist wird sich an einer solchen Diskussion nicht beteiligen. Juristen sprechen nicht über Fragen, sondern über Fälle. Dagegen spricht nicht, dass Juristen schnell mit einer Theorie bei der Hand sind. Juristen geben Theorien nämlich auch schnell wieder auf, und zwar dann, wenn diese nichts dazu beitragen, einen Fall zu lösen.

 

Die Reihenfolge des Denkens, wonach man eine Theorie zur Lösung eines Falles bildet, lässt sich auch herumdrehen. Man kann sich auch einen Fall zu einer Theorie denken, um diese zu überprüfen. Zu den Theorien über die Kompliziertheit der Welt, die eingangs genannt wurden, denke man sich daher den folgenden Fall:

 

Zwei Freunde sitzen in einem Lokal und sprechen darüber, was sie im nächsten Urlaub machen. Der eine sagt, dass er im Sommer zum Surfen nach Südfrankreich gehe und zwar an den „Golf von Lyon“. Der andere ist verwundert. „Gibt es denn einen Golf von Lyon?“ fragt er, worauf er vom Surfer die Antwort erhält, er sei sich ganz sicher, denn er habe den Urlaub eben erst gebucht. Lyon, so gibt nun der andere zu bedenken, sei weder eine Hafenstadt noch habe sie irgend etwas mit dem Meer zu tun. Sie liege hunderte von Kilometern davon entfernt. Es sei nicht üblich, einen Meerbusen nach einer Stadt zu benennen, die keine Beziehung dazu habe. Immerhin, wendet der Surfer ein, sei die Stadt durch die Rhône mit dem Meer verbunden. Die Diskussion weitet sich aus. Tischnachbarn beteiligen sich. Jeder kennt einen Golf oder eine Wasserstraße, deren Namen von einer Landschaft oder einer Stadt abgeleitet sind, welche sich in unmittelbarer Nähe befindet. Schließlich ist sich der Zweifler sicher, dass sein Freund irrt. Wahrscheinlich, so denkt er, hat er Lyon mit Toulon verwechselt. So bietet er ihm eine Wette um eine Pizza darüber an, dass es keinen Golf von Lyon gebe. Der Freund schlägt ein, man geht zum Auto und holt sich einen Straßenatlas. Darin findet man im Umkreis der Rhônemündung einen „Golf du Lion“.

 

Was jetzt einsetzt, ist eine – endlose –  juristische Diskussion. Denn die Frage lautet: „Wer hat Recht?“ Die einen argumentieren, dass man nur von einem Golf von Ly(i)on gesprochen habe. Auf eine bestimmte Schreibweise habe man sich nicht geeinigt. Der Klang der beiden Worte sei nun aber einmal gleich. Daher habe der Surfer gewonnen. Die anderen meinen, es sei allen klar gewesen, dass man über die Frage diskutiert habe, ob der Golf seinen Namen von der Stadt Lyon habe. Dagegen wendet der Surfer ein, dass er nur gesagt habe, er gehe zum Surfen an den Golf von „Ly(i)on“. Bei der Frage, ob es einen Golf solchen Namens gebe, sei ohne Bedeutung, woher der Name stamme.

 

Im weiteren Verlauf kommt, wie so häufig in einer juristischen Diskussion, ein Sachverständiger zu Wort. Ein Französisch-Kenner wirft ein, dass Golf du Lion nicht Golf von Lion, sondern Golf des Lion, nämlich des Löwen bedeute. Ein Golf mit einem Namen, wie ihn der Surfer genannt habe, gebe es also nicht. Die Gegenseite verweist darauf, dass im Vordergrund der Diskussion nur das Wort Ly(i)on gestanden habe, nicht aber eventuelle Beiwörter. Man könne nicht bestreiten, dass es einen Golf gebe, in dessen Name das Wort „Ly(i)on“ vorkomme.

 

In diesen verwirrenden Argumenten, die ihren Grund, wie man leicht sieht, in der Schwierigkeit der Dinge und nicht in den Theorien haben, die darüber gemacht werden, ist der Laie schnell verheddert. Daher ruft er nach dem Juristen. Dieser versucht die Argumente zu gewichten. Seine Frage lautet: „Worauf kommt es an?“ Im unserem Beispiel, in dem diese Frage kaum eindeutig zu beantworten ist, wird er, um den Fall zu lösen, allerdings am besten auf eine Theorie verzichten. Er wird den Kontrahenten einen Vergleich vorschlagen, etwa dahingehend, gemeinsam eine Pizza zu essen. Schwierig werden die Dinge allerdings, wenn die Streitenden, wie so häufig in der Welt, den Vergleich ablehnen. Dann muss sich der Jurist die Gedanken machen, von denen die Menschen später behaupten werden, dass sie die Welt kompliziert gemacht hätten.

1895 Antonin Dvorak (1841-1904) Konzert für Violoncello und Orchester

Im Gegensatz zu den meisten anderen großen Komponisten der klassisch-romantischen Periode erkannte Dvorak die großartigen Möglichkeiten, die das Cello als Konzertinstrument besitzt. Bereits eines seiner ersten größeren Werke ist ein – unbekannt gebliebenes – Werk für dieses kraftvolle Instrument. Dreißig Jahre später, gegen Ende seines kompositorischen Schaffens, sollte er auf dem Höhepunkt seiner Meisterschaft das Cellokonzert überhaupt schreiben. Dvoraks Förderer Brahms, der es “nur” zu einem Doppelkonzert für Violine und Cello brachte, sagte darüber kurz vor seinem Tod bedauernd, hätte er gewußt, daß man solche Musik für dieses Instrument schreiben könne, hätte er auch ein Cellokonzert geschrieben. 

Das Werk, das weitgehend symphonisch aufgefaßt ist, ist die letzte Frucht von Dvoraks Aufenthalt in Amerika, in dem auch sein zweiter “Welthit”, die “Symphonie aus der Neuen Welt” und das unter Liebhabern der Kammermusik nicht minder populäre “Amerikanische Streichquartett” (mit diversen Lieblingsstellen der Cellisten) entstanden. Dvorak hatte seine geliebte böhmische Heimat im Jahre 1892 verlassen, um die Leitung des New Yorker Konservatoriums zu übernehmen. Angezogen hatte den Komponisten, der am Anfang seiner Karriere einige Hungerjahre durchleben mußte und daher ziemlich geldbewußt war, nicht zuletzt ein Gehaltsangebot aus dem Land der unbegrenzten Möglichkeiten, das – ähnlich den heutigen Gegebenheiten – alle Maßstäbe des alten Kontinentes sprengte. Sein Honorar für acht Monate Tätigkeit pro Jahr in New York sollte nicht weniger als das 25-fache des Jahresgehaltes betragen, das er als Kompositionsprofessor am Prager Konservatorium erhielt.  

Nach vier Jahren in Amerika zog es Dvorak aber mit aller Macht zurück in die Heimat. In der schönen neuen Welt hatte es nicht nur immer wieder Probleme mit dem Geld gegeben, weil die Geschäfte des New Yorkers Handelsmagnaten Thurber, der das Konservatorium weitgehend finanzierte, in der Wirtschaftskrise Anfang der 90-er Jahre schlecht gingen. Dvorak vermißte auch seine Freunde und seine Familie, allen voran seine Kinder, die in Böhmen zurückbleiben mußten. Vom Heimaturlaub im Jahre 1895 kehrte er vertragswidrig nicht nach Amerika zurück.  

Dass Dvorak während der letzten Monate seines Aufenthaltes in Amerika in Gedanken bereits wieder zu Hause weilte, zeigt sich nicht zuletzt im Cellokonzert. Anders als in den sonstigen Werke, die in der New Yorker Zeit entstanden, verzichtet er hier nicht nur weitgehend auf amerikanische Elemente. Nachdem in den vorangegangenen Jahren hauptsächlich “Weltmusik” entstanden war, ist das Cellokonzert wieder ganz von böhmisch- romantischem Geist getränkt.  

Hinzu kommt eine rührende familiäre Anspielung, die Dvorak außerordentlich wichtig war. Während der Komposition des gefühlsbetonten zweiten Satzes erfuhr Dvorak, daß seine geliebte Schwägerin, die Gräfin Josefine Kaunic, schwer krank daniederlag. Ähnlich wie Bruckner 12 Jahre vorher die Nachricht vom Todes Richard Wagners in der Coda des langsamen Satz seiner siebten Symphonie verarbeitete, erinnert Dvorak im langsamen Satz des Cellokonzertes auf dezente Weise an seine Schwägerin. Zu Josefine Kaunic hatte Dvorak eine besondere Beziehung. Der Schwester seiner späteren Frau hatte er schon in den 60-er Jahren, der Zeit, in der das erste Cellokonzert entstand, eine – unerwiderte – Liebe entgegengebracht. Josefine war damals Schauspielerin am neu gegründeten Prager Interimstheater, der ersten national- tschechischen Bühne, in dessen Orchester der junge Dvorak die Bratsche spielte. 

Im langsamen Satz des zweiten Cellokonzertes zitiert Dvorak nun – in eine andere Tonart versetzt – aus Josefines Lieblingslied “Laß mich in Ruhe” (Op. 81). Kurz nach seiner Rückkunft aus Amerika, wo er die Komposition des Konzertes eigentlich schon abgeschlossen hatte, änderte er den Schluß des Werkes noch einmal, indem er das Liedzitat hier erneut, diesmal in der Originaltonart einarbeitete. Außerdem ließ er das Cellosolo nun entgegen aller Finalsatz-Tradition auf gänzlich unspektakuläre Weise in wehmutsvoller Stille verklingen.  

Der Grund hierfür ist ohne Zweifel darin zu suchen, daß Josefine wenige Wochen zuvor verstorben war. Dies erweisen nicht nur Einzelheiten der Komposition, etwa die schweren in dumpfen Baßpizzicati endenden „Herztöne“ der Schlußpartie des Cellosolos, deren letzter aus der gerade geltenden Tonart heraus wie in das Nichts fällt, eine Stelle, die in der Partitur mit „morendo“ bezeichnet ist und der ein großes Lamento des Cellos auf einem Ton folgt. Es zeigt dies auch die Vehemenz, mit der sich Dvorak gegen eine Veränderung eben dieses Schlusses durch den bekannten tschechischen Cellisten Hanus Wihan wehrte. Wihan, dem das Werk gewidmet ist und der darin eine fulminante Kadenz vermißte, hatte selbst eine Kadenz für den Schluß des Werkes komponiert. Gegenüber seinem Verleger Simrock, der sie in der Erstausgabe drucken wollte, schrieb Dvorak am 3. Oktober 1895, er werde ihm das Werk nur überlassen, wenn er sich dafür verbürge, daß “niemand, auch nicht mein verehrter Freund Wihan, ohne mein Wissen und Erlaubnis Änderungen vornehmen werde – also auch keine Kadenz einfüge, die Wihan im letzten Satz gemacht hat. … Das Finale schließt allmählich diminuendo wie ein Hauch – mit Reminiszensen an den ersten und zweiten Satz, das Solo klingt bis zum pp aus – dann ein Anschwellen – und die letzten Takte übernimmt das Orchester und schließt in stürmischen Ton. Das war meine Idee und davon kann ich nicht ablassen“.

1917/1923/ 1931 Ottorino Respighi (1879 – 1936) Antiche Danze ed Arie

Respighi ist der einzige Komponist Italiens, dem Mutterland der Musik, der nach der Mitte des 19. Jahrhunderts Weltgeltung im Bereich der Instrumentalmusik erlangen konnte. Sein Werkverzeichnis erinnert ein wenig an den Katalog eines Antiquars. Wie auf den alten Stichen, welche die Reisenden aus den nördlichen Ländern Europas früher von der großen Bildungsreise in den Süden mitbrachten, um die Sehenswürdigkeiten festzuhalten, die sie im Land gesehen hatten, in dem die Zitronen blühen, finden sich bei ihm immer wieder Motive aus dem alten Italien und der mediterranen Welt. Die Titel seiner Werke lauten etwa „Fontane di Roma“, „Pini di Roma“ oder „Feste romane“, – diese „Hörenswürdigkeiten“ haben Respighis Weltruhm begründet – , aber auch „Vetrate di Chiesa“ (Kirchenfenster), „Concerto gregoriano“, „Quartetto dorico“, „Concerto in modo misolidico“ “Trittico bottecelliano” oder eben „Antiche Danze ed Arie“. Wie bei den Sammlerstücken des Antiquars gibt es auch bei Respighi die unterschiedlichsten stilistischen Ansätze bei der Behandlung des historischen Materials. Neben großangelegten Stimmungsgemälden, in denen alle koloristischen Möglichkeiten des modernen Orchesters genutzt werden, findet man eigenständige schöpferische Auseinandersetzungen mit alten Formen und Harmoniesystemen und bloße Bearbeitungen alter „Texte“. Respighi stöberte gerne in alten Drucken und Manuskripten und holte sich daraus ganz unterschiedliche musikalische Anregungen.

 

 

Zu Respighis musikalisch-antiquarischer Ausrichtung passt, dass er selbst ständiger Gast der Antiquare in aller Welt war. Als er während eines Festivals, das im Jahre 1931 zu seinen Ehren in mehreren belgischen Städten veranstaltet wurde, in Brüssel eine Ausgabe von „Tausendundeinenacht“ fand, die er seit langem gesucht hatte, freute ihn dies, so berichtete seine Frau und Biographin, mehr als die Tatsache, dass man ihn mit dem Festival geehrt hatte. Auch Respighis Lebensstil war antiquarisch. Er schätzte edle Kunstgegenstände und guten Geschmack. Dem entsprechend wohnte er zeitweilig im prachtvollen Palazzo Borghese in Rom, den die Vedutenstecher von Vasi bis Piranesi auf den Stichen abgebildet haben, welche man heute beim Antiquar findet. Später erwarb Respighi ein Landhaus vor den Toren Roms, das er „I Pini“ nannte. Aus seinem Arbeitszimmer konnte er hier über die Kuppeln und sonstigen Mirabilien der ewigen Stadt und über die Campagna mit den malerischen Resten der antiken Aquädukte blicken. Dort konnte er die Stimmung wiederfinden, welche die Künstler in ihren Ansichten und er in Tönen festhielten und zugleich gestalteten.

 

Wegen der Attitude des Sammlers und Liebhabers hat man den Komponisten Respighi gern als Eklektiker bezeichnet. Mit einem solchen Ettikett wird man Respighis schöpferischer Leistung aber kaum gerecht. Gemessen an dem – nicht selten rüden – Umgangston, den seinerzeit die Musiker aus den nördlichen Ländern gegenüber der Tradition anschlugen, mag seine Auffassung von Traditionspflege als historischer Exotismus erscheinen. Man kann darin aber auch die Gelassenheit dessen sehen, der sich als Kind des Landes und der kulturellen Tradition versteht, aus dem die Unruhegeister des Nordens einst ihre Bildung bezogen.

 

Respighis schöpferische Eigenleistung bei seinen Bearbeitungen, die insbesondere Musik aus der italienischen Barockzeit von Monteverdi bis Vivaldi betreffen, ist sehr unterschiedlich. Die „Antiche Danze ed Arie“, von denen 1917, 1923 und 1931 je eine Suite herauskam, sind weitgehend bloße Instrumentierungen von Lautenstücken verschiedener Komponisten des 17. und 18. Jahrhunderts. Respighi hat die Elemente der Vorlagen allerdings teilweise neu zusammengesetzt. Dafür hat er sich von Puristen, die natürlich aus dem Norden kamen, heftige Schelte gefallen lassen müssen. Es hieß, er habe die alte Musik zu einem System von Fertigbauteilen degradiert und die Werkstücke, die dabei entstanden seien, in Schnellbauweise neu vernietet. Die Verfahrensweise erinnere an die Architektur der Gründerzeit. Das Argument ist nicht ganz von der Hand zu weisen, ist aber zweischneidig. Ist heute nicht jede Stadt froh, wenn ihr Bauwerke der Gründerzeit erhalten geblieben sind?