Archiv der Kategorie: Moderne Architektur

Ein- und Ausfälle – Die Deutschen und die moderne Architektur

Mit den Anfängen der neuen Architektur ist es in Deutschland keine einfache Sache, insbesondere wenn dabei die Nationalsozialisten im Spiel sind. Theodor Fischer etwa, ein äußerst origineller Kopf an der Wende zur neuen Architektur und weit vor der Nazizeit geboren (1862), musste sich kurz vor seinem Lebensende (1938) noch mit Sympathiebekundungen für die Nazis kompromittieren und trat in deren Partei ein. Paul Bonatz, sein Schüler, baute den Stuttgarter Bahnhof vor der Nazizeit und trat nie in die NSDAP ein. Der Bahnhof sieht aber so aus, als könnte er in der Nazizeit gebaut worden sein. Die Nazis fanden diese Art von Architektur denn auch gut und beauftragten Bonatz später mit allerlei monumentalen Bauten. Unter anderem  gaben sie ihm eine wichtige Rolle bei der Planung der gigantomanischen Architektur für München als Hauptstadt der Bewegung. Da man seinen Stuttgarter Bahnhof schätzte, sollte er auch dort den Bahnhof bauen, und zwar in Dimensionen, wie sie sich nur größenwahnsinnige Nazis ausdenken konnten. Für Bonatz war dies zunächst kein Problem. 1943 verließ er dann aber Deutschland im Streit mit den Nazis – wegen des Bahnhofes –  in Richtung Türkei. Dies könnte ihm zu Gute gehalten werden. Nun war Bonatz aber auch gegen die bauhäuslerische Stuttgarter Weißenhofsiedlung, die unter der Federführung Mies van der Rohes, einem der Gründerväter der neuen Architektur, entstand. Und gegen diese Siedlung und überhaupt gegen das Bauhaus waren auch die Nazis. Dies könnte Bonatz wieder in einem fragwürdigen Licht erscheinen lassen. Aber die Sache ist noch komplizierter. Bonatz` Widerstand gegen die Siedlung kann auch für ihn sprechen. Denn die Weißenhofsiedlung und das Bauhaus muss man nicht unbedingt segensreich finden. Das aber darf man in Deutschland nicht ohne weiteres sagen, weil die Nazis dagegen waren. Und dann hat Bonatz in Stuttgart das phantasievolle Kunstgebäude Theodor Fischers aus den Jahren vor dem ersten Weltkrieg, das im zweiten Weltkrieg zerstört worden war, so reduziert wiederaufgebaut, dass es so aussieht, als könnte es in der Nazizeit gebaut worden sein.

Dass es noch anders geht, zeigt das Beispiel von Martin Elsässer, einem weiteren großen Vertreter der überaus interessanten Zeit des Übergangs vom Historismus zur Moderne. Er war Schüler von Fischer und Bonatz und hat vor dem ersten Weltkrieg so schöne Bauten wie die Stuttgarter Markthalle und in den 20-er Jahren expressionistische Großprojekte, etwa die Frankfurter Großmarkthalle gebaut. Elsässer wollte mit den Nazis nichts zu tun haben und erhielt daher keine Aufträge mehr. Nach dem Krieg hatte er, anders als manche Nazikollaborateure, Probleme, beruflich wieder Fuß zu fassen und musste um seine Altersversorgung kämpfen. In den 70-er Jahren wollte man sogar seine Markthalle in Stuttgart abreißen, was aber am Bürgerprotest scheiterte. Inzwischen ehrt man ihn. Seine Frankfurter Großmarkthalle wird Teil des hypermodernen Komplexes
der Europäischen Zentralbank.

Wie anfangs gesagt: mit den Anfängen der neuen Architektur ist es in Deutschland keine einfache Sache, insbesondere wenn dabei die Nationalsozialisten im Spiel sind.

Ein- und Ausfälle – Chinesische Strafen für schlechte Architektur

Der Ming-Kaiser Yong Le soll den Architekten der Verbotenen Stadt von Peking, weil dieser zum wiederholten Male nicht genügend gute Entwürfe für die Ecktürme des Palastes vorgelegt hatte, eines Tages mit dem Tode bedroht haben, falls er nicht bis zum nächsten Morgen qualitätvollere Pläne vorlege. Der Architekt, der nicht wusste, wie er den Ansprüchen des Kaisers  gerecht werden sollte, sei, so heißt es,  daraufhin in Verzweiflung gefallen und habe sich die ganze Nacht nur damit beschäftigt, seiner geliebten Grille einen schönen Käfig zu bauen. Als der Kaiser am nächsten Morgen kam, um zu sehen, was der Architekt unter der Todesdrohung zu Stande gebracht hatte, habe dieser sich in sein Schicksal ergeben auf sein bevorstehendes Ende vorbereitet. Der Kaiser habe aber die Zeichnung für den Grillenkäfig auf dem Tisch des Architekten entdeckt und geglaubt, dass es sich dabei sich um den Entwurf für die Türme handele. Er sei davon begeistert gewesen und habe den Architekten begnadigt.

 Ob diese Geschichte wahr ist, wird man angesichts der Art, wie man im alten China Geschichte schrieb und bestimmten Zwecken dienlich machte, wohl nie erfahren. Man kann für den armen Architekten und alle seine Kollegen nur hoffen, dass sie Übertreibungen der Art enthält, wie sie im Zusammenhang mit chinesischen Kaisern üblich waren. Aber auch wenn nicht viel Wahres daran sein sollte, so zeigt die Geschichte in jedem Fall, welch` hohen Stellenwert die Qualität der Architektur im alten China hatte. Das gegenteilige Extrem ist der vollkommene Mangel an Respekt vor der Öffentlichkeit und ihren Repräsentanten, den ungezählte Architekten in unseren Breiten und Zeiten an den Tag legen.

Ein- und Ausfälle – Zur Diktatur des rechten Winkels

Ein Glück, dass unsere Zeit schnelllebig ist. Man stelle sich vor, der rechte Winkel würde die Architektur so lange dominieren wie einst der Spitzbogen.

Ein-und Ausfälle – Die sauren Früchte der modernen Architektur

Eine der „unfruchtbarsten“ architektonischen  Ideen der Moderne ist ohne Zweifel die Vorstellung, man könne aus dem gestalterischen Ideengut der Vergangenheit die ausschmückenden Details herausfiltern und dann mittels der abstrakten Strukturen bauen, die verbleiben. Solche Gebäude sind wie Früchte, die man zu früh gepflückt hat. Ihnen fehlt die Süße, die sie genießbar macht. Im Unterschied zu Früchten reifen sie allerdings nicht nach. Im Laufe der Zeit stoßen sie einem sogar immer häufiger sauer auf.

Ein- und Ausfälle – Zur geistigen Überlastung moderner Architekten

Wenn man davon ausgeht, dass das Zurückführen der prinzipiell uferlosen Produktivität des Geistes auf handhabbare Größen, womit sich der Mensch nach Luhmann in erster Linie beschäftigt (er nennt es die Reduktion der Komplexität), im Wesentlichen kompensatorischer Natur ist, dann müssen die meisten modernen Architekten kurz vor der geistigen Überlastung stehen. Ihr Hang zur extremen Reduktion der Formen zeigt ein überwältigendes Bedürfnis danach, sich die Dinge zu vereinfachen.

Ein- und Ausfälle – Das endlose Pubertieren der modernen Architektur

Ende der 60-er Jahres des vergangenen Jahrhunderts konnte man erleben, dass in den Städten die geschmückten Fassaden der Häuser insbesondere aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine zeitlang hinter Planen verschwanden, unter denen es dann heftig rumorte. Von außen sah man nur das Schild einer Firma, die ihre Tätigkeit als Fassadensanierung beschrieb. Die Sache nahm aber eine andere Entwicklung als der Beobachter erwartete. Wenn nach einigen Monaten die Planen fielen, fand er, dass die profilierten Bänder, Simse und Einrahmungen, welche die alten Fassaden kennzeichneten, abgefräst, die Erker eingeebnet, Baluster und Statuen entfernt und nicht selten auch die Balkone mit ihren fein behauenen Stützen abgebrochen waren.

Man könnte meinen, dass die Ursachen solcher Fassadenrasuren ausschließlich ökonomischer Natur waren. Dem ist aber nicht so. Der architektonische Unsinn, der inzwischen eingestellt wurde, hatte vielmehr Methode. Dies zeigt die Tatsache, dass auch andere Gebäude davon betroffen waren. Beim Wiederaufbau von alten Häusern nach dem Krieg etwa ließ man in aller Regel ebenfalls die alten Ornamente weg und beließ es, wenn überhaupt,  bei den Maßen und Proportionen der zerstörten Vorgänger. Und selbst wenn man sich – bei besonderen Gebäuden oder solchen, die vor der Mitte des 19. Jahrhundert entstanden waren – dazu durchrang, das ursprüngliche Bauwerk in der alten Form wieder aufzubauen, wagte man keine vollständige Rekonstruktion. Wenigstens an einigen markanten Stellen musste man zeigen, dass man eigentlich dagegen war. In ähnlicher Weise hielt man sich bei der Schließung von Baulücken in historischer Umgebung meist nur an die Maße und Proportionen der umgebenden Bebauung (beim Bau von Kreissparkassen allerdings nicht einmal daran). Die Folge waren jene merkwürdigen Kontrapunkte in den historischen Stadtbildern, von denen sich der Beobachter häufig heftig vor den Kopf gestoßen fühlte.

Diese Art des Umgangs mit der historischen Architektur hat etwas Pubertäres. Bauwerke, denen eine derartige Baugesinnung zugrunde liegt, suchen negative Aufmerksamkeit. Sie leben im wesentlichen vom provokanten Kontrast zur historischen Architektur. Solche Verhaltensweisen zeigen in der Regel an, dass jemand auf der Suche nach einer eigenen Statur ist. Dies wiederum ist typisch für Individuen, die dabei sind, erwachsen zu werden. Bei einem gesunden Individuum erwartet man, dass diese Suche nach einiger Zeit abgeschlossen ist. Zieht sie sich über die Jahre hin, spricht man von Entwicklungsstörungen.

Ein- und Ausfälle (Architektur 1)

Wer durch ein historistisches Stadtviertel streift, ist, sofern er seine Augen offen hat, auf’s Angeregteste damit beschäftigt, kulturhistorische Entwicklungslinien nachzuvollziehen und Zusammenhänge herzustellen oder auseinander zu ziehen. In jedem ornamentalen Detail spiegeln sich Jahrhunderte europäischer Kunstgeschichte. Penibel nachgeahmte „Originale“ finden sich neben höchst phantasievollen Varianten. Die historischen Stile und ihre Elemente sind teils säuberlich getrennt, teils auf merkwürdige Weise miteinander verschmolzen. Überall kann man beziehungsreiche Anspielungen und mehr oder weniger gekonnte Weiterentwicklungen feststellen.

 

Noch in den fünfziger und sechziger Jahres des letzten Jahrhunderts hat man in historistischen Gebäuden vor allem einen Mangel an originärer Schöpferkraft oder minderwertige Handarbeit gesehen. Heute haben wir die Möglichkeit, ihre Gestaltungen und Ornamente als Ausdruck einer langen Tradition zu verstehen. Der Gang durch ein solches Viertel hat damit in exemplarischer Weise die Wirkung, die ein Kunstmuseum erzielen will. Er verdeutlicht unser Bild von den Zeiten, welche zu unserer Zeit geführt haben. Man wird empfänglich für die zahllosen Versuche, aus dem Kanon der historischen Formen auszubrechen. Die Weiterentwicklung der historischen Formen enthält immer ein Abwenden vom Gewesenen. Altes wird so verdeutlicht und Neues möglich.

 

Hinzu kommt die Erkenntnis, dass diese Zeiten nicht „vergangen“ sind. Das Besondere der „Stadtmuseen“ ist, dass sie nicht museal sind. Sie können mit dem Auto durchfahren werden und man kann darin wohnen oder einkaufen. Sie sind nicht Vergangenheit, sondern Teil unseres heutigen Lebens.

 

Und noch etwas wird – im Blick auf die Gegenwart – deutlich. Die historistischen Stadtviertel sind so etwas wie die Verwirklichung des romantischen Traumes von der Verschmelzung von Kunst und Leben, ein Traum, den wir uns, wie man beim Durchstreifen dieser Viertel  merkt, leider zu träumen abgewöhnt haben.

Ein- und Ausfälle (Barock 2)

 Am Ende des 18. und bis tief in das 19. Jh. liebte man in der Architektur, wie heute, die klassizistische gerade (oder regelmäßig runde) Linie und hatte wenig übrig für die bewegte Phantasie. Über das Barock etwa heißt es im „Brockhaus“ von 1864, er sei „das willkürlich Seltsame, welches aus den launenhaften Einfällen eines Einzelnen hervorgehend, gegen die allgemeine und natürliche Ansicht verstößt und ins Ungereimte und Närrische übergeht“. Dem entsprechend straft dieses wichtigste deutsche Nachschlagewerk der Zeit so große Barockarchitekten wie Borromini und Guarini mit Nichtbeachtung und räumt ihnen kein Stichwort ein. In ähnlicher Weise attestiert der Kunsthistoriker Wilhelm Lübke dem Barock in seinem populären „Grundriß der Kunstgeschichte“ von 1860 die „Entfesselung der subjektiven Willkür und gewaltsame Übertreibung der Formen“. Über Borromini, einen von drei Architekten aus der Phalanx der italienischen Barockarchitekten, die er für erwähnenswert hält, schreibt Lübke, bei diesem verschwinde „die gerade Linie fast ganz aus der Baukunst,…. so dass jede strengere Komposition aufhört und alles wie im Taumel zu schwanken scheint.“ In seinem 1000-Seiten-Werk ist ihm die Besprechung der Baukunst der Barockzeit in Italien eine Seite, die Deutschlands kaum 15 Zeilen wert. Jakob Burckhardt, der Nestor der deutschen Italien-Kunstliteratur des 19. Jh., leitet in seinem „Cicerone“, der 1855 erschien, den Abschnitt über den Barockstil mit den Worten ein: „Man wird fragen, wie es nur einem Freunde reiner Kunstgestaltungen zuzumuten sei, sich in diese ausgearteten Formen zu versenken, über welche die neuere Welt schon längst den Stab gebrochen?“. Dass er das (italienische) Barock entgegen dem Usus der Zeit dann doch etwas ausführlicher und mit einem gewissen Verständnis behandelt, glaubt er rechtfertigen zu müssen. Er tut es mit dem Argument, der Italienreisende, der Zeit habe und sich daher nicht auf „das Beste“ konzentrieren müsse, wisse, dass er Genuss nicht nur aus dem „Anschauen vollkommener Formen“, sondern auch aus dem Mitleben der italienischen Kulturgeschichte erhalte, wozu nun einmal ohne seine, Burckhardts, Schuld in unverhältnismäßiger Weise auch das Barock gehöre.

 Irgendwie ist es dann aber tröstlich, dass eben dieser Jakob Burckhardt, der mit der Veröffentlichung des einflussreichen Architekturbuches „Die Geschichte der Renaissance in Italien“ im Jahre 1867 seinen Ruf gefestigt hatte, einer der wichtigsten Parteigänger der geraden oder doch der regelmäßigen Linie zu sein, in einem Brief an den Architekten Max Alioth aus Rom vom 5.4.1875 schreibt: „Mein Respekt vor dem Barocco nimmt stündlich zu und ich bin geneigt, ihn für das eigentliche Ende und Hauptresultat der lebendigen Architektur zu halten. Er hat nicht nur Mittel für alles, was zum Zweck dient, sondern auch für den schönen Schein.“ Das nährt die Hoffnung, dass auch heute die Vorherrschaft der geraden Linie über die bewegte Phantasie nicht von ewiger Dauer ist.

Ornament ein Verbrechen? Plädoyer eines Verteidigers

Der Angeklagte ist bildschön und steht deswegen vor Gericht. Es handelt sich bei ihm um das Ornament an Gebrauchsgegenständen, insbesondere das Bauornament. Dieses ist seit einiger Zeit in den Verdacht geraten, ein Verbrecher zu sein. Seitdem will niemand mehr so recht etwas mit ihm zu tun haben. Den Prozess hat ihm schon Anfang des 20. Jahrhunderts der Wiener Architekt und Essayist Adolf Loos gemacht. Seine Beschuldigung lautet, der Angeklagte habe jedes Maß und Ziel verloren und sei beliebig geworden. Das Ornament verbrauche immer schneller und müsse daher ständig ersetzt werden. Dieser Wechsel zeige, dass es nicht notwendig und also überflüssig sei.

Unter der Überschrift „Ornament und Verbrechen“ hat Loos seinerzeit eine flammende Anklageschrift verfasst. Darin wirft er dem Angeklagten einen Verstoß gegen ein wichtiges Gesetz der Kulturgeschichte vor. Das Gesetz soll dahingehend lauten, dass gewisse Dinge nur zu bestimmten Zeiten möglich seien. Das Ornament habe nur früher einen Platz unter den Menschen gehabt. Heute sei es ein Verstoß gegen das Gesetz, mithin ein Verbrechen. Aber nicht genug: Loos legt dem Angeklagten auch Verschwendung von Nationalvermögen, Ausbeutung des Ornamentikers, Preistreiberei, Vergeudung von Arbeitskraft, Gesundheit, Material und Kapital, Unfähigkeit zur Entwicklung und mangelnden Zusammenhang mit der Weltordnung zur Last – schwerwiegende und sehr grundsätzliche Anklagepunkte also, welche die höchste Strafe zu rechtfertigen scheinen. Folgerichtig spricht er dem Angeklagten die Existenzberechtigung ab, was so viel wie ein Antrag auf Verhängung der Todesstrafe ist.

Diese Anklageschrift – eine kurzes Werk von merkwürdig prophetischem Tonfall – ist nicht ohne Wirkung geblieben. Ein öffentlich ausgesprochener Verdacht trennt schnell die wahren von den scheinbaren Freunden. Letztere stellten den Kontakt zu ihm sofort ein und wollten nichts mehr mit ihm zu tun haben. Seine Anhänger reagierten zunächst empört, verfassten aufgeregte Schutzschriften und suchten Verbündete, die allerdings nicht immer die besten und oft reaktionär waren. Wie so häufig, wenn man sich eines einstigen Vertrauten nicht mehr sicher ist, löste der Verdacht jedoch auch bei den Anhängern des Angeklagten eine schleichende Entfremdung aus. Eine Zeitlang empfanden manche noch so etwas wie Solidarität mit einem alten Freund, der in Verruf geraten ist. Aber auch diese reduzierten den Verkehr mit ihm und sahen ihn immer seltener. Einige deuteten den Kontakt schließlich nur noch schamvoll an. An manchen neu errichteten Gebäuden konnte man nun Stellen finden, wo früher Ornamente angebracht worden wären. Man ließ sie einfach weg, ohne auch den Platz zu beseitigen, der oft durch sie erst entstanden war. Durch die Unentschiedenheit wirkte diese Form des Umgangs mit dem Angeklagten besonders peinlich. Nach einer gewissen Zeit ließ man die Beziehung zum Angeklagten daher ganz einschlafen.

Es kam soweit, dass niemand mehr wagte, sich zum Angeklagten zu bekennen. Seine früheren Freunde schienen einen Schwur antiornamentaler Solidarität abgelegt zu haben. Versuchte jemand auch nur ein klein wenig an die alte Freundschaft zu erinnern, ging sofort ein großes Geheul über falsche Gesinnung und Rückfall los. In der Regel kehrte der unvorsichtige Genosse dann reumütig in das Lager der Verschworenen zurück. Man begann sogar, die Ornamente von den alten Häuserfassaden zu schlagen. Auch entfernte man sie von den Möbeln der Großeltern. Man nannte das Fassadensanierung und Staubfängerbeseitigung. Neue Gebäude schmückte man allenfalls mit selbständigen Kunstwerken. Sie hatten jedoch wenig mit dem Bauwerk zu tun und hätten genauso gut irgendwo anders angebracht werden können.

Irgendwann begann man den alten Freund aber doch zu missen. Zwar wagte niemand so recht zuzugeben, dass er dekorative Bedürfnisse haben könnte. Daher verbarg man sie hinter einem Schutzschild von Ironie und Verfremdung. Gegen den Vorwurf, mit einem Straftäter zu sympathisieren, sicherte man sich etwa dadurch ab, dass man alte Ornamente mit allerlei unpassenden Farben anmalte oder vorhandene Farben ablaugte. Geschmückte alte Gegenstände liebte man unter dem Vorwand, man belustige sich nur über die merkwürdigen Dinge, welche die Vorfahren erzeugt hatten. Uneingestandene Liebe war ohne Zweifel auch der Grund dafür, dass man dekorative Schönheiten aus alter Zeit unvermittelt mit nackter Schmucklosigkeit konfrontierte oder beides vermischte.

Es folgte eine Zeit gespaltenen Ornamentbewusstseins. Man schämte sich nicht mehr der Tatsache, dass man einmal mit dem Angeklagten befreundet war. Aber man erneuerte die Freundschaft nicht. So begann man einerseits, alte Fassaden wieder zu pflegen und originalgetreu zu restaurieren. Schmuck, den Ornamentstürmer entfernt hatten, brachte man für teures Geld wieder an, nicht ohne hitzige Diskussionen über die Frage zu führen, ob verlorengegangenes wieder hergestellt werden dürfe. Andererseits hörte bei neuen Gebäuden die Freundschaft auf. Modernes hatte schmucklos und möglichst auch abweisend zu sein. Inzwischen hatten die Verantwortlichen das Gespür dafür, dass eine leere Wand oder eine phantasielos gegliederte Fassade ein Problem sein könnte, mehr oder weniger verloren. Wo man sich allerdings unbeobachtet glaubte – in Urlaubsorten etwa oder schlecht einsehbaren Gärten -, traf man heimlich mit dem Angeklagten zusammen. Auch an exotischen Plätzen stellte man alle intellektuellen und ökonomischen Bedenken zurück und zollte regionalen Ornamenttraditionen freundschaftlichen Respekt.

Unbeeindruckt von den Streitereien der Ornamentfachleute rissen sich die Sammler um Geschmücktes aus früheren Zeiten. Interessanterweise bevorzugten sie hierbei solches, das in den fruchtbaren Jahrzehnten vor der Anklage und damit in der Zeit entstanden war, die für Loos wegen der Stilhäufung das Ende des Ornamentes eingeläutet hatte. Aus Speichern und Kellern tauchten zahllose dekorative Gegenstände auf und überschwemmten Flohmärkte und Antiquitätengeschäfte. Sie zeugten davon, dass eine starke Opposition die finsteren Zeiten der Ornamentverfolgung im Untergrund überlebt hatte.

An dieser gespaltenen Einstellung hat sich seitdem nichts Grundsätzliches geändert. Zwar wagt man seit einiger Zeit bei Neubauten gelegentlich wieder einen Flirt mit dem Angeklagten. Er beschränkt sich jedoch meist darauf, seine historischen Erscheinungsformen mehr oder weniger passend zu zitieren. Größte Zurückhaltung besteht weiterhin bei neu zu entwickelnden Ornamenten. Diese Unverbindlichkeit zeigt, dass der Verkehr mit dem Angeklagten noch immer alles andere als ungezwungen ist.

 Soweit die Vergangenheit. Wie aber sieht die Zukunft aus? Wie ist der Fall des Angeklagten zu entscheiden? Auf den ersten Blick scheint seine Lage schwierig. Betrachtet man, welche Wirkungen schon das bloße Erheben der Anklage hatte, so erscheint sie geradezu hoffnungslos. Denn die meisten handeln so, als sei die Schuld des Angeklagten schon erwiesen und der Fall entschieden. Zu Recht muss man daher befürchten, dass der Angeklagte keinen fairen Prozess mehr erhalten wird.

Der allgemeinen Vorverurteilung liegt offensichtlich die Auffassung zu Grunde, dass es dem Angeklagten bislang nicht gelungen sei, den Beweis seiner Unschuld zu führen. Diese Haltung ist symptomatisch für die Einstellung, die man dem Angeklagten entgegenbringt. Die Stimmung ist für ihn so ungünstig, dass man auch den Verstoß gegen elementare Garantien des Strafprozesses zu akzeptieren bereit ist, so den Grundsatz, dass die Schuld vom Ankläger zu beweisen ist.

Zum anderen hält man offenbar auch die Tatsache, dass der Angeklagte seit längerer Zeit wenig Unterstützung erhält, für ein Indiz seiner Schuld. Dass dieses Argument wenig taugt, liegt auf der Hand. Die Geschichte kennt genügend Beispiele davon, dass sich die allgemeine Überzeugung von der Schuld eines Angeklagten als unrichtig erwies und man sich später verständnislos fragte, wie ein solches Urteil entstehen konnte. Davon abgesehen ist der Verweis auf den Zeitablauf auch ziemlich kurzsichtig. Immerhin wird gegen den Angeklagten vor dem Gerichtshof der Geschichte verhandelt. Ein Urteil ist hier nicht in wenigen Jahrzehnten zu erwarten, zumal der Verfahrensgegenstand die gesamte Kulturgeschichte umfasst.

Schließlich ist es aber auch garnicht so, dass der Angeklagte von niemandem geliebt oder unterstützt würde. Das Ornament hat Anwälte. Sie haben sich nur lange nicht hervorgewagt. Nicht zuletzt in Hinblick auf die Erfahrungen, die man mit der unterstellten Schuld des Angeklagten gemacht hat, haben sie zu seinen Gunsten folgendes vorzutragen:

Beginnen wir mit dem bisherigen Verfahren. Hier bestehen erhebliche Bedenken, ob das Gericht richtig besetzt und ob es unbefangen ist. Bislang wurde der Prozess vor allem von den professionellen Protagonisten des Kulturlebens und wirtschaftlich Betroffenen betrieben. Die Prozessordnung sieht jedoch die Mitwirkung von Laienrichtern vor. Ohne sie haben die Berufsrichter nicht die qualifizierte Mehrheit, die für eine Verurteilung erforderlich ist.

Die Person des Angeklagten ist bisher nicht ausreichend gewürdigt worden. Zunächst ist festzuhalten, dass Angeklagte unbescholten ist. Er ist nie hinter Schloss und Riegel gewesen und ist auch sonst nicht vorbestraft. Sein Leumund ist vor dem Verfahren, das jetzt anhängig ist, überhaupt nie ernsthaft in Zweifel gezogen worden. Man hat allenfalls darüber gestritten, ob sein Betragen nicht gelegentlich etwas ungezügelt war. In Perioden, die einem gewissen Wildwuchs folgten, konnte man ihn aber meist ohne Probleme wieder am kürzeren Zügel führen.

Was die Person und den Umgang des Angeklagten angeht, so können wir zwar weder sicher sagen, wer seine Eltern waren noch wo oder wann er geboren wurde. Wir wissen aber immerhin, dass er uralt ist und gemeinsam mit den Menschenkindern aufwuchs. Man kann daher sagen, dass er so alt wie die Menschheit ist. Irgendwie hat der Angeklagte immer dazugehört. Anfangs war er der geliebte Spielgenosse der Menschen. Über die Jahrtausende wurde er zu ihrem Busenfreund. Er teilte mit ihnen die besten Stunden, begleitete sie in allen Phasen ihres Lebens und hinterließ Spuren, wo immer er mit ihnen gewesen ist. Der Angeklagte stammt also nicht gerade aus einem Milieu, aus dem Verbrecher kommen.

Sehen wir uns nun das Gesetz an, das die Strafbarkeit des Angeklagten begründen soll. Nach Loos soll es sich aus der bisherigen Kulturgeschichte ergeben und lauten: „die evolution der kultur ist gleichbedeutend mit dem entfernen des ornamentes aus dem gebrauchsgegenstand“. Die Behauptung, dass es sich um ein Gesetz von der Qualität eines Naturgesetzes handelt, hat Loos nicht aufgestellt. Es müsste also gesetztes Recht sein. Wer aber sollte der Gesetzgeber eines solchen Gesetzes sein? Durch welches Verfahren ist es legitimiert? Wir finden keine Antwort auf diese Fragen. Das genannte Gesetz, so ist festzustellen, ist eine Erfindung des Anklägers. Loos selbst hat es, wie er zugibt, der Welt geschenkt. Es ist nicht mehr als eine Behauptung, die im Gewand des Gesetzes daherkommt, um dessen Ansehen in Anspruch nehmen zu können.

Der Struktur nach ist es eines jener Gesetze, die sich angeblich aus der Menschheitsgeschichte ergeben und deren weiteren Gang voraussagen. Typisch für solche „Gesetze“ ist auch, dass nach ihnen ein tiefgreifender Bruch mit der Vergangenheit gerade in dem Augenblick beginnen soll, in dem der Entdecker des Gesetzes lebt. Gesetze dieser Art glaubte man zu Loos‘ Zeiten überall feststellen zu können. Inzwischen wissen wir aber, was von Gesetzen dieses Typus zu halten ist. Der Glaube an ihre radikalen Prophezeiungen hat meist verheerende Wirkungen gehabt.

Erstaunlich ist auch, wie das Gesetz aus den historischen Tatsachen entwickelt wird. Es bedarf schon eines bislang unbekannten Gesetzes der Logik, will man die Entbehrlichkeit eines kulturellen Phänomens aus eben der Geschichte schließen, in der es schon immer vorhanden war.

Nicht weniger bemerkenswert ist, was bei der Formulierung des Gesetzes außer acht gelassen wurde. Naheliegenderweise hätte die Tatsache, dass das Ornament bis zu Loos und seinen Anhängern zum kulturellen Grundbestand der Menschheit gehörte, Anlass zu der Prüfung geben müssen, ob man mit seiner Verdammung nicht die Axt an eine Wurzel gerade der Kultur legt, deren Gesetze man zu befolgen vorgibt. Wenn in diesem Zusammenhang überhaupt etwas den Charakter eines Gesetzes hat, dann vielleicht die Überlegung, dass das, was schon immer war und noch keinem geschadet hat, möglicherweise eine Bedeutung haben könnte. Zumindest folgt aus dieser Überlegung, dass die Beweislast für das Nichtbestehen des behaupteten Gesetzes nicht einfach auf den Angeklagten überwälzt werden kann.

Auch die ökonomischen Argumente, die gegen das Ornament herangezogen werden, sind – ganz abgesehen davon, dass man Freundschaften nicht unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten betrachten soll – kaum stichhaltig. Was Loos Preistreiberei nennt, würde man heute als Produktverfeinerung bezeichnen; was er für Vergeudung von Nationalvermögen hält, ist die Steigerung des Bruttosozialproduktes. Niemand würde im übrigen in unseren Tagen unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten Einwände gegen häufigen Produktwandel erheben, der sich aus dem Wechsel der Mode ergibt. Solcher Wandel heißt heutzutage Innovation und gilt als Motor der Wirtschaft. Angesichts des Verschleißtempos von Waren, das inzwischen üblich geworden ist, wirkt die ornamentale Halbwertzeit früherer Zeiten, die Loos beklagt, ohnehin wie Betulichkeit.

 Die Behauptung, das Ornament mache „unnötige“ Arbeit, kann heute niemanden schrecken. Das ökonomische Problem ist nicht, Arbeit zu verhindern, sondern zu schaffen. Und muss sich der Ornamentierer wirklich seiner Arbeit schämen oder sie für vergeudet halten? Die Konkurrenz mit Arbeiten wie dem Einbauen von Windschutzscheiben am Montageband der Automobilindustrie dürfte so schwer nicht zu gewinnen sein. Die Behauptung, die Arbeit des Ornamentierers sei vergeudet, ist im übrigen auch falsch. Nichts hat in der Vergangenheit das Überleben eines Gebäudes oder eines anderen Gebrauchsgegenstandes besser garantiert, als das Ornament. Eine behauener Sims etwa macht ein altes Gemäuer zum Kulturdenkmal, eine geschnitzte Kassette einen Schrank zum Sammlerobjekt.

Wenig überzeugend ist die Behauptung, das Ornament sei heute zu teuer. Dabei wird vorausgesetzt, dass die Produktion des Ornamentes nach den Methoden der Zeiten erfolgen müsse, in denen das Ornament noch sehr verbreitet war. Für Bauwerke etwa bietet sich heute der Beton als ein Material an, welches ohne großen Aufwand jede Form annehmen kann. Auch Bleche können in vielfältiger Weise gepresst werden. Einzelanfertigungen ließen sich in Ländern herstellen, in denen billiger produziert werden kann; leider ist dies schon deswegen nötig, weil in unseren Breiten mit dem Erkalten der Liebe zum Ornament auch die feinen Techniken (und, so ist zu befürchten, auch das Gespür für andere Feinheiten) verlorengegangen sind, die der Entwurf und die Anfertigung von Ornamenten voraussetzen.

Der entscheidende Gesichtspunkt aber ist das Ergebnis. Ein Richter hat ein gedanklich entwickeltes Resultat immer auch darauf zu prüfen, ob es Sinn macht. Dadurch unterscheidet sich seine Betrachtungsweise aufs deutlichste von der des Essayisten. Fragen wir also, ob Ornament Verbrechen sein darf. Eine Antwort auf diese Frage finden wir – ohne uns, wie Loos, auf zweifelhafte Prognosen einlassen zu müssen – in der neueren Geschichte. Anders als die frühen Antiornamentiker befinden wir uns in der „glücklichen“ Lage, schon jetzt feststellen zu können, welche Folgen eine Verurteilung des Angeklagten hätte. Hinter uns liegt eines jener kostspieligen Wirklichkeitsexperimente, die sich das 20. Jahrhundert geleistet hat. Wir können, wie erwähnt, auf einige Jahrzehnte zurückblicken, in denen man gehandelt hat, als sei der Angeklagte bereits verurteilt. Das Ergebnis, darüber braucht man keine großen Worte verlieren, ist wenig erfreulich. Unsere modernen Städte sind, um beim Bauornament zu bleiben, gesichtslos und austauschbar. Mangels Ornament sind uns die meisten Bauwerke gleichgültig geworden. Vielleicht kann man manche bestaunen, lieben jedoch kann man sie kaum. Solche Beziehungen zur Umgebung aber sind gestört. Sie wirken sich belastend auf die Psyche der Betroffenen aus. Inzwischen gibt es denn auch Hinweise darauf, dass schmucklose Architektur ihrerseits kriminell machen kann.

Diese Beziehungsstörungen zeigen, dass wir den Bruch der uralten Freundschaft mit dem Angeklagten nicht verkraftet haben. Emanzipiert und selbstbestimmt, wie wir uns sehen wollten, haben wir uns der Illusion hingegeben, ohne den Angeklagten zurechtkommen zu können. Wenn wir ehrlich sind, müssen wir jedoch zugeben, dass er uns fehlt. Eben dies ist doch der Grund dafür, dass wir immer mehr in Erinnerungen schwelgen und allenthalben versuchen, uns die früheren gemeinsamen Erlebnisse mit dem Angeklagten zu vergegenwärtigen. Aber unsere Besuche in alten Schlössern, Kirchen und historischen Stadtkernen und all die Liebe und Pflege, die wir dort hinwenden, sind nur Ersatzhandlungen. Was uns fehlt ist eine lebendige Beziehung zu diesem Freund. Wer könnte, wer wollte dekretieren, dass eine solche Freundschaft ein für allemal vorbei sein soll?

Damit aber wird deutlich, worum es in diesem Verfahren eigentlich geht. Hinter der Frage, ob der Angeklagte leben und die volle Freiheit wiedererlangen darf, steht die Frage nach unserem Verhältnis zur Wirklichkeit. Eine alte Erfahrung zeigt: wer schmückt, liebt. Das Ornament ist daher nichts anderes als eine Liebeserklärung an die Wirklichkeit. Der Mangel daran aber ist die Lieblosigkeit.