Archiv der Kategorie: Zeitgenössische Musik

Fazil Say (geb. 1970) Konzert für zwei Klaviere und Orchester – Gezi Park 1

Fazil Say ist eine außerordentlich vielschichtige Musikerpersönlichkeit. Nicht nur, dass er ein herausragender Pianist ist, der weltweit gefragt ist. Er ist auch, was zu Zeiten der Klassiker die Regel war, heute aber eher rar ist, ein sehr fruchtbarer Komponist. Says kulturelle Prägung ist vielfältig. Er wuchs in einer türkischen Familie in Ankara auf und begann seine musikalische Ausbildung am dortigen Konservatorium. Ab dem 17. Lebensjahr studierte er aber an deutschen Musikhochschulen und absolvierte eine klassische europäische Musikausbildung. Als Komponist lässt er sich stilistisch nicht festlegen. Er schreibt „moderne klassische“ Musik, verwendet dabei aber auch Elemente des Jazz, des Pops und der Volksmusik verschiedener Kulturen, vor allem der türkisch-orientalischen Musiktradition, die er mit dem europäischen Idiom zu vereinigen versucht. Er ist so etwas wie ein musikalischer Weltbürger. Was er allerdings überhaupt nicht mag, ist der in der Türkei sehr populäre Arabesque Pop. Seine kritischen Bemerkungen darüber haben zu hitzigen Diskussionen in seinem Heimatland geführt. Auch sonst lebt er zwischen den Welten, gelegentlich sitzt er auch zwischen den Stühlen. Aufgewachsen in einer Gesellschaft, die sich zunehmend der – muslimischen – Religion zuwendet, ist er bekennender Atheist. Wegen einiger ironischer Äußerungen über den Islam ist er in der Türkei schon zu einer Gefängnisstrafe auf Bewährung verurteilt worden. Mit den Behörden seines Heimatlandes liegt er ohnehin im Dauerclinch. Immer wieder äußert er sich kritisch zur Situation der Menschrechte und der Kultur in der Türkei. Auch seine Musik befasst sich mit diesen Themen, mitunter durchaus in subversiver Absicht; Zensoren, sagt Say mit einer gewissen List, können keine Noten lesen. Dies gilt nicht zuletzt für die Werke um die Auseinandersetzungen zwischen den türkischen Behörden und protestierenden Bürgern im Jahre 2013, die sich an einem Bebauungsprojekt im Gezi Park, einer kleinen grünen Oase im dicht besiedelten Zentrum von Istanbul, entzündeten. Say haben die dramatischen Ereignisse, insbesondere die harte Reaktion der türkischen Behörden auf die sich ausweitenden Massendemonstrationen, so berührt, dass sie ihn zu gleich drei Werken inspirierten, einem Doppelkonzertkonzert, einer Klaviersonate und einer Ballade für Sopran und Orchester. Die drei Kompositionen folgen den Ereignissen in ihrer zeitlichen Abfolge.

Den Anfang schildert das Konzert Gezi Park I, das unmittelbar nach den Ereignissen um den Park und in der Zeit entstand, als gegen Say das Verfahren wegen Blasphemie lief. Das Werk ist für zwei Klaviere und großes Orchester geschrieben, dessen Streichergruppen teilweise mehrfach unterteilt sind und von Bläsern sowie einem umfangreichen Schlagwerk ergänzt werden. Letzteres wird durchaus seiner Bezeichnung gemäß, aber auch für anatolische Effekte eingesetzt. Hinzu kommt aus gegebenem Anlass noch eine Windmaschine, wie man sie etwa aus  der Alpensymphonie oder dem Don Quixotes von Richard Strauß kennt. Dem türkischen Sujet entsprechend verwendet Fazil Say allerhand Elemente traditioneller türkischer Musik, neben orientalischen Harmonien und Skalen insbesondere asymmetrische Rhythmen wie 15/16-tel und 7/8 Takte. Typisch türkisch sind nicht zuletzt die ausgedehnten Passagen, in denen das Orchester mit allen Instrumenten einstimmig und im gleichen Rhythmus agiert. Ansonsten finden sich neben frei erfundenen lautmalerischen Novitäten viele Anklänge an die europäische Spätromantik und die klassische Moderne, etwa die vielfach repetierten und variierten Leitmotive. Die Ausdruckspalette geht von außerordentlich delikaten, melancholisch-besinnlichen Klanggemälden über ausgelassenen Tanz bis hin zu wilden, wuchtig-rhythmischen Ausbrüchen. Insgesamt ist ein vielschichtiges zeitgenössisches Werk entstanden, das seine Botschaft eindrucksvoll und verständlich mitzuteilen weiß, was manchen Kritikern merkwürdigerweise schon wieder verdächtig ist.

Die Komposition ist nicht nur im politischen Sinne programmatisch. Sie hat auch eine detaillierte „Handlung“, die in drei tageszeitliche Episoden aufgeteilt ist, welche den Sätzen des Werkes entsprechen. Auch die konzertante Grundstruktur ist programmatisch. Die beiden Solisten soll man sich als zwei Geschwister vorstellen, welche das Geschehen beobachten, reflektieren und kommentieren. Die „Handlung“, welche Fazil Say vorschwebte, hat er im Vorwort der Partitur detailliert beschrieben (https://en.schott-music.com/shop/gezi-park-1.html).

Danach schildert der erste Teil, der mit „Abend“ überschrieben ist, die Stimmung am 30. Mai 2013, als sich eine Menge friedlich demonstrierender Menschen aller Schichten und Ethnien im Gezi Park versammelt hatte, um die Platanen zu schützen, welche für den Wiederaufbau eines Kasernenbaus gefällt werden sollen, der im frühen 19. Jahrhundert zerstört worden war. Darin sollte nun allerdings ein Einkaufszentrum entstehen. Die Stimmung ist friedlich und besinnlich. Am Anfang hört man in den Streichern das leise Säuseln des Windes in den Bäumen. Die Musik wird schließlich lebhaft und Volkstanzrhythmen kommen auf, zu denen die Menge tanzt. Am Ende verklingt die Musik so leise wie sie begonnen hat. Im zweiten Teil, der mit „Nacht zwischen 2 und 5 Uhr“ betitelt ist, wird das Problem in orientalischer Märchentradition auf traumhaft verschachtelte Weise in einer romantisch verklärten mythischen Vergangenheit gespiegelt. Es wird Bezug genommen auf einen legendären Heiligen, der in ferner Zeit im persischen Khorasan ebenfalls einen Platanenwald gegen die Absicht verteidigt haben soll, an dessen Stelle eine Kaserne zu bauen. Dabei seien ihm – ein Traum für die Gezipark Demonstranten – die Bäume selbst zu Hilfe gekommen, indem sie nächtens auf das Camp zumarschierten, in welchem die Baumfäller schliefen, und diese mit ihren Ästen erstickten. In Istanbul, wohin der Heilige danach flüchtete, wiederholte sich das Geschehen. Anfang des 19. Jahrhunderts wurden dort die Platanen des Gezi Parks, in dem inzwischen das hoch verehrte Grab des Heiligen lag, gefällt, um der erwähnten Kaserne Platz zu machen. Der Legende nach rebellierten dagegen – sinnigerweise ebenfalls am 31. Mai  – die Seelen des Heiligen und der gefällten Bäume und legten die Kaserne in Schutt und Asche mit der Folge, dass der Bau verfiel und der Gezi Park samt seinen Platanen wieder auflebte. In der Realität des 31. Mai 2013 gehen derartige (Wunsch)Träume dann allerdings nicht in Erfüllung. Im dritten Teil – „Polizei Angriff – 31. Mai 5 Uhr“ – setzt die Polizei derart friedlichen Gewaltträumen mit brutalem Eingreifen ein jähes Ende, was die Musik außerordentlich drastisch schildert. Das Drama endet dennoch nicht in Verzweiflung. Die beiden Geschwister flüchten sich in eine Seitenstrasse, wo sie in einem langen Zwiegespräch den Schrecken verarbeiten, um schließlich dem Traum von einer friedlichen Zukunft nachzuhängen.

 

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Charles Villiers Stanford (1852- 1924) – Magnificat

Stanford war, wiewohl Ire, gemeinsam mit seinem Altersgenossen Edward Elgar einer der frühen Protagonisten der „Englisch musical renaissance“, die das Königreich nach einer Durststrecke von 200 Jahren ab Ende des 19. Jh. in einer geradezu strategisch geplanten Anstrengung wieder auf die Höhe der europäischen Gesamtentwicklung brachte. Die Mission erfüllte er vor allem als kompromissloser Kompositionsprofessor in London und Cambridge. Die Namen seiner Schüler lesen sich wie ein Who is Who der neueren englischen Musikgeschichte. Darüber hinaus ist er aber auch der Schöpfer eines umfangreichen musikalischen Oeuvres. Dessen Stil orientiert sich an den deutschen Romantikern, bei denen er in die Schule ging. Stanford absolvierte einen Teil seiner musikalischen Ausbildung am Mendelssohn-Konservatorium in Leipzig, einer der Brutstätten der deutschen Romantik, und war unter anderem mit Johannes Brahms befreundet, als dessen englischen Verwandten man ihn gerne bezeichnete. Sein Werkverzeichnis umfasst alle Gattungen, darunter sieben Symphonien, elf Opern und allerhand Kammermusik. Am bekanntesten ist aber seine vokale Kirchenmusik, die vor allem in England gepflegt wird. Dazu gehören sechs Vertonungen des Magnificat, dem Lobgesang Mariens nach der Ankündigung der Geburt Jesu durch den Erzengel Gabriel, mit dem die Weihnachtszeit beginnt. Stanford vertonte es meist in Verbindung mit dem „Nunc dimittis“, dem Lobgesang des greisen Simeon anlässlich der Darstellung Jesu im Tempel, mit deren Feier am der 2. Februar, „Mariä Lichtmess“,  die Weihnachtszeit endet.

1906 Léo Weiner (1885 – 1960) – Serenade für kleines Orchester Op. 3

Ein schöpferischer Musiker, der um 1880 in Europa zur Welt kam, befand sich zu Beginn seiner Reifejahre in keiner einfachen Position. Aufgewachsen unter der Herrschaft des spätromantischen Musikidioms, wurde er, kaum dass er sich seiner Maßstäbe vergewissert hatte, mit den epochalen Veränderungen der musikästhetischen Vorstellungen am Anfang des 20. Jahrhunderts konfrontiert. Ob durch Aktivität oder Passivität musste er dazu unvermeidlich Stellung nehmen. Der Sog dieses Paradigmenwechsels war so stark, dass es schwierig war, sich den Schubladen zu entziehen, in die man hineingezogen werden konnte. Wer nicht zu denen zählte, die angeblich die neue Zeit ausdrückten und denen die Zukunft gehören sollte, lief Gefahr, in Vergessenheit zu geraten, weil er einer vergangenen Zeit zugerechnet wurde.

Dieses Dilemma zeigt sich exemplarisch bei den vier großen ungarischen Musikern Ernst von Dohnány, Béla Bartók, Zoltán Kodály und Leó Weiner, die alle zwischen 1877 und 1885 geboren wurden. Sie kamen aus der selben Schule, studierten fast gleichzeitig am Budapester Konservatorium und hatten den gleichen Kompositionslehrer (Koessler). Sie waren auch persönlich miteinander bekannt und beeinflussten sich gegenseitig (Dohnány und Bartók stammten sogar aus dem gleichen Ort – Pressburg – und gingen in die gleiche Schule). Ihre ersten Kompositionen standen unter dem Einfluss der deutschen Romantik, wobei sich Dohnány an Brahms, Bartók an Richard Strauss und Weiner an Mendelssohn und Schumann orientierte. Kurz nach der Jahrhundertwende gingen ihre Wege aber auseinander. Bartók und Kodály traten – merkwürdigerweise auf dem retrospektiven „Umweg“ über die Volksmusik – den Weg in die Zukunft an. Sie sollten weltberühmt werden und gelten heute als die Repräsentanten der neueren ungarischen Musik. Dohnány und Weiner hingegen hatten anfangs zwar große Erfolge – bevor sich der Paradigmenwechsel durchgesetzt hatte, gab man ihnen sogar den ehrenvollen Beinahmen eines „ungarischen Brahms“ bzw. eines „ungarischen Mendelssohns“. Da sie dem einmal angenommenen Idiom aber treu blieben, gerieten sie als Komponisten zusehends ins Hintertreffen und sind heute trotz großer Produktivität weitgehend vergessen. Weiner hat es nicht einmal in die gängigen Musikführer geschafft. Dohnány machte sich in der Folge einen Ruf als Pianist und Dirigent und wurde zu einer zentralen Figur im ungarischen Musikleben der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, in welcher Rolle er nicht zuletzt dafür sorgte, dass Bartók und Kodály gespielt wurden. Weiner wurde zu einer Institution als Professor an der gemeinsamen besuchten Musikhochschule in Budapest, wo er über Jahrzehnte Generationen von Musikern heranzog. Zu seinen Schülern gehörten etwa Géza Anda und Georg Solti.

Von Weiners Musik sagt man, sie sei transparent, unaggressiv, verzichte auf unnötige Komplikationen und benutze überlieferte Formschemata, was sich ein wenig wie die Spiegelverkehrung der Beschreibung mancher Musik von Bartók anhört. Er verwendet gerne ungarische Elemente, allerdings in der Art der ungarischen Romantik etwa eines Franz Liszt. Ein schönes Beispiel hierfür ist die heitere Serenade für kleines Orchester, die Weiner mit einem erstaunlichem Geschick im Umgang mit der hochentwickelten spätromatischen Harmonik im Jahre 1906 im Alter von 21 Jahren schrieb, zu einen Zeitpunkt als Bartók Musik dieser Faktur gerade den Rücken kehrte.

Ein- und Ausfälle (China 17)

Für Konfutius ist die Musik das Medium, mit dem der Mensch seine Sehnsucht nach dem Einssein mit dem Kosmos befriedigt. Dadurch, so lehrte er, werde der Mensch gütig und aufrecht. Moderne Komponisten des Westens versuchen hingegen immer wieder, dem Menschen mit der Musik zu verdeutlichen, wie wenig eins er mit dem Kosmos (oder, wie man heute sagen würde, dem idealen gesellschaftlichen Ganzen) ist. Dahinter steckt eine pädagogische Absicht. Die Konfrontation mit den Problemen der modernen Verhältnisse soll die Menschen sensibilisieren und damit veränderungsbereit machen. Ob dieses Konzept aufgeht, ist zweifelhaft. In Umkehrschluss aus der Lehre des Konfutius könnte es auch sein, dass eine Musik, welche die Sehnsucht des Menschen nach dem Einssein mit dem „Kosmos“ nicht befriedigt, dazu führt, dass er weniger empfänglich für die segensreichen Wirkungen der Musik, im schlimmsten Falle also dass er herzlos und unaufrecht wird.

Musik ohne Hörer? Zeitprobleme der zeitgenössischen Musik

 

Als in der Nacht vom 2. auf den 3. Oktober 1990 in Berlin die deutsche Wiedervereinigung gefeiert wurde, erklang im klassizistischen Schauspielhaus am Berliner Gendarmenmarkt, wo sich die Honoratioren versammelt hatten, die neunte Symphonie von Beethoven. Bei den anschließenden Feierlichkeiten für das breite Publikum, die auf der Treppe des Reichstagsgebäudes stattfanden, spielte man Werke von Bach, Haydn und Brahms. Ein neuerer oder gar ein lebender Komponist kam nicht zu Wort.

Dies ist zugespitzt die Lage, in der sich die Kunstmusik, die als zeitgenössisch bezeichnet wird, hierzulande im allgemeinen befindet. Zwischen den Menschen und der Musik, die ihrer Zeit entsprechen soll, bestehen „Unstimmigkeiten“. Wie tief sie gehen, wird deutlich, wenn man sich vorstellt, man hätte an jenen Abend auf der Reichstagstreppe avantgardistische Musik etwa von Lachenmann, Schnebel oder Rihm gespielt. Es kann kaum Zweifel darüber geben, dass dies die Stimmung nicht getroffen hätte. Was also ist los mit der zeitgenössischen Kunstmusik? Findet sie ohne die Zeitgenossen statt?

Dafür, dass dem so ist, spricht nicht zuletzt der Opern- und Konzertbetrieb, in dem zeitgenössische Musik nur eine Nebenrolle spielt. In die gleiche Richtung deuten die Umsatzzahlen des Handels mit Tonträgern. Dabei kann man kaum sagen, dass die neue Musik zu wenig gefördert würde. Zahlreiche renommierte Personen und Institutionen, allen voran die Rundfunkanstalten, fühlen sich dem „Erbe unserer Zeit“ verpflichtet. Die Bereitschaft der Macher selbst die „unerhörtesten“ Dinge zu tolerieren, grenzt gelegentlich an Selbstverleugnung. Es fehlt „nur“ die Resonanz beim Publikum. Vor allem die ausübenden Musikliebhaber, das Rückgrad einer jeden lebendigen Musikkultur, haben sich von der neuen Musik abgewandt, eine Tatsache, welche die meisten neueren Komponisten nicht etwa, wie man erwarten könnte, mit verstärkter Zuwendung zu den praktizierenden Laien, sondern mit einem geradezu ostentativen Desinteresse an ihnen quittieren. Der Bekanntheitsgrad von Werken der neuen Musik ist dem entsprechend außerordentlich gering. Kein Werk aus den europäischen Kernlanden der Musik, das nach dem zweiten Weltkrieg entstand, hat in ähnlicher Weise ins allgemeine Bewusstsein der Musikinteressierten dringen können wie die Kompositionen der Meister, die bei den Feierlichkeiten zum Tag der deutschen Einheit zu Wort kamen. Das letzte Werk der „zeitgenössischen“ Musik, das eine vergleichbare Wirkung erzielte, ist „Carmina Burana“ von Carl Orff, eine Komposition, die bereits im Jahre 1937 entstand.

All dies ist schon deswegen schwer zu verstehen, weil es in der Vergangenheit immer anders war. Für die erwähnten „Klassiker“ war es eine Selbstverständlichkeit, Musik schreiben, mit der ihre Zeitgenossen etwas anfangen konnten. Bach, dem man von allen Komponisten seiner Zeit sicher am wenigsten nachsagen kann, dass er sich beim Publikum angebiedert habe, komponierte im Wesentlichen für den aktuellen kirchlichen und höfischen Bedarf. Dazu gehörten auch Werke für wichtige gesellschaftliche Ereignisse. Der Thomaskantor gab sich dafür nicht weniger Mühe, als für die Stücke, die ihm ganz persönlich am Herzen lagen. Dies zeigt etwa die Tatsache, dass er Werke, die er für Geburtstags- und Jubiläumsfeierlichkeiten des sächsischen Hofes schrieb, später ohne weiteres in sein berühmtes Weihnachtsoratorium umarbeiten konnte. Haydn schrieb „natürlich“ Musik, die seinem Arbeitgeber Fürst Esterhazy und dessen Umgebung gefiel und von ihnen in der Regel auch gespielt werden konnte. Dass er deswegen unakzeptable Kompromisse beim künstlerischen Gehalt gemacht hätte, kann man kaum behaupten. Selbst ein künstlerischer Einzelgänger wie Beethoven, der mit seinem esoterischen Spätwerk so etwas wie das Muster einer Musik schuf, die ihrer Zeit Rätsel aufgab, war sich auf dem Höhepunkt seiner Meisterschaft nicht zu schade, die Festmusik für die Feierlichkeiten des Wiener Kongresses zu schreiben.

Der Präsenz der Komponisten in ihrer Gegenwart entsprach die Bedeutung, welche die Musik in der Gesellschaft ihrer Zeit hatte. Im England der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts waren die Royals über Händels Musik entzweit. König Georg II. und seine Tochter Anne waren ihre Anhänger, der Prince of Wales hingegen soll sie, so versichern die Hofberichterstatter, als den „Gegenstand seiner Abscheu“ bezeichnet haben. Der Familienzwist im englischen Königshaus war nicht nur ästhetischer Natur. Hintergrund waren vielmehr höchst aktuelle parteipolitische Musikaffinitäten. Die Anhänger Händels saßen in der Whig-Partei, die den König unterstützte, während der Thronfolger, aus welchen tiefenpsychologischen Gründen auch immer, mit den oppositionellen Tories im Bunde stand. Diese Art der „Gegenwärtigkeit“ war für Händel, der weder durch eine Beamtenstellung abgesichert war, noch auf Subventionen für schwer verkäufliche Musikprodukte hoffen konnte, keineswegs komfortabel. Der staatspolitisch-musikalische Kampf ging auf Biegen oder Brechen, wobei sogar Opernhäuser zu politischen Waffen wurden. So gründeten die Tories unter dem Patronat des Thronfolgers eine eigene Oper, die sogenannte Adelsoper, zu dem Zweck, Händels privates Opernunternehmen, das die Prinzessin protegierte, in den Ruin zu treiben. Händel erlitt darüber einen finanziellen und auch einen schweren körperlichen Zusammenbruch. Erst in seinem letzten Lebensdrittel sollte er zum gefeierten englischen Nationalkomponisten werden, der schließlich – als einziger Ausländer – sogar mit einem Grabmal in der Ruhmeshalle von Westminster Abbey „verewigt“ wurde.

Im 19. Jahrhundert spielte die zeitgenössische Musik eine wichtige Rolle bei der Emanzipation und Selbstdefinition des Bürgertums. Die Gleichzeitigkeit von Musikschöpfung und Rezeption spiegelt sich in den prächtigen Opernhäusern und Konzerthallen, welche man in den Städten baute und in denen man sich nicht zuletzt in den Werken der zeitgenössischen Komponisten feierte. Exemplarisch hierfür ist die Art, wie die dritte Symphonie von Brahms aufgenommen wurde. Bei ihrer Uraufführung am 2. Dezember 1883 im wenige Jahre zuvor errichteten repräsentativen Musikvereinssaal in Wien war alles anwesend, was in Stadt und Land Rang und Namen hatte. Im Publikum versuchte der Wagner-Brucknerflügel gegen das neue Werk zu opponieren, wurde aber vom frenetischen Applaus der großen Mehrheit zum Schweigen gebracht. Unmittelbar im Anschluss an die Uraufführung ging Brahms mit dem neuen Werk auf eine Konzerttournee durch ganz Deutschland, bei der er begeistert gefeiert wurde. Bei der ersten Aufführung in Berlin musste der dritte Satz der Symphonie wiederholt werden. In Meiningen setzte Hans von Bülow das Werk an den Anfang und das Ende des gleichen Konzertes. Wenige Wochen nach der ersten Aufführung, am 11.1.1884, konnte Brahms an seinen Freund Heinrich von Herzogenberg bereits schreiben: „In acht Tagen denke ich Ihnen die leider zu berühmte F-Dur Symphonie für zwei Klaviere zu schicken. Dieser ihr jetzt anklebenden Eigenschaft wegen hätte ich Lust, meine Konzerte abzusagen“. Kurz darauf wurde das Werk schon von Liebhabervereinigungen gespielt.

Heute können Komponisten von Musik, die einen vergleichbaren Anspruch erhebt wie die Musik von Händel oder Brahms, nur noch davon träumen, dass ihre Werke Gegenstand hoher Politik oder Uraufführungen gesellschaftliche Ereignisse wären. Bei Konzerten müssen sie eher damit rechnen, dass die Kritiker die Befürworter zum Schweigen bringen als umgekehrt. Triumphale Konzertourneen, bei denen neue Werke oder Teile davon wiederholt werden (müssen), finden nicht mehr statt und an Auszügen für Klavier zu vier Händen besteht meist schon mangels Spielbarkeit der Stücke kein Bedarf. Dass der Komponist seines Erfolges überdrüssig würde und neue Werke von Liebhabern aufgeführt werden, dürfte die große Ausnahme sein. Zeitgenössische Musik wird nicht selten nur ein einziges Mal aufgeführt. Viele Werke können sich nicht einmal dieser Aufmerksamkeit erfreuen. Karl Heinz Stockhausen, ein exponierter Protagonist der neuen Musik, klagt darüber, dass in seiner Schublade zwanzig größere Orchesterwerke aus seiner „Feder“ liegen, die keiner spielen will.

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