Monatsarchiv: September 2009

1832 Fanny Hensel (1806-1847) Ouvertüre C-Dur

„Die verkannte Schwester“, „Wer war Fanny Hensel?“, oder „Mendelssohn Schwester“, lauten die Titel einiger der zahlreichen Bücher, die in den letzten Jahren über diese Musikerin erschienen sind. Das mehr oder weniger erklärte Ziel dieser Veröffentlichungen ist, Fanny Hensel aus dem Schatten ihres Bruders zu ziehen. Es geht aber auch darum zu zeigen, dass die Fähigkeit zum Komponieren keineswegs nur den männlichen Geschlecht gegeben, der tatsächliche Mangel an Komponistinnen vielmehr wesentlich eine Folge der gesellschaftlichen Umstände sei.

Fanny Hensel hatte, wie viele Zeitgenossen bezeugten, eine ähnliche Begabung wie  ihr 3 ½ Jahre jüngerer Bruder. Dies wurde von den Eltern auch nicht verkannt. Sie gaben ihr die gleiche Ausbildung und viele Möglichkeiten, sich musikalisch und gerade auch kompositorisch zur betätigen. Dazu gehörten insbesondere die sog. Sonntagsmusiken vor geladenen Gästen, die man zur Ermunterung der Kinder und zur Präsentation ihrer musikalischen Fähigkeiten ins Leben gerufen hatte. Allerdings hatten die Eltern schon bei Felix erhebliche Probleme mit der Vorstellung, dass er die Musik zum Gegenstand seines Berufes machen könnte. Die jüdische (Bankiers)Familie hatte alles getan, um in den gehobenen Kreisen der Berliner Gesellschaft Fuß zu fassen und dafür sogar den ererbten Glauben aufgegeben. In diesem Kreisen galt es als wenig schicklich, mit Musik Geld zu verdienen. Eine Musikerkarriere kam daher für Felix nur in Frage, nachdem man sich gründlich vergewissert hatten, dass er ganz oben mitspielen und die gesellschaftliche Höhe halten konnte, welche die Familie gerade erreicht hatte.

Für eine Frau kam eine solche Karriere aber noch weniger in Betracht. Vater Abraham schrieb daher seiner musikbegeisterten Tochter bereits als sie 15 Jahre alt war: „Die Musik wird für ihn (Felix) vielleicht Beruf, während sie für Dich stets nur Zierde, niemals Grundbass Deines Seins und Tun werden kann und soll.“ Felix teilte diese Auffassung, soweit es eine öffentliche Tätigkeit seiner Schwester betraf. Deswegen wandte er sich immer entschieden gegen eine Veröffentlichung von Fannys Werken. Einige ihrer Klavierstücke hat er unter seinem eigenen Namen drucken lassen, allerdings kaum, um sich ihre Leistung zu Eigen zu machen, sondern wohl um Fannys Werk wenigstens indirekt an die Öffentlichkeit zu bringen.

Fanny hat sich an die familiäre Vorgabe nur teilweise gehalten. Die Musik hatte für sie immer weit mehr als nur ornamentalen Charakter. Mit wenigen Ausnahmen ist sie damit aber tatsächlich nicht an die Öffentlichkeit getreten. Sie beschränkte ihre musikalische Aktivität vielmehr im Wesentlichen auf den häuslichen Kreis. Dazu gehörten allerdings auch die Sonntagsmusiken im großen Gartensaal des herrschaftlichen Anwesens der Familie, die in Berlin zu einer Institution wurden. Fanny hatte diese Musiken, die wegen des Wegzuges ihres Bruders aus Berlin eine Zeit lang eingestellt gewesen waren, im Jahre 1831 mit finanzieller Unterstützung ihres Vaters als eine eigene private Konzertreihe wieder begründet und bis zu ihrem Tode als Organisatorin und regelmäßige Dirigentin geleitet. In diesem Rahmen kamen auch Werke aus ihrer Feder zur Aufführung. Dem Charakter dieser salonartigen Veranstaltungen entsprechend handelt es sich bei ihren Kompositionen im Wesentlichen um „Hausmusik“, Lieder vor allem, Klavierstücke und sonstige Kammermusik.

Ausnahmen von der intimen Form sind einige Chorwerke mit Orchesterbegleitung und insbesondere die Ouvertüre in C-Dur, ihr einziges reines Orchesterwerk. Fanny schrieb dieses Stück, das ersichtlich von Felix Mendelssohns Konzertouvertüre „Meeresstille und glückliche Fahrt“ inspiriert ist, im Jahre 1832 vermutlich in Hinblick auf den Neubeginn der Sonntagskonzerte. Offensichlich ging es ihr mit dem schwungvollen und konsequent gearbeiteten Werk  in erster Linie darum, gute Laune zu erzeugen. Man kann es daher, ganz ohne Abwertung, als ein Salonstück bezeichnen.

Die Ouvertüre kam erstmalst im Jahre 1834 bei einer Sonntagsmusik mit dem Königsstädter Orchester unter dem Dirigenten Lecerf zur Aufführung. Darüber berichtete Fanny in einem Brief an Felix vom 4. Juni 1834, der auch zeigt, welche Probleme Fanny zunächst auch mit ihrer Rolle als Dirigentin hatte. Zum Verständnis dieses Briefes ist vorauszuschicken, dass seinerzeit im Wesentlichen vom Klavier und/oder mit einem eher groben Stock dirigiert wurde  und dass  Felix Mendelssohn kurz zuvor als einer der ersten damit begonnen hatte, einen Taktstock im heutigen Sinne zu benutzen.  Fanny schreibt zunächst, dass Lecerf sich am Anfang des Konzertes „die Finger zerklopft“ habe, weswegen sie ihm Felix` leichtes Dirigierstäbchen übergeben habe. „Nachher“, fährt sie fort, „ließ ich meine Ouvertüre spielen und stellte mich dabei an das Klavier und da flüsterte mir der Teufel in Lecerfs Gestalt zu, das Stöckchen in die Hand zu nehmen. Hätte ich mich nicht so entsetzlich geschämt, und bei jedem Schlag geniert, so hätte ich ganz ordentlich damit dirigieren können.“ Im Übrigen war sie aber mit ihrem Werk zufrieden. „Es amüsierte mich sehr“, fährt sie fort, „das Stück nach  2 Jahren zum ersten Mal zu hören und ziemlich alles so zu finden, wie ich es mir gedacht hatte.“

Weitere Texte zu Werken von rd. 70 Komponisten siehe Komponisten- und Werkeverzeichnis

1823 Felix Mendelssohn-Bartholdy (1809- 1847) Konzert für zwei Klaviere und Orchester E-Dur

Anders als die meisten seiner großen Vorgänger und Nachfolger, die aus eher kleinen Verhältnissen kamen, wuchs Mendelssohn in einer sehr wohlhabenden und intakten großbürgerlichen Familie auf. Ihm fehlte es von Haus aus an nichts und er hätte sich, wie so viele „Erben“, auf den Genuss dessen beschränken können, was in seinem Umfeld schon vorhanden war. Umso beeindruckender ist, mit welchem Ergeiz und mit welcher Ernsthaftigkeit sich der junge Felix bereits im Knabenalter der aufwendigen Prozedur einer umfassenden musikalischen Ausbildung unterzog, zumal dies seinerzeit eher Sache derer war, die darauf angewiesen waren, mit Musik Geld zu verdienen, oder sich gesellschaftlich  noch zu etablieren gedachten.

Mendelssohns besonderer Impetus hat neben hoher Begabung ohne Zweifel nicht zuletzt mit seinem familiärem Umfeld zu tun, wo sich Musikbegeisterung und Leistungsbereitschaft auf besondere Weise paarten. Die außerordentliche Wertschätzung, die man in der Familie Mendelssohn der Musik entgegenbrachte, zeigt sich bereits bei Felix` Großvater Moses Mendessohn, dem großen Philosophen der Spätaufklärung. Im elften Kapitel seines Traktates „Über die Empfindungen“ aus dem Jahre 1755 heißt es über die Musik: „Göttliche Tonkunst! Du bist die einzige, die uns mit allen Arten von Vergnügen überrascht! Welch süße Verwirrung von Vollkommenheit, sinnlicher Lust und Schönheit!“ Betrachtet man rückblickend Mendelssohns Gesamtwerk, so will es einem erscheinen, als habe der Enkel diese Worte zum Motto für sein kompositorisches Schaffen genommen. Möglicherweise bedingt durch die glücklichen Umstände, unter denen er aufwuchs, ging sein kreativer Impuls eher dahin, Vollkommes und Schönes zu gestalten als Ausdrucksmöglichkeiten für das Problematische zu suchen.

Leistungsbereitschaft war bei den Mendelssohns Familientradition und hatte ohne Zweifel nicht zuletzt damit zu tun, dass sich die jüdische Familie in der protestantischen Mehrheitsgesellschaft etablieren wollte. Schon Moses Mendelssohn war nicht nur ein bedeutender Denker und „ein vortrefflicher Theoretiker der Musik“ – so Gerbers Lexikon der Tonkünstler von 1790 – sondern auch Direktor einer Seidenfabrik. Seine Söhne gründeten und führten mit großem Engagement eine Bank, welche der Familie binnen kurzem erheblichen Wohlstand brachte. Auch die Mutter des Komponisten stammte aus einer erfolgreichen Bankiersfamilie. Felix Mendelssohns Eltern taten alles, um auch bei ihrem hochbegabten Jungen die Bereitschaft zu fördern, etwas Besonderes zu leisten. Ihr Bildungsplan war allerdings durchaus nicht auf die Musik eingeengt. Dazu gehörte etwa auch das Erlernen alter und neuer Sprachen und des Zeichnens, aber auch des (Brief)Schreibens, Gebiete auf denen Felix ebenfalls erstaunliche Leistungen erbrachte. Als sich aber das außerordentliche musikalische Talent ihres Jungen herauskristallisierte, legten sie besonderes Gewicht auf die Förderung dieser Fähigkeit. Im Gleichschritt mit seiner ebenfalls musikalisch hochbegabten Schwester Fanny erhielt Felix Unterricht von erstklassigen Musikpädagogen. Zugleich sorgten die Eltern dafür, dass die jungen Musikadepten auch die nötigen Erfolgserlebnisse hatten. In ihrem großzügigen Berliner Haus konnten sie die Bühne bieten, auf dem bei den sog. Sonntagskonzerten die jeweils neuesten Werke der Kinder, darunter mehrere Singspiele von Felix  zur Aufführung kamen. Hinzu kam die Ermunterung durch ein soziales Umfeld, das von ihm begeistert war. Bekanntlich schenkte selbst der alternde Goethe dem Jungen seine volle Aufmerksamkeit.

Der frühreife Knabe konnte denn auch von der Musik nicht genug bekommen. Felix begnügte sich nicht mit dem Klavierspiel, sondern studierte parallel dazu gleich auch noch die Violine. Im Alter von zehn Jahren begann er dazu mit musiktheoretischem Unterricht beim Berliner Musikpatriarchen Carl Friedrich Zelter. Zelter befasste das Kind mit so grundlegenden und kniffeligen musikalischen Techniken wie Bezifferter Bass, Fuge und Kontrapunkt, in denen  Felix fleißig Übungsarbeiten fertigte. Ermuntert durch seinen Lehrer fing er aber auch gleich damit an, durchkomponierte Werke im Stile der Klassiker zu schreiben. Bereits in seinem ersten Jahr als Kompositionsschüler schrieb er fast 60 Stücke.

Das Spektrum der Werke des jungen Mendelssohn ist außerordentlich weit und ist in seiner vollen Breite erst in den letzten Jahrzehnten bekannt geworden. Das erste Verzeichnis seiner Werke von 1882 unterdrückte das Jugendwerk und enthielt nur 350 Kompositionen, das neue Verzeichnis von 2009 listet hingegen 750 Werke auf. Zu den Jugendwerken gehören auch zwei Konzerte für zwei Klaviere und Orchester in E-Dur bzw. As-Dur, die Mendelssohn im Alter von 14 bzw. 15 Jahren komponierte. Sie wurden wie die meisten Werke aus dieser Zeit für die Sonntagskonzerte geschrieben.

Das Konzert in E-Dur vollendete Mendelssohn im Oktober 1823 und schenkte es seiner Schwester wohl zum Geburtstag. Als Modell scheint ihm Beethovens 5. Klavierkonzert gedient zu haben, zu dem es verschiedene Parallelen aufweist. Erstmals gespielt wurde das Stück von Felix und Fanny am 7. Dezember des gleichen Jahres bei einer Sonntagsmusik in Anwesenheit des berühmt-berüchtigten Salonklaviervirtuosen Kalkbrenner. Mangels Orchester spielten sie dabei auch die Orchestertutti. Ein weiteres Mal spielten die beiden das Werk ein Jahr später zu Fannys Geburtstag am 14. November 1824. Unter den Zuhörern war diesmal der Klaviervirtuose Ignaz Moscheles, den Felix` Mutter anschließend darum bat, ihrem Sohn Unterricht zu geben. Dabei zeigte Felix ihm auch das inzwischen fertig gestellte zweite Doppelkonzert in As-Dur. Moscheles notierte in seinem Tagebuch: „Der fünfzehnjährige Felix ist einer Erscheinung, wie es keine mehr gibt! Was sind alle Wunderkinder neben ihm? Sie sind eben Wunderkinder und sonst nichts; dieser Felix Mendelssohn ist ein reifer Künstler…“.

Im Doppelkonzert in E-Dur zeigt Mendelssohn nicht nur, dass er voller beglückender melodischer Einfälle ist, kompositorische Finessen wie verschachtelte Fugatos und mehrstimmige Engführungen beherrscht und Themen hoch komplex verarbeiten kann. Das Werk spiegelt auch die geradezu symbiotische Beziehung, welche in menschlicher in künstlerischer Hinsicht zwischen den beiden Geschwistern bestand. In den beiden Ecksätzen werfen sich die beiden Solisten mal improvisationsartig und übermütig, mal streng und formal die Bälle auf gleicher Ebene zu, wobei jeder ausreichend Gelegenheit erhält, technische Brillianz zu demonstrieren. Im langsamen Mittelsatz erscheinen aber zwei deutlich unterschiedene Temperamente. Er wird von einem langen lyrischen Solo des ersten Klaviers eingeleitet, dass weiblich schwärmerische Züge trägt. Dies  kann man wohl  der Schwester zuordnen. Es folgt ein ebenso langes Solo des zweiten Klaviers von deutlich zupackenderem Charakter. Darin dürfen wir sicherlich das Selbstverständnis des Bruders dargestellt sehen. Im dritten Teil musizieren die Beiden schließlich selig in geschwisterlicher Harmonie vereint.

Mendelssohn scheint das E-Dur Konzert besonders geschätzt zu haben, was möglicherweise auch mit dem Bezug zur Schwester zu tun hat. Anders als die meisten anderen Werke seiner frühen Jugend hat er es später nicht verworfen. 1830 überarbeitete er das Stück sogar und führte es mit Moscheles in England auf. Auch Moscheles hielt das Werk in Ehren und spielte es 13 Jahre nach Mendelssohns Tod noch einmal für seine Kollegen am Leipziger Konservatorium, wohin Mendelssohn, der das Konservatorium gegründet hatte, seinen ehemaligen Lehrer als Klavierlehrer geholt hatte. Dabei gab Moscheles den Namen des Komponisten in Anspielung auf die Frühbegabung Mendelssohns zunächst mit F. Knospe an, wahrscheinlich weil er ein unbefangenes Urteil seiner Kollegen hören wollte. Danach lag das Konzert in einem hundertjährigen Dornröschenschlaf im Mendelssohn-Nachlass in der Berliner Staatsbibliothek. Da diese nach dem  zweiten Weltkrieg im Ostteil der alten Reichshauptstadt lag, war es für den Westen zunächst nicht zugänglich. Anfang der 50-er Jahre des 20. Jh. kam dann im Rahmen von Bücherschmuggelgeschäften zwischen Ost- und Westberlin eine Mikrofilmaufnahme der beiden Doppelkonzerte nach New York. Seitdem wird das Werk wieder gerne gespielt.