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Rameswaram – Indien zwischen Illusion und Wirklichkeit

 

Auf einer Insel am südöstlichen Ende des indischen Subkontinentes liegt Rameswaram. Der Ort ist den Hindus in besonderem Maße heilig. Hier steht nicht nur ihr wichtigstes Heiligtum nach dem Kashi-Vishwanath Tempel in Benares. Rameswaram ist auch eine der vier Wallfahrtsstätten, welche die indische Welt an ihren äußersten Grenzen nach allen Himmelsrichtungen einrahmen. Wie der Moslem nach Mekka so soll auch der Hindu einmal im Leben zu diesen Orten pilgern.

Nicht nur die Lage als symbolischer Grenzort der indischen Kulturwelt macht Rameswaram für den Hindu bedeutsam. Es ist auch der Ort, an dem die spirituelle Phantasie der Inder ein wesentliches Geschehen ihrer Mythologie platziert hat. Von hier aus soll Rama, eine der wichtigsten und populärsten Gestalten des komplexen hinduistischen Figurenkosmos, seinen Feldzug zur Befreiung seiner Gemahlin Sita aus den Händen Ravanas, des Dämonenkönigs von Sri Lanka, unternommen und nach erfolgreichem Abschluss desselben eine Sühnezeremonie abgehalten haben, die das Muster für die rituellen Handlungen abgibt, welche die Gläubigen hier vollziehen. Die Geschichte ist die zentrale Episode des Ramayana, dem einen der zwei riesigen indischen Epen, welche, wie die beiden – deutlich kleineren – homerischen Epen in der europäischen Antike, maßgeblich den mythologischen Raum der Hindus abgesteckt und kanonisiert haben. Sie erinnert im Übrigen auch bemerkenswert an die „Entführung“ Helenas und den Kampf um ihre Rückgewinnung in der Ilias.

Nach dem Ramayana raubte der zehnköpfige Ravana die in einer Ackerfurche als Tochter der Erdgöttin geborene Sita, die nicht nur außerordentlich schön, sondern auch noch mit allen Tugenden, Eigenschaften und Fähigkeiten ausgestattet war, welche man sich von einer Frau nur wünschen kann. Abgesehen davon, dass er es auf das prächtige Weib abgesehen hatte, das er trickreich aber erfolglos zu verführen versuchte, rächte er damit auch seine Schwester Shurpanakha, welche in der Geschichte kontrapunktisch als körperlich und charakterlich außerordentlich hässlich gezeichnet wird. Sie hatte bei einem Besuch in Indien Rama, der nicht weniger prächtig als seine Ehefrau war, begehrt und hatte sich, nachdem sie von diesem unter Verweis auf seine Treue zu Sita abgewiesen worden war, auch vergeblich um dessen ebenfalls ansehnlichen Bruder Laksmana bemüht. Aus Verärgerung über diese Abfuhr hatte Shurpanakha Sita nach dem Leben getrachtet, worauf Laksmana ihre ohnehin bestehenden Defizite noch dadurch anreicherte, das er ihr die Nase und die Ohren abschnitt, was eben Ravana zu kompensieren hatte.

Der Herrscher über die Dämonen glaubte sich mit der schönen Beute in seinem scheinbar uneinnehmbaren Inselreich und in seiner gigantischen Schlossfestung auf der Spitze eines hohen Vulkankegels eigentlich sicher, zumal er sich auf Grund eines Versprechens seines Urgroßvaters, des Schöpfergottes Brahma, für unverwundbar hielt. Rama aber schmiedete Pläne zur Invasion Sri Lankas über die fünfzig Kilometer breite Meerenge, welche die Insel bei Rameswaram vom indischen Subkontinent trennt. Zunächst forderte er den Gott des Ozeans auf, den Weg freizumachen, damit er mit seinen Mannen, wie die Israeliten durch das Rote Meer, nach Sri Lanka marschieren könne. Der Meeresgott berief sich aber – für indische mythologische Verhältnisse ungewöhnlich – auf die Gesetze der Natur, die ihn daran hinderten, einem solchen Verlangen nachzukommen. Daraufhin drohte Rama damit, den Ozean mit einem „Regen“ seiner Wunderpfeile auszutrocknen und dabei alle darin lebenden Kreaturen zu töten, eine Vorgehensweise, die nun wieder schwer mit den Gesetzen der Natur zu vereinbaren ist, aber insoweit der Normalfall in der indischen Mythologie ist. Der naturgesetzestreue Herr des Ozeans, der die indientypische Kraft von Mächten, welche die Naturgesetze aushebeln können, kannte, war davon beeindruckt und erklärte sich kompromissweise dazu bereit, den Bau einer Brücke zu unterstützen. Der Affengeneral Hanuman, mit dem sich Rama verbündete, erstellte daraufhin mit „zehn Millionen Kriegern“ in sechs Tagen einen „achtzig Meilen“ breiten Damm über die Meerenge. Über diese setzte er mit seiner Affen- und Bärenarmee, die sich auf nicht weniger als einhundert Milliarden „Mann“ belief – wenn es um Mengen und Zahlen geht, sind die indischen Epen nicht kleinlich – samt Rama und Laksmana und deren Streitkräfte nach Sri Lanka über. Dort fand unter Beteiligung von allen möglichen Dämonen und Wunderwesen und mit allen denkbaren Waffen aus dem unerschöpflichen Arsenal von Phantasy, Science-Fiktion, Esoterik und Virtual Reality am Boden, zu Wasser und in der Luft eine Schlacht von galaktischen Dimensionen statt, deren ausufernde Schilderung im Ramayana ungezählten Künstlern im gesamten indischen Raum für Jahrhunderte Material für bildliche Darstellungen in einer Menge geliefert hat, die einem manchmal kaum geringer als die Anzahl der Krieger in Hanumans Streitmacht erscheinen will. Am Ende kam es zur unmittelbaren Konfrontation der zentralen Protagonisten. Rama versuchte den Dämonenkönig zunächst durch Abschießen seiner Köpfe außer Gefecht zu setzen, die aber, ähnlich wie bei der Hydra in der griechischen Mythologie, sofort wieder nachwuchsen. Gleiches war bei abgeschlagenen Armen und Beinen der Fall. Die Lösung kam schließlich vom Gott Indra, welcher das Geschehen mit seinen Gottkollegen, nicht anders die griechischen Götter bei der Schlacht um Ilios, angelegentlich verfolgte, da Ravana mit seinen Dämonen die Götter immer wieder bedrohte. Indra hatte Rama seinen prachtvollen Streitwagen samt Wagenlenker und höherem Wissen über die Verwundbarkeit Ravanas gestellt und dieser riet Rama, auf Ravanas Herz zu zielen. Damit konnte er den König, der sich mit immer neuen üblen Fernwaffen lange wehrte, schließlich zu Fall bringen.

Wie Rama die Tötung Ravanas trotz der göttlichen Garantie gelang, ist eine ziemlich merkwürdige Sache, die tief in die verwickelten Daseins- und Familienverhältnisse der indischen Götterwelt hineinführt. Nach dem Ramayana hatte Ravana von Brahma für bestimmte Verdienste die Gnade erbeten und erhalten, dass er von Niemandem getötet werden könne, was er, wie ausgiebig geschildert, dazu nutzte, um seine Kontrahenten zu tyrannisieren. Aber derartige göttliche Garantien sind gelegentlich mit geradezu winkeladvokatorischen Fallstricken behaftet. Nach der einen Version der Geschichte hatte Ravanna, da er sich über die Menschen erhaben fühlte, nur Sicherheit vor den Göttern und himmlischen Wesen verlangt, mit denen er im Dauerstreit um die Herrschaft in der Oberwelt lag. Als die Götter den Obergott Brahma anflehten, sie von diesem Übel zu befreien, bat dieser daher Vishnu, den zweiten der drei Hauptgötter Indiens, die allerdings im „Trimurti“ wieder eine dreifaltige Einheit sind, die Gestalt eines Menschen anzunehmen, um in dieser Ravana zu vernichten. Vishnu erschien daraufhin als der Mensch Rama auf Erden und als solcher konnte die Welt von dem Übel des Ravana erlösen (eine bemerkenswerte Parallele zum christlichen Erlösungsmythos). Nach einer anderen Version hatte Ravana zwar seine Köpfe, Arme und Beine gegen Angriffe versichern lassen, nicht aber sein Herz, was Indras Wagenlenker wusste und Rama verriet.

Dazu wie es zu der Heiligung von Rameswaram kam, gibt es, wie bei so vielen Details der indischen Mythologie, auch wieder unterschiedliche Versionen. Die herrschende Lesart ist wohl, dass Rama für die Tötung Ravanas bei Shiva, dem dritten Gott der Hindutrinität, zu dessen Anhängern Ravana gehörte, Abbitte leisten musste. Als Urenkel Brahmas war Ravana nämlich ein Brahmane und einen solchen zu töten, gilt den Hindus, selbst wenn derselbe ein solcher Schurke wie Ravana ist, als eine der schwersten Sünden (ein Schutzprivileg, welches sich die irdischen Brahmanen neben diversen anderen Vorteilen in der indischen Gesellschaft mit göttlicher Beglaubigung gesichert haben). Diese – ziemlich menschliche – Norm galt trotz seiner göttlichen Herkunft auch für Rama, weswegen er ein Sühneritual zu vollziehen hatte. Um Shiva zu besänftigen, wollte Rama, wiewohl er mit diesem eigentlich eine Einheit war, einen besonders großen Lingam, das Phallussymbol, mit dem die Hindus diesen Gott unter Außerachtlassung aller Aspekte von Scham verehren. Ein solcher war in Rameswaram aber nicht aufzutreiben, weswegen Hanuman nach dem Himalaya – nach anderer Version nach Benares – geschickt wurde, um vom heiligen Berg Kailash, dem Sitz Shivas und Erscheinungsform des mythischen Weltberges Meru, bzw. vom Kashi-Vishwanath Tempel, der wie die meisten Tempel der Hindus ein Abbild des Kailash ist, auf dem Luftweg ein adäquates Exemplar eines Lingam herbeizuschaffen. Da sich die Rückkehr des Affengenerals verzögerte, befürchte man, den spirituell günstigen Zeitpunkt für die Sühnehandlung zu verpassen (derartig „auspiziöse“ Zeiten spielen im indischen Leben bis heute ganz konkret eine wichtige Rolle). Daher formte Sita vorsorglich einen Lingam aus dem Sand des Strandes von Rameswaram. Kurz darauf kam Hanuman mit seinem Lingam angeflogen, sodass man nun zwei dieser merkwürdigen Ritualobjekte hatte. Diese sind nun das spirituelle, mit milchigen Flüssigkeiten umsorgte Zentrum der großen Tempelanlage von Rameswaram, die dementsprechend ein Doppelheiligtum ist.

Diese Geschichte wird in Rameswaram natürlich in besonderem Maße phantasiereich in Stein und anderen Medien dargestellt, wobei die Gestaltungskraft der Künstler insbesondere bei der Darstellung Ravanas mit seinen zehn Köpfen gefordert war – manchmal wird er mit einem besonders großen Kopf mit umlaufenden Gesichtern abgebildet, manchmal zusätzlich mit entsprechend vielen Extremitäten, das heißt zwanzig Händen und Füßen; oft werden seine Häupter aber auch in voller Ausprägung samt Herrscherkronen auf einem Hals waagrecht aneinandergereiht, was nicht nur statisch eine erstaunliche Figur abgibt. Man fragt sich dabei unwillkürlich, inwieweit die Gläubigen dieser unwahrscheinlichen Figur und überhaupt dem ganzen außerordentlich frei imaginierten epischen Geschehen, dem sie nicht zuletzt in Rameswaram sehr konkret Reverenz erweisen, so etwas wie historische Realität zumessen. Die Tempelbrahmanen als die Hüter des Glaubens scheinen eine solche Realität jedenfalls vorauszusetzen oder den Glauben daran einzufordern. In einem der anderen Tempel Rameswarams etwa zeigen sie Steine, welche, da besonders porös, im Wasser schwimmen und versichern unterstützt durch entsprechende bildliche Darstellungen, dass die Brücke, welche Hanumans Soldaten nach Sri Lanka bauten, aus diesem Material gefertigt worden sei. Im Ramayana ist freilich von solchen Steinen, welche die Überbrückung der Meerespartien offenbar plausibler machen sollen, nicht die Rede. Dort heißt es ohne Rücksicht auf irgendeine Wahrscheinlichkeit, dass die „Brücke“ aus Baumstämmen, Erde und Felsen aufgeschüttet worden sei, wobei sich bei letzteren teilweise um ganze Berge gehandelt habe.

Wie real all diese Dinge für manche Gläubige sind, zeigt die Diskussion um den Bau eines Kanals durch die flache Meerenge zwischen Indien und Sri Lanka, mit welchem die Fahrt vom arabischen Meer zu den Häfen an der Südostküste Indiens um 400 Kilometer verkürzt würde. Hinduaktivisten streiten gegen dieses wirtschaftsrationale Projekt mit theologischen Argumenten. Der Bau, so sagen sie, würde Teile der Brücke zerstören, welche Rama und Hanuman gebaut hätten. Diese sei aber durch das Ramayana geheiligt und dürfe nicht tangiert werden. Dabei geht es „tatsächlich“ um die Frage, ob das fünfzig Kilometer lange schmale Band aus Sandbänken, Korallenriffen und Inselchen, das sich in Verlängerung der kontinentalen Landzunge und der Insel von Rameswaran wie eine Nabelschnur vom Mutterland Indien bis zu dessen Ableger Sri Lanka zieht, die Reste einer realen, von Menschen gebauten Brücke sind. Abgesehen vom Text des Ramayana beziehen sich die streng gläubigen Hindus dabei auf ein Gutachten eines ehemaligen höchsten Landvermessers Indiens, das feststellt, dass hier unter einer Schicht festen (Korallen)Materials wieder Sand liege, was, da Korallen nicht auf Sand wüchsen, auf ein künstliches Bauwerk hindeute. Als schlagenden Beweis für die Richtigkeit ihrer Überzeugung sehen sie darüber hinaus ausgerechnet Aufnahmen an, welche mit Mitteln der modernsten Wissenschaft von einem Satelliten der Nasa gemacht wurden. Auf diesen ist in der Tat ein erstaunlich linear geführtes Band zwischen Indien und Sri Lanka zu sehen, dessen regelmäßige Kurvatur nach Meinung der Hindus nur damit erklärt werden könne, dass es von Menschen gemacht sei. Die Auseinandersetzung um das Projekt, dem man auch ökologische Argumente entgegenhielt, die freilich auch nicht selten aus dem Grenzbereich von Realität und interessengeformter Einbildung stammen, wurden vor den höchsten Gerichten geführt, die sich „tatsächlich“ auch mit der Frage befassten, ob die Kette von Untiefen und Inselchen, wiewohl von Affen erstellt, „man made“, also von Menschenhand gebaut sei. Die verschiedenen Instanzen waren darüber keineswegs so einig, wie man meinen könnte. Der High Court des Bundestaates Tamil Nadu, in dessen Gebiet das Streitobjekt liegt, bejahte die Frage. Beim Supreme Court of India war man rationaler Argumentation gegenüber weniger verschlossen und kam zu dem nicht eben fern liegenden Ergebnis, dass es sich bei der „Brücke“ um ein meeresgeologisches Phänomen handele. Auch die Nasa wehrte sich gegen die Vereinnahmung durch die Hindus und stellte lakonisch fest, man könne Aufnahmen, die aus großer Höhe gemacht worden seien, nicht entnehmen, ob ein auffälliges Phänomen auf der Erde natürlichen oder menschlichen Ursprungs sei. Historiker des buddhistischen Sri Lanka wiederum meinten, die hinduzentristische Interpretation des Phänomens stelle eine grobe Verfälschung der Geschichte ihres Landes dar.

Das Phänomen der „Brücke“, die wohl bis in die Mitte des letzten Jahrtausends tatsächlich eine feste Landverbindung zwischen Indien und Sri Lanka gewesen war, hat nicht nur die religiöse Phantasie der Hindus angeregt. Auch die anderen großen Weltreligionen haben insofern allerhand tatsachenhaltige Vorstellungen entwickelt. Obwohl die Hindus angesichts ihrer indigenen Vormachtstellung eigentlich die terminologische Hoheit in dieser Angelegenheit haben müssten, hat sich für die Kette von Untiefen und Erhebungen nicht ihre Bezeichnung „Ramas Bridge“ oder „Rama Setu“, wie die Hindus sagen, sondern der Name „Adams Bridge“ durchgesetzt, und dies auch noch vermittelt durch die Weltreligion, die in dieser Region am wenigsten vertreten ist. Die Bezeichnung geht auf die moslemische Vorstellung zurück, wonach der biblische Urvater Adam nach der Verstoßung aus dem Paradies, das man irgendwo in der Höhe imaginierte, die Erde, auf die er strafversetzt worden war, erstmalig auf einem der höchsten Berge von Sri Lanka betreten habe, dem über zweitausend Meter hohen Vulkankegel, für dessen Benennung sich die mehrheitlich buddhistischen Bewohner Sri Lankas merkwürdigerweise ebenfalls keine terminologische Vorherrschaft sichern konnten, weswegen derselbe den Namen „Adams Peak“ trägt. Von dort soll Adam, nachdem er auf dem Berg eintausend Jahre auf einem Fuß stehend Buße geübt habe, über die „Adams Brücke“ nach Indien gewandert sein, um sich mit seinen Nachkommen schließlich über die Welt auszubreiten (nach einer anderen Version wird aber auch eine Wanderung in umgekehrter Richtung angenommen). Auf dem „Adams Peak“ zeigt man denn auch eine Bodenvertiefung, welche der Fußabdruck sein soll, den Adam dabei hinterlassen habe, der allerdings ist so groß ist, dass die Figur, welche ihn geprägt hätte, eine Größe von mindestens zehn Metern gehabt haben müsste. Nichtsdestoweniger haben auch die anderen Weltreligionen in einer Art Wettbewerb um die Deutungshoheit in Sachen „Adams Peak“ diese Vorstellung aufgenommen und sich je auf ihre Weise an der Ausgestaltung der Geschichte beteiligt. Die Buddhisten sehen darin den Fußabdruck Buddhas, der Ceylon drei Mal besucht haben soll. Nachdem die Moslems den gemeinsamen Stammvater Adam schon für sich vereinnahmt haben, meinen die Christen, es sei der Fußabdruck des Apostels Thomas, den es nach Ceylon verschlagen haben soll, von wo er über die Brücke nach Indien gelangt und dort, nachdem er die Gemeinde der Thomaschristen gegründet habe, bei Madras gestorben und begraben sei. Und die Hindus gehen davon aus, dass Shiva, Ravanas Schutzpatron, der Urheber der Vertiefung sei. Im Übrigen habe der zehnköpfige Herrscher von Lanka auf dem steilen Vulkankegel, auf den die Anhänger all dieser Religionen heute über fünftausend Stufen mühevoll hinaufpilgern, seine formidable Residenz gehabt, von der allerdings genauso wenig Reales zu sehen ist wie von Ramas Brücke.

Dem gewichtigen mythologischen Geschehen entsprechend hat man in Rameswaram einen Tempel von passender Bedeutung gebaut, an dem sinnigerweise auch Herrscher aus Sri Lanka, nämlich die hinduistischen Könige des Jaffna Reiches beteiligt waren, die vom 13. bis 17. Jahrhundert im Norden der Insel herrschten, in den hinduistische Tamile schon seit dem Altertum über die Adamsbrücke eingewandert waren (der Hintergrund des erbitterten Bürgerkrieges, der Sri Lanka zwischen 1983 bis 2009 spaltete). Der Tempel ist mit einer Fläche von rund einem halben Quadratkilometer tatsächlich gewaltig, wenn auch nicht so groß wie einige andere Tempel Südindiens, etwa der von Madurai. Während letzterer zahlreiche Tempeltürme aufzuweisen hat, die auf „barocke“ Weise mit dem – reichlich bunt präsentierten – mythologischen Personal des Hinduismus übersät sind, hat der Tempel von Rameswaram nur zwei große und zwei kleinere Türme in den vier Himmelsrichtungen, die einfarbig in vornehmen Gelb gehalten und nur in „klassizistisch“ reduzierter Weise mit Figuren und Ornamenten geschmückt sind. Er verfügt aber über die längsten Tempelkorridore Indiens, jene prachtvollen pfeilergesäumten Hallen, welche das mystisch dunkle, enge und verschachtelte sanctum sanctissimum der südindischen Tempel umlaufen, in dem die Brahmanen ihre rätselvollen Rituale verrichten. In Rameswaram haben diese Gänge zusammengerechnet eine Länge von deutlich über einem Kilometer und sind von rund viertausend bis zu zehn Meter hohen Pfeilern gerahmt, die meist bunt bemalt und mit allerhand Figuren, darunter viele aus dem Ramayana, bestückt sind. Die beiden größten Gänge, die jeweils rund zweihundert Meter lang sind, lassen den Besucher auf Grund eines besonderen perspektivischen Effektes in einmaliger, geradezu magischer Weise in eine Tiefe blicken, welche den unendlichen Dimensionen des spirituellen Raumes entspricht, der im Innersten des Tempels beschworen wird.

Zu den Ritualen, welche die Gläubigen in Rameswaram vollziehen, gehört das Eintauchen in geheiligtes Wasser, vom dem nach hinduistischer Vorstellung erdmagnetische Energien himmelwärts ziehen. Das Grundmuster dieses Rituals ist das Bad im vergöttlichten Fluss Ganges, das in jedem indischen Tempel nachvollzogen wird, indem man entweder in das nach den Prinzipien der heiligen Geographie bestimmte natürliche Wasser steigt, an welchem Heiligtümer bevorzugt platziert sind, oder in den großen rechteckigen Teich, Tank genannt, der regelmäßig zu einen Tempel gehört und von Stufen wie an den Badestellen des Ganges in Benares umgeben ist. Auf der Insel Rameswaram gibt es vierundsechzig heilige Wasserstellen, Theertham genannt, von denen zweiundzwanzig wichtig sind. Zumindest in letztere müssen die Gläubigen eintauchen, wenn sie die segenspendende Wirkung der Wallfahrt sicherstellen wollen.

Das größte Wasserheiligtum ist natürlich das Meer, das dazu auf einer Insel wie Rameswaram das Heiligtum auf ideale Weise von allen Seiten umgibt. Merkwürdigerweise ist es hier nach dem Feuergott Agni benannt, was offenbar damit zusammenhängt, dass er Sita in einer kritischen Situation beistand. In der Hauptversion des Ramayana, welche dem Weisen Valmiki zugeschrieben wird, wollte Rama Sita, für die er doch so heftig gekämpft hatte, nicht zurücknehmen, da sie so lange im Haus eines Fremden gelebt habe. Sita, die sich, anders als Helena, mit aller Kraft den Verführungskünsten ihres Entführers widersetzt hatte, war von diesem Misstrauen wenig begeistert und verlangte trotzig, dass ihr ein Scheiterhaufen bereitet werde. Sie bat Agni um Hilfe, der auch dafür sorgte, dass ihr die Flammen nichts anhaben konnte und sie unter der Akklamation aller Götter persönlich aus den Flammen hob. Danach gibt es ein Happy End nach Art eines Märchens mit Königskrönung und großem Fest, dem eine zehntausendjährige glückliche Regentschaft Ramas im mythischen Urkönigreich Ayodhya folgt (ohne Krankheiten, Seuchen, Gier, Verbrechen, verdorbene Ernten und so weiter). Agni hatte sich, wiewohl er doch alles zum Schutz von Sita getan hatte, durch seine Beteiligung an der Feuerprobe aus irgendeinem Grund auch wieder versündigt und musste sich vor Shiva, dem Schutzpatron Ravanas, rechtfertigen. Zu Tilgung seiner Sündenschuld stieg er in das Meer an der Stelle, die nun Agni Theertham genannt wird. In seiner Nachfolge tun dies nun auch die Pilger und tauchen vornehmlich mit der ganzen Familie in die ziemlich trüben Fluten, wobei den selfie-süchtigen Indern die elektronische Dokumentation dieses Vorgangs mittels Smartphone mindestens so wichtig zu sein scheint wie die heiligende Handlung. In einer wohl späteren Version, die geradezu islamische Männeransprüche offenbart, sind die dramatischen Verwicklungen für Sita mit ihrer Rettung und der Feuerprobe aber noch lange nicht beendet. Nach dieser melodramatischen, an Bollywood erinnernden Variante des Epos hat Sita die  bestandene Treueprüfung wenig genützt, denn der ziemlich menschelnde göttliche Rama schickte sie, wiewohl sie von ihm mit Zwillingen schwanger war, weil er absolute Sicherheit verlangte, dennoch in die Verbannung, aus der er sie erst viele Jahre später wieder herausholte, nachdem er seine Kinder daran erkannt hatte, dass sie das Ramayana sangen. Sita zog es nun aber vor, der ungerechten Welt entsagend, in die Ackerfurche und damit zu (ihrer) Mutter Erde zurückzukehren, aus der sie einst gekommen war.

Die einundzwanzig anderen wichtigen Wasserstellen befinden sich alle innerhalb der rund einen Kilometer langen festungsartigen Mauern des großen Tempels, in dem ein penibel überwachtes Smartphoneverbot herrscht. Abgesehen von einem größeren Tank handelt es sich im Wesentlichen um etwa sechs Meter tiefe brunnenartige Schächte, die zum Grundwasser herunterreichen. Unter anderem gibt es auch ein Wasser, welches ein vollwertiges Äquivalent für das originale Gangeswasser ist. Da die Inder selbst in zweihundert Jahren englischer Kolonialherrschaft nicht gelernt haben, sich ordentlich anzustellen, erfolgt der Zugang zu den Wasserstellen in langen vergitterten Gängen, die sich in Schlangenlinien durch weite Teile des Tempels und bis auf die Straße ziehen. Um die Massen abzufertigen hat man das Eintauchen in die heiligen Gewässer rationalisiert. An allen Wasserstellen steht ein dienstbarer Geist, der das heilige Nass mit einem kleinen Eimer, der an einem Seil befestigt ist, aus der Tiefe holt und den pausenlos ankommenden Pilgern recht unfeierlich über den Kopf gießt. Jedes dieser Wasser hat, wie Agni Theertham, einen Namen, der sich auf einen bestimmten heiligenden Umstand bezieht, und verspricht eine besondere Wirkung, die allerdings meist ziemlich allgemein formuliert ist – etwa wenn es heißt, dass man durch dasselbe Einsicht in die Vergangenheit und die Zukunft gewinne oder man in die Lage versetzt werde, von Dämonen ausgelöste ungute Stimmungen zu beherrschen.

Wesentlich konkreter geht es bei der Frage zu, welche Gegenleistung die Pilger für die verschiedenen rituellen Leistungen zu erbringen haben. Auf großen Schildern sind für die gängigen Kulthandlungen feste, einigermaßen moderate Preise aufgelistet. Rituale für bestimmte Lebenssituationen sind gesondert zu bezahlen und können ziemlich teuer werden. Darüber hinaus werden von den Gläubigen, wie in allen indischen Tempeln, auch noch freiwillige Zahlungen erwartet. Die Anzahl der Spendenboxen, die – wie die verführerichsten Waren im Supermarkt – an strategischen Punkten wie Wegbiegungen, Abzweigungen und Engstellen platziert sind, übertrifft in den Tempeln in der Regel deutlich die der Idole. Meist sind es voluminöse blecherne Kästen mit großen Einwurfschlitzen, die Rupien in einer Größenordung aufnehmen können, welche sich offenbar an den Mengenangaben in der indischen Mythologie orientiert.

Wer die vorgeschriebenen Rituale samt Bezahlung absolviert, dem wird einen Großteil seiner Sündenschuld erlassen mit der daraus resultierenden Möglichkeit, in nächsten Leben auf höherer Ebene wiedergeboren zu werden und so den leidvollen Kreislauf der Wiedergeburten abzukürzen. Anderseits haben berufene Normgeber, wie auf Schrifttafeln festgehalten ist, bestimmt, dass eine Sünde, welche im Rameswaram begangen wird, nie getilgt werden kann. Keine Sünde ist dabei offenbar das Entsorgen von Müll auf allen möglichen öffentlichen Flächen, unter anderem auch, indem man sich bei Agni Teertham trotz entgegenstehender Aufforderung der lokalen Kommunalverwaltung der nassen Kleider entledigt, die dann massenhaft an den Strand gespült werden, sodass es dort wie nach einer maritimen Katastrophe aussieht, abgesehen davon, dass sich auch hier, wie überall in Indien, aller möglicher sonstiger Müll in Mengen sammelt, zu deren Beseitigung man die Heerscharen Hanumans benötigen würde. Ebenso wenig sündhaft scheint es für Männer zu sein, dort zu urinieren, wo gerade sie gerade stehen. Und an einem Ort, an dem die Menschen in großer Zahl darauf angewiesen sind, die elementaren Bedürfnisse des realen Lebens mit Hilfe von Dienstleistern zu befriedigen, ist es offenbar nicht verwerflich, die indientyische massive Differenz zwischen werbend angepriesenen und realen Tatsachen dergestalt auf die Spitze zu treiben, dass eine Portion Pommes frites, die auf einem Werbebild eines staatlichen Restaurants gewaltig hochgestapelt präsentiert wird, sich in der servierten Wirklichkeit als bloßer Tellerbodendecker erweist. Insofern erfolgte die Ausgestaltung der Norm offensichtlich unter Berücksichtigung der sozialen Realität, vermutlich weil sonst für unverhältnismäßig viele Inder die Erlösung aus dem Kreislauf der Wiedergeburten in unerreichbare Ferne gerückt wäre.

Im Tempel herrscht reges Treiben. Viele Gläubige, auch Frauen und Kinder, kommen mit kahl geschorenem Kopf daher, an dessen hinterem Teil nur noch ein kleines Haarbüschel ähnlich einem Schweineschwänzchen verblieben ist. Kleine Gruppen, die von einem Kundigen religiös instruiert werden, sitzen in Nischen auf dem Boden. Gelegentlich zieht eine Prozession mit Schlagzeug und einem plärrenden Blasinstrument, das einer Oboe ähnelt, durch die Pfeilerhallen, in denen die grob laute Musik weithin widerhallt, vorneweg einige Frauen, die sich verzückt im Tanz wiegen. Überall laufen tropfnasse Menschen mit derangierten Haaren umher. Eine besonders reich verzierte Pfeilerhalle ist von Devotionalien- und Souvenirhändlern gefüllt wie einst der Tempel von Jerusalem von Geldwechslern. Vor dem Haupttor des Tempels, über dem eine fünfzig Meter hohe Pyramide emporragt, dringt Musik aus einem großen Lautsprecher, wie landesüblich und allgegenwärtig mit jener Lautstärke, welche die Inder mit einem Gleichmut ertragen, der darauf hindeutet, dass ihre Gehörnerven ebenso abgestumpft sind wie ihre Geschmacksrezeptoren durch den exzessiven Genuss scharfer Gewürze.

Anders als in Madurai, wo sich im großen Tempel unzählige Reisegruppen drängen, sieht man in Rameswaram nur wenige Fremde, was sicher auch damit zusammenhängt, dass der Ort ziemlich abgelegen ist. Hin- und zurück nach Madurai, wo die Reise beginnt, muss man mit acht Stunden Fahrtzeit rechnen. Inzwischen kommt man hier auch nicht mehr, wie Rama, auf dem Weg von oder nach Sri Lanka vorbei, nachdem die (Eisenbahn/Fähr)Verbindung über die Meeresenge zwischen den beiden Ländern, welche die Engländer einst zur Herstellung der Einheit ihres Kolonialreiches eingerichtet hatten, nach einem verheerenden Tropensturm seit vielen Jahren unterbrochen ist und man beiderseits der Meerenge offenbar andere Probleme für wichtiger hielt als Wiederherstellung der Verbindung zwischen dem vorwiegend hinduistischen Mutterland und der abtrünnigen Tochter, wo der Buddhismus vorherrscht, den die Hindus aus seinem Mutterland mehr oder weniger vollständig verdrängt haben.

Rama ist die mythische Lichtfigur am Beginn des zeitlichen Spektrums, in welches Rameswaram gebettet ist. Darüber, wann die Ereignisse stattfanden, die im Ramayana geschildert werden, gehen die Meinungen weit auseinander. Diejenigen, welche in dem Epos einen realen historischen Grundkern sehen, platzieren Rama als eine lokale Herrscherfigur in die Mitte des ersten Jahrtausends vor unserer Zeitrechnung. Sie verzichten realistischerweise auf die Annahme, dass die Details des Epos wörtlich zu nehmen sind. Wer dazu nicht bereit ist und, um die Geschichte plausibel zu machen, Feststellungen der Radiokarbonanalyse betreffend die Korallen der Adams-Bridge einbezieht, kommt auf bis zu 5.000 Jahre, hat aber Probleme, die zehntausend-jährige Herrschaft Ramas in Ayodhya unterzubringen, der, da er nicht gestorben wäre, noch am Leben sein müsste. Dieses Problem lösen diejenigen, die  sich auf makrogeologische Erkenntnisse beziehen. Sie kommen zu dem Ergebnis, dass Rama vor fast zwei Millionen Jahren lebte. Für den eingefleischten Hindu ist dies kein Problem, da sich die Geschichte nach dem Ramayana im dritten Weltzeitalter abgespielt hat, das ungefähr so  lange zurückliegen soll. Man hat aber das Problem, dass die reale Adams-Bridge durchschnittlich nur etwa acht Meilen breit ist. Dieses lösen manche, indem sie die Mengenangaben des Ramayana proportional um eine Art mythologischen Übertreibungsfaktor reduzieren. Denselben nehmen sie den realen Gegebenheiten entsprechend mit tausend Prozent an, womit sie das Problem der Brückenbreite (im Übrigen auch der Pommes frites) gelöst, bei der Größe von Hanumans Truppen und dem Tempo des Brückenbaus aber immer noch Erklärungsbedarf haben, ganz abgesehen davon, dass Hinweise darauf, was zwischen letzterem und der historischen Zeit geschah noch dünner sind, als das Band zwischen Indien und Sri Lanka und seine Aussagekraft aus der Perspektive der Nasa.

Am anderen Ende des Zeitrahmens von Rameswaram steht eine Persönlichkeit, welche viele Inder als Leitfigur des modernen Indien sehen. Auf der Insel geboren und aufgewachsen ist Abdul Kalam, der es aus einfachen Verhältnissen zum renommierten Wissenschaftler und schließlich zum (elften) Präsidenten von Indien brachte (2002-2007). Kalam, der im hinduistischen Hauptort in einer muslimischen Familie aufwuchs, war als Wissenschaftler in führender Position an der Entwicklung Indiens zur Atommacht beteiligt. Er war Leiter des indischen Raketenprogramms, zu dem nicht zuletzt eine Reihe von Langstreckenraketen gehören, die sinnigerweise auf den Namen „Agni“ getauft wurden. Damit repräsentieren sie die andere Seite des Feuergottes, der im Falle Sitas so „human“ erschienen war. Die Agni-Raketen können Atomsprengköpfe tragen, die Indien nicht zuletzt im Hinblick auf den völlig überflüssigen, aber um so erbitterter kultivierten Bruderkonflikt mit dem muslimischen Pakistan entwickelte.

Der Mann, zu dessen Metier als Wissenschaftler der kritische Umgang mit Tatsachen gehörte, hatte mit denselben als Politiker aber einige Probleme. Kalam war, sonst hätten seine Raketen nicht abgehoben, ein tatsachenorientiert denkender Wissenschaftler. Er war aber auch ein glühender Patriot und Politiker und als solcher war er in der Gefahr, den Kontakt zu den Tatsachen zu verlieren. Als Patriot musste er mit einer gewissen Notwendigkeit zu einer kritischen Haltung gegenüber dem englischen Kolonialismus kommen, den viele Inder als Trauma empfinden. Diese Aversion nun brachte ihn in Konflikt mit einem Engländer, der sich dem Ziel verschrieben hatte, die indische Vermischung von  Mythologie und Tatsachen zu entflechten, um letzteren im sozialen Leben das Gewicht zu geben, welche sie in einer modernen Gesellschaft haben müssen. Es handelt sich um den renommierten englischen Politiker und aufgeklärten Essayisten Lord Macaulay, der in den dreißiger Jahren des 19. Jahrhundert als Mitglied der britischen Kolonialregierung in Indien entscheidend dazu beitrug, dass im höherem Bildungssystem von Britisch-Indien die englische Sprache eingeführt wurde. Macaulays erklärte, zweifelsohne eurozentristische Absicht war, der einheimischen Führungselite die auf Englisch verfasste oder lesbare aufgeklärte bzw. wissenschaftliche Literatur Europas zugänglich zu machen, um auf diese Weise dem in Mythen und sozialer Segregation feststeckenden Subkontinent einen Impuls in Richtung Westen, Demokratie, Aufklärung, Säkularisierung und Verwissenschaftlichung zu geben. Dieses Ziel haben die Maßnahmen Macaulays, der so letztendlich die Selbstregierung und damit langfristig  die Unabhängigkeit des Landes vorbereiten wollte, inzwischen ein Stück weit erreicht. Kalam selbst, der im Jahre 2015 verstarb, war als Wissenschaftler und demokratisch bestimmter, dazu muslimischer Präsident in einem mehrheitlich hinduistischen Land ein Musterbeispiel für diese Ausrichtung. Dennoch hat sein Patriotismus Kalam dazu verleitet, Macaulay massiv tatsachenwidrig darzustellen.

Der Engländer hatte sein Bildungskonzept in einem legendären Memorandum für die englische Kolonialregeierung niedergelegt. Anfang der zweitausender Jahre kursierte in Indien eine Textpassage, die angeblich aus diesem Memorandum stammte, in der Macaulay als ein Kolonialist der übelsten Sorte erscheint, welcher die indigene Kultur und die Selbstachtung der Inder mit allen Mitteln zerstören wolle, um das Land leichter beherrschen und ausbeuten zu können. Die Passage war eine – übrigens leicht zu enttarnende – Fälschung, die offensichtlich aus Kreisen traditioneller Hindus kam, welche Macaulay als die Leitfigur der Unberührbaren diskreditieren sollte. Ein Teil dieser rund einhundertfünfzig Millionen Menschen große Menschengruppe, die in Indien trotz rechtlicher Gleichstellung nach wie vor diskriminiert wird, hatte sich den Briten zum Schutzpatron erwählt, weil er massiv gegen die Einteilung der Menschen in Gruppen verschiedener Wertigkeit vorgegangen war, welche die traditionelle hinduistische Gesellschaftsordnung kennzeichnet. Unter anderem hatte er ein indisches Strafgesetzbuch konzipiert, nach dem alle Straftäter nach den gleichen Regeln zu behandeln waren, was den Verlust von Privilegien der höheren Kasten, insbesondere der Brahmanen zur Folge hatte. Trotzdem zitierte Kalam die genannte Passage in einer Rede, als handele es sich um einen Auszug aus Macaulays Memorandum. Auch wenn man Kalam, zumal als Muslim, nicht ohne weiteres unterstellen kann, dass er damit den Widerstand der traditionellen Hindus gegen die Aufweichung des uralten Kastensystems unterstützen wollte, ist dieser freihändige oder gar strategische Umgang mit den Tatsachen in Indien nach wie vor besonders  weit verbreitet.

Man hat in Kalams verschachtelt-kleinräumigen Familienhaus in Rameswaram ein Museum eingerichtet, in dem seine Taten und Visionen auf vielen Schautafeln präsentiert werden. Sie sind nicht zuletzt voller nationalistischer Sentenzen, die meist so allgemein gehalten sind, wie die Sinnsprüche und Lebensbewältigungsmaximen der mehr oder weniger weisen Gurus, die man zur Genüge kennt, oder wie die Verheißungen, welche nach dem Gebrauch der verschiedenen heiligen Wässer im Tempel von Rameswaram eintreffen sollen, etwa: „Träume, Träume, Träume, setze diese Träume in Gedanken um und handle.“ Kalam war in seiner Aufbruchgestimmtheit davon überzeugt, dass sich Indien schon bald in der Spitzengruppe der Staatengemeinschaft befinden werde. Einstweilen sind diese Verheißungen allerdings noch im Stadium des Traumes. Der aufklärerische Kulturtransfer, den Macaulay anstrebte, hat, wie nicht anders zu erwarten, nur partiell stattgefunden. Er scheiterte weitgehend an der Veränderungsresistenz der Grundlangen der indischen Kultur, zu denen gerade auch die besonders ausgeprägte Vermischung von Tatsachen, Mythen, Vorstellungen und Illusionen gehört. Die indische Realität ist bei allem Fortschritt, der seit der Unabhängigkeit des Landes und insbesondere in den letzten Jahrzehnten eingetreten ist, in vieler Hinsicht noch ähnlich weit von einem aufgeklärten Gesellschaftsverständnis entfernt, wie Adams Bridge von Rama Setu oder die Versprechungen über die Menge der Pommes frites am Tempel von Rameswaram von den gastronomischen Tatsachen .

 

 

 

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