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1904 Alexander Glasunow (1865-1936) – Violinkonzert a-moll

In seinen Memoiren, die Anfang der 70-er Jahre des letzten Jahrhunderts entstanden, schrieb Schostakowitsch über seinen von ihm hochverehrten Lehrer Glasunow, die (russische) Generation dieser Zeit wisse fast nichts von ihm. Für die jungen Leute sei er so etwas wie ein altslawischer Schrank unter anderen Großstadtmöbeln. Nicht viel anderes gilt bei uns noch heute. Selbst Musikkenner haben einige Schwierigkeiten, Kompositionen Glasunows zu benennen. Seine neun Symphonien, die umfangreiche Kammermusik und die zahlreichen Chorwerke sowie die vielen sonstigen Orchesterwerke sind in der Öffentlichkeit wenig präsent. Eine Ausnahme macht nur sein Violinkonzert.

 

Zu Lebzeiten hingegen war Glasunow eine Berühmtheit. Seine Komponistenkarriere begann mit einem Paukenschlag. Die erste Symphonie vollendete er im Alter von 16 Jahren. Das Werk war so reif, dassGlasunow noch im Alter meinte, es gäbe daran keine Note zu ändern. Der reiche, kunstsinnige Holzhändler Belaieff war davon so begeistert, dass er es auf eigene Kosten drucken ließ, was der Beginn des gleichnamigen bedeutenden Musikverlages in Leipzig werden sollte (dazu mehr). Franz Liszt, der das Werk 1884 in Weimar zur Aufführung brachte, sagte über den jungen Mann: „Von diesem Komponisten wird die ganze Welt sprechen“. Noch im zarten Gymnasiastenalter wurde Glasunow als „geistiger Ersatz“ für niemand geringeren als Modest Mussorgski, der sich zu Tode getrunken hatte, in den Kreis des „mächtigen Häufleins“ aufgenommen, der einflußreichen nationalrussischen Musikerverbindung unter der Leitung von Balakirew, zu der unter anderem Rimski-Korsakow und Borodin gehörten.

 

Eine förmliche Musikausbildung hat Glasunow nie erhalten. Ihm reichte die sonntägliche Stunde Privatunterricht, die er bei Rimski-Korsakow erhielt. Dieser sagte von seinem Schüler: „Er brauchte bei mir nicht viel studieren. Er entwickelte sich musikalisch nicht Tag für Tag, sondern Stunde für Stunde“. Borodin bezeichnete Glasunow unter Anspielung auf diese Unterrichtsstunden als „Sonntagskind“. In das Konservatorium trat Glasunow im Alter von 34 Jahren ein, dann aber gleich als Professor für Theorie und Instrumentationskunde. Später war er über zwei Jahrzehnte der Leiter des St. Petersburger Institutes, das so viele große Musiker hervorbrachte.

 

Schostakowitsch, der ihn dort erlebte, berichtet, Glasunows Ansehen sei so groß gewesen, dass eine Anwesenheit bei einem Konzert für einen Debütanten so etwas wie eine Erfolgsgarantie gewesen sei. Er sei daher er von jungen Musikern mit Einladungen geradezu überschüttet worden. Wie Mussorkski habe Glasunow allerdings gerne getrunken. In der schwierigen Anfangszeit der Sowjetunion, als Alkoholika kaum zu erlangen waren, habe er für Glasunow immer wieder dringende Bittbriefe zu seinem, Schostakowitschs, Vater bringen müssen, der sich damals mit Schwarzhandel von Alkohol „über Wasser“ gehalten habe. Da der illegale Handel mit Alkohol aber die Todesstrafe nach sich ziehen konnte, habe ihm dies einige Sorgen um seinen Vater bereitet.

 

Glasunow gilt als ein Komponist von großer Formvollendetheit, der das reife Instrumentarium der Spätromantik vollständig beherrschte. Wegen seiner noblen und gewichtigen Schreibweise hat man ihn, nachdem man ihn wegen seiner Frühbegabung zunächst den „russischenr Mozart“ nannte, später auch als den „russischen Brahms“ bezeichnet. Auch sein Violinkonzert ist ganz vom spätromantischen Geist geprägt. Insbesondere im langsamen Satz glaubt man in der Tat Brahms`sche Klänge zu hören. Formal weist das Werk, das durchkomponiert ist, aber dennoch die traditionelle Dreisätzigkeit aufrechterhält, die – wohl- einmalige – Besonderheit auf, dass der langsame zweite Satz am Anfang der Durchführung des ersten Satzes platziert ist. Der „Doppelsatz“ ist von slawisch-schwermütigem Melos geprägt. Seine chromatische Melodik erinnert an Rachmaninows zweites Klavierkonzert, das wenige Jahre zuvor entstand. Der letzte Satz hingegen, der von einem Jagdmotiv beherrscht wird, ist ein rasantes, gegen das Ende immer schneller werdendes Rondo, in dem der Solist technisch auf seine Kosten kommt. Hier geht es mitunter zu wie auf einem südrussischen Jahrmarkt. Es wird ein wahres Feuerwerk orientalischer Effekte abgebrannt. Unter anderem ist auch der Dudelsack und die Imitation einer Balalaika zu hören.Die pikanten Orchesterklangfarben dieses Satzes verdeutlichen, warum Glasunow, der selbst mehrere Instrumente spielte, den Ruf eines ausgezeichneten Orchestrierers hatte. Viele seiner großen Kollegen – etwa Rachmaninow, Skriabin und selbst sein Lehrer Rimski-Korsakow – baten ihn um Hilfe bei der Orchestrierung ihrer Werke.

 

Das Werk, das im Jahre 1904 entstand, ist eines der letzten großen Violinkonzerte der ausgehenden Epoche der Spätromantik. Gewidmet ist es dem großen Violinvirtuosen und Musikpädagogen Leopold Auer, der es am 19. Februar 1905 in St. Petersburg auch erstmalig aufführte. Es ist eine der wenigen Kompositionen Glasunows, die zum festen Bestandteil der „Weltmusik“ wurden.

1880 ff Felix Blumenfeld (1863-1931), Nicolai Sokolow (1859 – 1922), Alexander Glasunow (1865-1936), Anatoly Liadow (1855-1914) – Sarabande, Polka und Scherzo aus „Les Vendredis“

„Les Vendredis“ ist der Titel einer Sammlung von Quartettsätzen russischer Komponisten insbesondere aus den 80-er Jahren des 19. Jahrhunderts, aus der die vorliegenden drei Stücke von vier Komponisten stammen. Die Bezeichnung spielt auf die musikalischen Gesellschaften im Hause des reichen Holzhändlers Mitrofan Belaieff in St. Petersburg an, wo sich seinerzeit freitags slawophil gesinnte Musiker zum gemeinsamen Musizieren und Diskutieren ihrer neuesten Werke versammelten. Für diesen Kreis dürften die Quartettsätze auch geschrieben worden sein.

 

Der Belaieff-Kreis war einer jener Petersburger Musikzirkel des 19. Jahrhunderts, die für die Entwicklung der russischen Nationalschule der Kunstmusik eine entscheidende Bedeutung hatten. Russland war bis zum Anfang des 19. Jahrhunderts an der Entwicklung der europäischen Kunstmusik nicht beteiligt. Als Vater einer Musik im europäischen Format gilt Glinka, der von 1804 bis 1857 lebte. Er brachte zugleich die nationale Färbung in die russische Musik. Glinkas Nachfolger war Dargomyshski, um den sich in Petersburg der erste bedeutende Musikzirkel der jungrussischen Schule versammelte. Daraus hervor ging in den sechziger Jahren der Kreis um den umtriebigen Pianisten, Komponisten, Dirigenten und Impressario Balakirew, zu dem die jungen Hochbegabungen Borodin, Mussorgksi und Rimksi-Korsakow gehörten. Die Mitglieder des Balakirew-Kreises waren noch allesamt Autodidakten, die „nebenher“ meist noch einen bürgerlichen Beruf ausübten. Die Gruppe, die im Gegensatz zu den internationalistischen Moskauer „Westlern“ folkloristische und orientalische Elemente in die Musik einbrachte, wurde wegen ihres „Dilettantismus“ in ironischer Absicht mit dem Namen „Das mächtige Häuflein“ belegt, eine Bezeichnung unter der sie berühmt und tatsächlich mächtig werden sollte. In den siebziger Jahren begannen sich die „Schüler“, die heute viel bekannter sind als ihr Lehrer, vom Übervater Balakirew zu lösen. Anfang der achtziger Jahre schließlich verkehrten mit Ausnahme Balakirews, der sich isoliert hatte, alle Mitglieder des „Mächtigen Häufleins“ bei Belaieff. Nach und nach stießen auch ihre Schüler dazu, die nun meist bereits akademisch ausgebildete professionelle Musiker waren.

 

Man traf sich, wie gesagt, freitags im Hause Belaieffs. Anfangs spielte man ausschließlich Quartett, wobei der Hausherr die Bratsche spielte. Dabei wurde die Literatur systematisch und der Reihe nach durchgearbeitet. Im Laufe der Zeit wurden aus den „Freitagen“, die nie abgesagt wurden, große Abendgesellschaften, bei denen in allen möglichen Kombinationen musiziert wurde. Nach dem Pflichtprogramm setzte man sich, wie Rimski-Korsakow in seinen Memoiren berichtet, „ans Abendessen, das immer überreichlich und von ausgiebigem Pokulieren begleitet war“. Danach wurde bis drei Uhr nachts in loser Folge weitergespielt, wobei manche Musiker ihre neuesten Werke vorstellten. Dabei dürften auch die Quartettsätze aus „Les Vendredis“ gespielt worden sein. „Zuweilen“, schreibt Rimski-Korsakow, erschien während der Musik nach dem Abendessen eine Flasche Champagner nach der anderen auf dem Tisch: um eine neue Komposition zu ’begießen’“. Die ganz Hartgesottenen gingen anschließend nicht nach Hause, sondern setzten die „während des Abendessens begonnene Zecherei in irgendeinem Restaurant weiter fort“.

 

Die Freitagabende waren das Herzstück eines in sich geschlossenen Systems der Musikpflege und -förderung, das in exemplarischer Weise verdeutlicht, wie sich Musik (und Kunst im allgemeinen) entwickeln kann. Das organisatorische Zentrum dieses „Musicotops“ war der Unternehmer Belaieff. Zur Durchsetzung seines Zieles, Russland unter Wahrung seiner nationalen Eigenheiten möglichst schnell auf das Niveau der europäischen Kunstmusik zu bringen, gründete er im Jahre 1885 unter seinem Namen in Leipzig zunächst einmal einen – noch heute bestehenden – Verlag, in dem russische Komponisten ihre Werke veröffentlichen konnten. Damit die Werke auch gespielt wurden, rief er des weiteren in Petersburg zwei öffentliche Konzertreihen ins Leben, die „Russischen Symphoniekonzerte“ und die „Russischen Quartettabende“. Außerdem gründete er – anonym – eine ebenfalls noch heute existierende – Stiftung, die einen „Glinka-Preis“ an russische Komponisten verlieh. Nach seinem Tode schließlich vermachte Belaieff sein ganzes umfangreiches Vermögen der Stiftung mit dem Auftrag, das Förderungssystem als Ganzes fortzuführen. Tatsächlich ist es nicht zuletzt diesem System zu verdanken, daß es Russland in wenigen Jahrzehnten gelang, an die Musikentwicklung Europas anzuschließen und im 20. Jahrhundert zeitweilig sogar eine Führungsrolle zu übernehmen (Schostakowitsch etwa war ein Schüler Glasunows, Prokofieff studierte bei Liadow und Rimski-Korsakow; letzterer war auch der Lehrer von Strawinski). Größte Bedeutung für die Wahrnehmung der russischen Musik in Russland und in der Welt aber auch für die Schaffensmotivation der zeitgenössischen Komponisten sollte insbesondere der Verlag gewinnen. Viele russische Komponisten wären ohne die Spuren, die sie auf Grund der dort erschienenen Drucke in Musikarchiven und Bibliotheken hinterlassen haben, heute sicherlich vergessen. Auch der Glinka-Preis errang hohes Ansehen. Fast alle Komponisten aus der damaligen russischen Musikszene, die ihn erhielten, haben noch heute Rang und Namen, was nicht zuletzt das hochentwickelte Qualitätsgespür derer zeigt, die für die Verleihung des Preises verantwortlich waren.

 

Eine Bedingung für die Effektivität dieser Musikförderung war sicherlich die enge Vernetzung der Petersburger Musikszene um Belaieff, die sich sehr gut am Beispiel der drei genannten Quartettsätze aus der Sammlung „Les Vendredis“ zeigen lässt (die – natürlich – im Belaieff- Verlag erschien). Bezeichnend ist bereits, daß es sich bei der „Polka“ um ein Gemeinschaftswerk handelt, was typisch für den Belaieff-Kreis ist. Sokolow, Glasunow und Liadow haben jeweils einen „Vers“ dieser dreiteiligen Komposition verfasst. Die „Drei Männer Polka“ lässt besonders schön die Stimmung erkennen, die bei den Freitagabenden im Hause Belaieffs geherrscht haben dürfte. Sie trägt im übrigen den Titel „Les Vendredis“ und ist dem Mäzen Belaieff auch gewidmet. Mit einem der Komponisten dieser Polka, Liadow, hatte Belaieff ein besonders enges Verhältnis. Liadow, der auch das „Scherzo“ schrieb, war der Dirigent des Liebhaberorchesters, in das Belaieff im Jahre 1880 eintrat, was der erste Schritt zur Bildung des Belaieff-Kreises war. Er sollte Belaieffs Freund bis zu dessen Tod bleiben. Blumenfeld, der Komponist der Sarabande, hat das Werk Victor Ewald gewidmet, der ab 1889 als Cellist Mitglied von Belaieffs Quartett war. Er war später unter anderem Dirigent am Marientheater in Petersburg. Die genannten vier Komponisten waren im übrigen alle Schüler Rimski-Korsakows, der musikalisch die zentrale Figur des Belaieff-Kreises war. Rimski-Korsakow lehrte am Konservatorium in St. Petersburg, bei dem Glasunow, Sokolow und Liadow später selbst wieder Konservatoriumslehrer wurden. Liadow, Rimski-Korsakow und Glasunow wurden, damit schließt sich der Kreis, nach dem Tode Belaieffs im Jahre 1904 die ersten Kuratoren der Belaieff-Stiftung, deren (Glinka)Preis sie zuvor viele Male erhalten hatten.