Archiv der Kategorie: Bizet (Georges)

1856 Georges Bizet (1838 – 1875) Symphonie C-Dur

Bizet war eine ähnliche musikalische Frühbegabung wie Mozart, Mendelssohn oder Schubert. Er kam bereits mit neun Jahren mit einer Sondererlaubnis in die Klavierklasse des Pariser Konservatoriums. Von da an genoss er das Wohlwollen der eng verflochtenen Pariser Musikaristokratie. Einer seiner Lehrer war Gounod – mit ihm verband ihn eine lebenslange Freundschaft –, ein weiterer Halévy – dessen Tochter sollte er später heiraten. Berlioz und Liszt verfolgten seine rasche Entwicklung mit Aufmerksamkeit. Dem vorherrschenden französischen Interesse entsprechend wandte sich Bizet schon früh der Musikdramatik zu. Sein ganzes künstlerisches Leben war er mit Bühnenprojektenbeschäftigt. Sie wurden aber entweder nicht vollendet oder waren nur mäßig erfolgreich. Bizet ließ sich davon jedoch nie entmutigen. Man kann seine verschiedenen musikdramatischen Anläufe als Teile eines langen Prozesses der Vervollkommnung sehen, der schließlich in einem Meisterwerk der ersten Güte, der Oper  „Carmen“ enden sollte.

Insbesondere in seinen frühen Lehrjahren schrieb Bizet aber auch eine Reihe von Instrumentalwerken, die zum großen Teil nicht veröffentlicht wurden. Dazu gehört auch die Symphonie in C-Dur, die er im Alter von siebzehn Jahren komponierte. Sie ist auf dem Manuskript ausdrücklich als Nr. 1 gekennzeichnet, was darauf hindeutet, dass ihr noch weitere Werke derselben Gattung folgen sollten, was aber nicht der Fall war. Die viersätzige Symphonie lehnt sich sicher an bekannte Muster der deutschen Klassik und an die 1. Symphonie von Gounod aus dem Jahre 1855 an, von der Bizet seinerzeit eine Fassung für zwei Klaviere fertigte. Neben einer bemerkenswerten Beherrschung der kompositorischen Technik offenbart das Werk aber auch ein erstaunliches künstlerisches Selbstbewusstsein des jungen Mannes. Hervorgehoben wird allgemein die gekonnte Instrumentation. Kenner sehen in dem Stück darüber hinaus auch schon den späteren ausgereiften Komponisten angedeutet. So wird die klassische Grundhaltung immer wieder durch opernhafte Elemente durchbrochen. Im langsamen Satz, dem Schwerpunkt des Werkes, fand man „die gleichen eigentümlichen Rhythmen, die lang und schmachtend ausgesponnenen Melodien und in der Coda die Verbindung von Chromatik und Orgelpunkt, wie er sie späterhin so eigenartig zu verwenden pflegte.“ Die orientalischen Anklänge dieses hoch expressiven Satzes weisen schon auf Bizets späteren Exotismus.

Das Werk ist zu Bizets Lebzeiten wohl nie gespielt worden. Der Kompositionsschüler hat es aus Gründen, über die man nur spekulieren kann, offenbar unter Verschluss gehalten. Ja es scheint, dass nicht einmal sein Lehrer Halévy und sein Freund Gounod davon wussten. Beide haben das Werk nie erwähnt. Dass Bizet die Symphonie gegenüber Gounod verschwieg, hat man damit zu erklären versucht, dass er sich darin musikalisch sehr stark an seinen Freund angelehnt habe. Tatsächlich ist nicht nur die Grundhaltung des Werkes durch Gounods erste Symphonie geprägt. Auch die Idee, eine lang gezogenen Kantilene, wie im zweiten Satz, mit taktweise modulierenden Achtelketten zu unterlegen, scheint von Gounods ein paar Jahre zuvor entstandenem Ave Maria inspiriert, der berühmten Paraphrase über ein Präludium des Altmeisters Johann Sebastian Bach. Letzterem zollt Bizet denn auch mit einem überraschenden kleinen Fugato im barocken Stil anspielungsreich Respekt.

An die Öffentlichkeit gelangte die Symphonie ein halbes Jahrhundert nach dem Tod ihres Schöpfers, als der schottische Musikwissenschaftler Parker das Manuskript fand. Felix Weingärtner führte sie dann 1935 erstmals in Basel auf. Seitdem hat die Symphonie erhebliche Beliebtheit erlangt. Insbesondere die Tänzer fühlten sich von der klaren Rhythmik, der  übersichtlichen Gliederung und dem  leichten Tonfall aber auch vom optimistischen Schwung dieses jugendlichen Geniestreiches angezogen. Es gibt eine ganze Reihe von Choreographien auf diese Musik, darunter auch eine vom großen George Balanchine.

Weitere Texte zu Werken von Bizet und zahlreichen anderen Komponisten siehe Komponisten- und Werkeverzeichnis

1872 Georges Bizet (1838 – 1875) Arlésienne-Suiten 1 und 2

Bizet ist in allem ein Gewächs der Stadt Paris. Mit Ausnahme von zwei Reisen verbrachte er sein ganzes Leben in der französischen Metropole. Als Künstler allerdings sollte er die Stadt immer wieder verlassen. Dies war auch bei seiner Arlésienne-Musik der Fall, die ihn in die Provence führte.

Bizet zeigte früh eine besondere musikalische Begabung, weswegen ihn seine Eltern, die beide Musiker waren, schon mit dem Erreichen des Mindestalters von 10 Jahren auf das Konservatorium schickten. Dort wurde er mit führenden Figuren der Pariser Musikszene wie Berlioz, Gounod und Halevy aber auch Rossini bekannt, die ihn nach Kräften förderten. Im Alter von 19 Jahren erhielt er das begehrte staatliche Stipendium des „Prix de Rome“, welches der Grundstein für viele französische Künstlerkarrieren war. Dieses war eine der beiden Gelegenheiten, bei denen er Paris verließ.

Das Pariser Musikleben drehte sich im 19. Jh. vor allem um Bühnenmusik. Es spielte sich unter der Führung einiger rühriger Impressarios weitgehend im Dreieck der großen musiktheatralischen Institutionen Opéra, Théatre Lyrique und Opéra-Comique ab, die sich mit spektakulären Aufführungen und Neuerscheinungen gegenseitig zu überbieten versuchten. Komponisten aus ganz Europa versuchten hier Fuß zu fassen. So ist es kein Wunder, dass es auch Bizet zur der Bühne zog, auf der sich die großen Dramen der Kunstwelt vollzogen. In seinem kurzen Leben hat er denn auch nicht weniger als 12 musikalische Bühnenwerke komponiert, darunter mit der Oper „Carmen“ das erfolgreichste musiktheatralische Werk der Klassik überhaupt.

Im weiteren Sinne ein Bühnenwerk ist auch Bizets Arlésienne-Musik, die nach den Glanznummern aus „Carmen“ seine bekannteste Komposition ist. Dabei handelt es sich um Musikeinlagen zu einem Schauspiel des provencalischen Schriftstellers Alfonse Daudet. Dieser war zunächst als Erzähler in Erscheinung getreten, suchte aber ebenfalls den Erfolg auf der Bühne. Nachdem Daudet mit reinen Theaterstücken wenig Erfolg hatte, versuchte er es mit der Kombination von Musik und Schauspiel nach Art eines Vaudeville, einem „Theatergenre zur kommerziellen Unterhaltung eines subbürgerlichen Publikums“, zu dem Musikeinlagen gehörten. Unter dem Titel L`Arlésienne dramatisierte er hierfür eine beliebte, nur wenige Seiten lange melodramatische Episode aus seinem Werk „Briefe aus meiner Mühle“, die im bäuerlichen Milieu der Provence spielt.

Den Auftrag hierzu hatte er von Léon Carvalho erhalten, der seinerzeit dem Théatre de Vaudeville vorstand. Der notorische Impressario hat in seiner Karriere die ganze Dramatik des Theaterlebens erfahren – angefangen vom Bankrott des Théatre Lyrique über bedeutende Uraufführungen in der Opéra-Comique – so „Hoffmanns Erzählungen“ von Offenbach und Massenets „Manon“ -  bis hin zum verheerenden Brand dieses Theaters mit über 100 Toten einschließlich einer entsprechenden Anklage, Freispruch in zweiter Instanz und Wiedereinsetzung in seine Funktionen. Carvalho bediente mit Vorliebe das Bedürfnis der Hauptstädter nach Exotik. Da dem Publikum der Weltstadt bereits die Provence exotisch erschien, witterte er bei Daudets Stoff Bühnenwirksamkeit. Mit der Musik zu dem Schauspiel beauftragte er Bizet, den er als ausgewiesenen Exotiker kannte. Dieser hatte für ihn und das Théatre Lyrique schon seine in fremdländischem Ambiente angesiedelten Opern „Die Perlenfischer“ (Ceylon), „La jolie fille de Perth“ (Schottland) und „Ivan IV“ (Altrussland) komponiert (letztere kam übrigens nie auf den Spielplan, sondern wurde erst während der deutschen Besatzung von Paris im zweiten Weltkrieg von einem Schwaben, dem Studienrat Dr. Hartmann aus Horb am Neckar wieder entdeckt; er führte sie 1946 auszugsweise an einem so „exotischen“ Ort wie Schloss Mühren bei Horb mit Klavierbegleitung auf).

Bizet war für Carvalho nicht zuletzt deswegen der geeignete Mann für die provencalische Thematik, weil dieser ihm begeistert von seinen Erlebnissen in Südfrankreich berichtet hatte, das er auf dem Weg zum Antritt seines Romstipendiums bereist hatte. Schon damals hatte Bizet an seine Eltern geschrieben:  „Es ist malerisch, imposant, und ein Künstler muss einfach davon profitieren.“ Die Wirkung war fünfzehn Jahre später noch nicht verflogen. Bizet ging mit großer Ernsthaftigkeit an die eher periphere Aufgabe und schrieb für die drei Akte des Schauspiels insgesamt 27 kurze höchst charakteristische Stücke. Dabei verwendete er auch provencalische Melodien. Neben dem mehrfach variierten markanten Thema aus dem Vorspiel, das so etwas wie das Markenzeichen der Arlésienne-Musik wurde, ist dies in der „Farandole“ und in „Er dou Guet“ der Fall.

„L´Arlésienne“ ist ähnlich wie Carmen ein Eifersuchtsdrama. In beiden Fällen ist die weibliche Hauptfigur eine femme fatale, die einen einfachen und rechtschaffenen Mann in die Verzweiflung und zur Zerstörung seines Lebens treibt. Die Frau aus der Stadt Arles tritt in dem Stück allerdings nie auf, sondern hängt nur wie ein drohend unbestimmtes Schicksal über der ländlichen Familie. Die entfesselten Gefühle und Zwiespältigkeiten des Geschehens hat Bizet in kongenialer Weise in Musik gefasst.

Eine Besonderheit der Komposition, die ursprünglich für ein Ensemble von nur 26 Instrumenten, darunter 5 Celli und nur eine Bratsche geschrieben war, ist die Verwendung des Saxophons. Das Instrument, das der belgische  Instrumentenbauer Sax rund vier Jahrzehnte zuvor erfunden hatte, war bis dato nur in der Militärmusik etabliert. Im Schauspiel dient es zur Charakterisierung der Figur des „Innocent“, des geistig zurückgebliebenen, zugleich aber merkwürdig hellsichtigen Bruders der männlichen Hauptperson, der, wiewohl in einer Nebenrolle, die heimliche Schlüsselfigur der  psychologisierenden Handlung ist.

Anders als von Daudet erhofft, war dem Schauspiel, das am 1. Oktober 1872 erstmals über die Bühne des Théatre de Vaudeville ging, kein Erfolg beschieden. Es verschwand nach nur elf Aufführungen in der Theaterversenkung mit der Folge, dass Daudet nie wieder etwas für die Bühne schrieb. Nicht in Vergessenheit geriet aber Bizets Musik, der eigentlich nur eine Nebenrolle zugedacht war. Schon vier Wochen nach der Uraufführung führte Jules Pasdeloup,  ein anderer der großen Pariser Impressarios und bedeutender germanophiler Dirigent, im Circe d`Hiver mit großem Erfolg die erste Arlésienne-Suite auf, die der Komponist selbst zusammengestellt und für großes Orchester neu instrumentiert hatte. Nicht einmal 3 Jahre später sollte Pasdeloup Teile daraus bei der Beerdigung Bizets spielen, der im Alter von 36 Jahren starb, nachdem er auf eine letzte imaginierte Reise nach Südspanien gegangen war, die ihm posthum Weltruhm einbringen sollte.

Die zweite Arlésienne-Suite fertigte später Ernest Giraud, Bizets Studienfreund, gemeinsamer Rompreisträger und Kollege in Sachen Bühnenmusik. Neben weiteren Teilen der Schauspielmusik verwendete er auch Material aus „La jolie fille de Perth“.

Weitere Texte zu Werken Bizets und rd. 70 weiterer Komponisten siehe Komponisten- und Werkeverzeichnis

1875 ff Georges Bizet (1838-1875) – Carmen-Suiten Nr.1 und 2

Im Jahre 1888 verfasste Friedrich Nietzsche nach dem zwanzigsten Besuch von Bizets Oper „Carmen“ in Turin einen „Brief“, in dem er einen fulminanten Generalangriff auf seinen früheren Abgott Richard Wagner und den Wagnerismus startete. In der brillianten Schrift, die unter dem Titel „Der Fall Wagner“ veröffentlicht wurde, lobt er „ridendo dicere severum“ (Lachend das Ernste sagend) den vermeintlichen französischen Kleinmeister Bizet „auf Kosten“ des selbsternannten deutschen Großmeisters Wagner. Wagners Musikdrama des „feuchten Nordens“, dessen Helden die Erlösung durch (Senta)sentimentale höhere Jungfrauen suchten, die in heiligen Hallen wandeln, stellt Nietzsche Bizets trocken-mediterranes „Meisterstück“ um die männerverzehrende „femme fatale“ Carmen gegenüber, die in einer andalusischen Zigarettenfabrik arbeitet. Für Nietzsche ist Wagner der „décadant“, der die Musik falsch und krank gemacht habe und den Geist vernebele. Bizet Musik dagegen, die den Geist frei mache, erscheint ihm vollkommen. „Sie kommt“, schreibt er, „leicht, biegsam und mit Höflichkeit daher. Sie ist liebenswürdig, sie schwitzt nicht.“ Im Gegensatz zum Polypen der Musik, der unendlichen Melodie Wagners, baue und organisiere sie; sie werde fertig.

 

Als sich Nietzsche derart enthusiastisch über die Carmen-Musik äußerte, war ihr Schöpfer schon lange tot. Das Lob hätte Bizet ohne Zweifel lieber dreizehn Jahre früher gehört, nämlich im Jahre 1875 als sein Meisterstück in Paris erstmals zur Aufführung kam. Seinerzeit gab es für ihn aber nichts als Enttäuschungen. Während Wagner in Bayreuth der Fertigstellung eines eigenen  Opernhauses entgegensah, hatte Bizet schon Schwierigkeiten, ein fertiges Haus zu finden, daß seine Oper aufführen wollte. Der Direktor der Opéra Comique in Paris, wo die Uraufführung des hochdramatischen Werkes unpassenderweise stattfinden sollte, fand seinen Inhalt, der auf einer Erzählung von Prosper Mérimée beruht, skandalös und verzögerte die Produktion. Nachdem sich dieses Problem durch den Abgang des Operndirektors gelöst hatte, gab es Komplikationen beim Einstudieren des Werkes. Das Orchester beschwerte sich über die technischen Schwierigkeiten der Partitur, der Chor darüber, daß er nicht nur zu singen, sondern auch zu agieren hatte. Die Uraufführung am 3. März 1875 wurde vom Publikum kalt aufgenommen. Die Kritik bemängelte neben dem „unsittlichen“ Libretto einen Mangel an Melodik; die Singstimmen seien dem Durcheinander und Lärm des Orchesters völlig ausgeliefert. Man warf Bizet ausgerechnet Wagnerismus vor, was in Frankreich seinerzeit rufschädigend war. Wagner galt als der musikalische Repräsentant des deutschen Kaiserreiches, welches sich wenige Jahre zuvor „auf Kosten“ Frankreichs gebildet hatte. Bizet, der schon mit seinen vorangegangenen musikdramatischen Versuchen keinen Erfolg erzielen konnte, hat den erneuten Tiefschlag nicht verkraftet. Geschwächt durch den Stress der Vorbereitungsarbeiten und mutlos durch die enttäuschende Aufnahme starb er drei Monate nach der Uraufführung im Alter von 36 Jahren an einer seit langem schwelenden Halskrankheit.

 

Bizets „Carmen“ ist mittlerweile die meistgespielte Oper überhaupt. Ihr Aufstieg begann schon einige Zeit bevor Nietzsche Wagner leicht maliziös an Bizet maß. Noch im Jahre 1875 wurde sie mit großem Erfolg in Wien gespielt. Von dort begann ihr einzigartiger Siegeszug durch die Welt. Da ihre Musik, nach Nietzsches Feststellung, „baut, organisiert und fertig wird“, hat man aus ihr später leicht zwei Suiten fertigten können, welche die mittlerweile allbekannten Themen enthalten. Bei Wagners unendlicher Melodie dürfte dies – Antiwagnerianer mögen sich bestätigt fühlen – nicht so ohne weiteres möglich sein.