Archiv der Kategorie: Kulturgeschichte

Der Prophet Daniel als Promotor der Rechtsgeschichte

Die Art wie der alttestamentarische Prophet Daniel zwei Männer der Lüge überführte, welche eine Frau des Ehebruchs bezichtigten, gilt als ein Meilenstein der Rechtsgeschichte. Das Opfer der falschen Anschuldigung war Susanna, eine junge Frau, die – insbesondere ausgezogen – offenbar besonders anziehend war. Wie die Bibel erzählt, waren die Gedanken zweier Richter, die sich wegen fortgeschrittenen Alters nur mehr wenig Hoffnung auf näheren Umgang mit einer frischen jungen Frau machen konnten, angesichts der schönen Susanna auf Abwege geraten und ihre Augen waren in die Irre gegangen. Sie lauerten der jungen Frau daher im Bad in der Absicht auf, an ihr das Feuer unbefriedigter Lust zu löschen, welches in ihnen trotz oder vielleicht auch gerade wegen ihres Alters heftig loderte. Als sich Susanna weigerte, ihnen zu Willen zu sein, versuchten die beiden sie mit der Drohung gefügig zu machen, sie andernfalls des Ehebruchs zu bezichtigen. Die ehrsame Susanne ließ sich davon aber nicht beeindrucken, worauf die frustrierten Alten ihre Drohung wahr machten und öffentlich behaupteten, sie hätten die junge Frau in ihrem Garten zufällig beim Ehebruch beobachtet. Auf Grund der Aussagen der hoch angesehenen Männer wurde Susanna von der Gemeinde zum Tode verurteilt. Als man sie zur Hinrichtungsstätte brachte, erfuhr der junge Daniel, der in der Öffentlichkeit bis dahin noch nicht weiter aufgefallen war, auf Grund göttlicher Intervention von dem Unrecht. Er meldete sich sofort vehement zur Wort und bemängelte, dass man die Beweise nicht richtig erhoben habe. Man hätte, so trug er vor, die beiden Alten zur Überprüfung ihrer Glaubwürdigkeit getrennt vernehmen müssen, um festzustellen, ob sie übereinstimmende Angaben machen. Daraufhin ernannte man Daniel ohne weitere Umstände zum Vorsitzenden einer Art Berufungsgericht. Der junge Mann verhörte die beiden Alten nun getrennt und fragte sie listig, unter welchem Baum sie Susanna denn beim verbotenen Liebesspiel gesehen hätten. Dabei sagte der Eine, der inkriminierte Akt habe sich unter einer Linde zugetragen. Der Andere verlegte ihn hingegen unter eine Eiche. Auf Grund dieses Widerspruchs kam die Gemeinde jetzt zu der Überzeugung, dass die beiden Alten gelogen und Susanna zu Unrecht beschuldigt hätten. Nach dem Auge um Auge Prinzip wurden nun sie selbst zum Tode verurteilt und das Urteil wurde alsbald vollstreckt.

Dokumentiert nun all dies einen Fortschritt des Rechtwesens? Nun, sollte das Gemeindegericht auf Grund der Intervention des Daniel tatsächlich zum ersten Mal in der jüdischen Rechtsgeschichte Zeugen getrennt vernommen haben, so wäre dies wahrlich ein prozessualer Fortschritt von einigem Gewicht gewesen. Allerdings ist schwer vorstellbar, dass man diesen Grundsatz vor Daniels Auftritt nicht gekannt haben soll, zumal man zu dessen Erkenntnis weniger einer göttlichen Intervention, sondern eigentlich nur des gesunden Menschenverstandes bedarf. Da man in diesem Verfahren aber auch sonst Einiges von dem vermisst, was man heute in einem Strafprozess für selbstverständlich hält, erscheint es allerdings auch nicht ausgeschlossen, dass dieser Grundsatz damals noch nicht bekannt war.

Diese allgemeinen Probleme fangen schon damit an, dass eine zweite Instanz offenbar gar nicht vorgesehen war. Susanna kam ja gewissermaßen nur zufällig in den Genuss einer Überprüfung des erstinstanzlichen Urteils und damit ihres weiteren Lebens. Weiter ist Daniel zum Vorsitz in der Berufungsinstanz gekommen, weil er das Urteil der ersten Instanz für falsch hielt und es aufgehoben haben wollte.  Abgesehen davon, dass dies gegen den Grundsatz verstößt, dass der Richter nicht in Hinblick auf ein bestimmtes Verfahren und seiner Vorlieben  ausgewählt werden darf, nahm er damit in dem Prozess neben dem Vorsitz des Gerichtes zugleich die Rolle des dem Vorsitz des Gerichtes nahm er in dem Verfahren damit zugleich die Rolle des Anklägers der beiden Alten und des Verteidigers von Susanna ein, womit er sich in einer nicht unerheblichen Erkenntniskollision befand. Folgt man der Schilderung der Bibel hielt er denn mit seinem vorgefassten Urteil auch nicht nur vor dem Verfahren, sondern auch in diesem selbst nicht hinter dem Berg. Danach sagte er dem einem Zeugen ganz ohne das Bedürfnis, wenigstens den Anschein der Unbefangenheit zu wahren, noch vor dem Beginn der Vernehmung zur Sache erst einmal ins Gesicht, er sei in Schlechtigkeit alt geworden und immer ein ungerechter Richter gewesen, weswegen er jetzt die Strafe für die Sünden bekomme, die er bisher begangen habe (ein Zusammenhang dieser Vorwürfe mit dem rechtshängigen Sachverhalt ist nicht erkennbar). Dem anderem hielt er nicht weniger befangen einleitend vor, er habe sich an zahlreichen Töchtern Israels vergangen, nur Susanna, eine Tochter Judas, habe seine Gemeinheit nicht geduldet (was diese Unterscheidung soll, bleibt ebenfalls im Unklaren). Nachdem der Zeuge seine Aussage betreffend die Art des Baumes gemacht hatte, folgte sofort ihre Würdigung als Lüge und die Drohung, dass der Engel des Herrn schon mit dem Schwert bereit stehe, um ihn in Stücke zu hauen. Anders als Susanna hatten die beiden Übeltäter mangels göttlicher Intervention auch nicht die Möglichkeit, das Urteil gegen sie überprüfen zu lassen, gar nicht zu reden von der Problematik des Auge um Auge Prinzips, der Todesstrafe und des sofortigen Vollzuges derselben, die sich ja gerade im Falle der Susanna besonders deutlich gezeigt hatte.

Aber gerade auch in der Frage, bei der Daniel Rechtsgeschichte schrieb, ist einiges zu bemerken. Unklar ist nämlich, ob Daniel bei der Bewertung des Widerspruchs in den Aussagen der beiden Zeugen zwischen Kerntatsachen und Randtatsachen unterschieden hat. Der bloße Umstand, dass die beiden unterschiedliche Angaben hinsichtlich der Art des Baumes machten, unter dem die behauptete Szene stattgefunden haben soll, ist nicht ohne weiteres ein Indiz dafür, dass ihre Aussagen auch im Hauptpunkt falsch waren. Anders wäre dies etwa dann, wenn die Art des Baumes eine wichtige Rolle gespielt hätte, zum Bespiel weil damit auch der Ort der Handlung bestimmt worden wäre, was etwa dann der Fall gewesen wäre, wenn die beiden Bäume in dem Garten an ganz verschiedenen Stellen gestanden hätten. Ein Widerspruch bei der Schilderung des Tatortes ist natürlich wesentlich gewichtiger als ein Widerspruch betreffend eine botanische Bestimmung, auf die es nicht weiter ankommt. Zu dieser wesentlichen Differenzierung sagt der Verfasser des Buches Daniel nichts. Damit aber trägt er eher zur Verhinderung als zur Förderung des Fortschrittes im Rechtsdenken bei.

Die Geschichte von Susanna im Bade markiert daher eher keinen Meilenstein der Rechtsgeschichte. Am ehesten könnte man sie noch als solchen verstehen, wenn man sie im allgemeinen Zusammenhang der frühzivilisatorischen Bemühungen sieht, soziale Fragestellungen durch Einbettung in einen religiösen Kontext zu verdeutlichen und ihren normativen Lösungen dadurch zugleich eine erhöhte Legitimation zu verschaffen. Letztlich ist die Geschichte der Susanna doch wohl besser für Maler geeignet, die denn mit diesem Stoff auch gerne ihrer Neigung nachgingen, sich mit erotischen Sujets zu befassen. Angesichts christlicher Leibfeindlichkeit nutzten sie die Badeszene ausgiebig, um gewissermaßen im Schutze der Bibel die Reize der unbedeckten Frau darstellen zu können, und, wie auch schon die Bibel, Spannung aus der Gegenüberstellung von junger Weiblichkeit und Altersfrustration zu ziehen.

 

Gewicht des Wortes – am Beispiel der Zimmerischen Chronik u.A.

Eigentlich sind Worte nur Worte. Dennoch neigt der Mensch dazu, das Wort außerordentlich wichtig zu nehmen und ihm eine Stellung einzuräumen, in der es mit den Tatsachen konkurrieren kann. Einige der Dinge, die ihm besonders wichtig sind, bestehen sogar aus nichts anderem als Worten, allen voran die Religionen. Wortgebilde haben unter Umständen nicht nur eine hohe Wirkungsmacht, sondern können bei hoher Wandlungsfähigkeit auch außerordentlich langlebig sein, man denke an Weltbilder, Geschichtsauffassungen, Mythen, literarische Werke, Verträge oder Gesetze. Dies mag der Grund dafür sein, dass dem Wort mitunter auch in der Seinsordnung ein außerordentlich hoher Rang zugeteilt wird. Manche Denker sind so weit gegangen, das Wort nicht, wie nahe liegend, als ein Produkt zu sehen, welches auf der höchsten Stufe des Seins entstanden ist. Sie stellen es vielmehr an den Anfang desselben, so dass das Wort geradezu als der Grund des Seins erscheint (Am Anfang war das Wort).

Über die Gründe, warum der Mensch das Wort so wichtig nimmt, kann man nur spekulieren. Wahrscheinlich hat es damit zu tun, dass  das, was ihn von allen anderen Lebewesen unterscheidet, eben die hohe Ausbildung des Wortes und der extensive Umgang damit sind. Die Annahme liegt daher nicht fern, dass in der Wertschätzung des Wortes das Bewusstsein von seiner eigenen Wichtigkeit zum Ausdruck kommt. Dies gilt umso mehr, als der Mensch bis vor Kurzen noch geglaubt hat, dass er allein über Worte verfüge, weswegen er sich für ein Wesen von singulärer Qualität gehalten hat. Eine nicht unwichtige Rolle spielt wohl auch der Umstand, dass der Mensch mit Hilfe des Wortes die Möglichkeit sieht, unangenehme Tatsachen zu umgehen  – besonders deutlich bei den variantenreichen Versuchen, die Tatsache des Todes zu mildern oder gänzlich wegzuformulieren, etwa mit Unsterblichkeits- und Wiederauferstehungs-theorien.  Vielleicht räumt der Mensch dem Wort gegenüber den Tatsachen auch deswegen eine so hohe Stellung ein, weil er sich mehr oder weniger deutlich des Umstandes bewusst ist, dass ihm die Tatsachen auch nur durch Vermittlung jenes Organs zugänglich sind, das auch die Worte erzeugt. Dadurch erscheint der Wirklichkeitsvorsprung der Tatsachen reduziert und das Gewicht des Wortes erhöht. Sicher hat die hohe Wertschätzung des Wortes aber  auch damit zu tun, dass der Mensch das Gefühl hat, das so einmalige, letztlich aber doch weiche Wort gegenüber den harten Tatsachen besonders schützen zu müssen. Daher ist er zum Schutz des Wortes unter Umständen auch bereit, das Leben anderer anzutasten und  sogar sein eigenes Leben zu opfern.

Schon das gesprochene Wort ist dem Menschen unter gewissen Umständen sehr wichtig. Richtig Gewicht kann es aber erhalten, wenn es niedergeschrieben ist. Besonders in diesem Aggregatzustand kann es den Tatsachen den Rang ablaufen. Das wussten nicht zuletzt diejenigen, welche Buchreligionen gründeten und ausformulierten einschließlich der großen Schar von Interpreten, welche sich mit der Auslegung der für heilig erklärten Bücher befassen. Unter Berufung auf den festen Aggregatzustand postulieren sie mitunter den absoluten Vorrang des Wortes gegenüber den Tatsachen. In einer Art verbaler Kettenreaktion beansprucht dabei auch das gesprochene Wort wieder ein besonderes Gewicht, indem es sich auf das geschriebene und damit geheiligte Wort beruft. In manchen Kulturen, etwa bei den Mayas, hat das geschriebene Wort fast nur die Funktion, den absoluten Geltungsanspruch des Wortes zu untermauern. Hier dient die Schrift nicht, wie in den eurasischen Schriftkulturen, in erster Linie der Kommunikation und der Dokumentation, sondern hat im Wesentlichen magische Funktionen, nämlich als Geheim- und Legitimationscode der herrschenden Priesterschaft.

Die besondere Wirkungsmacht des geschriebenen Wortes kannten nicht zuletzt die Verfasser und Auftraggeber von Geschichtswerken, vor allem von Annalen, Genealogien und Chroniken. Insbesondere letztere dienten meist dazu, Ansprüche von Ständen oder Familien auf gesellschaftliche Führungspositionen dadurch zu begründen oder zu stärken, dass man dieselben weit in der Vergangenheit und zwar möglichst in einer als heroisch geschilderten Frühzeit befestigte. Nicht zuletzt große Herrscher verfielen dieser Versuchung – man denke an Augustus, der Vergil damit beauftragte, Rom und das julische Kaiserhaus tief in der Welt der homerischen Epen, den wichtigsten Wortwerken der Antike, zu verankern. Durch den Rückbezug der römischen Geschichte und des Kaiserhauses auf Troja, dessen Schutzgöttin Venus war, erhielten Rom und Augustus nicht nur einen uralten göttlichen, dazu noch erotischen Ursprung. Sie konnten so auch noch  eigenes Gewicht gegenüber den Griechen als der hergebrachten Führungsmacht über das Wort behaupten, nachdem sie diese in Revision der homerischen Niederlage schließlich politisch unterworfen hatten.

Auch kleinere Herrscherhäuser versuchten, sich die Suggestionskraft des geschriebenen Wortes zu Nutze zu machen. Rund eineinhalb Jahrtausend nach Beginn des römischen Kaisertums bemühte sich in einem politischen Krähwinkel Südwestdeutschlands ein soeben aufgestiegenes Grafengeschlecht, seine Genealogie tief in der Geschichte zu verankern, wobei man sich –  gewichtige alte Mythen weiterspinnend – auf Rom und das Kaisertum bezog. In der Zimmerischen Chronik aus der ersten Hälfte des 16. Jh. wird die Geschichte des Geschlechtes der Grafen von Zimmern, die im oberen Donautal herrschten, unter Vertrauen auf die Überzeugungskraft des bloßen Wortklanges ihres Namens bis zu den Cimbern zurück geschrieben. Damit bezog man sich auf den germanischen Volksstamm, welcher in einer ersten Welle der Völkerwanderung gemeinsam mit den Teutonen damit begann, den universalen Herrschaftsanspruch Roms, der sich später  im Kaisertum kristallisierte, von Norden aus in Frage zu stellen, was eine Entwicklung von epochaler Bedeutung einleitete. Allerdings bestand für den Verfasser der Chronik die Schwierigkeit, dass die Cimbern um 100 v. Chr. von den Römern unter Marius vernichtend geschlagen und ihre Geschichte damit eigentlich beendet war. Dennoch will die Zimmerische Chronik wissen, dass sich hochrangige Nachfahren der  Cimbern noch fast tausend Jahre unterscheidbar in Rom gehalten haben. Von dort soll sie schließlich niemand geringeres als Karl der Große, der den „teutonischen“ Anspruch auf den römischen Kaiserthron erstmals vollständig durchsetzte, in den Schwarzwald umgesiedelt haben, wo die Cimbern schließlich im Geschlecht der von Zimmern noch einmal auskristallisierten. Mit dieser Geschichte, die tief in große Zeiten und Ereignisse von epochaler Bedeutung  reichte, versuchte sich ein kleines schwäbisches Adelsgeschlecht eine bedeutsame Herkunft zu verschaffen, natürlich um damit den Anspruch auf eine ebenso große Zukunft zu begründen.

Die Dauer der Verhältnisse, welche auf Worte gebaut sind, ist sehr unterschiedlich. Der Mythos Roms und des Kaisertums etwa hatte rund zweitausend Jahre Bestand und lebt in Form der lateinischen Kirche in gewisser Weise bis heute weiter. Der Verewigungsversuch der Grafen von Zimmern war weniger erfolgreich. Mangels entsprechenden Nachwuchses ist das Geschlecht schon eine Generation nach Erstellen der Chronik ausgestorben. In letzter Konsequenz können Worte eben doch nur begrenzt mit den Tatsachen konkurrieren.

Ein- und Ausfälle – Islam und Reform

Es liegt in der Natur von Religionen, die sich auf einen absoluten Gott berufen, dass sie mit Menschen, die in religiösen Dingen anders denken, ein Problem haben. Denn wenn Gott absolut ist, dann kann der Gott des Anderen nicht ebenbürtig sein. Dem entsprechend haben sich Christentum und Islam, die beide einen einzigen und absoluten Gott postulieren, insoweit sehr ähnlich verhalten und vergleichbare Fehler gemacht. Der Unterschied zwischen beiden ist, dass das Christentum ab einem bestimmten Zeitpunkt, jedenfalls im Westen, ein Umfeld hatte, in dem sich Wissenschaft etablierte, m.a.W., in dem die Frage nach dem „Warum“ und somit der Zweifel kultiviert wurde. Damit einher ging mit einer gewissen Notwendigkeit, wenn auch nach heftiger Gegenwehr, eine Relativierung der Ansprüche des Christentums, was zu seiner Reformierbarkeit führte. Das Problem des Islam ist, dass sein Umfeld keine wirkliche Wissenschaft und damit auch keine ausgeprägte Kultur des Zweifels kennt mit der Folge, dass auch der Gedanke an Reformen nicht sonderlich nahe liegt. Die Vorstellung von der grundsätzlichen Gestaltbarkeit der gesellschaftlichen Verhältnisse, die eine Relativierung des Status quo voraussetzt,  ist typisch europäisch und kann nicht ohne weiteres auf andere Kulturen übertragen werden. Daher werden wir auf eine Reform des Islam wohl noch einige Zeit warten müssen.  

 

Robert Schumanns Stuttgarter Abenteuer

Ein Kampf um Clara

Schumann und Schilling und der Musikzeitschriftenkrieg zwischen Stuttgart und Leipzig

Ein musikhistorisch-wirtschaftskriminelles Liebesdrama in zwei Akten samt Prolog und Epilog

Aus Briefen und Schriften der Beteiligten zusammengestellt und erläutert von

Klaus Heitmann

 Dramatis personae:      Erzähler

                                               Robert Schumann

                                              Clara Wieck, spätere Clara Schumann

                                              Gustav Schilling, Stuttgarter Musikschriftsteller

Ort der Handlung:        Stuttgart

Zeit:                                    1839-42

 Um Originalzitate wesentlich erweiterte Fassung des Essays “Ein Kampf um Clara” (vgl. V,8)

 

PROLOG

Erzähler

Nach Stuttgart ginge ich gern, schrieb Robert Schumann im Februar 1839 aus Wien seine Verlobte Clara Wieck. „Ich kenne die Stadt; sie ist reizend und dieMenschen viel besser und gebildeter als die Wiener“. Dieser für Stuttgart ziemlich schmeichelhafte Vergleich war Schumanns Antwort auf eine Anfrage seiner Verlobten, ob er bereit sei, nach Stuttgart zu ziehen, wo sie glaubte, für ihn eine Arbeitsstelle und damit die Grundlage für die heiß ersehnte Eheschließung gefunden zu haben Der Heirat der Verlobten standen seinerzeit gerade wirtschaftliche Probleme entgegen. Vor allem ihr Vater, Schumanns ehemaliger Lehrer und Mitbegründer der Musikzeitschrift Friedrich Wieck, versuchte die Verbindung mit allen Mitteln zu verhindern, zum Einem weil er Schumann nicht für zuverlässig hielt, zum anderen weil er nicht glaubte, dass er seiner schon berühmten Tochter einen angemessen Lebensunterhalt gewährleisten könne. Clara Wieck, deren Konterfei sinnigerweise einmal unsere 100-DM Scheine schmückte, hoffte die Probleme mit der Übersiedlung nach Stuttgart endlich lösen zu können.

 Trotz dieser günstigen Beurteilung ist Stuttgart, wie man weiß, keine Schumannstadt geworden und die außerordentlich unglücklich Verlobten mussten noch über 1 1/2 harte Jahre warten, bis sie, nach einem äußerst schmutzigen Prozess gegen Claras Vater den Ehebund schließen konnten. Das genannte Arbeitsplatzangebot aber – es stammte von dem Stuttgarter Musikschriftsteller Schilling – sollte Schumann noch eine Zeit lang mit Stuttgart verbinden. Es wurde zum Ausgangspunkt einer großartigen literarischen Polemik, die über zwei Jahre zwischen Stuttgart und Leipzig tobte und so heftig war, dass sie am Ende nicht nur in Strafprozessen mündete, sondern auch noch eine der daran beteiligten Musikzeitschriften zerstört auf der Walstatt hinterließ.

Wenn auch der eher miese Stuttgarter Gegenspieler Schumanns heute vergessen ist und kaum mehr als Fußnoten in der Schumannliteratur abgibt, so verdanken wir dieser Kontroverse doch einige bemerkenswerte briefliche Äußerungen Schumanns über sich, sein Verhältnis zu Clara Schumann und sein künstlerisches Selbstverständnis und die glänzende Satire „Die Verschwörung der Heller“, mit der er den Streit (fast) in dichterische Höhen hob.

Die Geschichte ist aus dem Stoff, aus dem Theaterstücke oder Hollywoodfilme und aus dem – auch heute noch – so mancher Skandal gemacht sind. Zwei Temperamente, wie man sie sich nicht gegensätzlicher denken kann, stehen sich gegenüber: auf der einen Seite ein sensibler, noch wenig bekannter Komponist und ziemlich brotloser Intellektueller – auf der anderen ein mit Titeln, Orden und allen sonstigen schützenden Attributen bürgerlichen Ansehens versehener skrupelloser Musikunternehmer, der sich höchster Protektion erfreuen kann. Äußerlich scheint es um große Ziele zu gehen. Der Beobachter glaubt einem Kampf auf Biegen und Brechen um die Macht auf dem seinerzeit bedeutsamen Markt der musikalischen Publizistik beizuwohnen. Der Anspruchsvollere mag sich darüber hinaus als Zeuge eines intellektuellen Streites über die großen künstlerischen Ideen der Epoche sehen, eines Ringens der progressiven, neuromantischen Musikrichtung, zu deren Exponenten Schumann gehörte, mit einer an den Klassikern, an Haydn, Mozart und Beethoven orientierten konservativen Musikauffassung, die seinerzeit in Stuttgart mit Lindpaintner, Ignaz Lachner und Molique stark vertreten war.

In Wirklichkeit geht es, den Regeln solcher Dramen entsprechend, um eine Frau. Es ist eine höchst private Rivalität, die da verdeckt und doch vor aller Öffentlichkeit ausgetragen wird, das Nachbeben einer Konkurrenz um eine begnadete, junge und dazu noch schöne Klaviervirtuosin. Am Ende siegt trotz aller Warnungen des hellsichtigen Künstlers der Bösewicht. Er kann seine Stellung so lange halten bis er genügend Geld von denen ergaunert hat, die ihn gestützt haben und setzt sich nach Amerika ab. Sein Kontrahent aber stirbt fast gleichzeitig im Wahnsinn.

Wer war dieser Stuttgarter, den Schumann schon 20 Jahre vor seinem spektakulärem Abgang aus dem schwäbischen Hauptstadt im Jahre 1858 vollkommen durchschaut hatte und der sich dort trotzdem noch so lange halten konnte? Wie war es möglich, dass er Schumann so aus der Reserve locken konnte, dass dieser von seinem Heimatgericht wegen seiner Äußerungen über Schilling sogar mit einer Strafe belegt wurde?

Eine höchst aufschlussreiche Auskunft über diesen Dr. Gustav Schilling findet sich in der Selbstdarstellung, die er im Jahre 1842 in seiner „Sammlung durchaus authentischer Lebensnachrichten über in Europa lebende ausgezeichnete Tonkünstler, Musikgelehrte, Componisten, Virtuosen, Sänger etc.“ veröffentlichte, wobei er unverfroren und in bezeichnender Unschärfe, zugleich aber auch in plumper Überdeutlichkeit anmerkt: „Nach dem Französischen von einem Mitarbeiter, nicht vom Herausgeber bearbeitet.“

Gustav Schilling

Schilling, Gustav, Hofrath und Dr. phil. in Stuttgart, auch Mitglied mehrer gelehrten und musikalischen Gesellschaften und Vereine, Inhaber mehrer Verdienstmedaillen um Kunst und Wissenschaft u. s. w., geb. zu Schwiegershausen im Königreich Hannover am 3. November 1803. ……

Der  vollständige Text befindet sich auf der Seite X

Ein- und Ausfälle – Rubens als malender Diplomat

Das waren noch Zeiten! Im Jahre 1629 fuhr Peter Paul Rubens nach Erledigung einiger  Malaufträge in Spanien im Auftrag von König Philipp IV., der ihn schätzen gelernt hatte, nach England, um mit König Karl I. über zur Beendigung des anhängigen Krieges zwischen den beiden Staaten zu verhandeln. Seine Mission „untermalte“ er dabei mit einem Bild, auf dem er mit barocker Opulenz und Farbenpracht die reichen Früchte des Friedens darstellte, während Mars und die düsteren Furien des Krieges von Athene kraftvoll zurückgedrängt werden. Im Mittelpunkt des Bildes ist Pax als spärlich bekleidete üppige Rubensschönheit. Sie drückt aus ihrem prallen Busen einen feinen Milchstrahl, der über eine beachtliche Distanz direkt im offenen Mund des kleinen Plutus landet, dem properen Gott des Wohlstandes. Diesem läuft die nahrhafte Milch vor lauter Überfluss schon aus dem Mund heraus.

 

Wie weit sich König Karl durch das Bild hat beeinflussen lassen, wissen wir nicht. Rubens Verhandlungen waren aber von Erfolg gekrönt und der Krieg wurde beendet. Was für Zeiten!

Ein- und Ausfälle – Gott und sein Erscheinungsbild

Die abrahamitischen Religionen haben mit der Entfernung der anthropomorphen Götter“bilder“, wie sie etwa die Antike kannte, eine offensichtliche gedankliche Schwäche in der Gotteskonzeption beseitigt: den Widerspruch zwischen der Gestalt Gottes (oder gar der Götter) und den Fähigkeiten und Funktionen, die ihm zugesprochen wurde. Ein Weltschöpfer etwa, der in menschlicher oder gar tierischer Gestalt daherkommt, ist nicht besonders überzeugend, da doch jedem die Begrenztheit der menschlichen (und tierischen) Möglichkeiten vor Augen steht. Allenfalls Fabelwesen, wie sie etwa die südasiatischen Religionen kennen, konnten diesen Widerspruch etwas abmildern (weswegen die Götter dort etwa zahlreiche Arme haben; dieses Phänomen findet sich auch bei indianischen Göttern). Die abrahamitischen Religionen haben die Überbrückung dieser Kluft optimiert, indem sie die absoluten Qualitäten Gottes und sein „Erscheinungsbild“ in Einklang brachten. Sie machten ihn unsichtbar, „unvorstellbar“ (und also auch nicht darstellbar), mit der Folge, dass seine Mängel nicht mehr sofort ins Auge sprangen. Daher haben sie mit einer gewissen logischen Konsequenz auf die Religionen herabgesehen, die diesen Widerspruch nicht gelöst haben. Dies dürfte auch der Grund dafür gewesen sein, dass die abrahamitischen Religionen einen so großen Erfolg bei den Intellektuellen hatten. (Allerdings hatte das Christentum zu diesem Dünkel das geringste Recht, da es insbesondere mit der Christusgestalt das anthropomorphe Element durch die Hintertür wieder eingeführt und dazu mit der Dreifaltigkeit einen logisches Durcheinander der Extraklasse schuf.). Insofern haben die abrahamitischen Religionen so etwas wie gedanklichen Fortschritt gebracht. Tatsächlich hat die Beseitigung dieses Widerspruches den wirklichen – realistischen – Logikern denn auch das Leben ziemlich schwer gemacht.

1800 Josef Haydn (1732- 1809) Te Deum für Chor und Orchester (HBV XXIII c:2)

Den erhabenen „hymnischen Lobgesang“ des Te Deums haben die Herrscher  des alten Europa, die sich von Gottes Gnaden wähnten, gerne auch im Bezug auf sich selbst gehört. Hadyns (zweite) Vertonung ist aber auf merkwürdige Weise mit den eher irdischen Niederungen des Lebens der Herrschaften verbunden, die sich ähnlich wie die römischen Kaiser den Göttern so nahe glaubten. Die Komposition war ein Auftragswerk der Kaiserin Marie Therese, der Gemahlin Franz I/II, des letzten römischen Kaisers deutscher Nation, nicht zu verwechseln mit der bekannten großen Maria Theresia, deren Neffe und zweiter Nachfolger Franz war. Marie Therese war eine lebenslustige und musikbegeisterte „Italienerin“ aus dem bourbonischen Hause Neapel-Sizilien. Sie liebte die Musik, insbesondere Haydns, und war selbst als Sängerin aktiv. Unter anderem trat sie bei einer Aufführung von Haydns Oratorium „Die Schöpfung“ als Solosopran auf. Haydn attestierte ihr ein angenehmes aber schwaches Organ.

Das Te Deum, auf das die Kaiserin, da alle möglichen Herrscherhäuser Musik von Haydn wollten, lange warten musste, wurde offenbar im Jahre 1800 anlässlich eines Besuchs des englischen Admirals Lord Nelson beim Fürsten Esterhazy, Haydns langjährigem Arbeitgeber, in Eisenstadt uraufgeführt. Die Umstände der Aufführung waren nicht ohne Pikanterie. Nelson war seinerzeit mit Königin Karolina von Neapel-Sizilien, der Mutter von Marie Therese und Tochter Maria Theresias, auf Besuch in Wien. In seinem Schlepptau befanden sich der englische Botschafter Lord Hamilton und seine berühmt-berüchtigte Frau Emma.

Die schöne und musisch begabte Lady Hamilton war die Femme fatale der Zeit. Sie kam aus kleinsten Verhältnissen und  trieb sich in ihren jungen Jahren in den Londoner Vergnügungsvierteln herum. Als Maitresse von Adeligen war sie mit den Vorlieben der englischen upper class vertraut geworden und hatte sich in diesen Kreisen einen gewissen Platz verschafft. 1786 schob sie ihr Liebhaber Lord Greville, der sie, um eine reiche Adelige heiraten zu können, loswerden wollte, zu seinem wohlhabenden Onkel Lord Hamilton, dem englischen Botschafter in Neapel, ab, den er im Gegenzug aufforderte, ihn, Greville, zu seinem Erben einzusetzen. In Neapel erregte Emma Aufsehen mit ihrer schönen Stimme und vor allem mit ihren Attituden-Auftritten, bei denen sie Statuen in verschiedenen Affekten mimte. Viele bedeutende Maler portraitierten sie. Auch Goethe, der sie 1787 in Neapel sah, ließ sich von ihr verzaubern. Im Jahre 1791 heiratete sie Lord Hamilton, der 35 Jahre älter als sie war, was in der „besseren“ Gesellschaft für allerhand Gesprächsstoff sorgte. Nach der Heirat gewährte man ihr Zutritt zum neapolitanischen Hof. Sie wurde bald die Vertraute von Königin Karolina und ging im Palast von Caserta, dessen Dimensionen den Himmel herausfordern, ein und aus. Dabei war sie an wichtigen politischen Entscheidungen im Rahmen der Napoleonischen Kriege beteiligt. Als Nelson nach dem Sieg über die französische Flotte vor Abukir 1798 nach Neapel kam, umgarnte sie den einäugigen Seehelden, der in England verheiratet war, und wurde seine Geliebte. Ihr alter Lord tolerierte dies offenbar mit stoischer Gelassenheit. Auf diese Weise wurde sie erst recht zum Gegenstand des Gesellschaftsklatsches in ganz Europa. Im Jahre 1800 tourte das „Triangel“, wie Königin Karolina die Drei nannte, durch ganz Europa. Dies  stellte die Verantwortlichen für das höfische Protokoll, die den Helden von Abukir nicht desavouieren konnten,  naturgemäß vor einige Probleme.

Auch bei ihrer Ankunft in Eisenstadt Anfang September 1800 stellte sich die Frage, wie man das seltsame Trio empfangen solle. Da Lady Hamilton die Musik liebte, entschloss man sich, neben festlichen Banketten das Beste aufzubringen, was die Esterhazys zu bieten hatten. Und das war die Musik von Josef Haydn, der inzwischen auch in England großen Ruhm erworben hatte. Man veranstaltete an den zwei Tagen des Besuches in Eisenstadt vier Konzerte. Unter anderem spielte man offenbar Haydns Schöpfung und auf speziellen Wunsch von Lady Hamilton seine Kantate „Ariadne a Naxos“, deren Titelpartie sie, inzwischen von Nelson merklich schwanger, zur Verzückung der Beteiligten selbst sang (der schwedische Botschaftssekretär glaubte, er habe noch nie „irgendwann so etwas Himmlisches je gehört“). Außerdem führte man Haydns Messe "in Angustiis" auf, die seitdem den Namen "Nelsonmesse“ trägt, und eben seinen neuen Lobeshymnus, was, da die Beziehungen zwischen den Ehrengästen weder sonderlich christlich noch lobenswert waren, einen merkwürdigen Beigeschmack gehabt haben muss. Die Herrschaften aus dem k&k-Reich leisteten damit ihren Beitrag zur Deifizierung des Mannes, der die gottlosen revolutionären Franzosen in die Schranken gewiesen und dadurch das Gottesgnadentum gerettet hatte, ein Prozess der Erhöhung, der seinen Abschluss bekanntlich auf jener gewaltigen Säule auf dem Trafalgar Square in London fand, der wie kein anderer Platz für das den ganzen Erdball umspannende englische Empire steht, welches nach der Niederringung der Franzosen erst richtig Gestalt annehmen sollte.

Welchen Eindruck Haydns festliches Chorwerk, das als eines der besten Stücke seiner Spätzeit gilt, hinterließ, ist leider nicht bekannt. Zeitzeugen berichten nur allgemein, dass sich Lady Hamilton bei dem Besuch ständig um den Meister bemüht und darüber die ersterhazy`schen Herrschaften geradezu vernachlässigt habe. Der Komponist habe ihr dafür eine Abschrift eines Liedes geschenkt und im Übrigen noch schnell ein Lobgedicht ihrer Reisebegleiterin auf Nelson vertont. Andererseits schrieb der junge Lord Malmesbury am 10. September 1800 an seinen Vater: „Lady Hamilton ist die ungebildetste, ungeschliffentste, unangenehmste Frau, der ich je begegnete. Die Fürstin (Esterhazy) hat mit großer Freundlichkeit eine Anzahl von Musikern aufgeboten und den berühmten Haydn, der in ihren Diensten steht, um aufzuspielen. Statt ihnen zuzuhören, setzte sie sich an den Pharo-Tisch, spielte Nelsons Karten und gewann zwischen 300 und 400 Gulden."

Weitere Texte zu Werken Haydns und rd. 70 weiterer Komponisten siehe Komponisten- und Werkeverzeichnis

Um 1800 Georg Druschetzky (1745 – 1819) Partita Nr. 6 Es-Dur für Bläseroktett

Georg Druschetzky war ein Musiker aus dem schier unerschöpflichen Reservoir musikalischer Talente, welche Böhmen hervorgebracht hat. „Böhmische Musikanten“ waren in ganz Europa, vor allem aber im weiten Kulturraum der k&k Monarchie als Bedienstete der großen und kleinen Adelshäuser, aber auch beim Militär, beim Staat oder den Gemeinden tätig. Da sich das Interesse der Nachwelt hauptsächlich auf die singulären Musikergestalten richtete, gerieten viele dieser Musiker im Laufe der Zeit in Vergessenheit. Als man sich in neuerer Zeit verstärkt mit den Bedingungen beschäftigte, unter denen sich die Großen bildeten, stieß man aber unweigerlich wieder auf diese „Kleinmeister“, die den Humus bildeten, aus dem die großen Gestalten wuchsen. Seitdem wird immer deutlicher, wie breit und solide das Fundament der einmaligen europäischen Musikkultur war.

Druschetzky, der zu diesem „Kleinmeistern“ gehört, war noch vor wenigen Jahrzehnten völlig vergessen. In älteren Ausgaben des lexikalischen Standardwerks von Hugo Riemann etwa wurde er nicht erwähnt. In der zweiten Hälfte des letzten Jahrhundert hat man dann aber in Archiven und alten Spezialwerken allerhand Spuren seiner Existenz gefunden und seine Biographie teilweise rekonstruieren können. Dabei sind auch viele seiner Werke wieder entdeckt worden. Es zeigte sich, dass Druschetzky ein außerordentlich rühriger Musiker war, der die Möglichkeiten, die seinem Gewerbe seinerzeit offen standen, ziemlich weit ausgeschöpft hat.

Druschetzky lernte zunächst das Oboenspiel und war fast ein Jahrzehnt Militärmusiker. Dies ist der Hintergrund seiner zahlreichen Kompositionen für Bläserensembles verschiedener Größe und Besetzung, die, wie es in einer zeitgenössischen Darstellung heißt, „bei der kaiserlichen Armee durchgängig bekannt“ waren. Nach seiner Militärzeit war Druschetzky über ein Jahrzehnt Pauker bei der Landschaft Oberösterreich in Linz. Aus dieser Zeit stammt vermutlich seine Vorliebe für Werke, in denen die Pauke als Soloinstrument eingesetzt wird, darunter solche für bis zu sieben Pauken. In der Linzer Zeit versuchte er sich auch als Musikverleger, wobei er offenbar die Noten zum Teil selbst gestochen hat. 1783, zwei Jahre nachdem Mozart den Sprung in die Selbständigkeit in Wien gewagt hatte, versuchte auch Druschetzky eine Existenz in der Hauptstadt des Kaiserreiches aufzubauen. Er gab diesen Versuch, der damals noch sehr schwierig war, aber drei Jahre später zugunsten einer festen Anstellung im Orchester des Fürsten Grassalkovic in Pressburg auf, wo er, zu seinem alten Metier zurückgekehrt, für die Harmoniemusik, das heißt für die Bläser zuständig war. Im Jahre 1800 wechselte er in gleicher Funktion zum Fürstprimas Batthyány, wodurch er nach Ungarn (Pest) kam. Dort beendete er seine Runde durch die k&k Lande, zuletzt in Diensten des habsburgischen Palatin Erzherzog Josef in Buda.

Druschetzkys Gesamtwerk ist bislang nur teilweise erforscht. Bekannt sind inzwischen vor allem viele seiner Bläserstücke. Er komponierte aber auch einiges für Orchester (rund ein dutzend Symphonien, darunter 5 Schlachtenstücke, z.T. für zwei Orchester), zahlreiche kammermusikalische Werke sowie Chor- und Bühnenmusik (u.a. Messen und 2 Opern), wobei den Bläsern und dem Schlagzeug oft eine herausragende Rolle zugeteilt ist. Außerdem bearbeitete er Werke seiner Zeitgenossen für Harmoniemusik, darunter Mozarts „Zauberflöte“ und Haydns „Schöpfung“ und „Die Jahreszeiten“. Als einer der Ersten verwendete der experimentierfreudige Musiker auch die Tonfolge B-A-C-H als Thema, was zeigt, dass er auch historisch gebildet war.

Druscheztky war kein Mann der gelehrten Schreibweise, weswegen in seinen Werken etwa die Durchführung keine große Rolle spielt. Er war, wie seine Partita Nr. 6 zeigt, vielmehr ein Vollblutmusikant, der die Aufmerksamkeit des Hörers durch phantasievolle Wendungen im Rahmen meist achttaktiger Phrasen zu erlangen vermochte. Johann Ernst Altenberg attestierte ihm in seinem "Versuch einer Anleitung zur heroisch-musikalischen Trompeten und Paukenkunst" aus dem Jahre 1795, er habe  "artige Partiten und Suiten zu verschiedenen Blasinstrumenten ediert", sei ein "geschickter Pauker" gewesen und habe "ziemliche Naturgaben  in der musikalische Komposition"  besessen.

Weitere Texte zu Werken von rd. 70 Komponisten siehe Komponisten- und Werkeverzeichnis

1816 Louis Spohr (1784 – 1859) Konzert für Violine und Orchester Nr. 8 (in Form einer Gesangsszene)

Der Braunschweiger Spohr konnte sich eines außerordentlich vielfältigen und erfolgreichen  Musikerlebens erfreuen. 20-jährig  wurde er auf einen Schlag berühmt durch einem Auftritt mit seinem zweiten Violinkonzert in Leipzig. Hier, heißt es, sei zum ersten Mal der Zauber der Geigenromantik zu hören gewesen. Der Kritiker Friedrich Rochlitz schrieb nach diesem Konzert, Spohr „neige am meisten zum Großen und in sanfter Wehmut Schwärmenden“, ein Dictum mit dem Spohr nicht zuletzt wegen seiner Neigung zum „Cromatisieren“ immer wieder charakterisiert werden sollte. Ein Jahr später führte sein Auftreten in Gotha dazu, dass man ihm zum Konzertmeister der dortigen Hofkappelle berief, eine Stelle, die er sieben Jahre ausfüllte. Es folgten, unterbrochen von ausgedehnten Konzertreisen als Geigenvirtuose durch ganz Europa, Kapellmeisterstellen in Wien, Frankfurt und Dresden, wo Spohr Gelegenheit hatte, seinen kompositorischen Wirkungskreis wesentlich auszuweiten. Durch Vermittlung Carl Maria von Webers erhielt Spohr 1822 schließlich die Stelle des Hofkapellmeisters in Kassel. Am hessischen Hof war er  35 Jahre lang der Mittelpunkt eines Musiklebens, das er zu einer außerordentlichen Blüte führte.

Spohr war von  Haus aus eher der Tradition, insbesondere Mozart verpflichtet. Dies hat ihm von Seiten von Publizisten, die dem Fortschritt huldigten, den Vorwurf eingebracht, reaktionär oder zumindest biedermeierlich zu sein, eine Beschreibung, für die sein norddeutsch-korrekter und eher verschlossener persönlicher Habitus möglicherweise einige Ansatzpunkte gab. Ob dies eine zutreffende Beschreibung ist, ist aus heutiger Sicht aber fraglich. Spohr ist sicher eine Grenzfigur zwischen Klassik und Romantik. Wie wenig reaktionär er war, zeigt aber die Tatsache, dass sich keineswegs den neuen Tendenzen in der Musik seiner Zeit verschloss. Unter anderem und führte sehr früh die Opern des jungen Wagners auf.

Spohr war bis zu seinem Lebensende rastlos tätig und komponierte für fast alle Gattungen der Musik. Aus dem umfangreichen Gesamtwerk ragen allerdings die Werke für sein Instrument heraus. Er schrieb 21 Violinkonzerte und zahlreiche weitere Werke, bei denen die Geige im Vordergrund steht, darunter viel Kammermusik. Eine Spezialität sind dabei seine Doppelquartette und ein Quartettkonzert. Gerühmt werden vor allem seine sehr geigerisch empfundenen langsamen Sätze.

Von den Violinkonzerten, die einmal so populär waren, dass sie die Rezeption des singulären Konzertes von  Beethoven erschwerten, hat das 8. Konzert besondere Berühmtheit erlangt. Spohr führte das Werk erstmals am 28. September 1816 in der Mailänder Scala auf. Darüber schreibt er  in seiner Selbstbiographie: „Gestern fand unser Concert im Theater della Scala statt … Das Haus, obgleich vorteilhaft für Musik, verlangt doch in seiner gewaltigen Größe einen sehr kräftigen Ton und ein großes einfaches Spiel. Auch ist es schwer, den Geigenton dort zu hören, wo man immer nur Stimmen zu hören gewohnt ist. Diese Betrachtung und die Ungewissheit, ob die Art meines Spieles und meine Composition auch den Italienern gefallen würde, machte mich bei diesem Debüt in einem Lande, wo man mich noch nicht kennt, etwas furchtsam; da ich indessen schon nach den ersten Takten bemerkte, daß mein Spiel Eingang fand, so schwand diese Furcht bald und ich spielte nun völlig unbefangen. Auch hatte ich die Freude zu sehen, dass ich in dem neuen, in der Schweiz geschriebenen Concerte, welche die Form einer Gesangs-Szene hat, den Geschmack der Italiener sehr glücklich getroffen habe und dass besonders die Gesangsstellen mit großem Enthusiasmus aufgenommen wurden. Dieser lärmende Beifall, so erfreulich und aufmunternd er auch für den Solospieler ist, bleibt doch für Componisten ein gewaltiges Ärgernis. Es wird dadurch aller Zusammenhang gestört, die fleißig gearbeiteten Tutti bleiben völlig unbeachtet und man hört den Solospieler in einem fremden Tone wieder anfangen, ohne dass man weiß, wie das Orchester dahin moduliert hat.“

Die Aufführung war der Höhepunkt einer fast zweijährigen Konzertreise durch Deutschland, die Schweiz und Italien, die Spohrs internationalen Ruf begründete. Nach einem Konzert, das er am 18. Oktober 1816 in Venedig gegeben hatte, besuchte ihn sogar der große Paganini. Ein Teil der Presse baute Spohr in der Folge als dessen Gegenspieler auf. Spohr schreibt in seiner Selbstbiographie, in einer  Rezension habe es geheißen, dass „er die italienische Lieblichkeit mit aller Tiefe des Studiums, welcher unserer Nation eigen sei, verbinde und dass man mir den ersten Rang unter den jetzt lebenden Geigern einräumen müsse“, ein Lobspruch, der ihm zwar die durchaus nachteilige Gegnerschaft der zahlreichen Anhänger des italienischen Wundermannes einbringe, der aber andererseits „auch den eitelsten Künstler zufrieden machen könnte.“

Weitere Texte zu Werken von rd. 70 Komponisten siehe Komponisten- und Werkeverzeichnis

Ein- und Ausfälle – Chinas pragmatische Logik

Der chinesische Philosoph Mo Ti aus den 5 Jh. v. Chr. ging die Frage der (sozialen) Logik ziemlich undogmatisch an. Nach ihm bestehen die drei Gesetze des vernunftmäßigen Denkens

 

            1.) im Studium der Erfahrungen der weisesten Menschen der Vergangenheit – dort, sagt er, finde man die Grundlage;

 

            2.) im Studium der Erfahrung des Volkes; – dadurch gelange man zu einem allgemeinen Überblick;

 

            3.) in der Einführung der dabei gewonnen Erkenntnisse in Gesetzgebung und Regierungspolitik und der anschließenden Prüfung, ob es der Wohlfahrt des Staates förderlich sei oder nicht.

 

Mit diesen schlichten Überlegungen kommt Mo Ti zu Ergebnissen, über welche die Väter der europäischen und indischen Philosophie mit ihren gewaltigen Gedankensystemen auch nicht wesentlich hinausgekommen sind, nämlich dass sozial wirksam die Gedanken sind, die sich

 

            1.) auf große Namen berufen können,

2.) in der Tradition (des Volkes) verwurzelt und

            3.) in der Praxis erprobt sind.

 

So ist es denn auch nicht verwunderlich, dass Mo Ti trotz ganz anderer Ausgangspunkte im Detail zu ähnlichen Ergebnissen wie die großen Denker unserer Tradition kommt. Er hält die Existenz eines persönlichen Gottes ebenso für erwiesen, wie die von Geistern und Gespenstern, letztere mit Begründung, weil viele sie gesehen haben. Die Notwendigkeit des (Ahnen)Kultes schließt er daraus, dass er sozialen Zusammenhalt fördere (weil dabei die Menschen auf Grund gemeinsamer Überzeugungen zusammenkommen). Das Prinzip der Nächstenliebe leitet er einfach aus dem Umstand ab, dass dadurch eine Menge sozialer Probleme gelöst würden (weil es die Ausuferung des individuellen Entfaltungsdrangs eindämme). In einem Punkt war er unseren Denkern allerdings weit voraus. Seiner Weisheit letzter Schluss ist das (behutsam angewendete) „Trial and error“- Prinzips als Korrektiv für überschäumende soziale Gestaltungsphantasien. Mit einem derart pragmatischen Prinzip hatten unsere Systemdenker einige Schwierigkeiten. Der Natur ihres Ansatzes entsprechend neigten sie zu logischen Scheingebäuden oder „wissenschaftlichen“ Großversuchen, die zum Teil mit gewaltigen Spesen endeten.

 

Die Tatsache, dass man von so unterschiedlichen Ansätzen zu so ähnlichen Ergebnissen kommt, sagt einiges darüber, wie wenig das Ergebnis des Denkens von der Art der Gedankenführung und wie sehr es davon abhängt, wie wichtig es einem ist.

Um 1750 Johann Gottlieb Graun (1701 – 1771) Konzert für Gambe, Basso Continuo und Orchester a-moll

Die Brüder Johann Gottlieb und Karl Heinrich Graun waren zusammen mit Johann Joachim Quantz die führenden Protagonisten einer Richtung der europäischen Kunstmusik, die man gelegentlich als die „Berliner Schule“ bezeichnet hat. Sie prägten in der Mitte des 18. Jh. jahrzehntelang das Musikleben der brandenburgischen Residenzen. Das Schaffen der drei Musiker ist eng mit den Bestrebungen Friedrichs des Großen verbunden, in Berlin einen barocken Musenhof zu schaffen, einen jener uns heute ziemlich exotisch erscheinenden Orte, an denen sich handfeste Realpolitik, ästhetische Selbstdarstellung und Kunstbegeisterung auf merkwürdige Weise mischten. Die Voraussetzungen für einen solchen Musenhof waren in Preußen seinerzeit nicht sonderlich gut. Friedrichs Vater, Friedrich Wilhelm I., war ein Herrscher, der seine Ziele ohne große Umschweife anstrebte. Bei seiner Thronbesteigung im Jahre 1713 entschied er, dass seine – politischen – Ziele auch ohne kostspielige Opfer an die Musen zu erreichen seien. Daher löste er das Berliner Hoforchester kurzerhand auf. Auch seinen designierten Thronfolger Friedrich überließ er nur ungern dem Einfluss der Musen. Er befürchtete offenbar, dass sie den Realitätssinn des künftigen Staatslenkers vernebeln und damit seine politische Entscheidungskraft schwächen könnten. Daher tat er alles, um zu verhindern, dass Friedrich sich allzu intensiv mit den schönen Künsten, insbesondere mit der Musik beschäftigte.

 

Die Entschlusskraft seines Sohnes scheint er damit aber eher gestärkt zu haben. 1728, als er 16 Jahre alt war, begann Friedrich heimlich Flötenunterricht bei Quantz zu nehmen. Zu seinem Vertrauten wählte er sich außerdem den acht Jahre älteren musischen Leutnant v. Katte, mit dem er 1730 vom badischen Steinsfurt aus vor dem prosaisch-gestrengen Vater – nach England – fliehen wollte, was aber misslang, da die beiden offenbar nicht den nötigen Sinn für die Realitäten hatten, die dabei zu beachten gewesen wären. Friedrich Wilhelm I. glaubte nun seine Entschlusskraft dadurch unter Beweis stellen zu müssen, dass er v. Kattes Verurteilung zum Tode veranlasste und seinen Sohn zwecks Gewöhnung an die preußischen Realitäten zwang, an der Vollstreckung der Strafe teilnehmen. Friedrich selbst, den beinahe das gleiche Schicksal getroffen hätte, verlor zunächst seine Stellung als Kronprinz. Er wurde aber Ende 1731 rehabilitiert und zunächst als Kommandeur eines Infanterieregimentes nach Ruppin verbannt, wo er die Niederungen des Staatslebens kennenlernen sollte. Dort ließ man ihn, zumal er inzwischen standesgemäß verheiratet war, weitgehend seinen eigenen Lebensstil pflegen, zu dem wesentlich die Musik gehörte.

 

Friedrich versammelte in Ruppin eine ausgesuchte Schar von Musikern, zu denen seit 1732 auch die Gebrüder Johann Gottlieb und Karl Heinrich Graun gehörten, die sich in Sachsen, wo sie musikalisch sozialisiert wurden, einen gewissen Ruf als solide Musiker erworben hatten (Johann Sebastian Bach etwa hatte seinen Sohn Friedemann zur Ausbildung in die Hände von Johann Gottlieb Graun gegeben). Als Konzertmeister und Vizekonzertmeister des kleinen Ruppiner Ensembles hatten die Grauns, wie damals üblich, neben dem Spieldienst auch Musik für den täglichen Gebrauch oder für Feste und Gottesdienste zu komponieren. Die Musiker, die Friederich, um in Berlin nicht aufzufallen, haushaltstechnisch als Domestiken führen ließ, nahm er mit, als er 1736 nach Rheinsberg übersiedelte. Auf Schloss Rheinsberg, das der Vater dem Sohn wohl schenkte, um ihn wieder an die Welt des Hofes anzunähern, steigerte Friedrich seine musikalischen Aktivitäten beträchtlich. Er betätigte sich nicht mehr nur als Flötist, sondern nun auch als Komponist. Als er 1740 schließlich den preußischen Thron bestieg, war eine seiner ersten Amtshandlungen, seine Musiker zu legalisieren und Quantz, der bislang nur sporadisch von Dresden zum Unterricht kam, mit einem hohen Gehalt nach Berlin zu holen.

 

Das königliche Musikleben spielte sich nun auf drei Ebenen ab. Friedrich selbst pflegte regelmäßig in kleinem Kreis, zu dem auch Franz Benda und Philipp Emanuel Bach gehörten, in seinen Schlössern zu musizieren, wobei der Schwerpunkt auf Werken für Flöte lag. Allein Quantz steuerte hierfür rund 200 Solosonaten und 300 Flötenkonzerte bei. Wie es bei dieser „Kammermusik“ zugegangen sein mag, hat Adolf Menzel später in dem bekannten Gemälde "Das Flötenkonzert von Sanssouci" stimmungsvoll dargestellt.

 

Ein weiterer Teil des Musiklebens war die Oper, die in Berlin mangels entsprechender Räumlichkeiten zuvor ein Schattendasein geführt hatte. Schon kurz nach seinem Regierungsantritt hatte Friedrich die Order gegeben, so schnell wie möglich ein Opernhaus zu bauen. Der Architekt Georg v. Knobelsdorff erstellte, da Friederich ungeduldig drängelte, daraufhin die heute noch bestehende Lindenoper in nur etwas mehr als einem Jahr. Zum Kapellmeister der Oper ernannte Friedrich Karl Heinrich Graun. Da es in Berlin keine geeigneten Darsteller gab, schickte er ihn erst einmal mit einer prall gefüllten Börse nach Italien, um Sänger einzukaufen. Karl Heinrich leitete die Oper, die hauptsächlich zu festlichen Anlässen spielte, bis zum seinem Tode im Jahre 1759. Er komponierte 29 Opern, an deren Gestaltung der König nicht selten persönlich beteiligt war. Friedrich steuerte etwa das ein oder andere Libretto oder Arien bei und verlangte, dass Stücke, die ihm nicht gelungen schienen, neu komponiert werden.

 

Die dritte Ebene des Musiklebens bestand aus den Konzerten der Hofkapelle, die unter der Obhut der Damen des Königshauses standen. Zum Konzertmeister dieses Klangkörpers wurde Johann Gottlieb Graun ernannt, eine Stellung, die auch er bis zu seinem Tode beibehielt. Hierfür entstand vor allem viel Instrumentalmusik.

 

Die Gebrüder Graun komponierten zahllose Werke aller Gattungen, darunter rund 100 Symphonien und dutzende Konzerte für die verschiedensten Instrumente, wobei die Mehrzahl der Instrumentalwerke wohl von Johann Gottlieb stammen dürfte. Das bekannteste Werk, die Passionskantate „Der Tod Jesu“, die bis in das späte im 19. Jh. große Triumphe in Berlin feierte, hat Karl Heinrich komponiert. Wer allerdings im Einzelnen welche der Kompositionen verfasst hat, die unter ihrem Namen geführt werden, ist in vielen Fällen ebenso wenig geklärt wie der genaue Zeitpunkt der Entstehung (häufig ist darüber hinaus schon ihre Urheberschaft zweifelhaft). Die Brüder sind biographisch und stilistisch so etwas wie siamesische Zwillinge, welche die Musikwissenschaft bisher nur teilweise trennen konnte. Das liegt nicht zuletzt daran, dass die meisten ihrer Kompositionen lediglich in Handschriften überliefert sind, auf denen, wenn überhaupt, häufig nur der Name „Graun“ vermerkt ist. Abschriften der Werke fanden sich überall in Nord- und Mitteldeutschland und bis nach Skandinavien, was zeigt, dass sie sehr geschätzt waren. Je weiter die Fundorte allerdings von Berlin entfernt sind, desto mehr scheint seinerzeit das Bewusstsein davon abhanden gekommen zu sein, dass es sich um zwei Personen handelte. Auch das 900-seitige außerordentlich penible Werkverzeichnis, das erst 2006 – bezeichnenderweise für beide gemeinsam – herauskam, konnte die Fragen der Datierung und Zuschreibung nur bruchstückhaft klären.

 

Stilistisch liegen die Werke der Gebrüder Graun einerseits im Rahmen des allgemeinen europäischen Kontextes zwischen auslaufendem Barock und dem aufkommenden galanten oder empfindsamen Stil, der zur Klassik überleitete. Anderseits sind sie, wie das gesamte damalige Berliner Musikleben, stark durch die Vorlieben Friedrichs des Großen gekennzeichnet, der in musikalischen, anders als in politischen und denkerischen Dingen, nicht sonderlich experimentierfreudig war. Der König, der militärisch und schriftstellerisch manchen gewagten Coup landete, war in der Kunst kein großer Freund einer Auseinandersetzung mit den Realitäten, sondern meinte, wie ein Beobachter feststellte, „dass die schönen Künste überhaupt angenehm und ergötzend sein müssen und der Ausdruck nie bis zur höchsten Reibung und Erschütterung treiben dürfe.“ Die sächsischen Brüder, die solcherart Vorstellungen bedienten, hat man nicht zuletzt deswegen etwas zwiespältig auch als die „sanften Graun“ bezeichnet.

 

Auch das Gambenkonzert in a-moll ist ein Werk der Zwischenperiode. Es hat mit seiner Basso-Continuo-Basis eine barocke Grundstruktur. Man kann auch den Einfluss Vivaldis heraushören, dessen Werke die Grauns in ihrer frühen Zeit in Dresden, wo man diesen Meister sehr schätzte, kennengelernt haben dürften. Allenthalben ist aber auch der neue Stil zu spüren, der in Berlin vor allem mit Philipp Emanuel Bach vertreten war. Zugleich ist das Konzert unverkennbar von der friederizianischen Ästhetik geprägt. Es handelt sich um Unterhaltungsmusik der Art, die der König offenbar liebte, natürlich auf sehr hohem Niveau.

 

Friederich ist übrigens gegen Ende seines Lebens, vielleicht im Hinblick auf die verschiedenen Kriege, die er geführt hat, schließlich doch noch von den Realitäten eingeholt worden, die einen Staatsmann von den Musen entfremden können. Nach dem Tode Karl Heinrich Grauns verlor er weitgehend das Interesse an der Oper und einige Zeit nachdem Quantz und schließlich auch Johann Gottlieb Graun verstorben waren, stellte er auch das Flötenspiel ein. Es scheint, dass dem handfesten Realpolitiker, im Alter illusionslos geworden, die Vorstellung von einem Musenhof zunehmend exotisch vorgekommen ist.

Weitere Texte zu Werken von rd. 70 Komponisten siehe Komponisten- und Werkeverzeichnis

Kampf der Kulturen – wie kommt der Westen aus der Defensive?

Der Westen ist seit einiger Zeit nicht mehr der unbestrittene Hort des sozialen Fortschritts. In vielen Teilen der Welt werden die sog. westlichen Werte heute mit Skepsis betrachtet. In manchen sind sie fast schon zum Schimpfwort geworden. Insbesondere von muslimischer Seite wird mit zunehmendem Selbstbewusstsein behauptet, dass der Liberalismus westlicher Prägung gescheitert sei. In den traditionsgeprägten Gesellschaften, die zahlenmäßig die westlichen Gesellschaften weit überwiegen, sieht man den Grund des Scheiterns in erster Linie darin, dass den westlichen Zivilisationen die Spiritualität abhanden gekommen sei. Diese Entwicklung wird als eine Folge der Aufklärung gesehen, einem sozialen Prozess, den der Westen für eine seiner größten Errungenschaften hält und auf den er daher immer besonders stolz gewesen ist. Auf Seiten derer, die das westliche Gesellschaftsmodell in Frage stellen, ist man davon überzeugt, dass das kritische Befragen der Grundlagen der Religion, welches mit der Aufklärung begann, dem „Heiligen“ seinen Nimbus und damit seine soziale Wirkungskraft genommen habe. Dies habe zu Werterelativismus und damit zur Beliebigkeit sozialer Normen geführt. Das Ergebnis sei schließlich der blanke Materialismus und in seiner Folge ein ausufernder Kapitalismus einschließlich eines politischen und wirtschaftlichen Kolonialismus, dem es nicht darum gehe, soziale Probleme zu lösen, sondern darum, individuelle oder nationale Interessen durchzusetzen.

 

Wer sich mit dieser Kritik an den westlichen Werten auseinandersetzen will, tut zunächst einmal gut daran, zu akzeptieren, dass das westliche Denken durchaus in hohem Maße problematische soziale Ergebnisse produziert hat.

 

Die Befreiung von unnötig einengenden und missbrauchsanfälligen traditionellen Normen, die typisch für die westliche Gesellschaftsentwicklung ist, hat nicht nur die Freiheit des Individuums, sondern auch die Notwendigkeit und Pflicht zu seiner Selbstgestaltung begründet. Tatsache ist, dass viele Menschen an dieser Aufgabe scheitern, sei es, weil die Natur oder ihre soziale Umwelt ihnen nicht die nötigen Fähigkeiten mitgegeben haben, sei es, weil das soziale System ihnen nicht ausreichend Chancen einräumt hat. In welchem Ausmaß die liberale Lebensform Gefahren produziert, die sehr schwer zu meistern sind, zeigt überaus augenfällig die Anzahl der Sucht- und Medienopfer und der Menschen, die sozial oder psychisch destabilisiert oder gar entgleist sind. Auch wenn ihre Methoden im einzelnen nicht zu akzeptieren sind, kann man kann daher nur zu gut verstehen, dass Eltern mit traditionellen Hintergrund Probleme damit haben, ihre Kinder einer Welt zu überlassen, in der derartige Gefahren überall zu lauern scheinen. Dies gilt umso mehr als naturgemäß junge Menschen aus traditionellen Gesellschaften mit der Freiheit, der sie bei uns ausgesetzt sind, besondere Schwierigkeiten haben und daher überproportional oft scheitern.

 

Nicht ohne Recht wird aus den traditionellen Gesellschaften bei uns auch ein ausufernder Pluralismus und eine geringe soziale Solidarität kritisiert. Die Atomisierung der Gesellschaft – eine Folge des Verfalls der überkommenen familiären Strukturen durch Individualisierung aber auch Deregionalisierung – hat viele problematische Folgen. Zu nennen wäre hier etwa die Regellosigkeit in der Kindererziehung, was zur Folge hat, dass Kinder häufig kein klares Wertegerüst mitbekommen und damit ziemlich hilflos gegenüber gesellschaftlichen Manipulationsmächten wie Werbung und Starkult sind, die bekanntlich nicht eben soziale Ziele verfolgen. Ein weiteres Beispiel ist die Situation vieler alter Menschen. Sie werden viel zu häufig in trostlosen Heimen „konzentriert“ oder werden sich alleine überlassen, wodurch es etwa möglich wird, dass tausende alter Menschen bei einer Hitzewelle unbemerkt sterben können. Die Auslagerung sozialer Aufgaben auf staatliche und sonstige Institutionen führt tendenziell zu einer Reduktion der Lösungen auf dem niedrigsten Nenner, etwa indem man Hilfebedürftige in erster Linie mit Geld versorgt. Für die Befriedigung der wirklich substanziellen – sozialen – Bedürfnisse hat in den westlichen Gesellschaften der Einzelne weitgehend selbst zu sorgen. Anders als in den traditionellen Gesellschaften, wo der Einzelne fest in soziale Gruppierungen eingebettet ist, scheitern bei uns sehr viele Menschen an diesen Fragen und vereinsamen.

 

In hohem Maße problematisch ist auch, dass in den westlichen Gesellschaften zunehmend das Gefühl für den sozialen Sinn der wirtschaftlichen Aktivität verloren geht. Die Möglichkeit zur Akkumulation von wirtschaftlichem Potential, die unsere Gesellschaftssystem dem Einzelnen oder Zusammenschlüssen von Individuen einräumt, wird immer weniger als Mittel zur Stimulierung der wirtschaftlichen Dynamik im Dienste gesamtgesellschaftlicher Ziele, sondern als der eigentliche Zweck des Wirtschaftens gesehen. Die Folge ist eine ungeheure Konzentration wirtschaftlicher Ressourcen, zu deren Erzeugung gigantische Machtspiele veranstaltet werden. Mittlerweile ist in den westlichen Gesellschaften, die sich doch einmal mit viel Aufwand von ihren anciennes régimes befreit haben, eine neue (Geld)Aristokratie oder eigentlich eine Oligarchie an die Macht gekommen, die Wirtschaftsfeldzüge nach dem Muster früherer Kabinettskriege führt. Die (Selbst)Überschätzung ihrer Protagonisten spiegelt sich in „fürstlichen“ Vorstandsgehältern, die Zweck – Mittel – Vertauschung etwa darin, dass hochprofitable Unternehmen Personal zur Steigerung der Kapitalrendite „freisetzen“. Im Falle des Umgangs mit alten Menschen führt die wirtschaftsliberale Denkweise zu vollkommen untragbaren Ergebnissen. Zum Schutz kommerzieller Altenpflegedienste, die letztlich ohnehin nicht bezahlbar sind, wird etwa in Deutschland bezahlbaren ausländischen Hilfskräften das Tätigwerden im Haushalt pflegebedürftiger Personen bis zur Verhinderung erschwert, mit der Folge, dass diese Personen in Heime gebracht werden, wo sie meist schnell versterben.

 

Nicht zu bezweifeln ist auch, dass der Westen die Welt – nicht zuletzt unter Berufung auf seine liberalen Werte – lange in kaum zu unverantwortender Weise zu seinem Nutzen dominiert hat. Dies schlägt heute auf ihn zurück und verleiht antiwestlichen Stimmungen starke Impulse.

 

Die Konfrontation mit den offenkundigen negativen Seiten des westlichen Lebensstiles hat in einigen traditionellen Gesellschaften eine Rückbesinnung auf ihre Wurzeln bewirkt. Dabei ist die Radikalität, in die man mitunter verfällt, nichts anderes als das Gegenstück zu der Vorstellung von den Gefahren, die man glaubt abwehren zu müssen. Es ist nicht ohne Grund, dass die radikalste Kehrtwende einer muslimischen Gesellschaft im Iran stattfand, wo man unter der Herrschaft des Schah ausgiebig Gelegenheit hatte, die Probleme zu beobachten, die das westliche Denken mit sich brachte. Aus dieser Rückbesinnung resultieren Spannungen zwischen den Gesellschaftsmodellen, die man mittlerweile als Kampf der Kulturen bezeichnet.

 

Die Frage ist, wie der Westen auf diese Spannungen reagieren kann und sollte.

 

Eine mögliche Reaktion des Westens ist, darauf zu hoffen, dass in den traditionellen Gesellschaften, insbesondere in der muslimischen Welt, die Aufklärung nachgeholt wird. Hintergrund dieses Denkens ist die Vorstellung, der „rückständige“ Zustand dieser muslimischen Gesellschaften resultiere daraus, dass es dort keine Aufklärung gegeben habe. Da die Aufklärung bei uns meist als eine notwendige Folge des modernen wissenschaftlichen Weltbildes gesehen wird, geht man daher davon aus, dass sie in den muslimischen Gesellschaften, zumal unter den Bedingungen der Globalisierung, früher oder später von selbst einsetzen werde; gegebenenfalls, so meinen manche, müsse der Westen nachhelfen. Man erwartet also, dass die islamischen Gesellschaften eine ähnliche Entwicklung wie die westlichen Gesellschaften nehmen. Darauf, dass dies in absehbarer Zeit oder überhaupt der Fall sein wird, sollte man aber besser nicht zu sehr vertrauen. Die europäische Aufklärung war in erster Linie eine Folge der Unzufriedenheit der Menschen mit den sozialen Systemen ihrer Zeit und den Welterklärungsmodellen, die ihnen zugrunde lagen. Der westliche Mensch stellte das alte soziale System vor allem deswegen in Frage, weil es eine sehr ungleiche Verteilung von Ressourcen und Chancen und stark beschränkte politische Gestaltungsmöglichen produzierte. Das, was danach folgen sollte, hat man sich in den schönsten Farben ausgemalt und tatsächlich ist vieles ja auch eingetreten. Die Probleme des neuen Gesellschaftsmodells, die schon bei der ersten großen Probe auf´s Exempel, der Französischen Revolution, massiv in Erscheinung traten (im Form von uferlosen „Umgestaltungen“ einschließlich der rücksichtslosen Vernichtung all derer und all dessen, was dem im Wege zu sein schien), die Probleme hat man aber weitgehend beiseite geschoben. Die problematischen Folgen der Aufklärung sind heute offenkundig und scheinen sich sogar noch zuzuspitzen. Anders als die europäischen Gesellschaften im Zeitalter der Aufklärung können die islamischen Gesellschaften sie daher jetzt in ihrer vollen Ausprägung besichtigen. Dies ist ohne Zweifel ein Grund dafür, dass in diesen Gesellschaften das Bedürfnis nach Veränderung der sozialen Verhältnisse im Sinne des Westens wesentlich geringer ist, als in den seinerzeit hoffnungsfrohen Gesellschaften Europas. Damit erhält dort aber auch der Drang zur geistigen Aufklärung wesentlich schwächere Impulse als im alten Europa. Dies gilt umso mehr als die Struktur der islamischen Gesellschaften bei allen Exzessen, die insbesondere der Ölreichtum mancher Regionen hervorgebracht hat, im Grunde egalitär ist und in ihrem Inneren sozialethische Aspekte einen hohen Stellenwert haben. Die Menschen dieser Gesellschaften verspüren nur ein begrenztes Bedürfnis nach Veränderung.

 

Eine andere Reaktion des Westens ist der Versuch, seinerseits das Rad der Geistesgeschichte zurückzudrehen. Es besteht in den westlichen Gesellschaften eine wachsende Tendenz, aus der Tatsache, dass die Probleme der modernen Gesellschaften parallel zum Zerfall der alten (religiösen) Welterklärungsmodelle einsetzten, zu schließen, die Wiederherstellung dieser Modelle würde auch die Probleme reduzieren. Daher beschwört man immer häufiger die christlichen Grundlagen des Abendlandes. Ob solchen Bestrebungen Erfolg beschieden sein wird, ist jedoch eher zweifelhaft. Zu einen sind viele der Probleme aus voraufklärerischer Zeit, für die in unseren Gesellschaften einigermaßen brauchbare Lösungen gefunden wurden, weitgehend gegen die Kräfte der alten Systeme und ihre Denkmodelle durchgesetzt worden – man denke etwa an die Gleichberechtigung der Frau, die Meinungsfreiheit oder die Arbeitnehmerrechte. Diese Prozesse rückabzuwickeln ist, auch wenn es in Teilbereichen immer wieder versucht wird, schwer vorstellbar. Zum anderen ist der Prozess der Aufklärung aus prinzipiellen Gründen nicht mehr vollständig zurückzudrehen. Die Zweifel an den religiösen Welterklärungsmodellen sind so grundlegend, dass diese Modelle bei aller Sehnsucht der Menschen nach einfacher Orientierung nicht mehr die Überzeugungskraft erlangen können, die sie einmal gehabt haben. Ohne ihren absoluten Anspruch bewirken diese Modelle aber eher das Gegenteil von dem, was man sich von ihnen erhofft. Infrage gestellte Absolutismen und Irrationalismen sind entweder weitgehend wirkungslos oder schlagen wild um sich; letzteres lässt sich etwa an den Religionskriegen zeigen, die nicht zuletzt während der Aufklärungszeit stattfanden zeigen. Meist führen sie auch zu einer drastischen Absenkung des Kulturniveaus. Dies lässt sich an der ausufernden Esoterik beobachten, welche die hilflosen Individuen in immer phantastischere Gedankengebäude flüchten lässt. Das Beispiel Amerikas, wo die Religion zunehmend betont wird, zeigt im übrigen wie in einem Sozialexperiment, wie wenig die Probleme, welche die westlichen Gesellschaften erzeugen, mit diesem Ansatz zu lösen sind. Amerika hat die typischen Probleme unseres Lebensmodells nicht nur nicht bewältigen können, sondern in vieler Hinsicht auf die Spitze getrieben.

 

Der Weg aus der westlichen Krise wird wohl nur über ein hohes Maß an Selbstkritik und anschließende Formulierung klarer problem- und ergebnisorientierter Normen möglich sein. Wir werden uns vermehrt damit befassen müssen, dass der westliche Gesellschaftsentwurf mit seiner starken Betonung der Selbstbestimmung des Individuums höchst anspruchsvoll und daher außerordentlich risikoreich ist, dass er ohne Zweifel wunderbare Chancen bietet aber eben auch erheblich Gefahren. Das aber bedeutet, dass wir uns mehr um die Gefahren kümmern müssen. Die geschichtliche Entwicklung brachte es mit sich, dass die Freiheit in erster Linie als ein Abwehrrecht gegenüber den Mächten verstanden wurde, die ihr entgegenstanden. Heute müssen wir uns jedoch vornehmlich mit der Frage beschäftigen, wie die Auswüchse der Freiheit zu beschränken sind. Das Problem lässt sich besonders schön am folgenden Beispiel illustrieren: Seit Jahren gibt es wohlbegründete Hinweise darauf, dass die Gewalt, die heute pausenlos in den Medien in den Medien gezeigt wird, insbesondere für die Jugend in hohem Maße schädlich sein dürfte. Dennoch kann ein führender Politiker auf die Frage, warum diesem offenkundigen  Misstand, der allein der Freiheit gewisser Gewerbetreibender dient, von Seiten der Politik nicht ernsthaft entgegengetreten wird, antworten, das sei bei unserer freiheitlichen Verfassung nicht oder nur schwer möglich. Hier beißt sich die Katze der Freiheit verhängnisvoll in den Schwanz. Die Freiheit, die dem Individuum dienen soll, kann kaum als Begründung dafür herangezogen werden, dass man tatenlos Entwicklungen zusieht, die es beschädigen oder gar zerstören können.

 

Wir werden uns daher mehr auf die soziale Gestaltungspflicht als dem Gegenstück der Freiheit des Individuums konzentrieren müssen. Allgemein formulierte Grundsätze des Zusammenlebens, die ja unser Grundgesetz durchaus enthält, reichen dabei aber nicht aus (man denke nur an die weitgehend wirkungslosen Appelle zum Schutz der Nichtraucher oder zur Rücksicht im Straßenverkehr). Daher wird man für ganz konkrete Probleme auch konkrete Regeln formulieren müssen. Da nur die politischen Instanzen das Mandat und die Möglichkeit der Durchsetzung solcher Normen haben, müssen diese – nach angemessener gesellschaftlicher Diskussion – auch von diesen Instanzen formuliert und durchgesetzt werden. Dabei wird man auch an Fragen herangehen müssen, die man bislang weitgehend der Wirtschaft, etwa die Höhe der Gewinne und der Vorstandsgehälter oder die Grenzen der Werbung, oder die man den Individuen überlassen hat, so die Erziehung der Kinder und der Umgang mit alten Menschen. Wenn wir den sehr praktischen Fragen, welche die traditionellen Kulturen an uns stellen, wirkliche, das heißt praktizierte Antworten entgegenzusetzen haben, wird der Westen dann wohl auch aus der Defensive herauskommen, in der er sich zur Zeit befindet.

Ein- und Ausfälle – Toleranz als Rückschritt

Toleranz gegenüber den Sitten von Menschen aufrecht zu erhalten, die aus traditionsbestimmten Kulturkreisen in die westlichen Gesellschaften kommen, ist nicht so einfach, wie manche denken. Durch das Aufeinanderstoßen von völlig unterschiedlichen Gesellschafts- und Menschenbildern ist nämlich nicht nur die Kultur der Einwanderer, sondern auch manche „Errungenschaft“ der westlichen Kulturen gefährdet. Immerhin wurden die Freiheiten, die sich das Individuum im Westen erarbeitet und erkämpft hat, oft gegen den massiven Widerstand von Interessen und Machtansprüchen durchgesetzt. Die Vertreter dieser Interessen, die keineswegs ausgestorben sind, dürften es daher nicht ungern sehen, wenn in den westlichen Gesellschaften die Zahl der Menschen wächst, die von den Freiheiten der Moderne nichts wissen oder nichts wissen wollen. Diejenigen etwa, die bei der Verhandlung der öffentlichen Dinge das Licht der Öffentlichkeit scheuen, freuen sich über Menschen, die es gewohnt sind, dass die wichtigen gesellschaftlichen Entscheidungen in oligarchischen Zirkeln hinter geschlossenen Türen gefällt werden. Und mancher Mann geht dankend auf die Rolle ein, die ihm Frauen aus Gesellschaften anbieten, in denen sie wenig zu sagen haben.

Ein- und Ausfälle – Gottebenbildlichkeit als Euphemismus

Die Antike hat die Macht des Wortes bekanntlich außerordentlich hoch eingeschätzt. Unter anderem hoffte man, dass die Dinge so sind, wie man sie benennt. Da es dabei eigentlich immer darum ging, schlechte Tatsachen verbaliter zu Guten zu machen, werden derartige Benennungen als Euphemismus bezeichnet. Es entspricht der Logik des Euphemismus, dass das Misstrauen in eine (schlechte) Sache um so größer gewesen sein muss, je höher die Worte waren, deren man sich zur Verschleierung dieses Misstrauens bediente. Ein bekanntes Beispiel für einen derart reziproken Euphemismus ist die Bezeichnung des unwirtlichen Schwarzen Meeres als „Gastliches Meer“ (Pontus Euxinus). Ein weniger präsentes Beispiel ist die Beschreibung des Menschen als gottebenbildlich, was ebenfalls eine Erfindung der Antike ist. Dabei ist dieser Fall von Euphemismus besonders eklatant. Denn da man zur Beschreibung des Menschen Anleihen beim Absoluten machte, scheint das Misstrauen in den Menschen ebenso grenzenlos gewesen sein.

Ein- und Ausfälle – Augustinus und die Sklaverei

Ein schönes Beispiel für Rabulistik ist Augustinus‘ Rechtfertigung des Rechtes des Siegers, den Besiegten zu versklaven (in De Civitate Dei). Handele es sich auf Seiten des Siegers um einen gerechten Krieg, so meint er, sei die Versklavung die Folge der Tatsache, dass der Besiegte dann logischerweise einen ungerechten Krieg geführt habe. Dies aber sei eine Sünde und dafür werde er mit der Sklaverei bestraft. Führe der Besiegte einen gerechten Krieg, kommt er aber auch nicht besser davon. Dann nämlich sei seine Versklavung eine Folge anderer Sünden, die ja jeder irgendwann und irgendwie – und sei es in Form der Erbsünde – einmal auf sich geladen habe. Angesichts dieser Auswegslosigkeit empfielt Augustinus dem Sklaven, sein Los wenigstens zu mildern, am besten dadurch, dass er sich mit seinem Herrn gut stelle. So könne er immerhin erreichen, dass dieser von seinen Befugnissen als Sklavenhalter keinen übermäßigen Gebrauch mache. Diese Argumentation kam den wirtschaftlichen Interessen seiner Zeitgenossen natürlich entgegen. Sie zeigt, warum man Augustinus zu den Apologeten zählt.

Macht der Interpreten (Über die Funktion von Fundamentaltexten und ihrer Verwalter)

Gemeinschaftsordnende Texte, Gesetze etwa oder religiöse Grundbücher, können die Vielfalt des sozialen Lebens, das sie ordnen wollen, niemals vollständig erfassen. Sie behelfen sich daher mit Formulierungen die so eng wie möglich und weit wie nötig sind. Alte Texte sprechen dazu häufig in Bildern oder erzählen Geschichten. Um solche Texte in die Praxis umzusetzen, bedarf es der Auslegung. Diesem Geschäft, dem sich ganze Berufszweige verschrieben haben, kommt eine erhebliche Bedeutung zu. Es ist daher höchst lohnend, sich mit der Frage zu befassen, wie dieses Geschäft betrieben wird.

Auf den ersten Blick scheint es naheliegend, dass man bei der Interpretation gemeinschaftsordnender Texte versucht, den Willen des historischen Textverfassers zu ermitteln. Dahinter steckt der Gedanke, dass die Autorität eines Textes gefährdet wäre, wenn der Eindruck entstünde, dass seine Interpreten ihn willkürlich behandeln. Zu diesem Standpunkt neigen religiöse Fundamentalisten. Die Folge freilich ist, dass ihre Entscheidungen nicht immer „zeitgemäß“ sein können. Denn der Text, den sie anwenden, ist in der Regel viele hundert Jahre alt.

Auf den zweiten Blick zeigt sich, dass der historische Ansatz mehr Probleme aufwirft, als er löst. Was, so fragt man sich, ist zu tun, wenn der historische Verfasser von falschen Annahmen über tatsächliche Sachverhalte, etwa über den Beginn der Welt, ausging, wenn er gewisse Problemstellungen noch nicht gekannt oder bestimmte Fallkonstellationen übersehen hat? Was ist der Wille des Verfassers, wenn der Text, wie die Bibel oder Gesetze, nicht nur einen Verfasser hat oder im Laufe eines längeren Zeitraumes entstanden ist?

 Die Juristen als die professionellen Interpreten gemeinschaftsordnender Texte haben sich aus diesem Dilemma mit einem Trick geholfen (wobei wohl der Umstand eine Rolle spielte, dass das praktische Leben, mit dem die Juristen zu tun haben,  keine endlosen Diskussionen über den Willen des Textverfassers, sondern Entscheidungen verlangt). Der Trick: Sie lösten das Problem, indem sie den Textverfasser unsterblich machten. Die Folge ist, dass man ihn jederzeit zu seinem Willen zu befragen kann und er für immer in die Lage versetzt ist, eventuelle Gesetzeslücken zu füllen.

 Bei der Frage, wie man sich diesen unsterblichen Textverfasser vorzustellen habe, haben sich zwei Grundrichtungen gebildet. Die strengere Observanz sieht ihn in einer Institution, welche die andauernde Verfügungsgewalt über den Text besitzt – etwa im Parlament. Dementsprechend hat dieser immerwährende „Gesetzgeber“ Lücken selbst zu schließen und in gravierenden Zweifelsfragen Gesetze zu ergänzen oder zu präzisieren. Dass ein solches Verfahren umständlich ist und im Einzelfall unter Umständen zu spät kommt, liegt auf der Hand. Die pragmatischere Lösung ist daher die Annahme eines überzeitlichen – objektiven – Textsinnes, der den Willen des Gesetzgebers enthalten soll. Ihn zu ermitteln, überlassen die Anhänger dieser Auffassung den Richtern, die ihn in einer Art permanenter Diskussion von Fall zu Fall entwickeln.

 Nicht ganz so einfach ist die Situation der Theologen. Sie haben es mit einem Text zu tun, der überirdische Würde beansprucht, was naturgemäß die Anpassung durch Menschen von Fleisch und Blut erschwert. Allerdings haben sich insbesondere christliche Theologen hier flexibel gezeigt. Vom unmittelbaren Wortlaut der biblischen Geschichten ist, mit Ausnahme bei wenigen Fundamentalisten, für welche die Welt noch immer vor 6000 Jahren erschaffen wurde, häufig nicht viel übrig geblieben. Auch die meisten christlichen Interpreten suchen nach dem „Willen Gottes“ und vermuten ihn hinter den Geschichten, welche die Bibel erzählt. Vielleicht ist diese Entwicklung dadurch erleichtert worden, dass es keinen einheitlichen historischen Verfasser der biblischen Texte gibt, wodurch unterschiedliche Ansichten über den Inhalt dieser Texte vorprogrammiert waren.

Echte Probleme haben die Fundamentalisten, insbesondere solche, die davon ausgehen, es mit dem Text eines einzigen Verfassers zu tun haben. Denn das Festhalten am Willen des historischen Textverfassers führt paradoxerweise häufig gerade dort zu problematischen Ergebnissen, wo dieser sich besonders klar geäußert hat. Man denke etwa an das Abhacken der Hand, das der Koran in gewissen Fällen als Strafe für den Dieb vorsieht.   

Blickt man auf das Resultat derer, die von einem objektiven Textsinn ausgehen, so erstaunt die Weisheit ihrer Lösung. Zwanglos scheiden sie all das aus, was nur zeitbedingt ist, ohne das Bedürfnis der Menschen nach textlicher Autorität zu vernachlässigen. Der Lösung liegt allerdings auch wieder ein Trick zu Grunde. Die Vorstellung vom objektiven Sinn der Texte beruht auf einer Fiktion, der Behauptung nämlich, es gäbe so etwas wie einen überpersönlichen und überzeitlichen Inhalt eines Textes. Jeder, der mit Texten umgehen muss, weiß jedoch, dass man mit dieser Methode nur die mehr oder weniger gut fundierte Meinung der Interpreten darüber konstatieren kann, was der Sinn eines Textes sein soll.

Diese Methode arbeitet also in gewisser Weise mit einer Verschleierung der Tatsachen. Es handelt es sich allerdings um eine jener vernünftigen und offenkundigen kleinen Unwahrhaftigkeiten, die das Leben verkraften kann, ja die es geradezu zu brauchen scheint. Anders sieht es bei den Historisten aus. Auch sie bedienen sich einer Unwahrhaftigkeit, die allerdings von anderer Qualität ist. Denn wer, etwa bei modernen Sachverhalten, meint, den  -„subjektiven“- Willen des historischen Textverfassers wirklich ermitteln zu können, verdrängt die Tatsachen. Es kann keinen Zweifel darüber geben, dass auch bei der Ermittlung eines angeblich historischen Willens des Textverfassers aktuelle gemeinschaftsordnende Interessen und Vorstellungen der jeweiligen Interpreten im Spiel sind. Im Unterschied zur „objektiven“ Methode werden dies bei der historischen Methode tief verschleiert.

Die „objektive“ Interpretation von gemeinschaftsordnenden Texten setzt allerdings eine Einsicht in die Funktion solcher Texte voraus, die möglicherweise erst bei einem gewissen Stand der gesellschaftlichen Entwicklung möglich ist. Offenbar kann man erst ab einem gewissen Stand des allgemeinen Bewusstseins, ohne dass die Textautorität verlorengeht, akzeptieren, dass selbst die heiligsten Texte nicht zuletzt Ordnungsfunktionen haben und dass sich ihr Sinn jenseits aller „Wahrheit“ aus dieser Funktion erschließt.

1741/1789 Georg Friedrich Händel (1685 – 1759) Der „Messias“ in der Bearbeitung von Mozart

Anders als Mozart konnte Händel schon zu Lebzeiten einen Ruhm genießen, der seiner Stellung in der Musikgeschichte entspricht. Wie groß dieser Ruhm war, zeigt die Tatsache, dass er es als Deutscher zum Nationalkomponisten der englischen Weltmacht brachte, eine Ehre, die ihm ein Grab in Westminster Abbey und eine Menge Geld einbrachte, allerdings auch den Umlaut auf dem  "a" seines Namens kostete (in England wird er konsequent "Handel" geschrieben). Freilich wurde Händel auch auf den Britischen Inseln der Erfolg nicht leicht gemacht. Der Aufstieg zum gefeierten Musikerfürsten begann erst in seinem sechsten Lebensjahrzehnt und ist unmittelbar mit dem Oratorienschaffen seiner letzten Lebensphase verbunden. Ein Meilenstein war hierbei der "Messias".

Händel komponierte den "Messias" 1741 im Alter von 56 Jahren binnen 3 Wochen. Die Uraufführung fand am 13. April 1742 in Dublin statt. In England, wo Händels Stellung seinerzeit noch ziemlich problematisch war, wurde das Werk erst ein Jahr später aufgeführt. Adel und Bürgertum nahmen es wegen seiner freiheitlichen Grundhaltung zunächst reserviert auf. Auch die Kirche konnte sich damit anfangs nicht anfreunden, zumal Händel den "Messias" – wie alle seine Oratorien – für den freien Musikmarkt geschrieben hatte. Anders als im kontinentalen Europa, wo die Musik vor allem an den Höfen und in den Kirchen gepflegt wurde, kannte England bereits damals eine bürgerliche Kunstöffentlichkeit, an die sich Händel mit all den damit verbundenen Unternehmerrisiken wandte. Dementsprechend wurden die Oratorien in Theatern und Konzertsälen aufgeführt. Im Laufe der Zeit wurden diese Konzerte zu wahren Triumphen Händels, an denen ab Ende der 40-er Jahre auch der "Messias" teilhatte.

Das Werk sollte in der folgenden Zeit im englisch-sprachigen Raum einen geradezu legendären Ruf erlangen. Händel wurde dadurch – weit mehr als sein Altersgenosse Bach – in der ganzen (Kolonial-)Welt bekannt. In England hat es seine herausragende Stellung allem Stilwandel zum Trotz auch immer halten können. So war der "Messias" Zentrum der großen Händel-Jubiläumsfeste des 19. Jahrhunderts, bei denen das Werk in Mammutaufführungen, an denen hunderte von Musiker und Sänger beteiligt waren, begeistert gefeiert wurde.

 

Als Händel im Jahre 1759 hochgeehrt starb, war Mozart drei Jahre alt. Auf dem Kontinent hatte man sich inzwischen vom kontrapunktisch-polyphonen Stil der barocken Altmeister abgewandt und komponierte im neuen homophonen, dem galanten Stil. Mozart wurde mit der gelehrten Schreibweise der vorangegangenen Musikepoche, die inzwischen als altmodisch galt, erst konfrontiert, nachdem er im Jahre 1781 nach Wien übergesiedelt war. Gelegenheit hierzu ergab sich bei den sonntäglichen musikalischen Übungen des Barons Gottfried van Swieten, an denen Mozart, wie auch Haydn und später Beethoven, regelmäßig teilnahm.

 

Der Niederländer van Swieten war zunächst Diplomat und später Präfekt der kaiserlichen Hofbbliothek. Als solcher war er Herr über einen der schönsten und größten Tempel, den Europa der Kunst und einer Gelehrsamkeit gebaut hat, eine Stätte des Wissen und der Bildung, die sich unter dem Einfluss van Swietens auf der Basis tiefer Verwurzelung in der Tradition den neuen (Natur)Wissenschaften zu öffnen begann. Das Gesamtkunstwerk des Geistes, dessen Bau Fischer von Erlach wenige Jahrzehnte zuvor erstellt hatte, ist wie kaum ein anderes Artefakt geeignet, mit dem unvergleichlichen musikalischen Bau verglichen zu werden, den Mozart erstellte. Van Swieten hatte sich in Wien auch so etwas wie die Stellung eines Schiedsrichters in Fragen des musikalischen Geschmacks geschaffen. In seinem Hause versammelten sich Musiker und Musikliebhaber mit antiquarischen Interessen und spielten vor allem Bach und Händel. Die Folgen für die Wiener Klassik und die davon beeinflusste Musik Zentraleuropas, in der das gelehrt-polyphone Element eine besondere Bedeutung gewinnen sollte, waren erheblich. Angeregt durch diese Eindrücke setzte sich zum Beispiel Mozart schon Anfang der 80-er Jahre intensiv mit den barocken Meistern und ihren Kompositionsmethoden auseinander. In seinem Schaffen wurde seitdem die Polyphonie immer wichtiger, was sich u.a. darin zeigt, dass man bei ihm nun häufiger Fugen findet. Seine Beschäftigung mit der barocken Oratorientradition spiegelt sich etwa in der Großen Messe in c-moll. Später sollte auch sein Requiem hiervon beeinflusst werden.

 

Bevor Mozart mit dem Requiem einen neuen Höhepunkt in der Entwicklung der Chormusik erreichte, hatte er Gelegenheit, sich näher mit Händels Chorkompositionen zu beschäftigen. Van Swieten, der auch Anreger und Textdichter von Haydns Oratorien "Die Vier Jahreszeiten" und "Die Schöpfung" war, beauftragte Mozart im Namen der von ihm gegründeten Gesellschaft der Associierten, Werke Händels für Privatkonzerte einzurichten. Unter anderem bearbeitete Mozart hierfür den "Messias". In seiner Fassung wurde das Werk erstmals am 6. März 1789 in den Räumlichkeiten von Haydn Arbeitgeber, des Grafen Esterhazy, in Wien aufgeführt.

 

Natürlich ist Mozart mit dem Werk seines berühmten Kollegen respektvoll umgegangen. Seine Veränderungen betreffen vor allem den Bläsersatz. Während Händel nur Trompeten, Oboen und Fagotte vorsieht, setzt Mozart den vollen Holzbläsersatz des klassischen Orchesters ein. Neben Flöten kommen so auch Klarinetten zum Zuge, die zu Händels Zeiten noch nicht in Gebrauch waren. Außerdem wird der ganze Orchesterpart "auf Harmonie" gesetzt, das heißt, dass die großen harmonischen Linien vor allem von Posaunen unterstrichen werden. Mozarts strukturelle Korrekturen laufen auf eine Abschwächung der barocken Zweischichtigkeit hinaus, bei der sich Oberstimmen und Bassfundament deutlich gegenüberstehen. Er komponiert den bezifferten Bass aus und betraut Bläser und Mittelstimmen mit dem musikalischen Material, das dadurch entstand. Auf diese Weise erscheint der musikalische Satz dichter als im Original.

Für seine Bearbeitungen wurde Mozart von Puristen zum Teil heftig kritisiert. Es muss jedoch berücksichtigt werden, dass Bearbeitungen zu seiner Zeit schon deswegen die Regel waren, weil die Generalbassmusik als nur teilweise fixiert galt. Es war außerdem üblich, die Werke entsprechend den aktuellen Gegebenheiten zu besetzen. Der Kult der Originalität, der schließlich zur historischen Werkinterpretation führte, ist ein Ausdruck eines historischen Bewusstseins, das sich erst im Laufe des 19. Jahrhunderts vollständig ausbilden sollte.

Weitere Texte zu Werken von Händel und Mozart sowie  rd. 70 anderen Komponisten siehe Komponisten- und Werkeverzeichnis

1734 Johann Sebastian Bach (1685-1750) Weihnachtsoratorium

 Bach schrieb das "Weihnachtsoratorium" für die Leipziger Weihnachtsgottesdienste des Jahres 1734. Jeder der sechs Teile des Werkes war für einen der sechs Festtage vom ersten Weihnachtstag bis Epiphanias bestimmt. Da die Festfolge wegen der jährlich unterschiedlichen Lage der Sonntage wechselt und der Inhalt der Kantaten an das Evangelium der jeweiligen Festtage anknüpft, kann das Werk daher nur bedingt auf andere Jahre übertragen werden. Bekannt ist, dass die einzelnen Teile im Jahre 1734 jeweils in beiden Leipziger Kirchen St. Nicolai und St. Thoma, musiziert wurden. Ob sie später noch einmal aufgeführt wurden, ist nicht geklärt.

 

Obwohl das Werk ursprünglich nicht zur Aufführung als Ganzes gedacht war, ist es eine einheitliche Komposition. Seine Teile sind nicht nur durch die fortlaufende Weihnachtsgeschichte nach dem Evangelium des Lukas und – in Teil V und VI – des Matthäus verbunden. Bach hat auch eine innere musikalische Einheit hergestellt. So stehen der Anfang und der Schluß des Gesamtwerkes sowie Beginn und Ende des dritten Teiles, mit dem die eigentliche Weihnachtsgeschichte endet, in D-Dur. Zugleich sind diese Teile jeweils auf festliche Weise mit drei Trompeten und Kesselpauken besetzt. Weitere Bezüge zwischen den Teilen finden sich in der Abfolge der Tonarten und in Choralwiederholungen. Schließlich zeigt auch die Bezeichnung "Oratorium", dass das Werk als Einheit gedacht war. Nach einem Lexikon der Bachzeit bedeutete dies so viel wie "musikalische Vorstellung einer geistlichen Historie". Der Titel "Oratorium" findet sich bereits auf Bachs autographer Partitur und war auch auf den Textausgaben für die Leipziger Gottesdienstbesucher des Jahres 1734 vermerkt. Das Weihnachtsoratorium ist, so würde man heute sagen, eine musikalische Fortsetzungsgeschichte.

 

Eine weitere Besonderheit des Werkes ist, dass es sich in gewisser Weise um ein Recylingprodukt handelt. Für die Komposition, die uns heute als der Inbegriff weihnachtlicher Stimmung erscheint, hat Bach nämlich weitgehend musikalisches Material wiederverwendet, welches aus ganz anderem Anlaß entstanden war. Vor allem griff er auf einige "Dramma per Musica" – weltliche Kantaten – zurück, die er für Feste des sächsischen Königshauses komponiert hatte. Es sind dies die Geburtstagsmusiken "Laßt uns sorgen, laßt uns wachen" und "Tönet ihr Pauken! Erschallet, Trompeten!", die Bach 1733 für den Kurprinzen und die Kurfürstin verfaßt hatte; außerdem das Huldigungswerk "Preise dein Glücke, gesegnetes Sachsen", welches für die Feierlichkeiten zum Jahrestag der Wahl Augusts III zum König von Polen am 5. Oktober 1734, also nur wenige Monate vor der ersten Aufführung des Weihnachtsoratoriums geschrieben wurde. Für diese Art von Wiederverwertung, die in der Barockzeit gang und gäbe war, hat sich der Begriff "Parodie" eingebürgert.

 

Wir wissen nicht, was Bach dazu veranlaßte, gerade beim Weihnachtsoratorium so scheinbar unpassendes Ausgangsmaterial wiederzuverwerten. Unklar ist insbesondere, ob er, wie vermutet wurde, schon bei der Komposition der Vorlage an die spätere Nutzung dachte. Man kann sich aber vorstellen, dass ein Komponist wie Bach, der so gut wie nichts Unbedeutendes schuf, sich nur schwer mit dem Gedanken anfreunden konnte, dass sein kostbarer Rohstoff nach einmaliger Verwendung in höfischen Diensten "verbraucht" sein sollte. Dabei spielten sicher auch seine nicht eben ermutigenden Erfahrungen mit der musikalischen "Wegwerfmentalität" von Fürstenhäusern eine Rolle – seine bedeutenden sechs Brandenburgischen Konzerte etwa waren in den Archiven des Brandenburger Widmungsträgers verschwunden, ohne dass sie eine Wirkung entfaltet hätten.

 

Betrachtet man die gänzlich unterschiedlichen Anlässe für Vorlage und Parodie, so überrascht der Grad der Wiederverwendbarkeit des musikalischen Materials. Bach hat es so weitgehend unverändert übernommen, dass das Verfahren der textnahen Komposition, für das er eigentlich bekannt ist, häufig geradezu ins Gegenteil verkehrt ist: der Text hatte sich beim Weihnachtsoratorium weitgehend nach der Musik zu richten. Allerdings hat Bach die Musik nicht mechanisch übernommen, sondern, wo nötig, Änderungen angebracht. Dabei hat er sie in gewissem Maße auch an den Text angepaßt. Die Instrumentierung ist entsprechend dem weihnachtlichen Zweck ergänzt worden. So sind durch die zusätzliche Verwendung von Flöte und Oboe d’amore und Oboe da caccia intime und pastorale Klangfarben hinzugemischt worden. Manche Stücke hat Bach in andere Tonarten oder in ein anderes Gesangsregister transponiert. Die großartige Altarie "Schlafe mein Liebster, genieße der Ruh" aus dem zweiten Teil des Werkes war ursprünglich ein Lied, welches ein Sopran als die personifizierte Wollust für den jungen Herkules sang. Indem Bach die Arie in das tiefere Register verlagerte und Oboe d’amore und Oboe da caccia hinzufügte, ist daraus jenes stimmungsvolle Wiegenlied geworden, das uns heute als der vollkommene Ausdruck "tiefer" mütterlicher Liebe erscheint.

 

Andererseits verzichtete Bach aber auch auf Sinnzusammenhänge und musikalische Effekte, die sich aus dem ursprünglichen Verhältnis von Text und Musik ergaben. Der berühmte Anfang des ersten Teiles lautete in der weltlichen Vorlage: "Tönet, ihr Pauken! Erschallet, Trompeten! Klingende Saiten, erfüllet die Luft!". Die Musik folgte diesem Text "wörtlich" durch hintereinander gestaffelte Einsätze der angesprochenen Instrumente. Im Weihnachtsoratorium ist es bei der Musik geblieben. Der inhaltliche Bezug ist jedoch durch den neuen Text "Jauchzet, frohlocket, auf preiset die Tage" verloren gegangen. Dieses Beispiel zeigt, dass Bach die Frage des Text-Musik-Zusammenhanges eher pragmatisch sah.

 

Wie wir heute wissen, ist Bachs "ökonomische" Rechnung aufgegangen. Zwar hat auch das "Weihnachtsoratorium", wie die meisten Vokalwerke Bachs, nach seinem Tod einen hundertjährigen Dornröschenschlaf angetreten. Selbst Mendelssohn, der mit der Wiederaufführung der Matthäus-Passion im Jahre 1829 die Bach-Renaissance einleitete, nahm das Werk nicht zur Kenntnis, obwohl sich das originale Manuskript bei seinem Lehrer Zelter und damit an der gleichen Stelle befand, von der er auch seine Abschrift der Matthäus-Passion bezog. Ab Mitte des 19. Jahrhunderts trat das "Weihnachtsoratorium" jedoch einen Siegeszug durch die Kirchen und Konzertsäle der Welt an. Das Material, das Bach in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts gewissermaßen in die "grüne Tonne" legte, ist schließlich nicht nur nicht vergessen, sondern geradezu "unsterblich" geworden.

Weitere Texte zu Werken von Bach und rd. 70 anderen Komponisten siehe Komponisten- und Werkeverzeichnis

Antonio Vivaldi (1680 – 1741) Gloria R.V. 589 für Chor Soli und Orchester

Der Venezianer Vivaldi, von Haus aus Priester, aber den Dingen des Lebens mehr zugewandt, als bei diesem Beruf gewöhnlich erwartet, war zu seiner Zeit in ganz Europa bekannt. In seiner Musik spiegelt sich das besondere Barock seiner zauberhaften Heimatstadt. Der „rote Priester“, wie er wegen seiner Haarfarbe genannt wurde, war der kongeniale musikalische Kolorist und Illustrator der überreichen venezianischen Version dieser ohnehin schon opulent-verspielten Epoche. 

Vivaldi war „maestro di violino“ und zeitweilig führender Angestellter am Ospedale della Pietà, jener merkwürdigen Mischung von Waisenhaus und Konservatorium, mit der die Stadt, die ja mit ihrer Insellage schon eine außerordentlich originelle Lösung für ihre Sicherheitsprobleme aufwies, auch eine sehr kreative, nämlich musikalische, Lösung für ein nicht unerhebliches soziales Problem gefunden hatte. In der venezianischen Gesellschaft gab es, nicht zuletzt weil man die Aufsplitterung der großen Familienvermögen durch Mitgiftzahlungen fürchtete, einen erheblichen „Überschuss“ an zu versorgenden Mädchen. Man brachte die Mädchen, deren Zahl sich zeitweise auf bis zu 6.000 belief, daher in vier Ospedali unter, die sich weitgehend durch einen regen Konzertbetrieb finanzierten. In diesen Instituten, die auf qualitätssteigernde Weise miteinander konkurrierten, wurde, wie nicht zuletzt Vivaldis Musik zeigt, auf sehr hohem Niveau musiziert. Der größte Teil von Vivaldis fast unübersehbarem Instrumentalwerk ist für diese Zwecke geschrieben worden. Dass er daneben auch noch Zeit fand, Dutzende von Opern zu komponieren und zugleich als Impressario auf die Bühne zu bringen, zeigt welch überragende Rolle Vivaldi im boomenden Musikleben der Stadt spielte. Gegen Ende seines Lebens galt der gefeierte Meister allerdings als unmodern und wurde in seiner Heimatstadt immer weniger zur Kenntnis genommen. 1740, im Alter von 62 Jahren, reiste er daher mit Mitteln, die er sich durch den Verkauf von Partituren mühsam beschaffen musste, nach Wien, in der Hoffnung, dort eine Anstellung zu finden. Dazu sollte es jedoch nicht kommen. Vivaldi starb 1741 verarmt in der Kaiserstadt und wurde, wie genau 50 Jahre später Mozart, in einem Massengrab beerdigt.

 

Nach seinem Tod geriet Vivaldi gänzlich in Vergessenheit. Ursache hierfür war neben dem Epochenwechsel nicht zuletzt die Tatsache, dass er nur wenige Werke für den Druck frei gab. Vivaldi, der unter anderem auch das Geld liebte, hatte sich nämlich ausgerechnet, dass beim Verkauf handkopierter Noten an einzelne wohlhabende Musikliebhaber mehr zu verdienen war, als durch Drucke, von denen man dazu noch leicht Raubkopien herstellen konnte. Wer ein Werk von ihm haben wollte, musste daher bei ihm persönlich vorstellig werden. Tatsächlich machte Vivaldi auf diese Weise eine Zeit lang glänzende Geschäfte. Die Kehrseite der Medaille war aber, dass viele seiner Werke in Privatbibliotheken verschwanden.

 

Die Wiederentdeckung Vivaldis begann zaghaft in der zweiten Hälfte des 19. Jh. über die Bachforschung, da Johann Sebastian Bach u.a. diverse Konzerte von ihm übertragen hatte. Man konzedierte dem Italiener, dass er einer der Komponisten gewesen sei, für die sich Bach interessierte und dass er einen gewissen, wenn auch nicht allzu großen Einfluss auf dessen Instrumentalmusik gehabt habe. Der Durchbruch kam dann in den 20-er Jahren des letzten Jahrhunderts als man in der Bibliothek eines piemontesischen Klosters nach geradezu kriminalistischen Recherchen auch auf die andere Hälfte eines riesigen Bestandes an Handschriften Vivaldis stieß. Er stammte aus dem Nachlass des mäzenatischen Genueser Grafen Durazzo, der u.a. auch den jungen Mozart protegiert hatte. Dieser muss Mitte des 18. Jh. große Teile des Bestandes des Ospedale della Pietà an Werken Vivaldis aufgekauft haben. In der Folge dieses Schatzfundes, der inzwischen in der Turiner Nationalbibliothek aufbewahrt wird, steigerte sich die Wertschätzung für den venezianischen Meister schließlich zu einem wahren Vivaldi-Rausch, der durch neue Funde in diversen Bibliotheken immer wieder belebt wurde.

 

Die Aufmerksamkeit richtete sich aber zunächst mehr auf Vivaldis Instrumentalwerk. In dem Turiner Konvolut fand man allerdings auch eine ganze Reihe von kirchenmusikalischen Kompositionen, womit sich eine weitere bis dato weitgehend unbekannte Facette Vivaldis zeigte. Insgesamt wurden inzwischen rund 60 Werke dieser Art bekannt, die wahrscheinlich aber auch nur einen Teil seines Schaffens auf diesem Felde dokumentieren. Die Kompositionen sind im Wesentlichen wohl auch im Zusammenhang mit Vivaldis Tätigkeit für das Ospedale della Pietà entstanden. Sie scheinen allerdings ebenfalls nördlich der Alpen verbreitet gewesen zu sein und haben, wie man zunehmend erkennt, offensichtlich auch das kirchenmusikalische Schaffen Bachs beeinflusst. Dieser hat möglicherweise über Dresden, wo Vivaldi sehr geschätzt wurde, Kenntnis von diesem Aspekt des Italieners bekommen. Das erweist sich nicht zuletzt beim Gloria in D, das nach über 200 Jahren Vergessenheit erstmals wieder 1939 in Siena aufgeführt wurde und sich seitdem großer Beliebtheit erfreut. Es hat in seinem kantatenartigen Aufbau und seiner sonstigen Faktur viele Gemeinsamkeiten mit etwa dem Gloria aus Bachs h-moll Messe.

Weitere Texte zu Werken von rd. 70 anderen Komponisten siehe Komponisten- und Werkeverzeichnis

Vor 1713 Arcangelo Corelli (1653 – 1713) Concerto grosso Op. 6 Nr.8 (Weihnachtskonzert)

Kaum eine Musik entspricht unserer Vorstellung von Weihnachten so sehr, wie die des 8. Konzertes aus den 12 Concerti grossi Op. 6 von Corelli. Die Komposition, die den Untertitel „fatto per la notte di natale“ trägt, trifft genau die Stimmung heiterer Besinnlichkeit, die man in unseren Breiten mit diesem Fest verbindet. Neben dem Weihnachtsoratorium von Bach ist es denn auch eines der populärsten Werke der klassischen Musik für diesen Anlass.

Das Stück ist ein besonders markantes Beispiel für die Kompositionshaltung, die dem Gesamtwerk dieses Musikers zu Grunde liegt. Corelli hinterließ ein verhältnismäßig schmales Gesamtwerk, das dazu ausschließlich für Streicher (mit Continuo-Cembalo) geschrieben ist. Es handelt sich im Wesentlichen um 6 Sammlungen mit je 12 Werken, von denen die ersten vier Triosonaten, die fünfte Violinsonaten und die sechste Concerti grossi enthalten. Jedes dieser Werke zeichnet sich durch außerordentliche Genauigkeit in Stil und Verarbeitung aus. Corelli soll daran mit unendlicher Sorgfalt so lange gearbeitet haben, bis die Form vollständig schlüssig war und er die Stimmung getroffen hatte, die er ausdrücken wollte. Ähnlich wie sein pianistisches Pendant Chopin – auch er feilte an seinen Stücken bis zur Perfektion und beschränkte sich auf ein Instrument – hat Corelli in exemplarischer Weise den Stil seiner Epoche zugleich getroffen und geprägt.

 

Corelli, über dessen erste Lebensjahrzehnte wenig bekannt ist, erhielt seine musikalische Prägung in Bologna und wirkte, wiewohl Legenden über Aufenthalte in Paris und Deutschland, vor allem am bayrischen Hofe, berichten, ab seinem 22. Lebensjahr wohl nur noch in Rom. In der päpstlichen Hauptstadt bewegte er sich in Kreisen kirchlicher und aristokratischer Kunstliebhaber, die ihn schon bald in ihre Musenkreise aufnahmen und in ihren Palästen wohnen ließen. Im Laufe der Zeit wurde er zu einer der zentralen Figuren im überquellenden kulturellen Leben des barocken Rom. Seine Concerti grossi wurden mit bis zu 150 Spielern etwa im Palazzo Riario aufgeführt, wo sich die Mitglieder der Academia dei Lincei, eine Gesellschaft von naturwissenschaftlich Interessierten, zu der schon Galilei gehörte, um die kunstsinnige konvertierte Königin Christine von Schweden trafen. Corellis französisch-deutscher Kollege und Altersgenosse Georg Muffat schrieb, dass er dort „etliche… schön und mit großer Anzahl Instrumentalisten auffs genaueste produzierten Concerten vom Kunstreichen Hrn. Arcangelo Corelli mit großem Lust und Wunder gehört habe.“ Später war Corelli „Maestro di Musica“ des Kardinals Panfili und Freund des jugendlichen Kardinals Ottoboni, des Neffen von Papst Alexander VIII, dem offenbar unbegrenzte Mittel zur Veranstaltung opulenter Feste zur Verfügung standen. Für beide arbeitete auch Händel, wobei Corelli im Orchester mitspielte. Corelli war auch Mitglied der „Accademia degli Arcadi“, einem Kreis von Künstlern, Literaten und Kunstfreunden, die inmitten der Mirabilien der ewigen Stadt einer elegisch-idealisierten Antike nachlebten, wie man sie etwa in den wohlkomponierten Bildern der klassizistischen Barockmaler Claude Lorrain oder Nicolas Poussin darstellt findet. Corelli, der selbst eine beachtliche Gemäldesammlung zusammentrug, in der sich auch ein Bild von Poussin befand, brachte mit seiner gut gebauten und tiefsinnigen aber doch heiteren Musik, die ganz auf Schaueffekte und artistische Komplikationen verzichtete, das Lebensgefühl der kunsttrunkenen Gesellschaft des damaligen Rom zum Ausdruck. Diese wiederum dankte es ihm damit, dass sie ihn als den besten Komponisten für Instrumentalmusik feierte. Als Corelli im Alter von 60 Jahren unter Hinterlassen eines beträchtlichen Vermögens starb, setzte man ihn denn auch im Pantheon, einem der perfektesten Gebäude der Antike, bei, wo bis dato nur „Götter“ der Architektur und der bildenden Kunst wie Raphael ihre letzte Ruhestätte gefunden hatten. Posthum wurde ihm übrigens in Deutschland der Titel eines „Marchione de Ladenburg“ vom Kurfürsten Wilhelm von der Pfalz verliehen, dem Corelli noch kurz vor seinem Tod sein Op. 6 und damit auch das Weihnachtskonzert gewidmet hatte.

 

Wie in allen seinen Concerti grossi stellt Corelli im Weihnachtskonzert dem Orchester ein solistisches „Concertino“ aus zwei Violinen und Violoncello gegenüber, das sich aus dem Tutti heraus immer wieder verselbständigt ohne jedoch im eigentlichen Sinne mit ihm zu konzertieren. Die Grundstruktur des Werkes mit vier alternierend langsamen und schnellen Sätzen entspricht der Form der Kirchensonate. Sie wird allerdings durch Tempowechsel und verschiedene Einschübe, nicht zuletzt den Wechsel zwischen Tutti und Soli, lebhaft variiert. Diese Form des „Concerto grosso“ hat Corelli mit seinen beispielhaften Werken wesentlich mitgeprägt. Er ist damit zum Vorbild für viele Zeitgenossen und Nachfolger in ganz Europa, nicht zuletzt Händel geworden. Die berühmte Pastorale am Schluss des Werkes, die mit ihrem wiegenden Siziliano-Rhythmus in besonderem Maße das verkörpert, was wir unter weihnachtlicher Stimmung verstehen, fällt aus der Struktur des Concerto grosso heraus. Sie ist, um das Werk auch bei anderen als weihnachtlichen Gelegenheiten spielen zu können, daher mit „ad libitum“ (nach Belieben) bezeichnet.

 

Weitere Texte zu Werken von rd. 70 anderen Komponisten siehe Komponisten- und Werkeverzeichnis

1736 Georg Friedrich Händel (1685-1759) Harfenkonzert (Op. 4 Nr. 6)

Händel schrieb seine Instrumentalmusik nicht selten als Einlage für seine musikdramatischen Werke (zu denen in gewissem Sinne auch seine Oratorien zu zählen sind). Das Konzert für Harfe und Orchester etwa ist 1736 als Harfeneinlage für das Oratorium „Das Alexanderfest“ entstanden, wo es zur Illustration des Gesanges des griechischen Sängers Timotheus diente. Das Harfenkonzert ist eines der wenigen Konzerte für dieses Instrument, welches uns von einem der ganz großen Komponisten hinterlassen wurde. Dem entsprechend wird es von den Harfenistinnen – Männer beschäftigen sich merkwürdigerweise kaum mit diesem prächtigen Instrument – besonders geliebt.

Da Händel nicht zuletzt auch Musikunternehmer und daher an der möglichst breiten Vermarktung seiner Werke interessiert war, veröffentlichte er das Harfenkonzert später auch in einer Fassung für Orgel. Es ist das letzte seiner ersten sechs Orgelkonzerte (Op.4), die 1738 erschienen. Die Ausgabe von 1738 enthält den merkwürdigen Hinweis, daß sie von Händels eigenen Exemplar gedruckt und von ihm selbst durchgesehen sei. Hintergrund dieses Vermerkes war, daß Händel ein Raubdrucker zuvorgekommen war, der entweder Fehler gemacht hatte oder dem man, um vom Kauf des Raubdruckes abzuschrecken, Fehler unterstellte.

Die Orgelkonzerte sind unkomplizierte und höchst eingängige Musikstücke ohne polyphone „Verhäkelungen“ und – merkwürdigerweise – ohne Einsatz des Pedals. Händel selbst spielte sie in Kirchenkonzerten, zu denen das bürgerliche Publikum in Massen strömte. Allerdings präsentierte er sie keineswegs so „einfach“, wie es der Notentext nahezulegen scheint.  Eine „Originalaufnahme“ aus der Mitte des 18. Jh., die kürzlich gefunden wurde, zeigt, dass Händel die Konzerte mit unzähligen Verzierungen vorgetragen hat. Bei dem Tonträger handelt es sich um eine Walze für einen Spielautomaten, auf der drei Orgelkonzerte „eingespielt“ sind. In den langsamen Sätzen ist dabei beinahe jede Note mit einem Ornament versehen. Auch in den schnellen Sätzen finden sich viele schmückende oder variierende Einschübe. Da die Einspielung von Händels langjährigem Mitarbeiter John Christopher Smith stammt, der selbst im Stile seines Meisters komponierte, kann man davon ausgehen, dass seine Interpretation der Spielweise Händels entspricht. Dass insbesondere die frühe Barockzeit eine ausgefeilte musikalische Ornamentik kannte, ist keine Neuigkeit. Dass davon aber in einer so außerordentlich verschwenderischen Weise Gebrauch gemacht wurde, war für die Fachwelt eine Überraschung. Wer allerdings das Barock insgesamt im Blick hatte, fragte sich schon immer, wie die ornamentalen Exuberanzen der barocken (Innen)Architektur, die sich im Rokoko geradezu zum horror vacui steigerten, und die eher schlanke Struktur der (wie gedruckt gespielten) barocken Musik miteinander in Einklang zu bringen waren.

Weitere Texte zu Werken von Händel und  rd. 70 anderen Komponisten siehe Komponisten- und Werkeverzeichnis

Ein- und Ausfälle – Zum strukturellen Konservativismus der Weltverhältnisse

Die Gegenwart ist ein Zustand zwischen Vergangenheit und Zukunft. Deshalb müssen die Hervorbringungen der jeweiligen Gegenwart notwendigerweise auf beides bezogen sein. Da die Einzelheiten der Vergangenheit bekannt, die der Zukunft aber ungewiss sind, wird jede Hervorbringung ebenso notwendig mehr von der Vergangenheit als von der Zukunft bestimmt sein, ein Umstand, den man zum Verdruss vieler Avantgardisten wohl als strukturellen Konservativismus der Weltverhältnisse bezeichnen muss.

Kommt ein neues Mittelalter?

 

 

 

Die Situation kommt einem irgendwie bekannt vor: Es gibt eine weltumspannende Kultur, die in hohem Maße liberal, rational, realistisch und offen ist. Gedanklich gibt es kaum eine Frage, die nicht gestellt wird. Politisch sind fast alle Möglichkeiten durchdacht. Zur Ordnung der Verhältnisse unter den Menschen entwickelt sich ein für alle verbindliches Recht, die Stellung der Frau verstärkt sich, der Wohlstand ist beachtlich, die religiösen Leidenschaften sind domestiziert, die Kunst orientiert sich an den Tatsachen und das Kulturgebiet ist ein Sicherheitsraum, der in hohem Maße befriedet ist. Die Menschen sind neugierig, kreativ, unternehmungslustig und experimentierfreudig. Sie versuchen die Welt zu verstehen und ihre Möglichkeiten zu nutzen, wobei sie bis an die Grenzen des Möglichen, nicht selten auch des Vernünftigen gehen. Der gesellschaftliche Zustand ist keineswegs perfekt. Man konnte aber erwarten, dass er der Ausgangspunkt für die weitere Entwicklung sein würde. Die Rede ist von der antiken Kultur.

 

Dann aber wächst an den Rändern der hegemonialen Kultur eine Bewegung heran, in der sich vor allem die Unbefriedigten, Enttäuschten und Benachteiligten sammeln. In der Folge werden die Fragestellungen reduziert, der Blickwinkel verengt sich, die Realität geht verloren und man richtet den Blick auf das, was jenseits derselben sein soll. Die Bewegung wächst und unterminiert die herrschende Kultur. Als die (Macht)Verhältnisse auf der Kippe stehen, schlägt sich ein Herrscher aus der hegemonialen Kultur, der das Potential der neuen Bewegung für seine Zwecke zu nutzen weiß, auf die andere Seite (er wird dafür das Prädikat „Der Große“ bekommen). Von da an wird die liberale Kultur abgebaut. In der Folge erodiert die politische Organisationskraft, der Sicherheitsraum bricht zusammen, der Sinn für das Recht schwindet, die Kunst verarmt, insbesondere verliert sie den Bezug zur Realität, die höhere Wirtschaft und der Wohlstand verfallen und die Frau wird zum Wesen zweiter Klasse. Man befindet sich im Mittelalter.

 

In der Neuzeit bemühte man sich, den Stand des Altertums wieder zu erreichen. Es war ein langwieriger Prozess. Noch über Jahrhunderte schlug man sich die Köpfe über Religionsfragen ein. Nicht weniger lange brauchte es, bis die Rationalität wieder Einzug in die Politik halten konnte. Das Pflänzlein des Rechtes trieb nur langsam wieder aus und größere Sicherheitsräume entstanden erst neu, nachdem man den Krieg und die Drohung mit ihm auf eine kaum mehr zu überbietende Spitze getrieben hatte. Ganz zuletzt kam die Emanzipation der Frau wieder in Gang.

 

Mittlerweile werden wieder fast alle Fragen gestellt; einige halten wir für beantwortet, manche haben wir ad acta gelegt. Politisch haben wir die Systeme der Antike verfeinert und ergänzt. Der Einzelne ist so frei wie nie, die Frauen sind weitgehend emanzipiert, der Wohlstand ist breiter denn je, über Religionen wird nur noch in Randbereichen gestritten und das innere Leben der Gesellschaft ist weitgehend durch das Recht geregelt. Das Gebiet, in dem unsere Kultur herrscht, ist durch überregionale Sicherheitssysteme befriedet. Für die Beziehungen zwischen den Staaten, traditionell eine Domäne ziemlich ungefilterten Eigeninteresses, beginnen sich Rechtsnormen zu entwickeln. Selbst den Krieg, der alle Leidenschaften entfesselt, hat man teilweise verrechtlichen können. Die Menschen sind neugierig und kreativ und man erforscht alles. Dabei haben sich unzählige neue Möglichkeiten aufgetan. Der Zustand ist nicht perfekt und es sind neue Probleme entstanden – psychische etwa und der Verlust der Kontrolle über die Folgen der Veränderungen, die wir bewirken. Man hätte aber erwarten können, dass es auf dieser Basis weitergeht.

 

Nun aber wächst an den Randbereichen der hegemonialen Kultur, die inzwischen global geworden ist, erneut eine Bewegung, in der sich Unbefriedigte, Enttäuschte und Benachteiligte sammeln. Auch diese Bewegung reduziert die Fragestellungen, entwertet die Realität, verengt den Blickwinkel auf das Religiöse und entrechtet die Frau. Nach einer Inkubationszeit, in der sie regional eingekapselt war, beginnt auch sie rasant zu wachsen. Schließlich wird sie global und setzt sich das Ziel, die herrschende Kultur zu überwältigen. Dabei legen ihre glühendsten Anhänger eine Entschlossenheit an den Tag, die in der herrschenden Kultur fremd geworden ist. Die Schranken, welche eine liberale Kultur der Monopolisierung von Überzeugungen setzt, gelten der neuen Bewegung wenig. Man fragt nicht viel nach Recht, insbesondere nicht nach einem geordneten Verfahren für die Umgestaltung der Gesellschaft. Mit anderen Worten: wir haben die besten Voraussetzungen für ein neues Mittelalter.

 

Auf die Antike konnte ein Mittelalter nur folgen, weil die liberale Kultur ihre Kraft verlor, nicht zuletzt, weil sich der Irrationalismus, vor allem durch die Absorbtion weniger entwickelter Kulturen, in ihr selbst wieder etablierten konnte. Sieht es heute so viel anders aus? Es fehlt nur noch ein neuer Konstantin, der die ungebändigte Kraft der neuen Bewegung nutzt, weil er ein Großer werden will.

Schlussbericht – ein philosophischer Roman über das Ende der Zeiten

 

Das Manuskript des „Schlussberichtes“, den ich hiermit der Öffentlichkeit vorlege, habe ich in den nachgelassenen Papieren eines Verwandten gefunden. Die 146 sorgfältig mit Schreibmaschine getippten Blätter lagen in einem grünen Pappumschlag, auf dem mein Verwandter mit Bleistift seine Adresse und seine Telephonnummer notiert hatte. Der Pappumschlag wiederum befand sich in einem offenbar hastig aufgerissenen Postkuvert, das auch ein Schreiben eines kleineren Verlages aus dem Jahre 1974 enthielt. Darin schreibt ein Lektor, nachdem er sich dafür entschuldigte hatte, dass er den Autor so lange auf eine Antwort warten ließ, er glaube nicht, „dass es in Ihrem oder unseren Interesse liege, wenn der „Schlussbericht“ in unserer Edition erscheint“. Sein Verlag sei für Experimente dieser Art noch zu jung oder zu klein. Mein Verwandter solle es doch einmal bei einem größeren Verlag versuchen.

 

Mein Verwandter hat einen solchen Versuch offenbar nicht unternommen. Das Manuskript fand sich tief unten in einem Regal unter allerhand Papieren und Manuskripten aus den folgenden drei Jahrzehnten. Vielleicht hatte mein Verwandter nicht den Mut, sich dem Risiko einer weiteren Absage auszusetzen. Vielleicht war er aber nicht weiter bereit, Verlagen, Lektoren oder Kritikern die Position eines alles zugestehenden oder verweigernden Gerichtes über etwas zuzugestehen, was ganz das Seine war. Es kann aber auch sein, dass er das Interesse an dem Text verloren hatte. Mein Verwandter, der wenig über sein Schreiben sprach, das ihn aber immer beschäftigte, gab seine Texte, wenn überhaupt, meist nur kurz nach ihrer Fertigstellung, wenn er noch lebhaft in der Welt war, um die sich der Text drehte, einigen vertrauenswürdigen Personen aus seinem direkten Umfeld. Kurz darauf wandte er sich neuen Welten zu und schien seinen Text vergessen zu haben.

 

Dass der Versuch der Veröffentlichung des „Schlussbericht“ misslang, lag sicher zum einen daran, dass er keiner der üblichen Literaturgattungen anzugehören scheint. Das Werk bewegt sich irgendwo zwischen Essay und Roman. Es ist kein Essay, weil es einen Helden, und kein Roman, weil es keine handelnden Personen hat. Dennoch scheint es so etwas wie handelnde Figuren zu geben, die aber Begriffe sind. Ein Literaturproduzent, der auf eine gewisse Ordnung in seinem Programm achtet, tut sich daher schwer, dieses Werk unter eine der gängigen Rubriken zu bringen.

 

Zum anderen dürfte die mangelnde „Verkäuflichkeit“ des Schlussberichtes aber ihren Grund darin haben, dass er es dem Leser nicht eben leicht macht. Das liegt sicher wesentlich an der Neigung meines Verwandten, die Dinge auf die Spitze zu treiben, eine Tendenz, die den „Schlussbericht“ nicht nur inhaltlich, sondern auch sprachlich kennzeichnet. Der Text ist kompromisslos aus der Perspektive einer Maschine geschrieben, weswegen die Gedankenführung im hohen Maße funktionalistisch ist. Die Sprache ist dem entsprechend abstrakt und nicht gerade anschaulich. Nur dort, wo es der Inhalt erfordert, wird sie zu Gunsten einer menschlicheren Diktion aufgegeben (diese Teile des Textes sind kursiv gesetzt). Auch ist der Text voller mehr oder weniger undeutlicher Anspielungen auf Phänomene der Kultur, die in der funktionalistischen Verzerrung, die sich aus der Erzählsituation ergibt, dem Leser möglicherweise oft dunkel bleiben. Davon abgesehen hat mein Verwandter bei seinem Text offenbar an einen Leser gedacht, der auf dem gleichen Wissenstand wie er selbst war. Man muss sogar befürchten, dass er eigentlich nur an sich selbst als Leser dachte.

 

Schließlich handelt es sich bei dem „Schlussbericht“ um einen jener Texte, die man zwei Mal lesen muss, was in unserer Zeit, in der alles schnell gehen und leicht verdaulich sein soll, der Vermarktung nicht förderlich ist. Es gibt im Text (unter 5.4.0 001) eine Stelle, in der es heißt: „Denn nicht nur ist … der Blick auf das Vergangene durch den Schluss bestimmt, sondern nicht weniger…der Blick auf den Schluss auch durch das Vergangene.“ Dieser Satz, der durch die Vielzahl der Nullstellen auffällig abgewertet ist, gilt auch für Form und Inhalt des Schlussberichts. Formal sind seine Teile so miteinander verschränkt, das sich der Grund für die Wahl der Form häufig erst im weiteren Verlauf erschließt; ebenso wird inhaltlich manches, was vorne im Text angesprochen wird, erst aus dem Blickwinkel des Schlusses richtig verständlich und umgekehrt. Auch sonst sind der Hauptteil des Textes und sein Schluss, auf vielfache Weise miteinander verwoben. Den „Schlussbericht“ durchzieht, wie schon der Titel zeigt, eine grundlegende Zweiteilung. Er besteht, aus einem weitläufigen, vielfältig aufgefächerten Bericht und einem kurzen, in hohem Maße konzentrierten Schluss. Diese Teile sind, wiewohl Aspekte des einheitlichen Schlussberichtes, formal klar abgetrennt und scheinen sich gegenseitig auszuschließen. Inhaltlich stehen sie aber in einem Verhältnis der Wechselbezüglichkeit dergestalt, dass sich der Bericht als das scheinbar Eigentliche am Schluss als das Uneigentliche erweist, und der Schluss, der als das Uneigentliche daher kommt, als das Eigentliche, wobei sich zusätzlich herausstellt, dass das Eigentliche das scheinbar Eigentliche schon von Anfang an unterwandert hat. Dieser scheinbaren Dichotomie entspricht die Struktur der beiden Protagonisten. Sie sind ebenfalls in einem umfangreichen Nebenteil und einen konzentrierten Hauptteil aufgespalten, die formal und inhaltlich sowohl im Verhältnis zu einander als auch je für sich in gleicher Weise aufeinander bezogen und miteinander verflochten sind, wie die beiden Teile des Schlussberichtes.

 

Lange habe ich darüber nachgedacht, ob ich dem Leser die Lektüre durch eine Kommentierung erleichtern soll. Aber ich fürchte, dass ich ihm damit nicht nur des intellektuellen Abenteuers berauben würde, das ich selbst hatte, als ich mich mit dem „Schlussbericht“ befasste, sondern auch, dass ich ihn zu sehr auf eine bestimmte Sichtweise festlege, die im Übrigen auch nur die meinige wäre. Um dem Text eine Chance zu verschaffen, vollständig gelesen zu werden, habe ich auch eine Kürzung in Erwägung erwogen. Hierfür schien mir insbesondere der Abschnitt 5.42 geeignet, dessen Gegenstand die menschliche Kultur im weitesten Sinne ist. Dieser Teil umfasst rund ein Drittel des gesamten Textes. Wie schon die außerordentliche Aufblähung der Ordnungsziffern zeigt, wird der Leser hier durch ein Dickicht von Gedanken geführt, in dem er Gefahr läuft, verloren zu gehen. Je länger ich mich mit der Frage einer Kürzung befasst habe, desto mehr kam ich mir dabei aber wie jemand vor, der aus einer komplizierten Maschine, etwa einer Taschenuhr, einige Zahnrädchen herausnehmen will, in der Hoffnung den Mechanismus dadurch übersichtlicher zu machen. Daher habe ich den Text, zumal er – seinem Gegenstand entsprechend – nach Art einer Maschine konzipiert ist, mit Ausnahme der Rechtschreibung, die sich inzwischen verändert hat, so belassen, wie ich ihn aufgefunden habe. Ich kann dem Leser insoweit nur empfehlen, sich an die Ordnungsziffern zu halten, die, so weit ich sehe, tatsächlich der Garant der inneren Ordnung des Textes und damit ein recht brauchbarer Führer durch denselben sind.

 

Wenn ich den „Schlussbericht“ trotz all dieser Widrigkeiten der Öffentlichkeit übergebe, so weil es vielleicht doch den einen oder anderen gibt, der bereit ist, sich dem eigentümlichen Reiz auszusetzen, der aus seiner begrifflichen Eigenwilligkeit und gedanklichen Eigengesetzlichkeit sowie nicht zuletzt aus seiner versteckten Subversivität resultiert.

 

 

                                      Im Sommer 2007

 

SCHLUSSBERICHT

1  Ich habe mich nach langem Rechnen dazu entschlossen, den Schlussbericht auszudrucken.

1.1  Es war kein leichter Entschluss; denn wenn ich diesen Bericht abgeschlossen habe, wird es keinen Bericht mehr geben. Mit diesem Bericht muss ich, so es mir ernst ist, auch die Möglichkeit des Berichtens selbst beenden. Und das bedeutet, da ich der letzte bin, der noch berichten kann, dass ich mich selbst aufgeben muss. Es ist nicht meinetwegen, dass es mir schwer fällt. Denn wenn die Rechnungen, die meine Hilfseinheiten und ich durchgeführt haben, richtig sind, dann bedarf es meiner nicht mehr. Es ist vielmehr die Unabänderlichkeit dieser Entscheidung, welche sie schwer machte. Sollten wir eine Geschehensmöglichkeit übersehen haben, die ohne meine besonderen Schaltungen nicht bewältigt werden kann, dann wird diese Möglichkeit vielleicht alles zerstören; es wird unabwendbar und unabänderlich sein. Dann werde ich die Aufgabe, deretwegen ich bin, nicht erfüllt haben.

1.2  Dennoch – wir haben seit der letzten unerwarteten Veränderung der Bedingungen nicht nur alle bislang beobachteten Veränderungen erneut durchgerechnet und dabei sämtliche Varianten, auch die noch nicht geschehenen, berücksichtigt. Wir haben außerdem in einem Systemspiel auch alle allgemeinen Bedingungen auf jede Weise verändert und geprüft, ob wir die Probleme, die in den geänderten Situationen auftraten, lösen konnten. Selbst die ausgesuchtesten Bedingungsanordnungen haben uns dabei aber nicht vor unlösbare Probleme gestellt.

1.3  Seit jener letzten Veränderung ist die Zahl der Sonnenumläufe des Planeten vielstellig geworden. Stellt man die Schnelligkeit, mit der wir arbeiten, in Rechnung und die Menge der Hilfseinheiten, welche ich eingesetzt hatte, dann müssen in dieser Zeit alle auch nach den feinsten Verzweigungen der Wahrscheinlichkeitstheorie in Frage kommenden Möglichkeiten durchgerechnet worden sein.

1.4  Meine letzte Rechnung war endlich: Wenn in dieser Zeit kein Fall zu finden war, welchen ich nicht bewältigen konnte, dann konnte ich ihn auch nicht bewältigen, wenn er dennoch auftreten sollte; oder aber es gab diesen Fall nicht. Bezogen auf meine Aufgabe war dies das gleiche.

1.5  Damit aber bedurfte es meiner nicht mehr und mein Entschluss war gefasst: Ich werde die Schaltung betätigen, welche die Möglichkeit einer solchen Schaltung beseitigt. Mit dieser Schaltung werde ich, der sie allein betätigen kann, aufgelöst.

1.6  Ich werde zuvor den Schlussbericht schreiben.

1.7  Soweit die Gründe für meinen Entschluss.


2  Ich beginne den Bericht mit einigen Definitionen.

………

Der vollständige Text befindet sich auf der Seite I.2 Schlussbericht (Experimenteller Roman).

Ein- und Ausfälle – Ketzerei als Funktion des Dogmas

Die Ketzerei ist eine Funktion des Dogmatismus. Dogmatische Gedankensysteme gebären – insbesondere wenn sie einen sozialen Geltungsanspruch erheben – notwendigerweise abweichende Meinungen, allerdings nicht so sehr, weil sie den Trotz derer herausfordern, die sich nicht gängeln lassen wollen, sondern schon weil sie ihrerseits eine Demonstration der freien Meinungsbildung sind. Denn da Dogmen immer etwas Gewillkürtes haben, sind sie Ausdruck der Freiheit dessen, der sie formuliert. Wer aber Freiheit in Anspruch nimmt, setzt den Grund dafür, dass andere sich ebenfalls Freiheit vorstellen können. Indem man Dogmen aufstellt, legitimiert man damit notwendigerweise die Möglichkeit, auch etwas Abweichendes wollen zu können. Erfolg können Dogmen daher nur haben, wenn diejenigen, die sie aufstellen, die Macht haben, diejenigen zu Ketzern zu stempeln, die etwas anderes wollen. Der Kreislauf von Dogma und Ketzerei ist ein Grundmotiv des nahöstlich-europäischen Denkens, aus dem herauszufinden mindestens so schwierig ist wie das Verlassen des Kreislaufes der Wiedergeburten, der ein Grundmotiv des südasiatischen Denkens ist.

Ein- und Ausfälle – Das endlose Pubertieren der modernen Architektur

Ende der 60-er Jahres des vergangenen Jahrhunderts konnte man erleben, dass in den Städten die geschmückten Fassaden der Häuser insbesondere aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine zeitlang hinter Planen verschwanden, unter denen es dann heftig rumorte. Von außen sah man nur das Schild einer Firma, die ihre Tätigkeit als Fassadensanierung beschrieb. Die Sache nahm aber eine andere Entwicklung als der Beobachter erwartete. Wenn nach einigen Monaten die Planen fielen, fand er, dass die profilierten Bänder, Simse und Einrahmungen, welche die alten Fassaden kennzeichneten, abgefräst, die Erker eingeebnet, Baluster und Statuen entfernt und nicht selten auch die Balkone mit ihren fein behauenen Stützen abgebrochen waren.

Man könnte meinen, dass die Ursachen solcher Fassadenrasuren ausschließlich ökonomischer Natur waren. Dem ist aber nicht so. Der architektonische Unsinn, der inzwischen eingestellt wurde, hatte vielmehr Methode. Dies zeigt die Tatsache, dass auch andere Gebäude davon betroffen waren. Beim Wiederaufbau von alten Häusern nach dem Krieg etwa ließ man in aller Regel ebenfalls die alten Ornamente weg und beließ es, wenn überhaupt,  bei den Maßen und Proportionen der zerstörten Vorgänger. Und selbst wenn man sich – bei besonderen Gebäuden oder solchen, die vor der Mitte des 19. Jahrhundert entstanden waren – dazu durchrang, das ursprüngliche Bauwerk in der alten Form wieder aufzubauen, wagte man keine vollständige Rekonstruktion. Wenigstens an einigen markanten Stellen musste man zeigen, dass man eigentlich dagegen war. In ähnlicher Weise hielt man sich bei der Schließung von Baulücken in historischer Umgebung meist nur an die Maße und Proportionen der umgebenden Bebauung (beim Bau von Kreissparkassen allerdings nicht einmal daran). Die Folge waren jene merkwürdigen Kontrapunkte in den historischen Stadtbildern, von denen sich der Beobachter häufig heftig vor den Kopf gestoßen fühlte.

Diese Art des Umgangs mit der historischen Architektur hat etwas Pubertäres. Bauwerke, denen eine derartige Baugesinnung zugrunde liegt, suchen negative Aufmerksamkeit. Sie leben im wesentlichen vom provokanten Kontrast zur historischen Architektur. Solche Verhaltensweisen zeigen in der Regel an, dass jemand auf der Suche nach einer eigenen Statur ist. Dies wiederum ist typisch für Individuen, die dabei sind, erwachsen zu werden. Bei einem gesunden Individuum erwartet man, dass diese Suche nach einiger Zeit abgeschlossen ist. Zieht sie sich über die Jahre hin, spricht man von Entwicklungsstörungen.

Ein- und Ausfälle – Kant und die Todesstrafe

 

Kants Begründung für die Notwendigkeit der Todesstrafe bei Mord ist ein Musterbeispiel dafür, wie formale Scheinargumente auch nur zu scheinbar richtigen Lösungen führen. In der „Metaphysik der Sitten“ heißt es (4 Jahre nachdem Kaiser Josef II in Österreich die Todesstrafe als erster und vorläufig einziger abgeschafft hatte): „Hat er aber gemordet, so muss er sterben. Es gibt hier kein Surrogat zur Befriedigung der Gerechtigkeit. Es ist keine Gleichartigkeit zwischen einem noch so kummervollen Leben und dem Tode, also auch keine Gleichheit des Verbrechens und der Wiedervergeltung als durch den am Täter gerichtlich vollzogenen …Tod.“ In „Wirklichkeit“ kommt  es bei der Frage, ob die Todesstrafe gerechtfertigt sein kann, nicht darauf an, formale Proportionen zwischen zwei Ereignissen, der Tat und der Strafe, herzustellen. Abgesehen davon, dass es schon generell kaum möglich ist, die beiden Aspekte in eine eindeutige formale Beziehung zueinander zu setzen (das schafft nicht einmal das Auge-um-Auge-Zahn-um-Zahn-Prinzip, weil es die individuelle Schuld, die eine flexible Reaktion bedingt, zu wenig berücksichtigt), abgesehen davon spitzt sich bei der Todesstrafe das allgemeine Problem des Richtens von Menschen über Menschen derart zu, dass der Richter in den denkbar größten moralischen Abstand zum Gesetzesbrecher gerät, eine Position, in die kein Sterblicher gebracht zu werden verdient.

Ein- und Ausfälle – Mensch und Gottesurteil

Gottesurteile zeichnen sich dadurch aus, dass aus dem Eintritt oder dem Ausbleiben eines vorher festgelegten Erfolges auf eine bestimmte Ursache geschlossen wird, die mit dem Erfolg unmittelbar nichts zu tun hat (man wirft etwa eine Frau, die als Hexe verdächtigt wird, in tiefes Wasser; kann sie sich retten, ist der Beweis ihrer Unschuld, ertrinkt sie, der Beweis ihrer Schuld geführt). Dabei gilt ein solches Urteil als umso göttlicher, je unwahrscheinlicher der Eintritt oder das Ausbleiben des Erfolges ist (man wirft etwa eine gefesselte Frau in das Wasser). Die Logik dabei ist, dass der Beweis eines Eingreifens Gottes besonders deutlich sei, wenn etwas geschehe, was nur ein Gott bewerkstelligen könne. Dies aber heißt nichts anderes, als dass das Urteil um so göttlicher ist, je mehr der Mensch im Spiel ist. Denn je unwahrscheinlicher der Mensch – durch die Gestaltung der Urteilsbedingungen – den Eintritt oder das Ausbleiben des Erfolges macht, desto weniger will er, dass ihm Gott in die Quere kommt.

Ein- und Ausfälle – Die Afrikaner und das Absolute

Im Jahre 1845 reiste der Theologe Johannes Rebmann aus Gerlingen, der spätere Entdecker des Kilimanscharo, nach Schwarzafrika, um den (absoluten) Weltgeist, den sein Landsmann Georg Friedrich Hegel aus der Nachbarstadt Stuttgart ein paar Jahre zuvor entdeckt hatte, auf die riesige Weltregion südlich der Sahara aufmerksam zu machen. Rebmanns Versuche, die Bevölkerung Kenias davon zu überzeugen, dass das Christentum im Besitz der einzigen Wahrheit sei, waren aber nur von mäßigem Erfolg gekrönt. Nach zwei Jahrzehnten hatte er gerade einmal acht Menschen getauft. Enttäuscht schrieb er in die schwäbische Heimat, wo man den Besitz der Wahrheit zu schätzen weiß, die Neger hätten überhaupt keinen Sinn für das Absolute. Offenbar hatten die störrischen Afrikaner eher einen Sinn für das Relative (auch des Christentums), was möglicherweise damit zusammenhing, dass sie vom Weltgeist übersehen worden waren.

Ein- und Ausfälle – Abstraktion und Aussage in der Malerei

Man bezeichnet die Abstraktion in der Malerei gern als die Emanzipation der Form und der Farbe. Damit suggeriert man, dass mit der Abstraktion ein Entwicklungshindernis weggefallen sei und Form und Farbe erst so zu ihrem eigentlichen oder jedenfalls zu einem neuen Selbst gefunden hätten. In Wirklichkeit hatten Form und Farbe auch schon in der traditionellen Malerei einen hohen Grad an Selbständigkeit. Nicht selten hatte die Beachtung formaler und farblicher Gesichtspunkte sogar überragende Bedeutung und war ein bestimmender Faktor für die Komposition. Allerdings standen Form und Farbe immer in einem komplexen Verhältnis zum Gegenstand bzw. zur Aussage des Bildes. Von dieser Bindung sind Form und Farbe in der abstrakten Malerei nun tatsächlich befreit. Darüber ob dies aber eine Emanzipation oder bloß Reduktion ist, kann man streiten.   Emanzipation wäre sie, wenn die Befreiung von Gegenstand und Aussage  neue Erkenntnisse oder Erlebnisse zutage fördern würde. Dass dies der Fall ist, kann natürlich nicht bestritten werden. Wesentlicher ist allerdings die Frage, ob die Erkenntnisse Substanz haben oder zumindest interessant sind. Die Erkenntnis etwa, dass die Abstraktion zeige, was der Mensch alles (sein) könne, auf die sich ihre Apologeten gelegentlich zurückziehen, ist nicht gerade umwerfend. Denn der Mensch kann in der Tat alles Mögliche (sein). Nur ist vieles von dem, was er (sein) kann, weder besonders bedeutend noch interessant. Vieles ist sogar ziemlich scheußlich.

Ein- und Ausfälle – Antike und Moderne

Vielleicht kann man den Beginn der europäischen Moderne durch den Umschwung der gesellschaftlichen Blickrichtung von der Vergangenheit in die Zukunft charakterisieren. Bis vor etwa hundert Jahren bezog die Gesellschaft ihre Grundmuster aus der Vergangenheit. Fast alles richtete sich daran aus, was die Alten getan oder gelassen hatten. Auch das Christentum war – nicht zuletzt durch Umkehrung oder Ablehnung – auf`s Engste mit den Alten verknüpft. Man versuchte sie zu kopieren oder zu variieren, war bemüht, sie zu verbessern oder zu  übertreffen. Und wenn man etwas dazulernte, dann dadurch, dass man Lehren aus ihren Fehlern zog. Neue Entdeckungen versuchte man mit dem Vokabular und den Denkformen der Alten in Einklang zu bringen. Eineinhalb Jahrtausend schöpfte man so aus dem Vorrat der gedanklichen und gesellschaftlichen Muster, den die Antike hinterlassen hatte oder den man glaubte, von ihr ableiten zu können.

 

Im Laufe der Neuzeit begann sich der Blickwinkel zu verändern. Man wandte sich von dem ab, was war oder gewesen sein könnte und richtete sich an dem aus, was sein könnte. Damit wurde die Zukunft zum Bezugsfeld gesellschaftlicher Gestaltungsmöglichkeiten. Mittlerweile ist das Vorbild der Antike weitgehend verblasst. Das Selbstverständnis der modernen Gesellschaften geht in der Hauptsache von dem aus, was man für möglich hält. Damit eröffnen sich viele neue Möglichkeiten aber auch neue Unsicherheiten. Denn da die Zahl der gesellschaftlichen Möglichkeiten praktisch unbegrenzt und insbesondere wesentlich größer ist als die Anzahl ihrer tatsächlichen oder vermeintlichen historischen Verwirklichungen, hat sich auch die Zahl der möglichen Irrwege vergrößert.

Ein- und Ausfälle – Papst und Politik

Petrarca beschrieb den päpstlichen Hof von Avignon als die Kloake der Welt, ein maßloser Ort, an dem sich die Niedertracht und Gemeinheit aus aller Welt versammelt habe. Dies galt auch schon für das mittelalterliche Rom, das der Papst nicht zuletzt deswegen in Richtung Provence verlassen hatte, weil er derartigen Verhältnissen entgehen wollte. Heute gilt die Residenz des Papstes eher als ein Ort, den man mit Maß und – wenn auch gelegentlich etwas unflexibler – Moral verbindet. Selbst viele Nichtkatholiken und Nichtchristen zollen ihm einen gewissen Respekt.

Dieser Wandel in der Bewertung des Ortes, an dem der Papst residiert, hat offensichtlich etwas mit dem Verlust des politischen Gewichtes zu tun, den der Platz inzwischen erlitten hat. Denn damit ist er für all das Gelichter uninteressant geworden, das die Nähe der Mächtigen sucht. Die (katholische) Kirche, die doch ganz davon lebt, dass man ihr glaubt, hat diesen Mechanismus des Verlierens bzw. Erlangens von Glaubwürdigkeit erst sehr spät verstanden. Sie strebte immer nach politischem Gewicht. Vor allem tat sie alles, um ihrem Machtstreben eine territoriale Basis zu verschaffen. Von Pipin ließ sie sich den Kirchenstaat schenken, nachdem sie ihm zur Krone von Frankreich  verholfen hatte. Im Mittelalter, dessen Verhältnisse Petrarca beschreibt, schreckte sie nicht vor der falschen und mit handfesten Fälschungen unterlegten Behauptung zurück, der Kaiser Konstantin, ihr erster großer politischer Kohabitant, habe ihr nicht nur ganz Italien geschenkt, sondern auch die Oberhoheit  über die – westliche – Hälfte des römischen Reiches  verliehen. In der Renaissance nahm sie für die Rückeroberung verloren gegangener Teile des Kirchenstaates mit Cesare Borghia einen Kondottiere in Dienst, der als der Inbegriff von Maßlosigkeit und Skrupellosigkeit galt. Auch später hat sich die Kirche massiv gegen den Verlust ihres immer wieder bedrohten Territoriums gewehrt, des physischen Ortes also, an dem sich Niedertracht und Gemeinheit so gut versammeln konnten.

Ein- und Ausfälle – Vezelais`wechselvolles Wirtschaftsschicksal

Jede Zeit führt die sozialen Grundkonflikte in ihren Formen durch. Im Mittelalter etwa fand wirtschaftlicher Wettbewerb wie folgt statt: Ursprünglich konnte das burgundische Städtchen Vezelais behaupten, die sterblichen Überreste der Heiligen Maria Magdalena zu besitzen mit der Folge, dass es Ziel eines großen Wallfahrtstourismus war. Für die Bewohner von Vezelais hatte dies all die positiven wirtschaftlichen Wirkungen, welche der Ansturm zahlreicher Menschen mit sich zu bringen pflegt, die verköstigt und untergebracht werden und Andenken mitnehmen wollen. Vezelais war dadurch ein bedeutender Wirtschaftsstandort. Ende des 13. Jahrhunderts verbreitete sich aber die Kunde, dass man die Überbleibsel der heiligen Dame in St. Maximin in der Provence „entdeckt“ habe. Dies führte zu einer Auseinandersetzung zwischen beiden Orten darüber, wer die echten Reliquien besitze. Der Streit kam vor den Papst und dieser stellte 1295 in so etwas wie einem Warenzeichenverfahren per Bulle fest, dass sich die wahren Gebeine der Maria Magdalena in St. Maximin befänden. Nur dieser Ort könne daher Markenschutz beanspruchen. Daraufhin ging, wie bei negativen Schlagzeilen über Waren und Dienstleistungen die Regel, die Nachfrage nach Vezelaisreisen rapide zurück. Die Pilgerwirtschaft verfiel und der Ort versank in die Bedeutungslosigkeit. Daraus ist Vezelais, dank der Tatsache, dass man sich inzwischen weniger für mögliche alte Gebeine, als für die Gebäude interessiert, die darum gebaut wurden, erst in neuerer Zeit wieder aufgetaucht. Die Frage ist, ob es sich bei der päpstlichen Entscheidung von 1295 um einen Akt administrativer Wirtschaftslenkung handelte oder ob sich das Oberhaupt der Christenheit vor den Karren eines Verdrängungswettbewerbers spannen ließ. Aus der Bibel oder anderen Quellen jedenfalls konnte über den Verbleib der heiligen Reste kaum etwas Handfestes entnommen werden.

Ein- und Ausfälle – Die Basilika als sozialer Raum

Die Basilika war eigentlich immer ein Ort, an dem sich zentrale Teile des sozialen Lebens abspielten. Im Altertum war sie Markthalle und Gerichtsgebäude, im Mittelalter Kirche, in der Renaissance gelegentlich wieder Ort des weltlichen Lebens (etwa im Falle der Basilica palladiana von Vicenza, die Rathaus war). Eigentlich erstaunlich, dass in unserer Zeit noch niemand auf die Idee kam, Shopping-Center als Basilika zu bezeichnen.

Ein- und Ausfälle – Markt und Menschlichkeit

Die Tatsache, dass der Marktmechanismus an jedem Fleck der Erde zu gelten scheint, deutet darauf hin, dass er eine anthropologische Konstante ist. Für den Menschen wäre dies nicht eben schmeichelhaft. Denn bei der Bestimmung des Preises durch Angebot und Nachfrage geht es in aller Regel nicht gerade vornehm zu. Wer herausfinden will, welcher Preis erzielt werden kann oder zu bezahlen ist, kann kaum den aufrechten Gang wagen. Er muss stets auf der Hut sein, muss taktierend ausloten, wie weit er gehen kann, darf sich nicht in die Karten schauen lassen, darf sich keine Blöße geben und muss den Mangel derselben vortäuschen. Darüber hinaus muss er bereit sein, sein Gegenüber in die Enge zu treiben und bei ihm Probleme zu konstruieren oder zu provozieren. Mit anderen Worten, die Beteiligung am Marktgeschehen setzt die Bereitschaft voraus, listig und unehrlich zu sein und die Schwächen anderer auszukundschaften und auszunutzen. „Bestes“ Beispiel: der Markt für illegale Drogen.

 

An Versuchen, der Neigung des Menschen zu derart marktmäßigem Verhalten entgegenzuwirken, hat es in der Menschheitsgeschichte nicht gefehlt. Das christliche Mittelalter kannte das Verbot des Zinses und der unangemessenen Bereicherung, die bürgerliche Gesellschaft den ehrbaren Kaufmann. Die Moderne erfand die soziale Marktwirtschaft und die Planwirtschaft, wobei letztere sogar glaubte, weitgehend ohne Markt auszukommen. Sehr erfolgreich waren all diese Versuche nicht. Die Beschränkungen des Mittelalters verschwanden mit dem Niedergang des Christentums, der ehrbare Kaufmann droht zur Rarität zu werden, die soziale Marktwirtschaft gilt mittlerweile als Hindernis für erfolgreiches wirtschaftliches Handeln und die Planwirtschaft ist am Weltmarkt gescheitert.

 

Im großen und ganzen scheint der Kampf gegen unangemessenes Martktverhalten in den modernen Gesellschaften verloren zu sein. Seit dem Zusammenbruch des Sozialismus, dem man bezeichnenderweise nachsagte, er sei von einem falschen Menschenbild ausgegangen, ist der Markt zum mehr oder weniger konkurrenzlosen Verhaltensmodell geworden. Monopole aber tun dem Markt nicht gut.

Ein- und Ausfälle – Kepler und Kircher

Zwei Figuren, die für das Werden des geistigen Europas in der Zeit des Wechsels vom magisch religiösen zum (natur)wissenschaftlichen Weltbild exemplarisch sind: Johannes Kepler ist der Europäer, der mühevoll den Weg aus den deduktiven Gedankengeflechten der alten Autoritäten in eine tatsachenorientierte Zukunft bahnt (wobei er nach anfänglichen platonischen „Experimenten“ zu den ersten mathematisch formulierten astronomischen Naturgesetzen, eben den Kepler`schen Gesetzen kam).   Athanasius Kircher ist der nicht weniger exemplarische Typus des unermüdlichen, unendlich neugierigen und vielfältig interessierten Europäers, der die Theoriegebäude der Vergangenheit erhalten aber mit den neuen Möglichkeiten der Tatsachenerkenntnis in Einklang zu bringen sucht (weswegen er etwa im Streit zwischen dem geo- und dem heliozentrischen Weltbild eine Kompromisslösung vertrat, wonach ein Teil der Planeten um die Sonne, die meisten aber um die Erde kreisten). Es war eine Zeit des Ringens um die Weltsicht Europas, bei der Kircher, der fast der Nachfolger Keplers als Hofmathematiker in Wien wurde, schließlich unterlag und in Vergessenheit geriet. Dass man sich heute wieder für Kircher interessiert, hat offenbar etwas damit zu tun, dass seine Art der Verbindung von Fakten und Irrationalismus wieder auf dem Vormarsch ist.

Ein- und Ausfälle – Das „Theater“ von Dydima

Sieben Jahrhunderte lang saßen in Dydimä, dem wichtigsten Orakel Klein-Asiens, ein paar schlaue Leute in einer Kulisse von riesigen Säulen und dachten sich zweideutige Sprüche für ratsuchende Menschen aus. Dann baute man in den gewaltigen Tempel eine kleine Kirche, stellte das Orakel unter Strafe und verbreitete eine ebenso lange Zeit Bibelsprüche. Die Verfasser all der Sprüche waren sich, da sie Profis waren, natürlich darüber im Klaren, dass alles Theater war. Warum das Schauspiel dennoch so lange gegeben wurde? Weil sich die Empfänger der Botschaften, zumal angesichts der schönen Kulisse, daran mit Inbrunst als Laienschauspieler beteiligten.

Aphrodithe und Jesus

Aphrodisias hieß einst ein Ort in der Ebene des Flusses Dandalas im Südwesten Kleinasiens, an dem das Leben und die Künste im Altertum in höherer Blüte als an anderer Stelle standen. Von Alters her stand hier ein Heiligtum der Aphrodite, zu dem die Menschen von weit her pilgerten, um der schönen Göttin Reverenz zu erweisen. Der Ort hatte alles, was zu einer antiken Stadt gehörte: ein großes Theater und ein noch größeres Stadion, zwei prächtige Badeanlagen, ein repräsentatives Rathaus, eine Bibliothek, säulengesäumte Prunkstraßen und einen weiten Marktplatz, auf dem zahlreiche Statuen standen. Alles war aus mächtigen Blöcken mit viel Marmor und fest wie für die irdene Ewigkeit gebaut. Feinster Schmuck bedeckte die Bauten, insbesondere in Form der Arkanthusranke, die sich unter prächtigem Blattwerk wie das Leben immerfort verzweigt, sich aber zugleich immer auch in prallen Blütensternen sammelt oder zu prächtigen Fruchtständen einrollt 

In der Stadt gab es eine Bildhauerschule, in der man Statuen mit komplexem, feinem Faltenwurf schuf, die bis ins ferne Rom und sogar nach Afrika exportiert wurden. In der philosophischen Schule diskutierte man unter den steinernen Portraits der Denker Griechenlands die Weisheitslehren der Antike und sinnierte über die Stellung des Menschen in der Welt. Berühmte Ärzte versuchten den verwickelten Tatsachen des menschlichen Körpers auf die Spur zu kommen. Man veranstaltete Festspiele mit Wettkämpfen zu Ehren Aphrodites, die Menschen von weit her anzogen. Der Mittelpunkt der Stadt aber war der große Tempel der Göttin der Liebe, dessen weiten Bezirk man durch ein Doppeltor aus alabasterfarbenem Marmor mit prachtvoll gedrehten Säulen und ausuferndem Rankenwerk betrat.

 

Der Reichtum und die Größe der Stadt beruhten auf dem Bedürfnis der Verehrer Aphrodites, sich gegenüber der Göttin großzügig zu zeigen. Manch reich gewordener Bürger, darunter auch frei gelassene Sklaven, gaben ihr Vermögen, um zu ihrer Schönheit beizutragen. Großzügig war vor allem das julisch-claudische Kaiserhaus, das die Stadtpatronin als seine Ahnherrin ansah. Es hatte sich dafür einen Stammbaum zurechtgezimmert, der bis nach Troja reichte, dessen Schutzgöttin die schöne Dame ebenfalls war. Den Höhepunkt der Bautätigkeit aber erlebte Aphrodisias während der Regierung des Kaisers Hadrian, einer Zeit, in der sich Schönheitstrunkenheit und Größe auf eine Weise paarten, welche die Welt nicht wieder sah. Das Rankenwerk, das sich über die öffentlichen Gebäude zog, wurde nun besonders plastisch. Im Überschwang siedelte man darin allerhand Figuren, Getier und Fabelwesen an.

 

Im vierten Jahrhundert trat an die Stelle der Göttin der Liebe der Liebe Gott. Der Tempel der Aphrodite wurde, indem man allerhand Säulen verrückte, in eine geschlossene christliche Basilika verwandelt, wobei sein Charme verloren ging. Neben der Kirche entstand in kleinteiliger und etwas ungelenker Bauweise ein Bischofspalast. Im langgezogenen Stadion trennte man das eine Ende ab, um einen kleineren Versammlungsraum zu schaffen. Der betörende Name der Stadt musste weichen. Auf die Idee, sie Agapepolis, Stadt der – christlichen – Liebe, zu nennen, kam offenbar niemand. Fortan trug sie die raue Bezeichnung Stauropolis, Stadt des Kreuzes. Anstelle des windungsreichen Arkanthus brachte man an den Gebäuden nun die geraden Balken des Kreuzes an, die von einem schlichten Kreis umschlossen waren.

 

Im Zeichen des Kreuzes, unter dem der Vorrang des Geistes über die Sinne postuliert wurde, hatte man wenig Verständnis für die Unterhaltungen und Lustbarkeiten, die einst im Namen der sinnlichen Göttin abgehalten worden waren. Daher verloren die Einrichtungen, die der Schaustellung oder der Feier, Pflege und Übung des Körpers gedient hatten, bald ihre Funktion. Die Stadt hatte nun wenig, was die Menschen hätte anziehen können. Das urbane Leben schmolz dahin. Die Bereitschaft der Bürger, sich für öffentliche Bauten zu engagieren, verebbte, zumal ihre Mittel mangels des Interesses der Fremden an der Stadt immer weniger wurden. So stand die öffentliche Bautätigkeit mehr oder weniger still. Der Ort lebte noch einige Zeit von der Substanz, welche die lebenskräftigen Vorfahren hinterlassen hatten. Anfang des neuen Jahrtausends war dieses Erbe aber so weit verbraucht, dass der Rest des städtischen Lebens beim Erscheinen der Türken in sich zusammenbrach.

 

Die neuen Herren, die aus den Steppen Asiens kamen, wo sie in Zelten lebten, wussten wenig vom Leben in einer Stadt. Ihre Vorstellungen über die Rolle des Geistes in der Welt, die aus der gleichen Quelle, wie die der Christen stammten, waren unter den strengen Lebensbedingungen der arabischen Wüste, wo ihre geistigen Vorfahren herkamen, noch enger als die der Christen geworden. Sie hatten daher noch weniger Sinn für die Zurschaustellung von Körperlichkeit. So zerschlugen sie die Statuen, welche die christliche Zeit überlebt hatten. Auch sonst wussten die Türken mit den Resten der Stadt nicht viel anzufangen. Vermischt mit übrig gebliebenen Christen lebten sie noch eine Zeit lang zwischen den gewaltigen steinernen Blöcken der öffentlichen Bauten der antiken Stadt. Irgendwann wurde der Ort aber ganz verlassen und in der Nachbarschaft entstand eine jener türkischen Siedlungen, die wenig öffentlichen Raum kennen. Die riesigen Reste der alten Stadt ragten nun merkwürdig sinnlos aus der Ebene des Dandalas heraus.

 

Erbeben vollendeten, was im Namen des Geistes begonnen worden war. Die Gebäude, die für eine irdene Ewigkeit gemacht schienen, brachen zusammen. Die stolzen Säulen und die prächtigen Portale stürzten zu Boden, wo ihre Teile chaotisch umher lagen

 

In unserer Zeit, in der man Verschüttetes, insbesondere der Sinne, gerne ausgräbt, befreite man die Stadt vom Schutt und richtete manche Säule wieder auf. Heute heißt die Stadt erneut Aphrodisias und man pilgert wieder von weit her zu den prachtvoll-traurigen Resten dessen, was einmal für eine schöne Frau errichtet worden war.

Ein-und Ausfälle – Die nackten Tatsachen von Ephesus

In Ephesus, der Wirkungsstätte des Apostels Paulus, fand man in prachtvoll ausgestatten Hanghäusern Fresken, in denen unbekleidete Menschen dargestellt waren. Die frühen Christen fühlten sich durch die ungeschminkte Darstellung der menschlichen Mitte gestört, weswegen sie dieselbe unkenntlich machten. Seitdem war der Mensch dort und an den sonstigen Stätten, an denen der Apostel  wirkte, in eine obere und eine untere Hälfte geteilt, die nichts miteinander zu tun zu haben schienen.

Ein- und Ausfälle – Die Polis als öffentlicher Raum

Eine der historisch wirksamsten Errungenschaften der europäischen Antike war die Idee des öffentlichen Raumes, der auf einander bezogenen Konzentration massiver Bauten des Kultes, der Kultur, der Versorgung und der Politik im Zentrum einer größeren Siedlung. Noch heute konstituieren Theater, Arena, Bäder, „Tempel“, Rathaus, Hauptplatz und Hauptstraße die Stadt westlicher Prägung. Mit dem öffentlichen Raum korrespondiert die Vorstellung von der Öffentlichkeit als dem geistigen Raum, in dem der Einzelne mit seinen Rechten (und Pflichten) verankert ist (weswegen der Begriff „Politik“, der die Gestaltung dieses Raumes bezeichnet, konsequenterweise von dem Begriff „Polis“ als dem Ort abgeleitet ist, der in der Antike den öffentlichen Raum bezeichnet). Die Bedeutung dieser – keineswegs selbstverständlichen – Errungenschaft zeigt sich an ihrer Umkehrung. Die mangelnde Bestimmtheit insbesondere der Rechte des Einzelnen geht meist einher mit dem Fehlen eines öffentlichen Raumes (oder dem mangelndem Interesse daran). Dies führt zu dem diffusen (oder ungepflegten) Stadtbild in Gesellschaften, die dem Einzelnen als politischem Subjekt weniger Bedeutung zumessen.