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Briefe aus der Wendezeit – Teil 3

Stuttgart, 30.1.90

Lieber Frank,

ich glaube, daß das Thema Zweistaatlichkeit spätestens ab heute begraben ist. Es wäre nicht das erste Mal, daß Gorbatschow mit wenigen fast beiläufigen und gewissermaßen außerhalb des Protokolls gesagten Worten eine Lawine lostritt. So wie er mit den wenigen Sätzen über die Verspäteten, die das Leben bestrafe, Eure Revolution erst richtig im Gang gesetzt hat, wird es nach seinen heutigen Worten über die Vereinigung der Deutschen wohl kein Halten mehr geben. Damit dürfte der Bann gebrochen sein, eventuelle westliche Störversuche können kaum mehr anderes als Rhetorik sein.

Aber zunächst einmal Dank für Deinen Brief und für Buch- und Mauerteile. Jetzt weht der Hauch der Geschichte auch in unserer Hütte. Die neuen Manuskriptteile haben mir gut gefallen. Auf Grund Ihres Detailreichtums geben sie insbesondere dem westlichen Leser einen interessanten Einblick ins Getriebe der Revolution. Wir wissen hier nicht sehr viel über das, was bei Euch alles „real existierte“ und daher von den Veränderungen betroffen ist. Deshalb können die Details gar nicht zu viel sein. Weiter so! Was macht übrigens der „Bruder“? Hast Du schon eine Konzeption?

Deine politische Depression ist in der Tat eine paradoxe Sache. Ich denke aber, daß nur die besonders wendigen Hälse davon verschont bleiben und das dürften die sein, die auch mit den „alten“ Gedanken nicht viel am Hut hatten. Du sprichst vom demokratischen Sozialismus (im Gegensatz zum Sozialdemokratismus). Offen gesagt, mir ist nicht ganz klar, was für Inhalte Du mit diesem Begriff verbindest. Was bleibt für Dich übrig, wenn Du alles abstreichst, was bislang schief gegangen ist? Das läuft, meine ich, auf die Frage hinaus, ob der real existent gewesene Sozialismus eine notwendige Konsequenz sozialistischer Prämissen oder nur ein Betriebsunfall eines an sich guten Gedankens war. Für die Wirtschaft, die sich bislang als sozialistisch bezeichnete, ist die Frage wohl entschieden. Man mag über den „Kapitalismus“ denken was man will, die Planwirtschaft ist offensichtlich keine Alternative. Ihre Mängel sind systembedingt. Wie ist es aber mit Totalitarismus, Privilegienwirtschaft, Nepotismus und Bürokratismus? Hier kommt es sicher darauf an, was man unter Marxismus versteht. Dabei ist für mich ein großes Problem das Antagonismus – Denken, welches dem historischen Materialismus zu Grunde liegt. Die Aufteilung einer Gesellschaft in „Klassen“, die sich mehr oder weniger getrennt gegenüberstehen, erscheint mir schon ein viel zu einfaches Modell für eine moderne Gesellschaft. Dem entsprechend ist es auch viel zu einfach zu glauben, mit der bloßen Umkehrung der Machtverhältnisse zwischen solchen Klassen könnten die „Widersprüche“ einer Gesellschaft beseitigt werden. Ein solches Konfrontationsmodell ist aber auch generell eine mehr als problematische Angelegenheit und kann allenfalls in extremen Situationen, wie sie z.B. in Entwicklungsländern gegeben sein können, praktikabel sein. Druck erzeugt Gegendruck und führt mit einer gewissen Notwendigkeit zur Verschärfung von Konflikten und damit tendenziell zur Unterdrückung von Widerstand wie wir es bei Euch gesehen haben. In gewisser Hinsicht ist der Marxismus jetzt sogar das Opfer seiner eigenen Voraussetzungen geworden. Die Überbetonung eines Standpunktes führt zur Unterdrückung anderer Standpunkte (und jetzt wieder des einen Standpunktes). Die Frage ist also, ob der Marxismus für ein Kooperationsmodell geeignet ist. Wäre er dann noch Marxismus? Müßte er dann nicht den Absolutheits- und angeblichen Wissenschaftlichkeitsanspruch aufgeben? Damit verlöre er seinen quasi – religiösen Charakter mit all den Begleiterscheinungen, welche Bewegungen dieser Art in unseren Breiten zu haben pflegen: übersteigerter Autoritätswille, Unterdrückung Andersdenkender, Inquisition, Glaubenskriege; dann mangels einer die Hohepriester zügelnden Opposition: Selbstbeweihräucherung, Gefühl der eigenen Unentbehrlichkeit, Abschirmung, Privilegien, Realitätsverlust; schließlich Selbstzweifel, deren Überkompensation durch weitere Entfernung von den Ausgangspunkten, Verkehrungen geradezu ins Gegenteil; am Ende Zynismus angesichts der wachsenden Erkenntnis, alles falsch gemacht zu haben, und Machterhalt, um die eigene Haut zu retten. Dies Muster hätten wir nicht zum ersten Mal gehabt. Und spricht nicht die Gleichartigkeit der Entwicklung in den kommunistischen Ländern (und die geschichtlichen Beispiele – z.B. das alte Spanien) dafür, daß hier eine gewisse Gesetzmäßigkeit besteht?

Ziehen wir also die Ursachen dieser Entwicklung auch noch ab, so stellt sich die Frage, ob das, was verbleibt, noch Marxismus ist oder schon eine Spielart der Sozialdemokratie.

Beim Nachdenken über die Unterschiede dieser beiden politischen Denkmodelle bin ich auf folgenden merkwürdigen Gedanken gekommen. Der Unterschied scheint mir in einer verschiedenen Rolle der Moral zu bestehen. Der Marxismus hat eine radikale Moral. Sie erscheint auf den ersten Blick überzeugend und wer überhaupt Moral für sich in Anspruch nimmt, kann sich ihr kaum entziehen. Was will man schon gegen eine radikale Gleichheit sagen oder dagegen, daß jeder nur von seiner eigenen Arbeit leben soll. Soweit: so gut – im Prinzipiellen (ob das praktikabel ist, ist eine andere Frage). Es scheint aber ein fatales Gesetz zu geben wonach – jedenfalls in einer modernen Zivilisation – eine Gesellschaft mit einer definitiven inhaltlichen Moral tendenziell diese ihre Grundvoraussetzung auflöst. Offenbar wird die Moral dort, wo sie von Anfang an als gegeben vorausgesetzt wird, in der Praxis zu wenig eingefordert. Sie wird gewissermaßen zu wenig gepflegt und verkommt daher. Dazu bei trägt sicher auch der Umstand, daß diejenigen, die sich im Besitz einer höheren Moral fühlen, umso leichter glauben, zeitweilig auf dieselbe verzichten zu können, wenn es darum geht, einem „höheren Ziel“ zum Durchbruch zu verhelfen, mit der regelmäßigen Folge, daß die „Durchbruchsphase“- und damit die Suspendierung der Moral verewigt wird (wie oben dargestellt).

Im Gegensatz zu einer solchen oben angesiedelten, gewissermaßen also deduktiven Moral gibt es offenbar auch eine induktive Moral, die merkwürdigerweise aus unmoralischen Voraussetzungen resultiert. Der Marktmechanismus als Grundlage eines westlich liberalen, also kompetitiven Gesellschaftssystems, ist ohne Zweifel im Prinzip unmoralisch. Er beruht vom Grundsatz auf dem Ausnutzen von Mangel oder Überfluß und ist ein ständiges, mehr oder weniger stilvolles Lauern auf‘ die Schwächen des Geschäfts“partners“. Tendenziell scheint auf dieser unmoralischen Basis im Ergebnis mehr Moral erzeugt zu werden als in Systemen mit absoluten Moralprämissen. Es scheint, daß die Moral hier so etwas wie eine Gegenströmung gegen die Unmoral der Voraussetzungen des Systems ist, wobei man darüber streiten mag, inwieweit hier die ökonomische Vernunft oder gar das schlechte Gewissen ursächlich sind. Man könnte also sagen, daß die kapitalistische Moral eine resultative Moral ist. Trotz trüber Quellen führt sie im Ergebnis zu einem gewissen Quantum an Moral. Nun mag es wohl sein, daß dies kein universelles Gesetz ist und es nur dort gilt, wo die Marktbeteiligte schon moralisch vorgeprägt sind (in Indien etwa hätte ich da schon meine Zweifel). Aber es ist eine Tatsache, daß in den entwickelten Ländern des Westens die Verelendung der Massen, die Marx voraussagte, nicht eingetreten ist. Marx hat den Gegenströmungseffekt und damit den immanenten Zug des Kapitalismus zur sozialen Markwirtschaft übersehen.

Nicht daß Du nun meinst, ich glaubte, bei uns sei nun die gesellschaftliche Moral schon begrüßenswert weit fortgeschritten. Ich hatte gerade unseren Camping-Bus in der Werkstatt und habe dabei die Unmoral des Marktes wieder einmal richtig zu spüren bekommen. Wenn ich meinen beruflichen Bereich betrachte, drängt sich mir nicht selten der Eindruck auf, als seien wir teilweise sogar im Rückwärtsgang. Ich spreche von Tendenzen, die insgesamt signifikante Ergebnisse zu zeitigen scheinen und immer wieder trotz ungünstiger Ausgangspositionen zu erstaunlich brauchbaren Lösungen führen. Es ist doch immerhin bemerkenswert, daß ein solches System, wenn auch sehr langsam, einen immer stärkeren Schutz des Verbrauchers, der Umwelt und des Bürgers entwickelt und daß selbst solche politischen Kräfte dazu beitragen, die man in diesen Dingen eher in der Bremserrolle erwarten würde. Es ist eine eigentümliche Weisheit des Systems der „checks and balances“, der politischen Form des Marktmechanismus, daß es die egoistischen Grundtriebe umzubiegen in der Lage ist. Natürlich, höhere und radikalere Träume lassen sich damit nicht befriedigen. Ist es möglicherweise diese Erkenntnis, die bei Dir zu „politischen Depressionen“ führt? Abschied von einer absoluten Moral? Das wären politische Entzugserscheinungen von einer Droge namens Marxismus – womit wir wieder bei der Parallele zur Religion wären, die sich an vielen Stellen aufdrängt (vgl. oben). Marx wird sich im Grabe herumdrehen: seine Lehre als Opium fürs Volk – oder .jedenfalls für Intellektuelle? Bei Voltaire habe ich einen Satz gefunden, der die Parallele auch merkwürdig deutlich macht: „Es beginnt mit Schwärmerei und endet mit Betrug. Mit der Religion ist es wie mit dem Spiel: Anfangs ist man der Geprellte, am Ende ist man der Spitzbube“. Natürlich brauche ich nicht besonders zu betonen, daß ich Dich nicht mehr im Stadium der Schwärmerei und noch nicht „am Ende“ sehe – letzteres trifft auf Eure alten Herren und deren Anhang zu. Übrigens habe ich das Zitat aus einem Buch, das bei Euch erschienen ist: „Voltaire für unsere Zeit“, Aufbau – Verlag 1989!, gedruckt im Karl-Marx Werk!

Ich lege Dir hier noch ein Blatt bei, das aus der „Feder“ meines Sohnes (11 Jahre) stammt. Es ist tatsächlich eine spontane Eigenarbeit und spiegelt daher die Stimmung. die bei dieser Altersgruppe rübergekommen ist.

Für heute sei‘s genug.

Gruß

Klaus

EUROPA SAMSTAG 20 JANUAR 1990

BERLIN UND DIE MAUERSPRECHTE

IN BERLIN GEHT´S RUND. MAUERSPECHTE AUS ALLER WELT SIND GEKOMMEN;; UM SICH EIN S0UVENIER AUS DER MAUER ZU BRECHEN, DABEI SINGEN SIE LIEDER DIE GEGEN DIE 40 JÄHRIGE UNTERDRÜCKUNG SPRECHEN: IN VIELEN DIESER LIEDER WERDEN HONECKER, KRENZ UND DIE GANZE SED UND STASIEMITGLIEDER IN DIE HÖLLE GEWÜNSCHT.

DA SO VIELE MAUERSPECHTE INTERESSE AN DER MAUER ZEIGTEN WURDE DIE MAUER HEUTE FUR 8 MILLIARDEN DM VEIRKAUFT. DABEI HABEN BEIDE SEITEN BERLINS EIN GROßES GESCHÄFT GEMACHT.

IN DEN LETZTEN 2+2 – MOANTEN IST SICH DAS VEREINTE DEUTSCHLAND EINEN GROSSEN SCHRITT NÄHER GEKOMMEN. BES0NDERS AUS DEM KALENDER HERAUSSTECHEND IST DER 9.NOVEMBER. DER 9. NOVEMBER WAR ZU 100% DER HISTORISCHSTE TAG DER DDR REVOLUTION.

IM GRUNDE GENOMMEN HAT ALLES MIT DER FLÜCHTLINGSWELLE BEGONNEN. WIR DENKEN. ALLE AN DIE HISTORISCHEN TAGE IN DER TOTAL ÜBERFÜLLTEN PRAGER BOTSCHAFT. IN DER PRAGER BOTSCHAFT HERRSCHTE AUFREGUNG UND SPANNUNG. BIS EINES ABENDS HANS-DIETRICH GENSCHER DIE AUSREISE VERKÜNDETE. NACH DER BEKANNTGEBUNG GAB ES ZUERST IN PRAG, DANN IN GANZ EUROPA GRENZENLOSE FREUIDE, TRIÄNNEN UND GEJUBLE.

ALS DIE MAUER GEÖFFNET WURDE GAB ES KONFLIKTE ZWISCHEN BETRUNKENEN; DIE ZU ZAHLREICHEN VERLETZTEN UND EINEM TODESOPFER FÜHRTEN.

Berlin 29.1.1990

Liebe Judy, Lieber Klaus!

Ich schäme mich ein bißchen, Euch so lange ohne Antwort auf Eure „Neujahrsbotschaft“ gelassen zu haben, und das noch dazu wo Klaus wirklich gewaltige Mühe in seine Schrift gelegt zu haben scheint. Sehr schön lesbar!

Nunmehr soll Dir jedoch Trost und Kurzweil das harte Krankenlager versüßen und in diesem Sinne erstmal vielen Dank für Dein gewaltiges Werk.

Auch sei an dieser Stelle sogleich angemerkt, daß ich SCHON IMMER – und sehr zum Leidwesen meiner liebreizenden Frau – ein herausragender Telefonmuffel gewesen bin. Nehmt es also bitte nicht so tragisch. Wann immer Ihr anrufen werdet: Entweder Ihr habt Glück und Paula ist dran – oder ich werde wieder so muffelig sein. Sorry.

Was Deine pazifistischen Träume angeht, freue ich mich eingedenk unserer Paddelschlauchbootdispute zur Friedensfähigkeit Gorbatschows darüber, daß Du sie IHM inzwischen wohl voll zutraust. Dies aber nun gleich auf die ganze Welt auszudehnen, halte ich allerdings für um zwei Jahrhunderte verfrüht. (Es wird noch solange hin sein wie die französische Revolution her ist, um im Bilde Deines vorletzten Briefes zu bleiben.)

Ein sehr anschauliches Argument für diese These lieferten gerade die USA in Panama. Wer bitte schön sollte denn DIE dazu bringen, ihren Weltherrschaftsanspruch freiwillig aufzugeben und von dem hundertfach erprobten Schema abzuweichen, das da lautet:

1. Unsere Interessen sind überall dort, wo US-Bürger sind.

2. Überall sind US-Bürger.

3. Wenn US-Bürger bedroht sind, müssen sie durch US-Soldaten geschützt werden.

4. Auch US-Soldaten sind US-Bürger – und die sind natürlich immer bedroht.

(Ich mag die Amis nicht sonderlich, wie Ihr vielleicht merkt.. Die Idee mit der internationalen Friedenstruppe ist auch ganz gut, aber mit Vorsicht zu genießen und nicht ganz neu. Wenn ich mich recht entsinne ist sie bisher zum Glück nur einmal im aktiven scharfen Schuß erprobt worden: In Korea. Übrigens auch in US- Uniformen.

Nein, lieber Klaus. Bei aller Weltfriedenseuphorie: Die Welt ist groß und schlecht und das wird noch lange so bleiben. Optimismus ist trotzdem angebracht, denn zum ersten Mal in diesem Jahrhundert sieht es immerhin danach aus, als würden zumindest die großen Blöcke nicht mehr so hart gegeneinander Front machen. (Parole: „Gewehr ab – aber gaaanz vorsichtig!“) Die eine Seite weil sie pleite ist und ihr die Soldaten weglaufen, die andere weil sie den kalten Krieg – fast aus Versehen aber nichts desto trotz offensichtlich – gewonnen hat oder besser gesagt: Die Festung Osteuropa hat sich ergeben, und zwar dem selbstverschuldeten Hunger, nicht den tapferen Belagerern.

Die deutsche Besatzung gibt dabei ein besonders ulkiges Bild ab. Sie springen extraflink über die Zinnen, werfen sich draußen schluchzend dem großen Bruder an den Hals, und hoffen, daß er rasch vergessen wird, wo sie vor 5 Minuten noch gestanden haben.

Aber jedes Volk hat bekanntlich die Regierung, die es verdient, jedenfalls wenn sich diese Regierung 40 Jahre lang halten kann. Hier wiederholt sich auf peinliche Weise die bekannte Nummer von ’45:

Damals plötzlich alles Antifaschisten, heute alles große Demokraten. Mit Honecker und seiner Partei hatten sie noch nie was im Sinn. Was das für Demokraten sind, merkt man besonders bei den gegenwärtigen Demonstrationen wo der Plebs immer radikaler (das ginge noch), verbissener (schon schlimm), aggressiver (eklig) und offensichtlich insgesamt immer dümmer agiert. In Berlin kommt hinzu, daß ganz offensichtlich etliche vom Westen herüberkommen, die nur auf Randale aus sind oder ganz einfach mal Lust auf eine andere Polizei haben.

Die Freiheit der Andersdenkenden – es gibt sie noch immer nicht. Alles ist zulässig, nur keine andere Meinung als die der Masse. Stasi hin, VP her – wer bei Honeckers Mai – Demo „Deutschland, einig Vaterland“ gerufen hätte, wäre wenigstens von den Demonstranten nicht verkloppt worden.

So fröhlich und unverdrossen diese Revolution begonnen hat, so verbissen läuft sie zur Zeit. Natürlich sind jetzt andere auf der Straße als im Oktober. Jetzt kommen die hervorgekrochen, die gerne treten wenn’s nichts kostet. Ihre Brüder von der anderen Fraktion sind allerdings längst untergetaucht und weit davon entfernt für ihre bis gestern noch ach so feste (und gut bezahlte) „Überzeugung“ einzustehen. Wieder einmal werden die falschen getreten.

Die ganze Revolution ist an dem toten Punkt angelangt, der wohl für jeden derartigen Umschwung unvermeidlich ist: Niemand hat konstruktive Alternativen anzubieten. Es besteht lediglich ein breiter Konsens (eins der blöden Standardworte dieser Tage) darüber, was alles schlecht war und somit – möglichst Knall und Fall – abzuschaffen ist. Zuerst und vor allem natürlich die eigene Unterbezahlung, heißa!

Schlecht war eine ganze Menge. Aber wenn man die Leute jetzt so reden hört, war erstens alles Mist, haben sie es zweitens schon immer gesagt und trifft es sie drittens ganz persönlich und schon immer ganz besonders hart und deshalb reklamiert jeder für sich das Recht, als erster auf den Scheiteln der anderen aus dem Sumpf zu balancieren.

Ganz offensichtlich besteht unser Volk nur noch aus jenen 5 Prozent, die sich bei den Wahlen wirklich GEGEN den „Wahlvorschlag der Nationalen Front“ ausgesprochen hatten (Denn Wahlbetrug oder nicht – mehr waren es wirklich nicht). 19 von 20 waren in diesem Lande Opportunisten oder sowieso dafür – und 18 von diesen 19 wollen es heute nicht mehr wahrhaben.

Damit keine Mißverständnisse aufkommen: Natürlich muß der alte Dreck möglichst schnell weg. Nur ist zur Zeit niemand so recht bereit zur Schaufel zu greifen. Die ganze „Opposition“ stolziert naserümpfend drumherum und palavert darüber, wie schön sie es uns allen machen werden – wenn der Haufen erst mal weg ist, und die SED liegt mit der Nase drin und bekommt sowieso keine Luft mehr.

Apropos: jetzt ist sie endgültig zur Affenpartei geworden und fällt folgerichtig so schnell auseinander, daß die Restgenossen kaum mit dem Zählen der abgegebenen Parteibücher nachkommen. Gysis Hickhack ist nun allen über, den Stalinisten genauso wie den demokratischen Linken. Sie treten jetzt beide aus, und die künftigen Ministerpräsidenten unserer neuen Länder vorneweg. Herzlichen Glückwunsch, Herr Gysi.

Interessant ist in diesem Zusammenhang, daß die Parteibasis wieder einmal nicht an den Entscheidungen beteiligt ist. Honecker hat sie nicht gefragt – und Gysi auch nicht. (Wahrscheinlich überflüssig zu erwähnen, daß ich selbst inzwischen auch die politische Heimatlosigkeit dem Affenkäfig vorgezogen habe, nachdem vor 8 Tagen die Alleingänge der 3 demokratischen „Plattformen“ innerhalb der SED-PDS- Führung abgewehrt wurden, und sich somit meine letzten Hoffnungen auf Spaltung endgültig zerschlagen hatten.)

Für die nächste Zeit kann man nur hoffen, daß die Opposition vor lauter Profilierungssucht nicht endgültig das Land vergißt. Daß sie in die Regierung eintreten wollen ist zu begrüßen. Leider haben sie kaum Fachkompetenz einzubringen. Es ist nun einmal die logische Folge eines Einparteiensystems (die ehemaligen „Blockflöten“ werden so realistisch sein, diesen Begriff mitzutragen, denke ich), daß sich neben viel Dummheit und Karrierismus natürlich auch die gesamte Kompetenz eines Landes in dieser Partei gesammelt hat. Für mich ist beispielsweise undenkbar, daß ein Schwätzer vom Demokratischen Aufbruch in der Lage sein sollte, in diesen Zeiten das Wirtschaftsministerium auch nur annähernd so zu führen wie das unsere „iron lady“ Christa Luft (leider SED-PDS) angeht. Eine knallharte Frau voller Sachverstand und ohne Sentiments, die das Richtige will und es zielstrebig und in der richtigen Reihenfolge anpackt.

Kurz: Solche Leute, die kompromißlos nach vorn schauen, können wir gar nicht genug haben. Aber es ist kaum jemand da. Die Advokaten (Der Herr Staatsanwalt möge mir da verzeihen) sind jedenfalls nicht die neuen Männer, die DIESES Land HEUTE braucht. Und das revolutionäre linke Potential ist durch den Bindestrich-Quatsch mindestens noch bis zur Wahl lahmgelegt.

Aber: Die Hoffnung stirbt bekanntlich zuletzt und vielleicht ist ja doch noch irgendwie die nötige Aufbruchstimmung zu erzeugen. Ein Trost: Entwicklung läuft bekanntlich immer wellenförmig. Also kein Grund zur Panik, wenn man im Tal ist. Interessant sind die Zeiten hier jedenfalls allemal, insofern also volles Verständnis für Judys Wunsch, die Silvesterparty an der Mauer mitzumachen.

Als Trost sei ihr gesagt: Wir wohnen 3 Kilometer vom Brandenburger Tor entfernt und waren auch nicht da. Für richtige Erwachsene wie uns wäre es sicher auch nicht die blanke Sahne gewesen. Nachts halb zwei (auf dem Heimweg von Freunden) prügelten sich Männer in der S-Bahn wegen der deutschen Einheit und auch auf dem Alex (den wir überqueren mußten) ging es recht kulturlos zu. Noch am Neujahrsnachmittag habe ich mir Unter den Linden die Schuhe auf dem Scherbenteppich zerschnitten. Der Übergang von der Edelfete zum Vandalismus muß nahtlos gewesen sein.

Nun kann ich mir denken, daß meine recht profanen Gedanken nicht ganz zu Eurer deutschrevolutionären Begeisterung passen wollen und ich möchte daher abschließend noch einige Bemerkungen zur Rolle der Bedeutung machen:

Wir sind hier mittendrin und uns des Besonderen und der (oft mißbraucht diese Floskel, aber hier durchaus mal angebracht:) HISTORISCHEN BEDEUTUNG der Situation durchaus bewußt. Nur: Wir sind nicht nur beteiligt, sondern auch betroffen und deshalb begeistert uns wie Euch natürlich die Bewegung an sich, nur können wir die Richtung nicht ganz so entspannt betrachten wie das aus Hamburg oder Stuttgart möglich ist. Für uns sind die Dinge nämlich immer sehr konkret.

„Nieder mit der Stasi!“ ist eine feine Losung, und von außen ist alles klar. Für uns sind das aber nicht nur namenlose Verbrecher, sondern beispielsweise auch die Frau meines Freundes, die als medizinisch-technische Assistentin in der Sportmedizin zur Stasi gehörte, als Fachschulkader sogar den Rang eines Leutnants hatte, natürlich jahrelang überbezahlt war – aber jetzt eben erstmal auf der Straße sitzt.

„Nieder mit der SED!“ genauso richtig, aber… (Hier verschone ich Euch mit weiteren Auslassungen, weil ich hierzu schon weiß Gott genug gesagt habe)

„Hoch die Marktwirtschaft!“ mag angesichts des klaren Scheiterns der administrativen Mißwirtschaft für viele eine logische Alternative sein (zumal wenn sie sich in dieser Markt-Gesellschaft seit langem und gut zurechtfinden, worüber ich jedoch als Nachwievorsozialismusbefürworter noch einen streitbaren abendfüllenden Vortrag halten könnte), heißt aber konkret auch, ein Wirtschaftssystem, das bisher auf dem Prinzip der Leibeigenschaft basierte, ohne annähernde materielle Voraussetzungen von einem Tag zum anderen auf Effektivität umzustellen, heißt für uns nun die nie gekannte Gefahr der Arbeitslosigkeit (und zwar unter den Bedingungen eines sozialen Null-Netzes hierfür), heißt, daß wir unsere Wohnung im Zentrum vielleicht bald schon nicht mehr halten können, daß die Versorgung der Alten auf uns zukommen könnte usw usw…

Und nun haltet Euch bitte außerdem vor Augen, daß zwar ungeheuer viel geschwätzt wird, aber letzten Endes mehr als diese 3 Losungen bisher noch von keiner der neuen Bewegungen verkündet worden sind, daß sich die Mehrzahl der Bevölkerung bei uns inzwischen einbildet, die 60 Millionen bei Euch könnten (und wollten) die 15 Millionen bei uns so mit durchfüttern wie sie das mit den 300 000 Übersiedlern gemacht haben – und Ihr werdet eine Ahnung erhalten, wie es hier heute Leuten zumute sind, die nachdenken und rechnen…

Das soll Euch aber keineswegs abhalten, sondern im Gegenteil: Kommt, wann immer Ihr könnt und Klaus wieder gehfähig ist. (Was wollen die Kinder demnächst in Australien erzählen, wenn Ihr in diesen tollen Zeiten nicht mal den Katzensprung nach Berlin gewagt habt.) Wir werden Klaus gern ein wenig unterfassen, wenn er an der Mauer entlanghinkt. Und – ich wiederhole mich – auch wenn gerade mal keine Demo sein sollte, interessant ist es hier allemal, also her zu uns!

Apropos: Gilt EURE Einladung noch? Um gleich mit der Tür ins Haus zu fallen – aufgrund unserer persönlichen „Devisenlage“ in Tateinheit mit dem z.Z. herrschenden „freien“ Umtauschkurs (ca 1:9, d.h. ein Tag gutbezahlte Ost-Arbeit für 6,70 DM) müßtet Ihr nicht nur für zwei Luftmatratzen, sondern auch für unsere Ernährung sorgen. (Aber keine Bange: Paula ißt nicht viel weil sie mäklig ist und ich habe ohnehin Übergewicht).

Ein günstiges Zeitfenster wäre für uns Mitte Mai. Die Kinder haben ab 14.5. eine Woche Frühlingsferien und würden dann zu den Schwiegereltern fahren. Also schreibt mal oder ruft an (Beim Telefonieren aber Vorsicht, siehe oben!) wie Ihr die Sache seht. Wir sind auch kein bißchen sauer, wenn Ihr absagt.

Nun Schluß. Ich lege noch ein paar Bilder bei, damit wir uns in Berlin oder Stuttgart auch wiedererkennen: 3 vom Balaton im August ’89 als wir darüber nachdachten, ob wir nun durch’s Maisfeld krabbeln sollen oder nicht, daher unsere durchgeistigten Gesichter – vielleicht erkennt Ihr den Strand wieder – und 2 von der Mauer am Brandenburger am 12. November ’89 bei unserer ersten „Westreise“. (beide Fotos handmade, aber Ihr braucht nicht lange suchen, da sind wir nicht drauf)

Bleibt also oder werdet gesund,

Viele Grüße auch an Eure Kinder

Euer Frank

(und Paula usw)

Anhang

(Tagebuch von Gerhard H.)

Donnerstag, 21. Dezember

Unser Sozialismus ist erledigt. Die gierigen Alten haben ihn verspielt, wir erben die Spielschulden – und es trifft wieder einmal die falschen.

Mit wieviel Elan sind wir angetreten. Wir waren hochpolitisiert, engagiert, voller Hoffnungen. Und heute? Die 3. Deutsche Generation in Folge, die verarscht wurde. Immer nach dem selben Rezept: Verzichtet ein Weilchen Kinder, es geht um Höheres, um nicht weniger als das Himmelreich auf Erden! Erst muß die Schimmernde Wehr auf die Ozeane / Kanonen statt Butter / Mein Arbeitsplatz – mein Kampfplatz für den Frieden.

Und nun stehen wir da mit unserem Hang zum Höheren. Wieder mal. Gelebt haben inzwischen immer die anderen. Was bleibt für uns, wenn die Träume vorbei sind, wenn im fahlen Morgenlicht die Hoffnungen zerfließen und das Reale, Greifbare Kontur erhält:

Abitur, „Fahne“, Studium, 15 Jahre Arbeit, immer fleißig, immer ordentlich. Was haben Sie erreicht, Herr Diplom-Ingenieur, jetzt wo mindestens Ihr halbes Leben rum ist?

„Neubauwohnung“ (25 Jahre alt, eng, aber immerhin Fernheizung, 68 Quadratmeter zum Leben und 300 Quadratmeter zum Tapezieren), angefüllt mit diversem Hausrat (Versicherungswert 60 000 Mark) einschließlich 2000 Bücher, die Hälfte paperback (was beweist, daß sie wirklich zum Lesen gekauft wurden), einschließlich Kühlschrank und Waschmaschine (beides Hochzeitsgeschenke) einschließlich eines dunklen Anzugs („Exquisit“, Neuwert 800 Mark), einschließlich einer Stereo-„Anlage“ (eine der preiswerten, nur 2 Monatsgehälter), vor der Tür ein Trabant (8 Jahre alt, second-hand, oft kaputt), und – man höre und staune! – ein Farbfernsehgerät, neuwertig, und ein Sparbuch mit 6300 Mark – Ost, natürlich. Alles.

Alles? Aber nicht doch! Neben den profanen Werten befinden sich im Haushalt weiterhin:

Ein Sohn, eine Tochter, 2 Diplome, 9 eigene Patentschriften, ein Telefon (Eigentum der Deutschen Post und Gegenstand nachbarschaftlichen Neides), 2 Aktivistennadeln, 23 Abzeichen „Kollektiv der Sozialistischen Arbeit“, zwei Pionierausweise, sowie bis gestern ein rotes Parteibuch.

Die reale Freizeitmenge beträgt pro Woche etwa 20 Stunden (von 168) und wird zur Hälfte vor dem Fernsehgerät verbracht. Höhepunkt des Jahres sind die 13 Tage gemeinsamer FDGB-Urlaub, in der Regel in einem Betriebsbungalow mit Selbstverpflegung. Wir waren insgesamt 5 Mal auch im Ausland, zweimal sogar mit den Kindern, und neuerdings dürfen wir alle ins „NSW“.

Und noch etwas: Wir sind schrecklich dankbar dafür. Für alles.

Stuttgart, 5.2.90

Lieber Frank !

Ich befinde mich gerade in einem leeren Sitzungssaal des Amtsgerichts in Waiblingen, wohin ich mich zu einer Stunde begeben habe, zu den ich üblicherweise noch Friedens- und anderen Träumen nachzuhängen pflege. Dafür mußte ich mitten durch das Gewühl meiner arbeitswütigen Landsleute, die mit einer an Wahnsinn grenzenden Konsequenz alle zum gleichen Zeitpunkt jene Tätigkeit beginnen, von der sie glauben, daß sie ihnen irgendwann einmal das große Glück bringe und für die sie keinen Aufwand an Gestank und Benzin scheuen. Mit anderen Worten ich saß im Stau. Ja, auch hier gibt es Warteschlangen, vor Ampeln im Morgengrauen, wenn die Hatz nach dem Geld beginnt. Nun hätte sich eigentlich einer jener Mammonsjünger hier dafür verantworten sollen, daß er Privatvermögen und Gesellschaftskapital nicht genügend auseinandergehalten hat. Hier gibt es nämlich die vor allem von manchen Einmanngesellschaftern als störend angesehene Verpflichtung, private Interessen an einer Kapitalgesellschaft zu Gunsten der Gläubiger derselben zurückzustellen, was nicht selten mit den persönlichen Erwartungen hinsichtlich der Leistungsfähigkeit, einer solchen Institution kollidiert, und unsereinen auf den Plan ruft. Der ungetreue Kapitalist hat es jedoch vorgezogen, sich den Attacken eines Staatsanwalts gegen übertriebenen Eigennutz vorläufig zu entziehen. So habe ich bis zum nächsten übermäßigen Nutzer der Gewerbefreiheit, der es mit der Bezahlung von Lieferungen für sein Baugeschäft nicht so genau nahm, noch einige Zeit, um auf Deinen umfangreichen Brief vom 29.1. zu antworten.

Dieses Waiblingen ist übrigens ein Symbol für den ersten namhaften deutschen Widerstand gegen die Anmaßungen einer ziemlich platzgreifenden, gewissermaßen totalitären Doktrin. Von hier kommt der Name der antipäbstlichen (allerdings auch prokaiserlichen) Ghibellinen, an deren Spitze immerhin ein Mann wie Friedrich II. stand, der seiner Zeit im puncto (geistiger) Freiheit um ebenso viele Jahre voraus ging, wie Luther dem Voltaire.

Dein Brief scheint mir anzudeuten, daß Deine politische Depression teilweise behoben ist. Sprachlich bist Du unverkennbar dabei, an vorrevolutionäre Zeiten anzuknüpfen, was hier übrigens, nicht zuletzt von Judi, ziemlich geschätzt wurde (und wird). Sicher hat Dir Dein Schritt, die Sozialistische Einmeinungspartei zu verlassen, geholfen, die Depression zu überwinden. Im freien Wettbewerb wirst Du zwar heimatliche Gefühle nicht so leicht entwickeln können. Und vielleicht geht es Dir wie mir, der sich nie hat entschließen können, um einer Heimat willen auf einen Teil seiner Meinung zu verzichten. Aber vielleicht tröstet Dich die Aussicht auf eine „resultative Heimat“ (Du weißt, daß ich damit das brauchbare Ergebnis ziemlich mieser Voraussetzungen meine). Und in einem Alter, wie wir es haben, noch einmal die große Auswahl beschert zu bekommen, ist vielleicht auch nicht die übelste Lage. (Politische) midlife – crisis – das ist nicht notwendig nur das Begraben alter Hoffnungen. Vielleicht ist es die Chance für einen produktiven Neuanfang.

Möglicherweise wird sich Deine Einschätzung der Amerikaner bei dieser Gelegenheit doch noch ein wenig in die Richtung entwickeln wie meine Meinung über Gorbatschow. Allerdings hat er es mir seit unseren ost – westlichen Seegesprächen eher leicht gemacht (was man aber, so meine ich, damals noch nicht so absehen konnte). Es ist daher kein Zufall, daß ich die Neujahrsbotschaft diesem erstaunlichen Herrn in den Mund gelegt habe. Immerhin sind aber die Amerikaner (+ Anhang) inzwischen auch nicht über den geschwächten „Gegner“ hergefallen, wiewohl sich dieser doch gerade gegen solche Eventualitäten mit „tödlichem“ Aufwand glaubte wappnen zu müssen (was zeigt, dass alles für die Katz‘ war). Statt dessen gab es Malta und trotz Gorbi‘s nicht gerade demokratischer Legitimation eine amerikanische Zurückhaltung, die nicht nur aus der Ruhe dessen zu erklären ist, der die reife Frucht demnächst ohnehin in seinen Schoß fallen sieht.

Unsere Diskussionen an Bord der „Amazonas, so heißt meine Privatjacht, wenn Du Dich daran noch erinnerst, erweisen sich jetzt als so etwas wie eine Vorstufe zu den Gesprächen auf der Maxim Gorki, Schlauchbootklasse statt Luxusliner und zu meiner pazifistischen Freude unbrauchbaren Kriegsschiffen! Wenn das nicht der Wind der Geschichte war!

Übrigens war ich nach unserem Plattenseegipfel in Amerika, wogegen ich mich lange gesträubt hatte. Man kann über den american way of life und darüber, in welchem Umfang Cowboywesen und Showbusiness die Basis einer Kultur abgeben können, so wie auch sonst über die Ami‘s einiges sagen. Aber im punkto politischer Kultur haben wir noch einiges von ihnen zu lernen. Nicht nur, daß sie nicht die schlechteste politische Tradition haben, die politische Freiheit vor den Franzosen hatten, einen Krieg gegen die Sklaverei (wer hätte das sonst!) und gegen die Nazis geführt haben. Zuletzt haben sie sogar ihre Neigung, aus einer leicht neurotischen Angst vor sozialismus-verdächtigem Gedankengut, Politgangster zu stützen, eingeschränkt (Marcos, Duvallier – auch Noriega). Öffentlichkeit und Machtkontrolle dürften wohl nirgends so stark ausgebildet sein, wie in diesem Land, so sehr, daß mir unsere Geheimniskrämerei dort erst richtig deutlich geworden ist (von Eurer bisherigen ganz zu schweigen). Ein unverblümter Weltherrschaftsanspruch läßt sich bei diesem System nicht durchsetzen (was nicht heißt, daß durch die Blume nicht manches möglich ist).

Aber zurück zum Aktuellen. Mit der „deutsch revolutionären Begeisterung“ ist es mittlerweile auch hier nicht mehr so weit her. Ich darf an das Ende meiner „Neujahrsbotschaft“ erinnern, in der ich die Begeisterung bereits auf das letzte Jahr begrenzt hatte. Hier spricht man jetzt mehr über Steuererhöhung, Inflation und Wohnungsnot. Die Klagen über die Folgen des Übersiedlerstromes nahmen unüberhörbar zu. Auch hier sind viele, insbesondere Wohnungs- und Arbeitsuchende, ja sogar Arbeithabende schon „Betroffene“ geworden (ganz am Rande sogar ich – gestern wurde mir mitgeteilt, daß mein nächstes Badminton Punktspiel in einer anderen Stadt ausgetragen werden muß, weil die ursprünglich vorgesehene Turnhalle von Übersiedlern belegt ist. – Du verzeihst die Banalität. aber sie wirft dennoch ein Schlaglicht auf die Situation).

Ich fürchte, daß sich unsere Politiker in einer Sackgasse verfangen haben. Wie ein Kaninchen starren sie auf die immer länger werdende Schlange aus dem Osten und machen sich durch ständiges Wiederholen von immer gleichen Formulierungen (es erinnert fatal an Gebetsmühlen und ist genauso unnütz) selbst Hoffnung, daß sie einmal aufhören werde. Mit Nichten!

Ich bin ja so etwas wie ein Spezialist für Wanderungsbewegungen (damit muß ich mich beruflich am meisten beschäftigen). Daher weiß ich einiges über die Möglichkeiten, solche Migrationen steuern oder eben nicht steuern zu Und deswegen behaupte ich, daß keine der bislang diskutierten Maßnahmen einschließlich Währungsunion und Vereinigung der beiden Staaten die Schlange in den Griff bekommen wird. Da ich davon ausgehe, daß Du Dein „persönliches Devisenkonto“ noch nicht mit dem Kauf des „Wirtschaftsstrafrechts“ belastet hast und in Verkennung der richtigen Prioritäten auch sonst niemand bei Euch dieses bedeutende Werk gekauft hat, darf ich zum „wissenschaftlichen“ Nachweis dieser Behauptung mich selbst zitieren. Der Einleitungssatz zum § 30 „Illegale Beschäftigung“ lautet: „Die unterschiedliche Entwicklung der Volkswirtschaften vor allem in Europa und in deren Folge die Attraktivität des deutschen Arbeitsmarktes für ausländische Arbeitnehmer haben in der Bundesrepublik seit Beginn der 60 – er Jahre zur Entstehung eines ständig wachsenden grauen und schwarzen Arbeitsmarktes geführt“. Diese unterschiedliche Entwicklung ist ein Faktum, das sich kurzfristig nicht beseitigen lässt. Und wenn wir schon den Strom der Jugoslawen, Türken, Polen, Asylanten etc. nicht in den Griff bekommen, obwohl wir hier rechtliche Möglichkeiten haben, umso weniger den Strom aus der DDR, den wir mit allen möglichen Zutaten auch noch verstärken. Die Behandlung der Deutschen aus der DDR (und möglichst auch noch aller anderen Personen jeglicher Provenienz, die irgendwann einmal eine deutsche Großmutter hatten) wie Deutsche, die hier gelebt und gearbeitet haben, mag zur Zeit politischer Not im Osten gerechtfertigt gewesen sein. Bei offenen Grenzen wird dies absurd. Wir sind auf dem besten Wege, ein zweites Mal mit Pangermanismus (und den dazugehörigen Ahnenforschungen) Unsinn zu treiben. Mancher kann bereits erfolgreich auf den Stammbaum zurückgreifen, der vor 50 Jahren unter anderen Vorzeichen gepflanzt wurde. Das Aufrechterhalten einer einheitlichen Staatsbürgerschaft etc. einschließlich aller Rechte (z.B. Renten), war ja nicht zuletzt auch ein Kampf – und Propagandainstrument des Kalten Krieges. Jeder Flüchtling wurde als Beweis für die Unterlegenheit Eures Systems begrüßt. Und – ich will nicht ungerecht sein – das Instrument hat zuletzt seine Wirkung nicht verfehlt (wiewohl es anderseits in Ungarn und Polen auch ohne dieses ging). Aber wer hatte je daran gedacht, daß dem Kampfinstrument ein voller Erfolg beschieden sein würde, wer hatte für diesen Fall vorgesorgt? Man könnte fast sagen, die Erfinder dieses Systems, waren davon überzeugt, daß die Mauer nie fallen und Polen und Russen die „Deutschen“ ewig festhalten würden. Jetzt tanzen die Besen und wo ist der Meister, der die Geister bannt, die wir riefen?

Um es kurz zu machen: ich sehe keine andere Lösung als die, Grenzen für den Zeitraum einer Übergangsregelung wieder partiell zu schließen. Man kann zwei Wirtschaftssysteme von so unterschiedlichem Stand nicht von heute auf morgen aufeinanderprallen lassen. Die Systeme müssen nach einem wohlüberlegten Stufenplan schrittweise aneinander angeglichen werden. Und für die Zwischenzeit – ich denke 5 bis 10 Jahre – wird man das Recht der Freizügigkeit (nicht des Reisens) einschränken müssen. Das klingt hart nach all den Kämpfen, die man dafür geführt hat und ich fürchte, daß unsere Politiker nicht rechtzeitig in der Lage sein werden, diesen Standpunkt öffentlich zu vertreten. Aber es sollte doch möglich sein, diese Notwendigkeit, gepaart mit Soforthilfemaßnahmen, zu vermitteln. Übrigens müßte zu den Sofortmaßnahmen die Abschaffung der 49 % Regelung für ausländische Kapitalbeteilungen gehören. Nichts gegen die Eiserne Christa, aber diese Regelung zeigt wenig Einsicht in die Gesetzmäßigkeiten des Kapitalverkehrs. Das müßten schon ziemlich verschlafene Kapitalistenhunde sein, die sich damit hinter dem marktwirtschaftlichen Ofen hervorlocken ließen. Schließlich haben die 51 % bislang so viel Übung im effizienten Wirtschaften nicht gezeigt. Es wäre übrigens auch einmalig in der entwickelten Welt – ähnliche Regelungen gibt es nur in Entwicklungsländern.

Ja, lieber Frank. Du siehst, daß ich eine lange Sitzungspause hatte – der zweite Wirtschaftsübeltäter ist auch nicht erschienen – und so hatte ich mal richtig Zeit zum Fabulieren. Ich will aber nicht die von Dir angesprochenen „technicalities“ vergessen, obwohl sie eigentlich keiner Erwähnung bedurften. Wir sind zwar im Kapitalismus und hier herrschen die harten Gesetze des Marktes. Aber unseren Gästen stellen wir nur ganz ausnahmsweise eine Rechnung aus. Außerdem erwarten wir, daß sie weder mäkelig sind noch ihre Abmagerungskur hierher verlegen- m.a.W ihr seid zum genannten Zeitpunkt hier herzlich willkommen – übrigens auch mit Kindern. Allerdings haben unsere Kinder in dieser Woche keine Ferien und ich werde wohl auch werktätig sein müssen. Das macht aber nichts. Übrigens werde ich in der Woche nach Pfingsten vermutlich auf Konzertreise in der DDR sein und in der Woche davor wird möglicherweise toute la famille einen Ausflug mit Campingbus nach Drüben machen.

Schluß und Gruß

Klaus

Stuttgart, 10. 2. 1990

Lieber Frank,

kürzlich bekam ich eine Ohrfeige – oder war‘s die Schamröte? Jedenfalls hatte ich rote Backen.

Ich stand gerade mit meinem Bus vor dem Bahnhof, wohin ich mich nach der Arbeit begeben hatte, um meinen Brief vom 5.2. beim Spätschalter abzugeben, da begann im Radio ein Bericht darüber, daß der amerikanische Oberhäuptling vor Manövertruppen irgendwo draußen in der Prärie reichlich auf den Busch geklopft habe. Man werde die Angriffsfähigkeit der amerikanischen Truppen nicht nur erhalten, soll er gesagt haben, sondern sogar noch steigern. Erstaunlich war vor allem die Begründung: Während NVA – Soldaten schon um Brot bei der Bundeswehr anklopfen, sieht der Herr des Weißen Hauses in aller Unschuld – wahrscheinlich weil sein Haus weiß ist – eine unverminderte Gefahr, gegen die man sich wappnen müsse. Oh Amerika – noch habe ich den Schlegel in der Hand, mit dem ich die Werbetrommel für Dich gerührt habe, da fällst Du mir meuchlings in den Rücken. Indianerspielen mitten in diesen Umwälzungen!?

Ich habe den Brief dennoch eingeworfen und er ist, wenn ihn die Reste der Stasi nicht für zu gefährlich für den Staatsrest angesehen haben, der bei Euch noch existiert, wohl mittlerweile bei Dir angekommen. Denn, so meine Hoffnung, die Gefahr bestand vielleicht doch nur in der Wüste von Neumexiko und der Oberbefehlshaber war mit seiner Rede möglicherweise im (diplomatischen) Manöver, wo man ja generell Nichtvorhandenes als Gegebenes ansehen muß.

Inzwischen ist die Röte in meinem Gesicht wieder etwas gewichen. Ich hörte Ausschnitte aus einer Debatte im US – Congress. Du wirst es vielleicht nicht glauben, aber da fragten weißhaarige US-Senatoren sarkastisch, wo denn der Feind sei, gegen den man all die Soldaten in Europa benötige. Vielleicht hat Dich meine bisherige Antwort auf die Frage, wer die Amerikaner dazu bringen könne, ihren Weltherrschaftsanspruch aufzugeben, nicht befriedigt. Die richtige Antwort lautet: die Opposition. Denn ein Gesetz gilt in unseren Parteidemokratien mehr als jedes andere: Wichtiger als alle Macht eines Landes ist die Macht im Land.

Bald werdet ihr ja Erfahrungen mit mehreren Parteien sammeln können. Allerdings scheint es, daß man Euch eigene Erfahrungen weitgehend ersparen (oder besser: erst gar nicht ermöglichen) will, nachdem unsere Parteien dabei sind, die Dinge bei Euch in den Griff zu nehmen, wobei sie auf den „Blockflöten“ für meinen Geschmack ziemlich unreine Töne erzeugen. Ich hoffe, daß das Wahlecho ebenso schmuddelig ist. Es zeugt nicht gerade von viel Gespür für die „revolutionäre Lage“ in der DDR, wenn unsere Parteien auf diese Pfeifen setzten – nur wegen der vorhandenen Parteiorganisation und den gleichen Namen. Was hat die Ost-CDU mit der hiesigen CDU und was die LDPD mit der FDP zu tun gehabt? Ich wüßte, wem die Schamröte ins Gesicht steigen müßte! Da hast Du gleich eine Kostprobe von der Art, wie hier Politik gemacht wird. Hoffentlich kippt ihr das politische Kind nicht mit dem sozialistischen Bad aus und erhaltet Euch etwas von dem (neuerworbenen) Elan, mit dem ihr Euren Bonzen auf die Finger geklopft habt. Denn davon könnt ihr, wie es aussieht, auch in der Zukunft noch einiges gebrauchen.

Im übrigen hatte ich immer die Hoffnung, daß davon ein wenig auch zu uns herüberschwappt. Unsere Verhältnisse, die ja möglicherweise bald die Eurigen sind, kommen auf der Folie Eures Konkurses zur Zeit etwas zu gut weg. So wie sie früher zu schlecht weg kamen. Berghofer hat hier gegenüber einer Zeitung erklärt, Zweifel am Sozialismus seien ihm erstmals 1986 gekommen. Damals habe er seine erste Westreise nach Essen gemacht, was wie ein Schock auf ihn gewirkt habe. Offenbar hatte er zerlumpte Proletarier und heruntergekommene Städte erwartet. Er fand eine blühende Stadt – weiß Gott nicht die schönste. Kann es wirklich sein, daß man bei euch trotz Westfernsehen so wenig von der Wirklichkeit wahrgenommen hat? Kann Propaganda so den Blick verstellen? Da kann einem geradezu das Fürchten kommen. Was nehmen wir alles nicht wahr?

Schluß für heute

Gruss

Klaus

Stuttgart, 14.2.1990

Lieber Frank,

während Konkursverwalter Modrow in Bonn 10 bis 15 Milliarden einfordert, so als hätte Bonn (eine) Masse( – )Schulden gegenüber dem Konkursifex (irgendwie passt das nicht ins Konkursrecht), habe ich heute 400 km rheinaufwärts in Freiburg (also gewissermaßen an der Basis des deutschen Flusses) vier Stunden vor Polizeibeamten über Probleme des illegalen Arbeitsmarktes gesprochen. U.a. ging es auch darum, welche Probleme wegen der Umwälzungen im Osten auf uns zukommen – es kommt einiges! Es sind ja nicht nur die Übersiedler. Auch die, die nicht „rübermachen“, werden versuchen, hier „etwas“ dazu zu verdienen. Die Absurdität der Situation hat z.B. bei den Polen dazu geführt, daß sie wie die Stare zur Weinernte eingefallen sind, um sich in drei Wochen ein Jahresgehalt zu verdienen. Lehrer, Ingenieure und Doktoren waren dabei, die wochenlang im Polski-Fiat übernachteten und statt zu essen eine Traubenkur machten. Und da gibt es natürlich hier genügend Leute, die ihren illegalen Nutzen daraus ziehen. Die Folge: „revolutionäre“, d.h. (chaotische Verhältnisse auf unserem Arbeitsmarkt, der aus sozialpolitischen Erwägungen eigentlich nur in sehr begrenztem Umfang dem freien Spiel der Kräfte unterliegen sollte.)

Nach dem Vortrag hatte ich Zeit, meinen Leidenschaften nachzugehen. Ich setzte also meine Nachforschungen über den deutsch – deutschen Musikschriftstellerstreit, den ich in meinem Brief vom 16.1. erwähnte, fort (das Buch, das ich suchte, gibt es in der ganzen Bundesrepublik nur hier – wie passend!). Und jetzt sitze ich, nachdem ich noch zwei nach dem Zufallsprinzip ausgewählte Vorlesungen an der Uni gehört habe, im Lesesaal der Uni- Bibliothek (es gehört zu meinen Leidenschaften, in Lesesälen von Bibliotheken zu sitzen). Vor mir liegt das alte Kollegiengebäude aus dem Anfang dieses Jahrhunderts, auf dessen Fassade in riesigen goldenen Lettern steht: „Die Wahrheit wird Euch freimachen“ (auch nicht unpassend); im Hintergrund der Schwarzwald in düsteren Wolken, Sturm und Regen gehen darüber hinweg und doch ist es unwinterlich mild – ein deutsches Wetter in diesem Tagen.

Ich habe vorhin eine juristische Vorlesung über Notwehr, Nothilfe und Notstand gehört, also darüber, unter welchen Voraussetzungen bestehende Rechte gebrochen werden dürfen, gewissermaßen also über die „individuellen Revolutionsrechte“. Der Professor sprach dauernd von einem Unhold, der mit einem Mastino politano in der Gegend umherläuft und damit junge Damen bedroht, die nur einen Regenschirm mit sich tragen – auch passend.

Die andere, philosophische Vorlesung befasste sich mit Francis Bacon und der Geburtsstunde des Kapitalismus – sehr passend. Ich habe dazugelernt, daß in seiner Zeit das Patentwesen in England eingeführt wurde. Die ursprüngliche Absicht war, den Unternehmungsgeist des Volkes zu stimulieren. Daraus geworden ist der Unternehmergeist und sein Drang, Monopole zu erlangen. Der puritanische Wirtschaftsgeist (durch Schaffen im Schweiße deines Angesichtes kannst du einen Teil des verlorenen Paradieses wieder wettmachen) tat ein übriges, um den Kapitalismus zu begründen. Und zur gleichen Zeit ist – offensichtlich kein Zufall – nach einer Revolution auch noch die parlamentarische Demokratie entstanden. Kommt Dir das nicht irgendwie bekannt vor? Ihr holt gerade die Entwicklung des englischen 17. Jahrhunderts nach! (das bestätigt Deine ironische These, daß ihr gerade beim Übergang vom Feudalstaat zur bürgerlichen Revolution seid!).

Da ist natürlich die Frage zu stellen, ob Du Deine Chancen schon ausreichend geprüft hast, Dich vom „Leibeigenen“ zum Unternehmer zu verwandeln. Die Zeit ist jetzt reif dafür, vor uns, besser Euch, liegen Goldgräber- und Gründerzeiten. Schließlich sind Deine Voraussetzungen nicht schlecht. Ich weiß zwar nicht, was Du genau machst beruflich (war ja bis jetzt alles geheim). Aber zumindest historisch liegst Du voll im Trend. Wie gesagt: erst kommen die Patente, dann das Unternehmertum (du hast doch Patente, wie ich Deinem Manuskript entnehme, das dem letzten Brief beigelegt war). Und bürgerliche Revolution sowie parlamentarische Demokratie bekommst Du noch dazugeliefert.

Übrigens – Spaß beiseite – ich würde das tatsächlich einmal prüfen. Geld scheint es ja demnächst fast auf der Straße zu geben, was nicht so bleiben dürfte.

Allerdings solltest Du es nicht so weit treiben, wie ein Landsmann von Dir, den ich vorgestern, wieder in Waiblingen, zu verarzten hatte (wie passend – ich komme sonst höchstens alle halbe Jahre dorthin). Der hat es mit der Befreiung der „Leibeignen“ etwas übertrieben und hat kurzerhand alle seine Arbeitnehmer zu selbständigen Unternehmern gemacht, mit der praktischen Folge, daß man dann keine Lohnsteuern und Sozialabgaben für sie abzuführen und auch sonst keine Arbeitgeberpflichten einzuhalten braucht. Und um das Arbeitgeberparadies vollständig zu machen, hat er seine Leute auch noch an die Großindustrie verliehen und dadurch die Investitionen gespart. Das ist die Quadratur des kapitalistischen Kreises: Arbeitgeber sein, ohne Pflichten, ohne Risiko und ohne Betrieb. Ich habe dafür einen Begriff geprägt, auf den ich das „Patentrecht“‘ habe: „Beschäftigungsdreieck“. Bloß, daß ich damit nichts verdienen kann.

Wir Staatsanwälte sind halt im Kapitalismus allemal die Verlierer. Mein Kollege Bacon – er war Generalstaatsanwalt von England – unterlag den Verlockungen des Kapitals. Offenbar hat ihn seine Beteiligung an der Erzeugung des großen Geldes – er war auch Vorsitzender der Patentkommission – schwach gemacht. Jedenfalls ließ er sich bestechen und verlor seinen Job (allerdings hatte er dadurch die Zeit, gute Bücher u.a. über die induktive Denkmethode zu schreiben). Bist Du unbestechlich, wie ich, verdienst Du nichts. Du hast keine Zeit, gute Bücher zu schreiben und kannst induktive Moraltheorien allenfalls in Briefen entwickeln. Und schließlich kannst Du auch nicht auf eine Angleichung Deines Lohnes an die allgemeine kapitalistische Entwicklung hoffen, weil Dein Arbeitgeber das Geld zum Aufbau des Kapitalismus in der DDR braucht.

Passend?

Grüsse an Alle

Klaus

Wandlitz 15.2.90

Lieber Klaus!

Vielen Dank für Deinen Brief vom 30.1.. Wir sind hier für eine Woche Kurzurlauber in einem kleinen Ferienheim der Dewag (Paulas Betrieb) – 250 Mark Vollpension für uns vier – eine der typischen Errungenschaften und in diesem Falle eine der „positiven“. Leider wird des das letzte Mal sein, denn in Zukunft soll alles hier „kostendeckend“ und damit für uns unbezahlbar werden (Man spricht ganz offiziell vom 8-10-fachen). Die Kosten sind vor allen deshalb so hoch, weil das volkseigene und damit praktisch herrenlose Betriebsgeld bisher hier wie überall mit vollen Händen ausgegeben wurde und niemand daran dachte, die Mittel etwa „effektiv“ auszugeben. So kommt es, dass für dieses (wirklich schöne) Heim mit etwa 40 Betten allein 3 Reihenhäuser für das Personal errichtet wurden und in unserem Arbeitskräftemangelstaat sich hier die Angestellten fast tottreten – einer ist allein für die Kellersauna zuständig, die zwei- bis dreimal pro Woche für ein paar Stunden genutzt wird.

Dass für den Dewag – Direktor hier immer ein Appartement freigehalten wurde, muß wohl kaum extra erwähnt werden (Seit der Wende ist es angeblich zur freien Verfügung des Feriendienstes, aber – Oh Wunder – bis jetzt steht es als einziges Zimmer leer.)

Die berühmte „Waldsiedlung“ befindet sich nur zwei Kilometer von hier. Leider sind wir für die offiziellen Führungen um 10 Tage zu spät gekommen und sind ein wenig traurig darüber, denn wenn auch keinerlei Sensationen dort drinnen (jetzt) zu erwarten sind, hätten wir doch gern den Enkeln darüber berichtet.

Nun zu Deinem Brief: Zu meinem Werk ist zu sagen, dass das Manuskript abgeschlossen ist und auch der „Bruder“ Klaus darin einigemale zu Wort kommt und zwar als der Briefe – ohne – Antwort -Schreiber. Deine Gedanken haben mir da sehr geholfen (die Passagen zur französischen Revolution habe ich fast wörtlich übernommen, in dem guten Glauben an Dein Einverständnis) und sollte das ganze jemals gedruckt werden, gebe ich einen aus. (Nächste Woche soll ich beim 1. Verlag zurückfragen.)

Du gehst sehr ausführlich in Deinem Brief auf die Sozialismus – Kapitalismus – Problematik ein und ich will Dir gern darauf antworten, zumal es hier einen sehr engen Zusammenhang zur gegenwärtig dominanten Deutschen Frage gibt, um die ich mich – trotz anderer Ankündigung – bisher herumgedrückt habe. (Sie wird auch im Buch, das in der Weihnachtswoche abschließt, praktisch nicht diskutiert.)

Inzwischen ist es möglich, wieder einigermaßen nüchtern zu analysieren, was uns denn in den letzten Monaten wirklich „passiert“ ist und ich habe auch noch rotes Selbstvertrauen genug, diese Analyse frech auf der Basis des dialektischen und historischen (Marx´schen) Materialismus zu versuchen:

Dabei will ich es mir einfach machen und jetzt nicht darüber richten, welche konkreten Mechanismen dazu geführt haben, dass es möglich war, in allen „sozialistischen“ Ländern Millionen wirklich gutwilliger Genossen jahrzehntlang zu verarschen und erfolgreich zu missbrauchen. Es sei an dieser Stelle nur angedeutet, dass die meisten dieser Länder vor dem Real Existierenden Sozialismus faschistisch (wie Ost-Deutschland, Polen, Bulgarien) oder feudalistisch (wie Russland und die asiatischen sozialistischen Länder) geprägt waren. Leute, die in der DDR leben, sind weit über 70 Jahre alt, wenn sie Demokratie noch bewusst erlebt haben. Alle anderen kennen die Nicht-Diktatur nur aus dem Fernsehen und haben darüber ebenso nebulösen Vorstellungen wie über die Waschkraft des Weißen Riesen. Aber, wie gesagt, dies sollte mein Thema auch gar nicht sein.

Für unsereinen war es bisher ungeheuer schwer, Klarheit über die Rolle unserer Gesellschaft zu gewinnen, da praktisch keinerlei oppositionelle Literatur verfügbar war (und die oberflächlichen TV- Statements der Westkanäle keine fundierten Zeitungskommentare oder gar politwissenschaftliche Literatur ersetzen können.). Deshalb beispielsweise der Heißhunger des Herbstes ´88 nach dem schließlich verbotenen „Sputnik“. Nach der Wiederzulassung vor acht Wochen hat er heute kaum irgendwelche Brisanz für uns und ist das wer eigentlich schon immer war: Ein recht hübscher Digest der sowjetischen Presse, mit einigen interessanten Beiträgen zu Politik und Geschichte. Vor der Wende aber war er das einzige Presseerzeugnis, das ab und an einen Beitrag brachte, der mittelbar auch unsere Verhältnisse kritisierte.

Kurz: Analyse der eigenen Gegenwart ist für Autodidakten schon schwierig genug. Bei uns aber fehlte gar das „Lehrmaterial“. Man musste sich seine Kenntnisse sogar noch selbst (zu) erarbeiten (versuchen). Jedes halbwegs brauchbare Papier war da hochwillkommen. Für mich hatte das Buch von Prof. Woslenski über die „Nomenklatura“ eine immense Bedeutung, das ich vor einigen Jahren in die Finger bekam. Ich fand hier (geschrieben aus der mir vertrauten Sicht der Marx´chen Dialektik) einen Gedankenrahmen, in den alle meine selbst erarbeiteten Erkenntnisse wunderbar hineinpassten. Bis zu unserer Revolution war ich allerdings immer noch in der Rolle eines Atheisten befangen, der bis zuletzt hofft, Gott möge sich ihm doch noch offenbaren. Der Abschied von den eigenen Illusionen ist doch einer der schwersten.

Heute kann ich mich als von Lenin verarschten Marxisten bezeichnen. Das Problem des Real Existierenden Sozialismus bestand offenbar wirklich darin, dass er eine Mischung feudaler Machtstrukturen mit sozialistischer Ideologie bildete. Wenn man bereit ist, zuzugeben, dass die Oktoberrevolution Lenins im Grunde nichts anderes als der Putsch einer Kaste von „Berufsrevolutionären“ war und im Sinne des dialektischen und historischen Materialismus also das konterrevolutionäre Element in der Russischen (bürgerlich-demokratischen) Februarrevolution bildete – die als einziges damals wirklich aufgrund der Entwicklung der Produktivkräfte auf der Tagesordnung stand – wird alles weitere so ziemlich transparent: Dies seitdem installierten neofeudalen Strukturen mussten nach der Marx´schen Logik irgendwann die endgültige Grenze der Produktivkraftentwicklung erreichen und sich der kapitalistischen Produktionsweise als unterlegen erweisen. Die Folge ist eine bürgerlich – demokratischen Revolution (bzw. ihr 2. Anlauf) mit dem Ziel die bürgerlichen Freiheiten und die Marktwirtschaft einzuführen. Und genau das erleben wir nun auf unseren Strassen. Speziell für Deutschland kommt noch hinzu, dass zwei bürgerliche Staaten eines Volkes hinderlich wären, und so ist der Ruf nach Einheit (zumindest bei uns) vollkommen logisch.

Es wird also unweigerlich zu einem einzigen Deutschland nach dem Muster der Bundesrepublik kommen müssen, und im weiteren dann zu einem vereinigten kapitalistischen (!) Europa. Und den Marxisten wird nichts anders übrig bleiben, als diese Entwicklung zu begrüßen.

Es bleibt die Frage nach der roten Perspektive. Nach Marx weitergefolgert wird es so lange keinen Sozialismus geben, bis der Kapitalismus seine immensen Potenzen wirklich ausgereizt hat und das wird sicher noch eine ganze Weile dauern. Aber dann…. Wahrscheinlich kommt die sozialistische „Revolution“ ganz allmählich daherspaziert, indem der sozialstaatliche Charakter sukzessive zunimmt und auch die Vergesellschaftung der Produktion, so dass die Ausbeutungsrate abnimmt (bis jetzt steigt sie ja immer noch).

Es gibt allerdings ein entscheidendes Problem. Das bürgerliche Gesellschaftsmodell mag für Europa, Japan, die USA und noch einige Staaten gut funktionieren – für 6, 8 oder gar 10 Milliarden Menschen ist es untauglich, ja es funktioniert offenbar sowieso nur deshalb so gut, weil der größte Teil der Welt – aus vielschichtigen Gründen / hier habe ich übrigens damals bei Dir eine Reihe interessanten Aspekte kennen gelernt, insbesondere zum Ausbeutungsmechanismus in der 3. Welt und der Rolle der einheimischen Führung / übrigens (wahrscheinlich wegen der gemeinsamen feudalen Grundstrukturen) nicht selten kaum von der Rolle unserer „Arbeiterführer“ abweichend – daran nicht teil hat und die (nach Marx) ausgebeuteten Klassen der kapitalistischen Industrieländer ihrerseits kräftig an der Ausbeutung der „Klassenbrüder“ in der 3. Welt teilhaben (in den Industrieländern verwischen sich damit natürlich die Klassenkonturen). Nicht umsonst sind bei Euch die Bananen billiger als einheimische Äpfel.

De facto gilt dies auch bezüglich Osteuropa und der DDR. Selbstverständlich liegt es an unserem unfähigem Wirtschaften, wenn der DRR- Außenhandel im Mittel (!) für 4 Mark Aufwand 1 D- Mark einspielte. Aber wenn der Bundesbürger für den Arbeitslohn einer Arbeitstunde ein im Osten hergestelltes Produkt erwirbt, das man beim besten Willen nur in 6 oder 8 Stunden herstellen kann, hat er ja wohl an der Ausbeutung kräftig teil, oder ?. Der Schnitt verläuft also heute weniger zwischen den „Klassen“ eines Landes als vielmehr zwischen ausgebeuteten und ausbeutenden Völkern, wobei die Führung der ausgebeuteten Völker die mieseste Rolle spielt.

Vielleicht ist hier wirklich der Punkt wo (im nächsten Jahrhundert) die von Dir zitierte Moral einsetzen muß, den ich kann mir wohl 10 Milliarden glückliche und satte Menschen vorstellen, aber nicht 5 Milliarden private PKW, 5 Milliarden „Häuschen mit Garten“ usw.

Das kommunistische Prinzip „jedem nach seinen Bedürfnissen“ kann – wenn überhaupt – nur dann funktionieren, wenn die Menschen von ihren bescheuerten bürgerlichen „Denver – und Dallas – Bedürfnissen herunterkommen. Freie Bahn also der (kommunistischen ??) Moral!

Ich glaube, dass der Sozialismus (und seine Arbeits- und Lebensprinzipien) nicht tot, sondern noch gar nicht geboren ist. Seine Ideologie war und ist jedoch schon weit verbreitet (nicht zuletzt, weil die menschlichen Gesellschaftsideale seit Jahrtausenden immer ungefähr gleich sind). Das bringt den Vorteil, durch eine starke linke Bewegung auch in der bürgerlichen Gesellschaft immer schon mal ein starkes sozialistisches Element einzubringen, birgt aber gleichzeitig die Gefahr, dass jede antikapitalistische Bewegung gleich als „sozialistisch“ verkauft werden kann (und feudale Gesellschaften sind nun mal leider auch antikapitalistisch).

Der Kapitalismus wird jedenfalls irgendwann an seine Grenzen stoßen und dann von der Masse der Menschen nicht mehr akzeptiert werden. Wie sich dieser Übergang zum Sozialismus dann vollziehen wird, sei dahingestellt. Ganz sicher jedoch nicht, indem irgendwelche rote Garden in Lenin´scher Manier die Bahnhöfe und Telegrafenämter besetzen. Es wird ganz sicher auch ein Kontinente umfassender Prozess sein, denn solange noch Nationalstaaten alter Prägung existieren, hat der Kapitalismus seine Potenzen noch lange nicht ausgereizt. In diesem Sinne erfüllt sich dann auch die Marx´sche Prognose von der Weltrevolution (eine These, mit der sich die Bolschewiki in Russland sehr schwer taten. Lenin musste extra eine neue Revolutionstheorie erfinden, um diesen Widerspruch zu lösen).

In diesem Zusammenhang noch einige Sätze zur Planwirtschaft: Ich entnehme Deinen Briefen, dass auch Du – fast ohne Nachdenken / und ich meine dies nicht als Vorwurf – die These von dem Gegensatz von Marktwirtschaft und Planwirtschaft (selbstverständlich mit dem Nachsatz, das erste System hätte seine Überlegenheit, das zweite seine Untauglichkeit bewiesen) übernommen hast. Ich möchte aber ausdrücklich darauf hinweisen, dass hier ein Wirtschaftsprinzip ebenso wie eine ganze Gesellschaftsordnung durch ein System in Misskredit gebracht wurde, das den Namen unberechtigt ursurpiert hatte.

Wir hatten in den sozialistischen Ländern Marktwirtschaft ! (und haben sie noch). Bei uns wurden Waren produziert, die auf einem Markt realisiert werden mussten. Es erfolgte ein Austausch von Werten, es gab und gibt Ware-Geld Beziehungen usw.

Die Tatsache, dass in den (meisten) sozialistischen Ländern die primitivsten finanztechnischen Regeln verletzt wurden, um durch die damit entstehende Mangelwirtschaft die Ausbeutung zu erhöhen, dass willkürlich Monopol (!) Preise festgelegt wurde, dass unfähig Leute in Chefetagen aufsteigen konnten, dass ständig in die Betriebe aus politischem Schwachsinn hineinadministriert wurde, dass …, dies alles führt zwar zu Misswirtschaft, macht doch aber bitte schön noch keine Planwirtschaft aus.

Sicher es gab eine staatliche Plankommission, es wurden für Betriebe Jahres- und sogar Fünfjahrespläne aufgestellt. Aber wenn man bedenkt, dass praktisch die ganze Wirtschaft der DDR einen einzigen großen Konzern bildete (mit G. Mittag als Direktor und dem Politbüro als Aufsichtsrat), ist dies mehr als logisch. Nichts anderes – nur besser – machen westliche Unternehmen. Bei uns trug es aber immer den Charakter der Mängelverwaltung und die aufgestellten Pläne wurde ohnehin nicht eingehalten. In der Regel stimmten nicht mal die Bilanzen am Jahresanfang – vom Dezember ganz zu schweigen. Kurz: Unserer sogenannte Planwirtschaft war ein (schlecht organisiertes) Kartensystem wie es andere Gesellschaftssysteme in Krisen – d.h. Kriegszeiten auch manchmal anwenden. Mit sozialistischer Planwirtschaft, die als Hauptaufgabe ja die Verhinderung von Überproduktionskrisen hat (und daher später auch einmal unverzichtbar wird), hat unser Quatsch wirklich nur den Namen gemein. De facto gab es hier eine schlechte sozialistische Marktwirtschaft (mit einem bedauernswerten Markt).

Nun ist es natürlich bitter, eine jahrzehntelange Entwicklung – für die sich viele gerade auch unter Hintanstellung persönlicher Interessen eingesetzt haben – als im Grunde reaktionär zu erkennen. Es bleibt aber Trost und Hoffnung für die Zukunft, denn erstens sind tatsächlich einige vorsozialistische Errungenschaften bei uns erreicht worden (und haben kräftig auch auf den Westen ausgestrahlt) und zweitens hat auch der Real Existierende Sozialismus als Buhmann zumindest den westlichen Einigungsprozeß unfreiwillig aber kräftig unterstützt.

Nur haben leider die Falschen das Menü bezahlt. Dabei haben wir in der DDR noch die größere Chance, dass wir uns an das Ende des gedeckten Tisches noch mit ransetzen dürfen (ich hoffe der Herr Bundeskanzler wird im Blick auf eine gesamtdeutsche Wahl im Dezember seinen Geiz vom 14. Februar noch überwinden und für uns ein paar Teller aufdecken lassen). Die Polen, die Ungarn, Rumänen usw. und vor allem die Sowjets haben da eine unvergleichlich traurigere Zukunft vor sich.

Mit diesem optimistischen Schluss verabschiede ich mich für heute.

Grüße an Judy und die Kinder

Dein Frank

PS Nach Redaktionsschluß fand ich noch einen Artikel von Helga Königsdorf, der alles viel besser ausdrückt als ich es selbst formulieren könnte. Ich lege ihn bei.

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Briefe aus der Wendezeit – Teil 2

 

Stuttgart, 16.1.1990

 Lieber Frank, 

die Diskussionen. die z.Zt. bei Euch und über Euch stattfinden sind wirklich aufregend. So will ich Dir denn spontan noch über meine Eindrücke schreiben von einer Diskussion, die ich bis eben gerade (1.15 Uhr) im Fernsehen mitverfolgt habe. Sie fand in Potsdam mit den meisten Leuten Eurer neuen Politprominenz statt. Wie anders sieht eine solche Diskussion als bei unseren Politikern aus. Man hat bei unseren Diskussionen meist den Eindruck, daß sie nach vorgestanzten Schablonen verlaufen. Politprofis geben in glatten Formeln ihre Statements ab, die schon duzende Male durchgekaut sind. Sie variieren nur die Grundmuster, je nach dem Gegenstand, um den es geht. Die Diskussion bewegt sich nicht und sie bewegt nichts. Sie dient hauptsächlich dazu, sich zu präsentieren, gut auszusehen und längst beschlossene immer gleiche Positionen fest- und dem Publikum einzuhämmern. Seine Meinung zu ändern, eine gegnerische Position anzuerkennen, zuzugeben, daß man etwas dazugelernt hat, gilt als Unsicherheit, die man fürchten muß, wie den politischen Teufel. Um Himmels willen aber darf eine politische Gruppierung nicht uneinig erscheinen (Ausnahme: Die Grünen). Und so herrscht der aberwitzige Drang, sich anzupassen, seine Eigenständigkeit zu verleugnen und sich stromlinienförmig zu machen. Ich frage mich immer, welch seltsames Bild diese Leute von denen haben müssen, denen sie sich nur als eine einige Gruppe glauben präsentieren zu können. Und welches Bild haben sie von sich selbst, wenn sie sich in einer solchen Rolle wohlfühlen, womit ich nichts gegen den pragmatischen Vorteil einer abgeschlossenen Diskussion sagen will. Vielleicht kommt Dir diese Beschreibung unseres Politikerverhaltens bekannt vor. Die extremste Form davon, habt ihr .ja gerade hinter Euch.

Ganz anders die Diskussion, die ich eben verfolgt habe. Die Diskutanten sind zum erheblichen Teil noch ungeübt. Sie ringen mit den Worten und Gedanken, sie geben auch Positionen zu, die eine andere Gruppierung hat, modifizieren ihre Position, stellen Fragen, allerdings auch wenig sinnvolle, zeigen Ratlosigkeit. Als Zuhörer hat man das Gefühl, man könne an einer solchen Diskussion selbst teilnahmen, könne etwas bewegen und das bewegt einen selbst (bei hiesigen Diskussionen schaltet man bald ab). Das Ganze erinnert mich sehr an die tastenden Versuche der französischen Revolution, neue Gesellschafts- und Verfassungsmodelle zu entwerfen. Es ist eine faszinierende Situation, alles noch einmal neu durchdenken zu können. Allerdings ist es in Eurem Fall auch nicht ganz unproblematisch. Nicht nur, weil man in der Gefahr steht, eine Reihe von Fehlversuchen zu machen und – vielleicht zu viel – Lehrgeld zu bezahlen, wie die Franzosen. Euch laufen die Zeit und die Menschen davon. Da ist es ein ziemlicher Luxus, sich zahlreiche politische Debütanten leisten zu müssen. In der Tat sind manche Positionen der allzu vielen neuen politischen Gruppen noch einigermaßen naiv und man kann nur hoffen, daß sie sich die Fähigkeit zur Weiterentwicklung auf dem offenbar noch langen Weg zu praktikablen Vorstellungen offen halten. Denn vieles klingt noch sehr theoretisch und ein wenig wie in einem universitären Oberseminar. Immer wieder sind es die Vorstellungen über die Funktionsweise der Wirtschaft, insbesondere der unsrigen, die sehr unklar sind und bezeichnenderweise verläuft man sich sehr bald in Allgemeinheiten und abenteuerlichen Vermutungen über unsere soziale Wirklichkeit. Es ist für mich immer wieder erstaunlich, wie wenig gerade Eure Leute von ihrem Marx gelernt haben, der doch immerhin klargestellt hat daß die Wirtschaft die Seele der meisten gesellschaftlichen Bereiche ist. Man redet jetzt viel auch von Umweltschutz bei Euch. Wenn man sich ein wenig in der Welt umschaut, so zeigt sich sehr schnell, daß er eine Funktion des Wohlstandes ist. Dort wo der Lebensstandard niedrig ist, liegt auch der Umweltschutz im Argen. Und wo es gar um das nackte Überleben geht, wie in den Entwicklungsländern, ist die Vokabel nicht nur unbekannt, sondern wird geradezu als absurd empfunden. Ähnliches gilt für viele soziale Schutzrechte. Manche Eurer Neulinge scheinen aber am liebsten das Fell verteilen zu wollen, bevor dessen Träger geboren ist, womit ich natürlich nichts gegen Umweltschutz und starke soziale Rechte gesagt haben will. 

Es ist natürlich ein vertrackte Sache mit der Wirtschaft. Ein sozialistisch gebildetes Gemüt hat vermutlich seine Schwierigkeiten mit der Vorstellung, daß man Betriebe kaputtmachen muß, um die Wirtschaft effizienter zu machen (Konkurspflicht – so was gibt es hier!); oder daß die Möglichkeit von u.U. schnellen Personalentlassungen die Voraussetzung für Arbeitsplatzsicherheit ist. (wenn nur so die Rentabilität eines Betriebes gesichert werden kann – womit ich nichts für hire and fire gesagt haben will; es gibt viele denkbare Zwischenlösungen). 

Es gab auch Realisten und zu denen muß man wohl – wiewohl SED-Mitglied – den Herrn Berghofer rechnen. Sein Satz, mit der Öffnung der Grenzen habe man sich an ein sehr starkes Wirtschaftssystem angekoppelt, woraus sich eine ganze Reihe rein tatsächlicher Konsequenzen ergäben, enthält ein ganzes Programm. Auch sein Satz, durch die Berührung mit dem Westen seien völlig neue Qualitätsbedürfnisse entstanden, kann in seinen praktischen Auswirkungen kaum unterschätzt werden. Es ist merkwürdig – man kann mit mehr oder weniger Wohlstand zufrieden sein und weiß Gott, man braucht eigentlich nicht viel. Aber die wenigsten sind mit wenig zufrieden, wenn die Nachbarn viel haben. Frei fühlt man sich erst, wenn man das Wenige selbst gewählt hat und das setzt voraus, daß man die – vielleicht nur abstrakte – Möglichkeit zu mehr hat. Das sind wohl psychologische Tatsachen und bei so engen Nachbarn, wie wir es sind, kann man das nur schwer überkompensieren. 

Ja das sind so meine Gedanken bei diesen aufregenden Diskussionen. lch wünschte, ich könnte dabei sein. Denn obwohl wir hier täglich mit den Problemen konfrontiert werden, die sich aus den Umwälzungen von Drüben ergeben, letztlich sind wir doch nur Zaungäste bei diesen erstaunlichen Ereignissen. 

Übrigens habe ich in der letzten Zeit auf einem ganz anderen Sektor deutsch – deutsche Studien getrieben. Robert Schumann hatte von Leipzig aus, einen hoch interessanten Streit mit einem Stuttgarter Musikschriftsteller und Wirtschafts- kriminellen. Ich werde einen Aufsatz darüber schreiben. Ich schicke ihn Dir, wenn er fertig ist (wird). 

Gruß

Klaus 

 

Berlin, 11. 01. 90

 Lieber Klaus! 

Du bist wirklich ein Fleißiger! Ich schicke Dir hier noch ein paar „alte“ Ansichten, die halbwegs druckreif sind. Viel kommt in dieser Machart nicht mehr, weil die Tagebuch-story mit dem Jahreswechsel zu einem (blutigen) Ende geführt wird – irgendwann muß ich mich schließlich um den Feinschliff und dann vielleicht auch um einen Verlag kümmern. 

Für mich wird es damit zwar mühsamer an Dich zu schreiben (es fällt halt nicht mehr einfach mit ab), aber Du hast dann den Vorteil, daß es sich nunmehr um wirklich authentische Geislersche Ansichten handelt, ohne schriftstellerische Kompromisse. Insofern ist dieser Brief schon ein Vorgeschmack. 

Zur Zweistaatlichkeit kommt demnächst (in alter Manier) noch einiges nach (halbwegs meine Ansicht „damals“ – sofern dieser Begriff für verflossene 4 Wochen angebracht ist). 

Am meisten beschäftigt mich zur Zeit die Rolle der demokratischen Linken in diesem noch bestehenden Land (zu denen ich mich bisher und immer noch zurechne). 

Ich bin inzwischen zunehmend pessimistischer und politisch depressiv. Man kommt sich immer stärker vor wie das kleine Häuflein rückzugdeckender Fanatiker, die bis zuletzt alles einsetzen – nur um den Bonzen und ihren Koffern die Flucht zu erleichtern. Wir Deutschen haben da ja Erfahrung. 

Ich hatte sehr gehofft, daß sich auf dem Sonderparteitag vor Weihnachten die SED spaltet und sich damit dann endlich die marxistische Linke an der Revolution beteiligt. Alles andere war und ist Quatsch, auch der faule Kompromiß mit dem Doppelnamen. Aber nomen est omen. Diese Bindestrich-Partei vereint nach wie vor die Sozialistischen Demokraten und die Betonköpfe. Schnitzler und Geisler im selben Verein! Zum Kotzen!   

Der Anteil der Stalinisten steigt sogar zwangsläufig, denn die Karrieristen – ehemals mindestens eine Million – laufen in Scharen davon (Wozu soll man auch 50 Mark Beitrag zahlen – im Monat/bei 1000 Mark netto – wenn man auch ohne Parteiabzeichen seinen Posten behalten kann, vielleicht sogar sicherer, denn wer traut sich heute jemanden abzusetzen, der gerade aus der Partei ausgetreten ist. So ändern sich die Zeiten) und viele ehrliche Leute haben die SED schon aus Enttäuschung verlassen, aber nur ganz wenige Stalinisten. Diese brauchen um’s Verrecken eine politische Heimat, und wenn es im Untergrund ist, aber ohne (irgendeine) Partei sind sie tot. (Fairerweise sollte man ihnen die auch zugestehen) Deshalb hätte auch eine Auflösung mit anschließender Neugründung, wie einige Naivlinge gefordert haben, überhaupt keinen Sinn. Es ist reine inkonsequente Kinderei, darüber nachzudenken. 

Auch der Hickhack „rein in die Betriebe oder raus aus die Betriebe“ geht in diese Richtung. Etliche fürchten sich ganz einfach vor dem rauhen politischen Leben „draußen“, wo sie keiner kennt, und wollen deshalb in ihren vertrauten, wenn auch inzwischen halbierten, Betriebsparteiorganisationen überwintern. Die Beschlüsse in den Wohngebieten fassen dann die Alten/Rentner (80% Stalinisten), die Mitarbeiter der aufgelösten Stasi und geschleifter Ministerien (90% Stalinisten) und ein paar Weiber im Mütterjahr. 

Das wird ein schöner Wahlkampf werden. Apropos: „Wenn am nächsten Sonntag Wahl wäre“ – ich würde zuhause bleiben. Nicht mal meine (noch!) eigene Partei bekäme meine Stimme. Ein tolles Gefühl. 

Die sogenannte Regierung Modrow macht alles mögliche, aber kaum noch irgendetwas was meinen Beifall findet. Nagelprobe ist die Frage der Bezahlung für die abgesägten Apparatschiks. Die Revolution ist ja wohl kaum gemacht worden, damit solche Leute wie bisher auch in Zukunft das doppelte Geld „verdienen“. Vollkommen logisch, daß gestreikt wird, sobald sich die Einzelheiten herumgesprochen haben. Damit ist aber wahrscheinlich eine Hemmschwelle endgültig überschritten und ich will nicht spekulieren, was sich daraus nun entwickeln kann. Die Gewerkschaft ist mausetot – sie hatte ohnehin nur Ferienplätze zu verteilen und Soligelder zu kassieren – und so läuft alles was läuft außerdem auch noch anarchisch. 

(Scheinbar) zweiter Streitpunkt sind Verfassungsschutz und Abwehr. Von nahem betrachtet geht es aber um das selbe wie bei der Apparatschikbezahlung: Restauration der Verhältnisse – das allein ist schon schlimm genug aber – es soll auch möglichst keinem der alten Kaste wehtun. Also eine Art Maximalprogramm der Konterrevolution. 

Das Gespenst des Faschismus kommt da gerade recht. „Jetzt geht es erst einmal um die Einheit aller demokratischen Kräfte, für Demokratie ist immer noch Zeit“. Ich bin nicht zur Demo „gegen rechts“ am Treptower Ehrenmal marschiert. Ich hatte von Anfang an ein beschissenes Gefühl.  Die Fernseh-Übertragung erinnerte denn auch beklemmend an die gute alte Zeit und Freunde, die dort waren, haben das bestätigt. Und was das Schlimmste ist: Mir bekannte Stalinisten, die bis vor vier Wochen kurz vor dem Selbstmord standen, fühlen sich zunehmend wohler… Ein ziemlich mieses Gefühl, in einer Revolution, die man lange herbeigesehnt hat, auf Seiten der Reaktion zu stehen. Ich weiß nicht, ob Du aus der Ferne verstehen kannst, daß ich bis heute aus dieser Partei noch nicht ausgetreten bin. Aber auch mir fehlte dann ganz einfach die politische Heimat, denn eine Partei des Demokratischen Sozialismus (nicht des Sozialdemokratismus) gibt es eben bis dato noch nicht in diesem Lande und alle in meinem Sinne Gleichgesinnten sind nun einmal noch oder waren bis vor kurzem in dieser nunmehr endgültig hoffnungslosen SED. Kurz: Alles wenig hoffnungsvoll für die Linke. Zunehmend Oberwasser für die Gesamtdeutschen. Mit ziemlichem – und hoffentlich nur zeitweiligem – Pessimismus grüßt Dich und die Deinen ganz herzlich  

Dein Frank

 PS: Das beiliegende „Steinchen“ ist garantiert echt. Eigene Handarbeit – vom Checkpoint Charlie  

Anhang (Tagebuch von Gerhard H.)

Freitag, 24. November 

Ein wunderbares Gefühl: Leben mitten in einer Revolution! Zwar ist da noch immer die Angst vor Mord und Totschlag, aber was um uns passiert, was mit uns passiert, ist einfach wunderbar. 

Die volle Tragweite des Geschehens ist bestimmt erst aus zeitlicher Distanz zu erfassen, aber das Empfinden, eine große Zeit zu durchmessen, Dinge zu erleben, die einmalig und ungeheuer sind, wächst und füllt uns fast aus. Alles private, die kleinen Alltagssorgen, der Abwasch, die ausstehende Renovierung und die Hausaufgaben der Kinder werden ungeheuer nebensächlich. Der Informationshunger beherrscht die Menschen. Lange Schlangen vor den Zeitungskiosken. Man kauft nicht eine Tageszeitung wie früher, sondern zwei, drei, alle, die noch zu haben sind. Die Presse der „Block“parteien ist plötzlich nicht mehr der verzögerte Abklatsch der SED-„Organe“. Es lohnt, sie AUCH zu lesen. Überall stehen andere Meinungen und kontroverse Kommentare, noch vor 6 Wochen eine wahnwitzige Vorstellung. Vor 6 Wochen! 

Die „Aktuelle Kamera“ jahrzehntelang degeneriert zum Hofberichterstatter, ein Tiefpunkt der ohnehin schon miesen Einschaltquoten, sie wird zur gefragtesten Sendung. Man erwägt die Einspeisung in bundesdeutsche Kabelnetze. 

Dazu: Westnachrichten, Sondersendungen, Spätausgaben, Diskussionsrunden, der Rundfunk… irgendwann ist der Punkt erreicht, wo man sich nicht mehr in der Lage fühlt, die dargebotenen Informationen auch abzuziehen und zu verdauen. Viele verzichten schon auf die WESTnachrichten, das ist vielleicht das Allerverrückteste. 

Ungeheuer beeindruckend, wie alltäglich wird, was vor einem Monat noch Sensation war: In der „Berliner“ Tips des Westberliner Polizeipräsidenten für den Besucherverkehr, das „ND“ druckt die Westprogramme und warnt vor Analverkehr, Reporter rücken der „Waldsiedlung Wandlitz“ auf den Pelz. Der Sprecher der „Aktuellen Kamera“ spart kostbare Sendezeit: „Das vollständige Interview mit Egon Krenz sendet die ARD um zwanzig Uhr fünfzehn.“. Günter Mittag aus der Partei ausgeschlossen, gegen Honecker ein Verfahren eröffnet, Kreissekretäre erschießen sich. Das Neue Forum und „Demokratie Jetzt“ rufen in der Zeitung zum Kampf gegen den Ostmarkschmuggel auf, UNSERE Sozialdemokraten sprechen vor der Sozialistischen Internationale. Alle reden von Verfassungsänderungen, freien Wahlen… Die Alltäglichkeit der Sensationen – Merkmal der Revolution. 

Richtig faßbar aber wird das Unfaßbare allein auf dem Ku’Damm. Vielleicht ziehen vor allem deshalb die Millionen jede Woche gen Westen.Vielleicht geht es gar nicht um die 100 D-Mark, Bananen und Kassettenrecorder. Vielleicht ist sie nur im Westen so richtig zu greifen, die neue Freiheit, UNSERE Freiheit, goldene Frucht der Revolution – und bisher auch so ziemlich die einzige. Alles andere könnte ein Trick sein: Sonntagsgespräche, abgebaute Stasi, abgelöste Funktionäre, offene Presse, versprochene Wahlen… Die Freiheit des Reisens jedoch, die ist greifbar, erlebbar, die ist wirklich, heute schon, jetzt, unumkehrbar. Was tut es da schon, daß wir als arme Jacken über den Ku’Damm bummeln, daß uns nicht alles gefällt, Berührungsängste hochkommen. Wir haben sie, DIESE Freiheit. Und drängelnd zwischen KaDeWe und Gedächtniskirche scheint es einfach undenkbar, sie könnte uns wieder genommen werden. Schwer vorstellbar, der Stalinismus könnte wieder erblühen in einem Land frei reisender Bürger. Wohl deshalb haben die einen so eifrig ihre Grenze befestigt, und die anderen so verbissen versucht, sie zu überwinden. Nun ist sie überwunden und nur die Aufhebung der Leibeigenschaft mag in den Menschen ähnliche Gefühle erzeugt haben. Und siehe da: Die vielbeschworene Katastrophe blieb aus. Die Anarchie herrschte nur eine Nacht lang, hunderttausende schwänzten die Arbeit – einen Tag lang. Einen weiteren schwätzten sie noch darüber und am dritten werkelte alles fast braver als zuvor. Ein Schaden sicher, aber kaum größer als ihn zwei, drei Jubelfeiern anrichten. Ein Gefühl, als hätten Eingeborene einen Tabustrich überschritten: Kein Blitz, kein donnerndes Strafgericht, keine Heuschreckenplage und kein blutiger Regen. Nur eine verstörte Priesterschar, die das Geschehen selbst nicht mehr begreift. 

Auch ein Charakteristikum der Revolution: Die totale Umberwertung der Wichtigkeiten. Wieviel zittrige Unterschriften ängstlicher Beamter brauchte es noch im Sommer, wollte ein einziger Betrieb einen einzigen Mitarbeiter für eine einzige Sekunde einen einzigen Schritt hinter den Eisernen Vorhang entsenden. Wieviele Beurteilungen mußten eingeholt, wieviele Nachbarn befragt, Führungszeugnisse gelesen, Vorschriften beachtet, Lehrgänge besucht, Unterweisungen durchgeführt, dokumentiert, paraphiert werden. Und wehe ihnen allen, wenn sich herausstellte, die verleugnete Tante aus Wuppertal hatte doch eine Osterkarte geschickt. 

Wen interessiert das heute noch, 6 Wochen später?  

Wieviel zittrige Unterschriften ängstlicher Beamter brauchte es noch Anfang Oktober, wollte ein ausländischer Sender in Limbach-Oberfrohna einen Fußgänger befragen. Wie schlechthin unvermeidlich war der Samstag-Unterricht. Wie unverzichtbar waren unsere Sperrgebiete, unsere Grenzzonen, Truppenübungsplätze. Wie kostbar war uns jeder einzelne Soldat. Ohne IHN hätten wir ihn niemals aufgehalten, den Ansturm der Bundeswehr durch das Brandenburger Tor. Wie hätte uns der Gegner fertiggemacht, hätte man nicht wachsam jedes Paket kontrolliert, jeden Brief überwacht, jedes Westtelefonat aufgezeichnet. Wie blaß hätte die Wirtschaft ausgesehen ohne Verschlußsachen, Wettbewerbe, Selbstverpflichtungen, Max- und Moritz-Messen, Jugendobjekte, und Traditionsecken, ohne „Schulen der sozialistischen Arbeit“, ohne Frauentagsfeiern, Aktivistennadeln, Wandzeitungen. Wie wären wir zusammengebrochen, hätte jeder Plebs auf der Straße seine Transparente aufstellen können. 

Keine 2 Monate ist das her. Wen aber interessiert das heute noch? Heute ist alles anders. Neue Wichtigkeiten, neue Verhältnisse, ein neues Land, neue Menschen. Neue Menschen?

 

Briefe aus der Wendezeit – Teil 1

Klaus Heitmann

und

Frank Geisler

DoppeltDeutsche

Wende-Briefe

Expeditionen über

die Reste der Mauer

1989 – 1999

Vorwort

Der vorliegende Original-Briefwechsel ist eine Folge des Falls der unseligen Mauer, welche Deutschland einst in zwei Teile zerriß. Seine Protagonisten lernten sich im Jahre 1985 während eines Familienurlaubs in Ungarn kennen, wo Deutsche aus Ost und West seinerzeit am ehesten Kontakt zueiander fanden. Aufgewachsen im jeweils anderen Teil des Landes und ohne Beziehungen über die Grenze stellten wir schon damals ein außerordentliches Bedürfnis nach Information und Meinungsaustausch fest, das wir in tagelangen Diskussionen am Strand des Plattensees zu befriedigen versuchten. Nach dem Urlaub trennte uns die Mauer wieder und – bedingt durch den jeweiligen Beruf – hielten wir den Kontakt in den folgenden vier Jahren nur lose und auf verdeckten Wegen aufrecht. Nachdem der Damm, der unsere Welten schied, gebrochen war, ergoß sich unser hoch aufgestautes Mitteilungsbedürfnis dann aber in Form einer wahren Briefflut über die unsägliche Demarkationslinie. Das Ziel, dieselbe endgültig wegzuspülen, war allerdings nicht so leicht zu erreichen, wie wir und andere anfangs gemeint hatten.

Stuttgart, 4.11.1989

Liebe Marianne, lieber Frank,

am Abend dieses „historischen Tages“ greife ich zur Feder und frage Euch wie Ihr die „Ereignisse“ seht, die uns (und Euch) nun täglich überschwemmen. Der Fernseher, insbesondere wenn er direkt an das DDR-Fernsehen angeschlossen ist, ist zur Zeit das Aufregendste, was man sich vorstellen kann. Wer hätte das gedacht, daß wir uns einmal darüber ärgern würden, Eure Kanäle nicht direkt empfangen zu können. Wir fühlen uns fast wie in Dresden. Nachdem ja nun jeder DDR-Bürger den „Westen“ wird besuchen können, hoffen wir doch sehr, Euch in nicht allzu weiter Ferne hier empfangen zu können. Es wird doch hoffentlich keine Einschränkungen der bisher praktizierten Art geben – von wegen Beruf etc?

Was in unseren Köpfen vorgeht angesichts der täglich sich überschlagenden Nachrichten, kann ich hier nur andeuten. Neben der Faszination über eine möglicherweise erfolgreiche deutsche Revolution, tun sich täglich neue Fragen auf, die uns zunehmend mehr aus der Rolle des Betrachters in die des direkt Betroffenen führen. Auch unser „Weltbild“ verschiebt sich, verdrängt bisherige Positionen und Probleme und lässt neue auftauchen, die z.T. die abgelegten alten sind. Fast könnte einen schwindelig werden.

Wir hoffen, bald von Euch zu hören – oder Euch zu sehen!

Alles Gute!

Klaus

 

 

Stuttgart, 4.11.1989

Lieber Frank,

nachdem ich soeben den Brief an Euch beide fertiggestellt habe, überfällt mich eine Idee, die ich Dir schnell mitteilen will, bevor mich wieder unabsehbare Trägheit daniederstreckt. Wir werden z.Zt. Zeugen unerhörter historischer Ereignisse. Aber wie so vieles wird auch dies an uns vorbeigehen und schon nach kurzer Zeit werden wir uns fragen, wie und was eigentlich alles geschehen ist, vor allem aber, was dabei in uns vorgegangen ist. Erfahrungsgemäß sind solche Rekonstruktionen mühsam und kaum mehr authentisch. Vieles wird miteinander vermischt und man neigt dazu, die Dinge vom Ergebnis her zu beurteilen. Jetzt aber sind wir noch mitten in den Ereignissen. Ich überlege mir daher, ob man nicht ihre Widerspiegelung in unseren Gedanken und Erlebnissen festhalten könnte. Natürlich könnte man ein Tagebuch schreiben. Aber ich stelle mir vor, daß ein deutsch – deutscher Briefwechsel aus der Nahperspektive noch viel interessanter wäre. Ich trete daher mit dem angesichts meiner bisherigen Schreibfaulheit sicherlich erstaunlichen Vorschlag an Dich heran, unsere (d.h. natürlich insbesondere meine) Schreibfrequenz erheblich zu dem genannten Zweck zu erhöhen. Natürlich muß man die Dinge nicht gleich übertreiben; eine „vollständige“ Erfassung der Ereignisse kann nicht das Ziel sein, eher ein Plaudern aus dem Nähkästchen. Anfangen könnte man z.B. mit den Reaktionen innerhalb der Familie. Wie erleben z.B. Deine Kinder das, was sich zur Zeit in Berlin oder im Fernsehen bei Euch abspielt? Was sagen sie dazu, daß möglicherweise auch Kinder aus ihrem Umkreis das Land verlassen? Unsere Kinder verfolgen die Dinge nicht zuletzt deswegen mit großen Interesse, weil sie durch Euch einen Kristallisationspunkt haben, an dem sie vieles, was sonst für sie abstrakt bliebe, festmachen können. Ich versuche Ihnen das Unerhörte der Situation klarzumachen, womit ich das politische Phänomen einer Revolution ohne Gewalt meine, die riesige Entfernungen in lauter kleinen Schritten zurücklegt.

Aber ich will .jetzt noch nicht allzu sehr loslegen und ohnehin soll das ja nicht in Arbeit ausarten.

Eine erhebliche Erleichterung wäre es natürlich, wenn man mit Dir direkt korrespondieren könnte. Ist die Wende schon so weit, daß dies möglich ist?

Für heute soll es genügen – bis bald.

Berlin 19.11.1989

Liebe Judy, lieber Klaus!

Das bisher beeindruckendste an unserer Revolution ist die erwachende Schreibwut von Klaus. Hoffentlich weiß er, worauf er sich eingelassen hat. Mit dem deutsch – deutschen Briefwechsel kommt ihr mir nämlich gerade recht und ich bin in der glücklichen Lage, Euch ohne großen Aufwand sofort eine Menge Gedanken zuwerfen zu können.

Weil: Ich schreibe ein Buch über diese wilde Zeit (Allerdings habe ich arge Bedenken, ob die Auflage jemals über ein Exemplar hinauskommen wird). Der Titel ungefähr (nagelt mich bitte nicht fest darauf), er ist sowieso noch zu lang): „Vater – Sohn – Oktoberland /2 Tagebücher, die Zeitung und ein langer Brief“.

Der Vater verkörpert die altstalinistische Linie, der Sohn den Reformflügel, dazu Auszüge aus den Zeitungsmeldungen und: – quasi als gesamtdeutsches Element – ein geflüchteter Bruder, der sich in Briefen aus dem Westen zu Wort meldet.

Allerdings wusste ich bisher noch nicht, wie ich diesen Bruder simulieren sollte. In einen Altstalinisten kann ich mich zwar recht ordentlich hineinversetzen (ich verschone Euch allerdings mit seinen Sentenzen). Über die westdeutsche Betrachtungs- und Denkweise bin ich mir dagegen so recht nicht im Klaren, und während ich noch überlege, wie ich das anstellen soll, kommt Euer Brief.

Lieber Klaus! Schreibe also bald und möglichst ausführlich. Wenn Du gestattest verwende ich Deine Passagen (allerdings umgeschrieben und mit den fürs Buch notwendigen „familien-internen“ Ergänzungen – schließlich bist Du ja mein Bruder (im Buch!).

Damit ist sicher klar, dass der linke Reformer maßgebliche Züge von mir selbst hat. Deshalb bin ich ja auch in der Lage, schon einige fertige Passagen, quasi als Vorabdruck zu übersenden.

(Die neue Technik hat auch in unsere Betriebe inzwischen Einzug gehalten, leider noch nicht in unsere Haushalte. Ich schreibe deshalb auf „meinem“ Computer auf der Arbeit nach Feierabend immer noch ein bisschen das auf, was ich am Abend zuvor als Manuskript verbrochen habe. Daher ist es einfach, es für Euch noch zusätzlich zu drucken).

Noch eine Bemerkung – oder zwei:

Wegen der angestrebten Buchform ist nicht alles ganz authentisch, was mich persönlich betrifft, aber doch so weit, dass es meine Ansichten im Prinzip entspricht: Namen sind ausgetauscht (meine Frau heißt übrigens nicht Marianne, sondern weniger französisch Marietta (im Buch Claudia). Alle sagen aber Paula zu ihr.

Zweitens: Es ist erst die Rohfassung, noch etwas arm an poetischer Substanz (muß irgendwann noch mal gründlich überarbeitet werden und ist deshalb drittens auch in Rechtschreibung und Umbruch noch falsch und primitiv. Vielleicht aber trotzdem schon recht interessant für Euch.

Im übrigen danken wir herzlich für Eure Einladung. Wir werden sie sicher irgendwann einmal annehmen, aber: vielleicht kommt ihr doch erst einmal zu uns. Erstens ist es hier z.Zt. sicher interessanter und zweitens sind wir immer noch Fußgänger.

Wir sind übrigens tatsächlich umgezogen und wohnen nicht mehr in R. , sondern am Alexanderplatz (eine Skizze lege ich bei – bitte Pfeil beachten). Die exakte Adresse ist: XXX

Viele Grüsse. Bis bald /Eure Geislers

P.S. Eben kam Euer Paket. Heißen Dank. Ihr habt Euch in Unkosten gestürzt und wir haben zum ersten Mal in unserem Leben eine Kokosnuß gegessen.

Anhang (Tagebuch von Gerhard H.)

Freitag, 1. September

Flughafen Budapest- Ferihegy. Urlaubsende, Rückflug. Der abschließende Höhepunkt eines herrlichen Urlaubs hatte es werden sollen. Dafür haben wir tief in die schlechtgefüllte Tasche gegriffen. Zweifellos ist es auch ein kleiner Höhepunkt. Vor allem für die Kinder. Ihr erster Flug. Sie sind fürchterlich aufgeregt, begeistert von den verstellbaren Sitzen, den Gurten, dem Asiettenessen, dem Blick aus dem Fenster. Natürlich „müssen“ sie unbedingt auch auf´s Klo…

Es ist schön, sie zu beobachten und die welterfahrenen Eltern zu mimen. (Dabei haben wir ihnen gerade mal 4 Flüge voraus – zusammen.) Eine glückliche Familie auf dem Heimweg aus südlicher Sonne. Eiapopeia.

Von wegen! Wir zwei Alten haben ein sehr flaues Gefühl. Vielleicht ist dies für viele Jahre der letzte Flug überhaupt. Wohin würden sie unsereinen noch fliegen lassen, wenn es demnächst kein Land mehr gab, das noch bereit war, DDR-Touristen zu bewachen?

Und wie verrückt sind wir eigentlich, die Hälfte unserer mageren Ersparnisse auszugeben, um möglichst komfortabel in diesen Käfig zurückzukehren?

Es war schwer, sich nicht verrückt machen zu lassen. Praktisch gab es am Balaton zwei Wochen lang nur ein Thema, DAS THEMA dieses Sommers. Kaum vorstellbar, daß von den Ungarn-Urlaubern des Jahrgangs ’89 jemand nicht DARÜBER nachgedacht hätte. Tausende sind bereits weg. Gerade von Ungarn aus soll es inzwischen fast ein Kinderspiel sein. Oder besser: Ein Spiel für Erwachsene: „Kriegst Du mich, oder schnall‘ ich Dich.“

Täglich wird es leichter. Der Stacheldraht ist abgebaut, die Grenze nach Österreich wird nur noch locker bewacht und das schönste: Die Ungarn weisen inzwischen keinen mehr aus, den sie erwischen. Es gibt nicht mal mehr eine Eintragung in den Ausweis, und selbst wenn:

Wer fürchtet sich schon vor einem Stempelchen, da sind wir doch ganz andere Kaliber gewöhnt, Kaliber sieben-zwoundsechzig, Kalaschnikow. Und selbst wenn sie einen ausweisen: Auf dem Weg nach Hause kommt man an mindestens zwei bundesdeutschen Vertretungen vorbei. Was sollte uns also abhalten, durch die Maisfelder zu krabbeln? Wer ganz sicher gehen will, kann sich einen ungarischen Führer mieten – die sind ja sooo nett hier, die Leute! 5000 DM Schulden sind ein Klacks, wenn man als Studierter drüben einigermaßen Fuß faßt. (Und wer daran nicht glaubt, bleibt sowieso doheeme.)

Seit kurzem ist es nun ganz einfach: Sie richten Lager ein, sogar am Balaton. Man setzt sich hinein, wartet in der warmen Herbstsonne ein paar Wochen, und hoppla – ab in den goldenen Westen. Denken sie jedenfalls.

Und wenn nicht? Niemand weiß, wie sich die Verhältnisse zu Hause entwickeln. Alles ist so stur geworden, so ungeheuer erstarrt. Gerade in diesem Jahr spürte man förmlich, wie der ideologische Beton endgültig hart wurde. Die Greise kämpfen bis zum letzten Atemzug um ihre verdammten Sessel. Längst haben sie abgewirtschaftet.

Fünf vor zwölf. Vergleiche drängen sich auf, die den alten Kommunisten sehr wehtun würden… Ja, es sind ja wirklich meist alte Kommunisten, KZ-Häftlinge, Spanienkämpfer, die berühmten „Aktivisten der ersten Stunde“. Aber jetzt sind sie dabei, in kurzer Zeit alles einzureißen, was sie selbst in den vielen Jahren aufgebaut haben.

Sie haben sich so ungeheuer von ihrem Volk gelöst, es ist fast nicht zu glauben.

Wahrscheinlich verachten sie dieses Volk ganz einfach – und umgekehrt. „Sozialistische Demokratie“ – ein edles Ziel, verkommen zur hohlen Phrase. Unsere Bonzen sind längst nicht mehr demokratiefähig, vielleicht sind sie es nie gewesen.

Und dabei sind wir alle irgendwann einmal mit viel Elan angetreten, um eine Gesellschaft zu schaffen, in der Gerechtigkeit und die Wohlfahrt des ganzen Volkes…

Was haben wir statt dessen? Irgendeine Spielart des Feudalismus. Adel, Klerus – der Hohe selbstverständlich, aber auch die Bettelmönche -, Gott, die Heilige Schrift, Leibeigenschaft, Zölibat – alles ist da, heißt nur ein wenig anders: Die führenden Genossen, Partei, Lenin, seine gesammelten Werke, Mauer, Parteidisziplin…

Das System ist in dieser Form seit mindestens 20 Jahren überlebt. Jetzt werden die Produktivkräfte ein Machtwort sprechen, sollte man denken. Noch aber scheint es längst nicht so weit. Die Hauptproduktivkraft türmt durch die Maisfelder, der Rest verrottet in den Fabriken. Schade um unseren Sozialismus.

Die Ungarn jedenfalls haben ihn abgemeldet. Es fällt heute schwer, für dieses Volk noch die alten Sympathien zu hegen. Vorbei die Zeit des Gulaschkommunismus, die Hoffnung auf die Verbindung von Freiheit und sozialer Gerechtigkeit. Die Partei zerfällt, dem großen roten Stern auf dem Budapester Parlamentsgebäude haben sie den Strom abgedreht, das Staatswappen mit seinem kleinen roten Stern ist gleich komplett heraus aus der Fahne – in allen Formen und Größen wird das alte Königswappen feilgeboten, die Soldaten sprechen sich mit „Kamerad“ an, an den Schulen soll der Religionsunterricht eingeführt werden, das Befreiungsdenkmal für die Sowjetarmee auf dem Gellertberg braucht Polizeischutz…

Alles wenig begeisternd, aber beeindruckend in seinem Tempo. Sie scheinen sich gleichsam zu überschlagen, um dem Westen auf den Schoß zu springen. Hoppla, da sind wir. 30 Milliarden Auslandsschulden, Dollar versteht sich. „Nu, wos soll do scho werdn, die werdn se uns erlossn missn“ meinte ein Stadtführer, und dann erzählte er „Ulbrichtwitze“. Er war schon ziemlich alt.

Verkauf des Vaterlandes ums Fressen. Die Fleischtöpfe der Janitscharen locken. Es gibt kein Konzept für die Zukunft in Ungarn. Aber wir haben inzwischen unsere eigenen Sorgen. Das langweiligste Land Europas rührt sich. „Heimatland reck‘ Deine Glieder…“ Es fallen einem immer die unpassenden Lieder ein, und zur unpassenden Zeit. Die Zeiten jedenfalls sind nicht besser geworden, aber spannender.

Wir fliegen nach Hause. Auf dem Campingplatz haben uns einige schlicht für blöd erklärt, meinten, so eine Chance käme nie wieder. Wer nächstes Jahr rüber wolle… so billig jedenfalls nicht mehr. Wir werden sehen, wer recht behält, vielleicht keiner. Aber kann es verkehrt sein, in die Heimat zurückzukehren? Sehr sicher sind wir uns jedenfalls nicht (mehr). Vielleicht gibt es zu Hause schon bald Mord und Totschlag. Die Kinder, die sich so auf ihren ersten Flug freuten. Vielleicht werfen gerade sie einem einst vor, heute hier abgeflogen zu sein. Andererseits ist es schwer vorstellbar, daß an einer so neuralgischen Stelle…

Abschied von Ungarn. Fast sind wir sicher, dieses Land so bald nicht mehr wiederzusehen.

(Tagebuch von Gerhard H.)

Samstag, 4. November

Und samstags zur Demo – zuerst mit gemischten Gefühlen. Ein Kollege hatte mich überredet. Versprochen ist versprochen und irgendwie hing mir meine eigene Passivität auch langsam zum Halse raus. Die „Wende“ war jetzt über 2 Wochen alt und ich saß immer noch vor dem Fernseher, saugte gierig alle Neuigkeiten in mich hinein – und wartete. Worauf eigentlich? Wohl darauf, daß mich der Genosse Krenz einlud, bei seinem gigantischen Reformgebäude mitzutun.

Den Wehrersatzdienst und das Verfassungsgericht konnte Krenz aber zweifellos auch ohne den kleinen Genossen H. einrichten und bei den Gesprächen mit Gorbi und Jaruzelski wäre ich ebenfalls nicht besonders nützlich gewesen. Er braucht vorläufig keine Helfer, wie es scheint, jedenfalls keine an der Basis. Da lief bisher auch noch wenig, oder sagen wir es ehrlicher (und resigniert): Da lief noch gar nichts. Viele scheinen nicht böse darüber, hoffen, die Revolution aussitzen zu können. Andere wollen verändern – und verlangen dringend nach Direktiven, möchten, daß man ihnen Werkzeug und Baustelle zuweist (und, verdammt, ich muß es zugeben: Zu denen gehöre ich auch.)

Aber soweit unten soll wohl gar nicht gebaut werden. Kein gigantisches Reformgebäude, nur ein neues Dach. Und das bauen die Bewohner der oberen Etagen ganz allein. (Weiß der Teufel, warum sie nicht begreifen, daß inzwischen das Fundament am zerbröseln ist.)

Ganz so weit oben hatte ich mir die ersehnte Revolution von oben eigentlich nicht vorgestellt. Also zur Demo.

Aber wozu laufe ich hier mit? Sicher nicht wegen der beiden Verfassungsparagraphen. Wegen der Losungen? Die Transparente sind frech, geistreich, vor allem frech.

Wenn man zwei Dutzend gelesen hat wird klar: Hier sind sich alle nur einig in der Ablehnung des Vergangenen. Die Zukunft ist offen, scheint sogar ziemlich egal, jeder Teilnehmer denkt sich seine eigene. Man toleriert sich. Heute. Heute noch?

Wieviele mögen es sein? 200 000 bestimmt, vielleicht gar eine halbe Million. Oder noch mehr? Kopf an Kopf. Wir stehen noch am Pressecafe, da füllen die ersten schon den Alex (und dabei geht der Zug nicht gerade hinüber, sondern nimmt den Umweg über den Marx-Engels-Platz). Es geht kaum voran. Den Versuch, nicht gerade unter einer völlig unmöglichen Losung zu stehen, gibt man bald auf. Über mir ist jetzt „Stasi in die Produktion – für normalen Durchschnittslohn!“, dicht dabei zwei Knirpse, die „Für besseres Schulessen“ den Unterricht schwänzen. Das geht noch. Am Rand: „Hare Krishna singen für Religionsfreiheit“. Sie singen gut, verbreiten ein wenig Woodstock-Athmosphäre, die Luft von ’68. Paris, L.A., Prag. Prag!?

Happeningstimmung. Jemand versucht Trompete zu spielen. „We shall overcome“. Er spielt scheußlich, aber alle Strophen. Clowns in der Menge. Einer mimt Stasi, klettert auf einen Mast, zeigt von dort aus mit ausgestrecktem Arm auf Demonstranten, „befiehlt“ sie zu sich. Ein anderer agiert als Polit(büro)greis. Die schönste Szene am Staatsratsgebäude: Ordner spielen „Ehrentribüne“, parodieren Honeckers 1. Mai.

Die Leute amüsieren sich. Die leichte Spannung, die am Anfang über allem lag, weicht heiterer Gelassenheit. Wir schaffen es. Diesmal wirklich: WIR. Endlich eine Demo, mit der man sich identifizieren kann. Viele Freunde, verstreut in der Menge. Wir begrüßen uns, verlieren uns wieder.

Aber: Hier sind wir richtig! Ich bin dabei, einig mit allen hier, die wir eine neue DDR wollen.

Auf dem Alex zeigt sich: Nicht alle wollen eine neue DDR. Pfeifkonzerte für Wolf und Schabowski, Beifall für die Opposition. Beklatscht oder ausgebuht wird das Etikett, wenige hören wirklich zu.

Sieht so die Demokratie aus, die Toleranz, für die wir doch hier demonstrieren? Oder ist es in dieser Phase normal, ein Überschwinger, verständlich nach 60 Jahren Frust?

Ich weiß es nicht, aber irgendwie fühle ich mich zunehmend unwohl. Ich bin plötzlich allein, Fremde ringsumher. Ich habe Angst zu klatschen wenn sie neben mir pfeifen und umgekehrt sowieso. (Außerdem pfeife ich nicht besonders gut.) Schöne Meinungsfreiheit! Wieder die Zweifel. Reicht es, gemeinsam GEGEN etwas zu sein? SOLCHE Gemeinsamkeiten hatten wir mit den Alten auch – und solche Ängste voreinander…

Die Bürger singt. Das „Lied eines Gefangenen an den Genossen Stalin“. Ich höre es zum ersten Mal und ich muß heulen. Ein großer Kerl – 6 Fuß, 90 Kilo – und heult! Und niemand ringsherum findet etwas dabei. Gefühle.

Es ist eine Zeit der Gefühle. Nach so vielen Jahren der sarkastischen Nischen, des Zynismus und der spöttelnden Winkel. Wir stehen da und heulen. Und staunen über uns.

(Tagebuch von Gerhard H.)

Freitag, 10. November

Die Grenze ist auf! Nach mehr als 28 Jahren kann jeder in den Westen.

Unbeschreiblicher Jubel – und mir ist zum ersten Mal in dieser Revolution Angst um unseren Sozialismus. Im Frühstücksfernsehen von RIAS-TV zeigten sie Bilder vom Grenzübergang Bornholmer Straße, gefilmt aus Richtung Osten, offenbar irgendwann in den Abendstunden: Eine dichte Traube vor der Absperrung skandierte „Tor auf, Tor auf!“ Und die Grenzer öffneten wirklich, ein Menschenstrom flutete jubelnd in den schmalen Gang zwischen den Kontrollbaracken. Plötzlich steigerte sich das Geschrei. Man mußte sehr genau hinsehen, aber es war trotz der Dunkelheit deutlich erkennbar: Sie holten unsere Fahne vom Mast!

Sicher nur einer oder wenige, die da handelten, aber der Beifall der sich erhob, war allgemein. Das sind nicht mehr die disziplinierten Intellektuellen vom Sonnabend, deren Auftreten Stefan Heym gestern mit der Kanonade von Valmy verglich. (Sich selbst empfand er offenbar ein wenig als Goethe, sein Selbstbewußtsein war jedenfalls danach: „Ich bin überhaupt der einzige Vertreter des sozialistischen Realismus gewesen, denn die anderen waren keine Realisten“ Ziemlich unbescheiden, aber natürlich hat er da recht, der Gute. Es ist fast unmöglich, ihm in diesen Tagen etwas übel zu nehmen.)

Was an der Bornholmer unsere Fahne herunterholte, war der Pöbel a la Dresden-Hauptbahnhof. Unfähig zur Analyse, unwillig zur Mitarbeit. Die rasen jedem hinterher, der ihnen eine Banane unters Maul hält, wenns sein muß, auch in den größten Dreck. Wie die Geisteskranken. Wenn in den nächsten Tagen kein Blut fließt, hat dieses kleine Land doch irgendwo einen Schutzengel – und die Oberen haben ein Volk, dessen Disziplin sie einfach nicht verdienen.

Sie selbst jedenfalls sind wiederum nicht Herr der Lage. Man hört nicht auf sie, begreifen sie es denn immer noch nicht?

Gestern abend vor dem Fernsehgerät. Pressekonferenz. Wieder mal. Schabowski steht Rede und Antwort, macht seine Sache nicht schlecht, verliest plötzlich irgendeinen nachgereichten Zettel: Der Ministerratsbeschluß zur ständigen Ausreise (armes Land, in dem ein zurückgetretenes Gremium solche brisanten Beschlüsse faßt /fassen kann /fassen muß!) Ich begriff zuerst gar nichts. Ist die Grenze nun auf oder nicht? Und vor allem: Für wen? Im Laufe der Nacht wurde erschreckend klar, daß die Verfasser dieser „Regelung“ sich um genau diese Frage herumgedrückt hatten. Dementsprechend war die Situation. „Die Nacht der offenen Grenze“ hieß die Fernsehsendung heute morgen. Mit Recht, wie es aussieht. Es gab praktisch keine Kontrollen mehr. Anarchie an der Mauer. Der Zustand vor dem 13. August. Heute früh um 8.00 sollte dann aber alles in geordneten Bahnen laufen – meinten „die zuständigen Stellen“. Pustekuchen! Neue Parole: Bis Sonntag nacht alles offen. Wahnsinn, die Leute nun auch noch unter Zeitdruck zu setzen!

Im Betrieb deutliche Anzeichen von Massenpsychose, jedenfalls soweit Intellektuelle dazu fähig sind. Gleich früh Anrufe: „Mensch, komm doch mit. Wir gehen alle. Bloß mal gucken.“ Und die 100 Piepen abholen, natürlich. Kaum einer wird an diesem Tag gearbeitet haben. Wer nicht rüber fuhr, diskutierte. Eine Art Generalstreik aus Versehen. Abends brachte das Fernsehen Bilder von ganzen Brigaden, die offenbar noch am Vormittag gleich aus der Werkhalle ausgebüxt waren, ungewaschen, in Arbeitskleidung, alle sehr glücklich.

Was muß dieses Volk für einen Hunger nach Freizügigkeit gehabt haben! Bilder vom nächtlichen Ku‘-Damm: Volksfeststimmung, zusammengebrochener Verkehr, Begeisterung und viel gesamtdeutsche Gefühlsduselei, die Angst macht, und schlimmer: Tausende Westberliner, die am Brandenburger Tor auf der Mauer sitzen, Hammer und Meißel schwingen. „Mauer weg!“ Eine dünne Kette Grenzer davor, um Gelassenheit bemüht. Man möchte beten.

Die meisten Ostberliner haben heute jedoch anderes im Sinn. Niemandem ist nach beten zumute, und schon gar nicht für den Weltfrieden. (Aber ein Dankgebet werden etliche heute nacht wohl gesprochen haben.)

„Schnell mal rüber!“ ist die Parole dieses Tages. So schnell geht’s denn allerdings doch nicht, aber im Anstehen ist dieses Volk ja ohnehin Spitze. Am eifrigsten scheinen plötzlich die sonst ach so Roten. Der Opportunismus zeigt seine häßliche Fratze, aber im Überschwang der Gefühle schaut niemand hin. Der Nachbar vis a vis, der abends sonst kaum das Haus verläßt, schleicht sich fast aus der Tür, Anorack, Schirm, die Frau neben sich, ein verlegener Gruß. Er soll bei der Staatssicherheit sein, heißt es. Die dürfen noch nicht, die „Angehörigen“: Grüne, Dunkelblaue, Feldgraue aller Waffenfarben, Staatsapparat, Parteifunktionäre, Geheimnisträger… Was haben sie jahrzehntelang großmäulig verzichtet auf die Trauben, die zu hoch hingen!

Aber wer fragt schon danach an der Grenze, heute, morgen, letzte Nacht. Montag allerdings kann es schon zu spät sein. So lobpreisen sie denn die Anarchie dieser Tage. Peinlich nur, wenn die Vorgesetzten sich später die Ausweise vornehmen. Zwar ist heute noch kein Visum nötig, aber kaum einer entgeht dem verräterischen Ausreisestempel. Da hätte er gestern nicht so zeitig ins Bett gehen dürfen. Vielleicht sind zweimal hundert WEST aber auch den Anpfiff wert. Immerhin ein Monatsgehalt zum laufenden eins-zu-zehn-Kurs – für einen Kantenlatscher der Stasi jedenfalls, für einen zivilen Ingenieur gleich zwei.

Woher nehmen die bloß diese Summen drüben? Wenn bis Jahresende 10 Millionen… sicher nicht zu viel gerechnet. Eine Milliarde müssen sie dann mindestens locker machen! Nicht schlecht, Herr Specht. Aber auch unsere marode Wirtschaft wird an den lächerlichen 15 Mark pro Nase fast zugrunde gehen. 150 Millionen Devisen! Was nützt es da, wenn sie die gleiche Summe Ostmark dabei einspielen. Da sowieso keine Warendecke dahintersteht, kann die Staatsbank das eingetauschte Spielgeld gleich in den Ofen schieben. Ein volles Jahreseinkommen liegt auf der Kasse in diesem Staat, gar nicht zu reden von den Bargeldsummen, die die Leute im Strumpf haben.

Mit einem gewöhnlichen Taschenrechner konnte man sich diese Zahlen zusammenbasteln, selbst aus den frisierten Daten des offiziellen statistischen Jahrbuches. Wer Augen hatte, zu sehen, Ohren zu hören… Soll mir keiner sagen, er hätte nichts gewußt! Gerade das scheint aber eine Disziplin zu werden, die sich heutzutage vom Volkssport zum Funktionärssport mausert:

Da stellt sich doch gestern im Großen Haus ein Parteisekretär ans Mikrofon – 13 Jahre ZK – und flennt, er habe keine Ahnung von unserer Wirtschaftsmisere gehabt. Man hätte ihn betrogen, 13 Jahre lang. Und von irgendwelchen Privilegien hätte er noch viel weniger geahnt. In einem Sondergeschäft sei er nie gewesen, sein Herzblut hätte er stattdessen vergossen, die Intellektuellen auf der Straße würden ihn beunruhigen, und zu denken gäbe ihm, daß zur Zeit niemand mehr über die Auslastung der Arbeitszeit spricht.

Das ist alles so vollkommen blödsinnig, daß man kaum darüber schreiben möchte. Sowas sitzt also seit ’76 im ZK, will über unsere Zukunft entscheiden, und plärrt, plärrt um die eigene Haut. Wahrscheinlich haben seine Kumpels die Fäuste geschüttelt, und da hat der Herr in die Hosen gemacht, faselt von Verleumdung der Partei, und beklagt sich über die Presse. Widerlich! Hat er sie wirklich nie gesehen, die Häuser der Bonzen? Wo hat er denn gewohnt, ? Iim Bergwerk? Kein Sondergeschäft je gesehen? Nicht mal im ZK? Vielleicht denkt er, ein Sondergeschäft wäre an der Oben-ohne-Bedienung erkenntlich, oder wie? Ist gut, ich rege mich ab. Solche Schleimer sind es nicht wert.

Tagebuch von Gerhard H.)

Sonntag, 12. November

Heute nun doch rüber, in der Hoffnung, dem ersten Ansturm entgangen zu sein, und dennoch einiges von der besonderen Stimmung dieses historischen Wochenendes einzufangen.

U-Bahnhof Jannowitzbrücke. Wer von meiner Generation kann sich schon an diesen Ort erinnern? Eine lange Schlange steht geordnet, wird geordnet von Transportpolizisten, erwartungsvolle Stimmung ringsherum, zügiges Vorrücken. Der Tunneleingang, Treppe, VP, Grenzer, alles provisorisch, trotzdem freundlich, entspannt. „Visa links, bitte!“ Wer keines hat, erhält in Sekundenschnelle seinen Stempel. Meine Sorgen im Hinblick auf den Montagmorgen schwinden ein wenig. Vielleicht bekommen sie es doch in den Griff. Es ist imponierend, wie schnell selbst die Synonyme der Bürokratie – VP, Zoll, Grenzkontrolleure – plötzlich zu handeln in der Lage sind – kaum daß die zentrale Führung handlungsunfähig wurde.

Kommandeure besinnen sich plötzlich auf ihren gesunden Menschenverstand, auf ihren wirklichen Auftrag. Ideen, Initiativen, Einsatzbereitschaft, diese guten, und doch so schrecklich abgedroschenen Begriffe, in diesen Tagen haben sie die Chance der Wiedergeburt. Und alles unter den Bedingungen einer zurückgetretenen Regierung. Was könnten diese Menschen leisten unter einer handlungsfähigen!

Ein Pappschild an der Decke: „DDR-Grenzkontrolle“, noch ein Stempel. Fünf Meter unter dem Pflaster von „Berlin – Hauptstadt der DDR“ und doch schon im Westen! Feierliche Stimmung ringsherum, die Kinder sind aufgeregt. Trauben vor dem aushängenden BVG-Schema. 28 Jahre! Druck auf den Augen. Nein, ich habe nicht 28 Jahre auf diesen Tag gewartet. So habe ich ihn nicht einmal erwartet, und auf gar keinen Fall so bald. Und trotzdem feuchte Augen? Gesamtdeutsche Gefühle? Erinnerung ist es jedenfalls nicht, wie bei so vielen Älteren auf diesem Bahnsteig; ich war zu jung ’61 und durfte sowieso nicht hinüber. Für mich war der Westen nicht Grenzkino, Nietenhose, Südfrucht, Lichterglanz und Wohlleben. Für mich war der Westen stets Wohlleben der anderen, Glanz auf anderen, unverdiente Frucht für andere. Andere hatten die begehrten Nietenhosen, spielten mit silberglänzenden Cowboypistolen, holten in der Schulpause ihre Bananen aus der Tasche, knauserten nicht mit der Butter – ich durfte mir diese Welt nicht mal im Fernsehen betrachten, geschweige denn in Natura, nur einen Katzensprung entfernt…

Wohlstand als Zeichen der Leistung – ein Ursignal, schon in grauer Vorzeit unverrückbar in das Rückenmark der Ahnen gepflanzt. Gut ist, wer fett ist. Sie waren nicht gut, die fetten. Trotzdem lebten sie besser, erlebten mehr, wurden beneidet, fanden leichter Freunde, die Kinder der Grenzgänger, die Enkel der Wilmersdorfer Witwen. Oft haßte ich sie dafür, sie, die unverdient fetten – und jene, die vor ihnen auf dem Bauch lagen. Wem sonst sollte der zehnjährige Sohn eines ehemaligen Volkspolizisten seinen Zorn auch widmen. Der Regierung? Wollte sie nicht das Beste für uns alle, wollte sie nicht Bananen und Butter für die fleißigen? Und waren es etwa keine Feinde, die unsere knappen Bockwürste in den Westen schleppten?

Ich hatte keine Probleme mit der Mauer. Die Nietenhosen würden ersatzlos verschleißen, die Bockwürste im Lande bleiben – eine Mauer der Gerechtigkeit! Und trotzdem jetzt die feuchten Augen? Vielleicht gab es doch in jedem von uns so eine Art Nationalgefühl, Deutschtum, was weiß ich? Schlimm, wenn es so wäre. Und da sind sie wieder, die Sorgen, trocknen die Wimpern.

Die U-Bahn kommt, füllt sich ansehnlich, aber nicht beunruhigend. Kein Problem für einen Ostberliner – klingt komisch. Wird man sich in Zukunft so vorstellen müssen? Immer noch besser als „DDR-ler“, wie sie in letzter Zeit des öfteren im Westfernsehen sagten. Einfach scheußlich!

Ostberliner oder Provinz, die Leute drängeln mit der gewohnten Disziplin in die Wagen, und nur die West-BVG scheint sich darüber Sorgen zu machen. Die Lautsprecherdurchsagen sind jedenfalls von einer ängstlichen Hektik gekennzeichnet. Wie beneidenswert leer muß es hier sonst immer sein…

Herrmannplatz, der Duft der großen weiten Welt. Erst mal umsehen. Ein Stapel Info-Zeitungen, einfach abgestellt zum wegnehmen. Stadtplan, farbig, U- und S-Bahnnetz, Verzeichnis der Begrüßungsgeldkassen, kurze Rede von Momper, Bericht über Verpflegungsstellen…

Karstadt, davor eine riesige Schlange – alles „unsere“. Die Karl-Marx-Straße, auf dem Mittelstreifen ein Schild: „Kreuzberg“. Wir gehen in die entgegengesetzte Richtung. Man hat so viel gehört von diesem Kreuzberg, Kriminalität, Verfall, Ausländer, wir sind noch zu unsicher, um uns auf Abenteuer einzulassen. Ängstliche Bäuerlein in der Großstadt. Also nach Neukölln. Die Straßen kaum leerer als die U-Bahn. Erster Eindruck: Wozu brauchen sie hier soviele Banken? Sicher nicht als Begrüßungsgeldkasse, denn die meisten haben geschlossen. Zwischendurch trotzdem immer mal wieder auch gewaltige Schlangen. Hier gibt es die berühmten 100,- DM.

Gestern und am Freitag sollen die Leute drei Stunden und mehr gewartet haben. Hundert Mark, hundert „D“-MARK wohlgemerkt. Wir sind vier. Mit den bei uns umgetauschten 60,- hätten wir dann vierhundertsechzig WEST! Zum herrschenden Kurs 4 Monatslöhne, einfach so geschenkt. Die einzuzahlenden 60 DDR-Mark fallend da praktisch nicht ins Gewicht. Wir sind reich! Jedenfalls werden wir reich sein, nachdem wir uns angestellt haben. Die Wirkung der Schlangen ist zunächst allerdings noch sehr abschreckend, zumal wenn man hoffen kann, in den nächsten Wochen alles viel entspannter vorzufinden – wieder sind die Berliner bevorzugt, werden sie in Sachsen sagen. Also bummeln. Viele Geschäfte haben geöffnet. Das „Ladenschlußgesetz“ soll für dieses Wochende aufgehoben sein. Dieses Gesetz ist ohnehin eine der für uns unverständlichen Errungenschaften: Da dürfen Kunden nichts mehr kaufen, obwohl die Ladenbesitzer gern weiter offenhalten würden, nur damit die Verkaufskräfte keine Spätschicht machen müssen? Bei uns springen die Leute nachts um drei in den Werkhallen herum, weil die Maschinen so teuer waren. Wie auch immer: Heute darf trotz Sonntagsruhe verkaufen wer will, und stand einer kurz vor der Pleite, hat er jetzt nochmal seine unverhoffte Chance. Aber pleite sieht hier keiner aus. „Jeans ab 15 Mark!“ Scheint überhaupt eine ausgesprochene Jeansgegend zu sein, dieses Neukölln. Kaum vorstellbar, daß sie mit den Eingeborenen genügend Umsatz machen. Die Ost-ler jedenfalls drängen sich heute in den Jeansbuden, an Imbißständen, vor Süßwarengeschäften und vor allem beim Obstverkauf. Apfelsinen, Ananas, körbeweise Weintrauben (im November!) und immer wieder DIE Wohlstandsfrucht der DDR-Seele: BANANEN! Unsere Invasion hat nach drei Tagen das Unvorstellbare vollbracht – im Westen werden die Bananen knapp, die reifen jedenfalls. Man verkauft grüne, unsere Leute merken es nicht mal so richtig. Wer es heute darauf anlegt, könnte ganzen Tausendschaften das Fell über die Ohren ziehen, aber der Trend geht wohl eher zum Verschenken, als zur Überteuerung. Ich schäme mich ein wenig für meine mißtrauischen Gedanken.

Neben „Quelle“ dann eine Schlange, die ungewöhnlich rasch vorrückt. Wir fragen. „Halbe Stunde“, heißt es. Da kann man denn doch weich werden. Was ist schon eine halbe Stunde für 400 WEST. Im Stehen wird es dann doch empfindlich kühl. Der Arbeitersamariterbund verteilt heißen Tee. Ein Mann mit einer riesengroßen SPD-Plakette am Revers geht die Reihen entlang: „Wenn Sie Kinder dabei haben, und sich ein wenig aufwärmen wollen; Die SPD lädt Sie ein ins Jugendfreizeitheim gleich hier in der Querstraße. Es gibt auch Kaffee und einen Imbiß…“

Viele freiwillige Helfer sind auf den Beinen, die meisten wohl schon den dritten Tag. Auch die Kassiererin, die uns das Geld auszahlt, sieht sehr müde aus. Wir bedanken uns, daß sie sich wegen uns den Sonntag um die Ohren schlägt, sie lächelt. Ein Angestellter ruft in den Schalterraum: „Öffnungszeit nochmal verlängert bis Zwei!“ Was für eine Atmosphäre in einem Land, das angeblich „die gefühllose bare Zahlung“ zum Maßstab des Lebens macht. Zwei Gesellschaftsordnungen bestaunen sich.

Die Kinder sind vom Anstehen durchgefroren. Wir suchen das Freizeitheim. Es ist wirklich gleich um die Ecke und leer. Drei Männer hantieren hinter einer Durchreiche an Kannen und Töpfen, gießen uns Kaffee ein. „Tee für die Kinder?“ Über der Durchreiche eine Preistafel: „…Kaffee – 50 Pf…“ Der Kaffee schmeckt gut, aber eine ganze kostbare Westmark nur so zum Aufwärmen… Einer muß unseren Blick bemerkt haben. Er macht es uns leicht, wendet sich an seinen Mitstreiter: „Ich glaube, wir müssen die Disko-Preis-Tafel doch abmachen, sonst denken die Leute noch, sie müßten SOGAR HEUTE den Kaffee bezahlen.“

Bewegung am Eingang. Ein HERR kommt: Jung, Bart, Metallbrille, sehr freundlich, schaut offenbar nach dem Rechten. Jemand stellt vor: „Frank Bielka, unser Bezirksbürgermeister.“ Er begrüßt uns, wir sind derzeit die einzigen Gäste. Small talk: „Haben Sie sich schon ein wenig umgesehen, gefällt es Ihnen bei uns hier in Neukölln?“ Nach so kurzer Zeit läßt sich noch kaum etwas sagen, meinen wir, alles noch zu neu. Und dann, damit wir nicht gar zu blöd dastehen als staunende Wilde, machen wir das Allerblödeste, Kraft unserer 2 Stunden Westerfahrung gehen wir sofort daran, im Kapitalismus gleich mal Ordnung zu schaffen: Eins wäre uns aufgefallen, sage ich, die Fassaden in der Karl-Marx-Straße paßten nicht in unser Westklischee. Sie sehen kaum anders aus, als bei uns. Die Auslagen, ja die sind natürlich picobello, teilweise erdrückend prachtvoll, prunkvoll, glanzvoll, überhaupt fast zu voll. Aber darüber sieht es richtig stinknormal aus – „stinknormal“ haben wir zu dem Herrn Bürgermeister natürlich nicht gesagt. Der Beitrag war auch so dumm genug und mit meiner spendierten Kaffeetasse in der Hand tut es mir leid, kaum daß die letzte Silbe heraus ist. Er aber sieht das ganz und gar nicht so eng. Ja, das sei ein Problem in Neukölln, meint er. Da müsse er sich noch tüchtig mit Momper auseinandersetzen… Bürgernähe! Unseren Stadtbezirksbürgermeister kennen wir nicht, nicht mal seinen Namen. Wahlveranstaltungen haben wir nie besucht, es schien sinnlos alle paar Jahre den Demokratie-Kasper zu spielen. Auf der Straße haben wir unseren auch nicht getroffen, warum den Neuköllner? Vielleicht wirklich ein seltener Zufall, das mit dem Bielka, aber keine schlechte Anekdote, oder? Und ein schöner Abschluß für Neukölln und die Karl-Marx-Straße.

„Wir sollten dorthin, wo jetzt keiner ist,“ meint Claudia „- zum Brandenburger Tor!“ Sie spinnt, denke ich. Sie hat recht, stellt sich heraus. Zumindest Ostler sind hier heute kaum zu finden.

Später fragen wir Freunde und Kollegen. Keiner war an diesem Tag dort. Alle haben ihr Geld abgeholt. Alle haben irgendetwas gekauft. Am Brandenburger Tor war keiner.

Trotzdem ist dort alles gerammelt voll, vor allem Ausländer fallen auf, dazu viele Westberliner oder Westdeutsche. Vom Lehrter Stadtbahnhof war es nur ein kleiner Weg bis zum Platz vor dem Reichstag, und von dort nur ein Sprung zum Brandenburger Tor – wie leicht heute alles ist, was noch vor 3 Tagen schier unmöglich erschien.

Das alte Wahrzeichen! Früher diente es sogar als Pausenbild fürs DDR-Fernsehen, als das noch „Deutscher Fernsehfunk“ hieß. Damals sangen wir unsere Hymne noch. „…Deutschland, einig Vaterland!“ Dieses Tor war fast immer Grenze, Begrenzung, aber solange man es passieren konnte auch Symbol der Gemeinsamkeit, von Stadt und Umland, Ost und West, und schließlich letztes Symbol deutscher Gemeinsamkeit. Vor 28 Jahren wurde es das Wahrzeichen der endgültigen Teilung. Endgültig?

Die Mauer ist hier einen guten Meter flacher als anderswo und -für uns verblüffend – versehen mit einer breiten Krone, auf der man bequem umherspazieren könnte. Jetzt erst begreifen wir die Bilder der letzten 2 Tage. Heute jedoch stehen keine Randalierer dort oben, sondern einige breitbeinige Grenzer, dazu ein Team der Aktuellen Kamera. Auf Westberliner Seite ein dünnes Passierband, das die Leute von der Mauer fernhalten soll. Dahinter spazieren einige Polizisten umher. Eine Absperrung in Anführungszeichen, eher nur ein Tabu-Strich in der Landschaft, ein Witz, verglichen mit dem soliden Beton dahinter (und selbst den hatten SIE gestern umgeworfen). Wer weiß, was sich hier demnächst noch abspielt. Die „Fensterplätze“ an diesem Theater der Weltgeschichte sind jedenfalls schon dicht besetzt: Scheinwerfer, Kameras, Podeste, auf denen Interviews gegeben werden – die Medien der Welt sind auf Ballhöhe. Fragt sich nur, wer der Ball ist. Und werden sie sich mit Interviews zufrieden geben?

Links und rechts an der „normalen“ Mauer, die man nach wie vor ungehindert erreicht, stehen Einzelne oder kleine Grüppchen und pickern sich Betonbrocken heraus, mit Hammer und Meißel, Schraubenziehern, Taschenmessern… Jedes herausgelöste Krümchen wird mit Beifall bedacht. Viele Fotoapparate, Videokameras. Deutlich zu sehen auch wo SIE vorige Nacht die Betonplatte umgestürzt hatten, noch ein lohnendes Fotoziel.

Die Sorgen sind wieder da.

Wir laufen Richtung Potsdamer Platz, immer vorbei an hämmernden Menschen. Ich schimpfe halblaut. Eine Männerstimme hinter mir: „Was paßt Ihnen denn nicht, an so einem herrlichen Tag.“ Ich wende mich um. Offenbar ein Westler. Gutaussehend, baumlang, eleganter Mantel, etwa in meinem Alter, neben sich eine kleine Frau. „Mir paßt nicht, daß Ihre Leute die Mauer einreißen, nachdem meine Leute die Türen darin aufgemacht haben. Durch solchen gesamtdeutschen Blödsinn kann alles verspielt werden!“ Er scheint perplex, sagt nichts, lächelt nur ein wenig hilflos. Ein Sieg! Ein Sieg über Gedankenlosigkeit und Kriegstreiberei! Mir ist besser. „Du bist wirklich der größte Muffel Groß-Deutschlands“, sagt Claudia. „Was haust Du auf den armen Kerl denn so ein. Der hat Dir doch nichts getan. Er wollte nett sein und Du spielst den Klassenkämpfer, pflegst Deine Weltkriegsfurcht. Stimmungsverderber!“ Sie hat recht. Ich bin ein Arschloch! Das Arschloch wendet sich also nochmal um, und versucht, sich zu entschuldigen, zu erklären. Der Westler begreift zwar nicht, aber er ist fair und verzeiht. Wir kommen ins Gespräch. Ein Kollege von Claudia, stellt sich heraus. Werbebranche. Selbständig. Wir fabulieren bis zum Potsdamer Platz, haben aber bis dahin kaum die Standpunkte abstecken können. Es verspricht interessant zu werden. Wir wollen weiterreden, aber erst sollen die Fahrräder geholt werden, die sie irgendwo im Tiergarten angeschlossen haben.

Wir verabreden einen Treffpunkt, warten 20 Minuten an der falschen Stelle, weil wir, wie sich dann herausstellt, die Staatsbibliothek wegen ihrer Größe für die Nationalgalerie halten – und verlieren uns für immer aus den Augen. Schade.

Wir müssen zurück. Am Potsdamer Platz etliche Polizeifahrzeuge. Die Kinder staunen über die außen vergitterten Scheiben und die Beulen im Blech. Diese riesige kahle Fläche soll einst der verkehrsreichste Platz Europas gewesen sein. Heute liegt seine wiedergekehrte Bedeutung in einem halben Dutzend Betonelementen, die Bautrupps gestern dort zur Seite geräumt haben.

Morgen – nach der Aufhebung des „Schießbefehls“ – wird hier Richard von Weizsäcker unseren Grenzern die Hand schütteln, und später wird man vielleicht eine Tafel anbringen.

Als wir uns vor der gewaltigen Bresche in Richtung Heimat einreihen, ist es fast dunkel. Immer noch Volksfeststimmung. Eine Truppe mit Pauken, Rasseln, Bongos, Trommeln und Tamburins macht gewaltigen Lärm. Brasilianische Karnevalsrhythmen. Unwillkürlich bewegen wir uns im Takt langsam vorwärts. Die Mauer. Jetzt erst sieht man, wie riesig hier die kahle Fläche war. WAR? „Ausweise hochhalten, Paßbildseite aufschlagen!“

U-Bahnhof Otto-Grotewohl-Straße. Daheim.

 

 

 

 

Stuttgart, 17.12.89

Lieber Frank!

Bevor Du nun glaubst, daß meine guten Vorsätze endgültig wieder dahin sind, setze ich mich nun doch hin, um auf Deinen (inhaltlich) „überraschenden“ Brief zu antworten. Die letzten Wochen waren so voll mit allem Möglichen. Weihnachtsstress könnte man sagen, aber anders als Du vermutest. Wie Du vielleicht weißt, habe ich noch so etwas wie einen – unbezahlten – Nebenjob, der in der Weilnachtszeit besonders gefragt ist, meine musikalischen Aktivitäten. Allein an diesem Wochenende drei Auftritte, zwei Mal Händels Oratorium „Judas Maccabeus“, ein Mal Kirchenmusik. All das will geprobt sein etc, etc. Ich war noch nicht ein einziges Mal im allgemeinen Kaufgewühl in der Stadt und werde es auch bis Weihnachten noch zu vermeiden wissen (allerdings nimmt da Judi einiges ab).

Damit wären wir schon beim Thema Deines Briefes und Deinem überraschenden und höchst interessanten Vorschlag einer Bruderrolle in Deinem Buch. Ich weiß nicht, ob Du eine bestimmte Vorstellung von einem Bruder im Westen hast. Aber der typische „Westler“, wenn es den gibt, bin ich vermutlich nicht. Auch weiß ich nicht, ob ich den Bruder in der Form, wie Du ihn Dir vorgestellt hast, spielen kann, ohne tatsächlich in eine Rolle zu verfallen. Ich fürchte ich kann mich nur schwer authentisch in die Lage dessen versetzen, der die DDR schon früher verlassen hat. Immerhin war ich, mit kleinen Ausnahmen in Ost-Berlin, nie in diesem Land, das ich eigentlich erst in der Zukunft entdecken möchte. Die DDR war für mich immer weiter weg als Indonesien, geographisch aber auch als gesellschaftliches Gebilde. Vielleicht wäre es daher besser, daß ich Dir Material für eine Figur biete, die die DDR nicht kennt, vielleicht einen Halbbruder, oder einen Cousin, den Du nur einmal während eines Urlaubs in Ungarn getroffen hast. Für den gäbe es dann, ebenso wie für Dich, auch einiges zu entdecken, was ja für die Darstellung einer Entwicklung nicht schaden kann.

Das wäre dann einer wie ich, der die DDR bislang immer als etwas weit Entferntes und Bizarres angesehen hat. Irgendwie hatte ich mich längst damit abgefunden, daß die DDR ein eigenes Land sei, das sein eigenes Leben führt. Ein besonderes Gemeinsamkeitsgefühl hatte ich kaum verspürt. Ich hielt das Land für eine Folge des 2. Weltkrieges, der ja nun einmal nicht ohne Folgen sein konnte. Sogar unter dem Gesichtspunkt eines „Deutschtums“ konnte ich der Vorstellung von zwei deutschen Staaten einen Vorteil abgewinnen. Wäre selbiges nicht besonders stark, wenn es in zwei und ja noch in zwei weiteren Staaten vertreten war? Ich glaubte, wie Du ja offensichtlich auch, die Folgen des Weltkrieges rückgängig machen zu wollen, hieße den Weltfrieden aufs Spiel setzen und mit Verwunderung schaute ich auf die, die nach so langer Zeit noch alte Vorstellungen aufrecht hielten. Merkwürdigerweise wurde diese meine für gefestigt gehaltene Vorstellung in den letzten Wochen einigen Prüfungen unterzogen. Die plötzlich sich eröffnende Möglichkeit eines einheitlichen Landes mit einer wirklichen Hauptstadt (was für ein armseliges Nest ist doch Bonn) ließen meine alten Vorstellungen verblassen, so daß ich mich fragen mußte, ob diese möglicherweise nur aus der scheinbaren Unvermeidbarkeit der bestehenden Tatsachen resultierten.

Mittlerweile sind die ersten Gefühle vorbei und Überlegungen können an ihre Stelle treten. Ich denke jetzt, daß die Vereinigung der beiden Gesellschaften kommen wird und zwar in erster Linie aus wirtschaftlichen Gründen. Ich denke, daß das Herumdoktern an einem dritten Weg bald zu einem Weg führen wird, der unserem System sehr ähnlich ist und vielleicht nur den Spielraum, den unser System läßt, etwas weiter in die eine oder andere Richtung nutzt. Das marktwirtschaftliche System hat gewisse Gesetzmäßigkeiten, die man nicht außer Acht lassen kann, ohne den Erfolg zu verspielen, den man in der DDR wird haben wollen (schon wegen des unvermeidlichen Vergleichs mit der BRD). Man kann die sozialen Verpflichtungen mehr – wie in Schweden – oder weniger – wie in den USA und England – hervorheben, aber man kann die Kuh, die man melken will, nicht schlachten (oder erst gar nicht erzeugen). Und bald wird sich in der DDR herumsprechen, daß Kapitalismus nicht etwa bedeutet, daß man wirtschaftlich machen kann, was man will (als Privatperson oder Gesellschaft). Diese Vorstellung scheint, sicherlich unter dem Eindruck von Desinformation, unter Deinen Landsleuten ziemlich verbreitet, was ich nicht nur den vielen Statements von Leuten entnehme, die ohne nähere Kenntnis unseres Wirtschafts- und Sozialsystems – meist in sehr allgemeiner – Form urteilen. Ich finde sie auch in meiner beruflichen Praxis erstaunlich häufig. Als Wirtschaftsstaatsanwalt beschäftige ich mich ja mit den Exzessen unseres Systems und versuche daran mitzuwirken, daß sie sich einigermaßen in Grenzen halten. Es ist auffällig, daß viele ehemalige DDR-Bürger in solche Exzesse verwickelt sind und offensichtlich völlig falsche Vorstellungen über die Pflichten haben, welche einem Wirtschaftenden hier auferlegt sind, bzw. sie glauben, diese nicht so ernst nehmen zu müssen. Vielleicht kann man sich eine Menge Überlegungen sparen, wenn man sich einmal anschaut, was sich in dieser Hinsicht sowohl an präventiven als auch an repressiven Mechanismen hier alles entwickelt hat.

Zu letzteren darf ich auf ein Opus verweisen, an dem ich selbst mitgewirkt habe und das einen umfassenden Überblick über das Wirtschaftsstrafrecht bietet (ich lege Dir einen Prospekt bei – ich bearbeite übrigens den Teil „Soziale Sicherheit der Arbeitnehmer“ und „Illegale Beschäftigung“). Vielleicht kannst Du ein bißchen Reklame für dieses Buch bei Euch machen (du siehst, daß ich hier ganz kapitalistisch denke, wiewohl ich nur reich davon werde, wenn ihr 50.000 Stück davon ordert).

Aber zurück zum Wiedervereinigungsthema. Ich denke also, daß sich unsere Systeme so aneinander annähern werden, daß man sich fragen wird, warum zwei Staaten sein sollen. Ich denke, dass man dies in keiner Weise beschleunigen braucht und insbesondere auch nicht soll. Z.Zt. zerbrechen sich hier reichlich viele Leute Euren Kopf, und das obwohl dieselben ständig betonen, daß Ihr Euren eigenen Kopf haben sollt. Das Aufsehen, das all dies bei unseren Nachbarn erzeugt hat, ist höchst überflüssig und nährt auf deren Seiten alte Ressentiments und bei uns nur Trotzreaktionen. Ich denke, daß sich die Dinge auch ohne die Kohl´schen 10 und andere Punkte in die von vielen erstrebte Richtung entwickeln werden.

Lieber Frank, das war der „Brief zur deutschen Einheit“. Es gibt tausend Themen, über die ich noch schreiben könnte. Ich denke Du hörst bald von mir. Wir kommen, nachdem das Eintrittsgeld bei Euch zwischenzeitlich weggefallen ist, sicher bald in die DDR, aber ich denke, daß es darüber Frühjahr werden wird. Vielleicht kommt Ihr doch vorher zu uns – ihr seid herzlich eingeladen und könnt bei uns natürlich im Haus wohnen. Wollt ihr nicht gemeinsam mit uns Neujahr feiern? Werft Euch in einen Zug!

Auf jeden Fall schöne Feiertage.

Dein Klaus

Grüße auch an Marietta und die Kinder.

Unsere Tel. Nr. lautet übrigens xxx

Anbei noch einen Artikel aus dem „Independent“ vom 13.12. den ich unter ökonomischen Geschichtspunkten für realistisch halte.

Soeben (18.12.) lese ich in der Zeitung, daß bei einer Repräsentativumfrage in der DDR 70 % der Befragten gegen eine Wiedervereinigung gewesen seien. Wird da die Rechnung ohne den Wirt gemacht?