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Auf der Suche nach dem verlorenen Paradies – Tagebuch einer Rucksackfamilienreise durch Malaysia im Jahre 1985 – Teil 19 und Ende

Der vollständige Text befindet sich auf der Seite IX Reisetagebuch Malaysia 1985

Es gilt Abschied zu nehmen von Malakka. Fiona, die englische Lehrerin, die wir auf Tioman kennengelernt haben, erwartet uns am Abend in Singapur. Wir holen die Kinder vom Schwimmbad ab, wo es ihnen, wie sie meinen, mindestens so gut ging, wie uns bei den Babachinesen, sammeln das Gepäck im Hotel ein und tragen es durch die stechende Hitze zum Busbahnhof. Da der Bus nach Singapur gerade weggefahren ist, haben wir Zeit, im Busbahnhof zu Mittag zu essen. In seinen Mauern findet sich auf engstem Raum alles, was das asiatische Herz begehrt, Fahrkartenschalter, Garküchen, Läden, und ein Markt, in dem der ganze gewachsene Reichtum des Landes in Körben und Säcken ausgestellt ist – eine Fülle von Obst, Körnern, Hülsenfrüchten.

Wir lassen uns mitten im Gedränge nieder, verspeisen die übliche Nudelsuppe mit Porzellanlöffeln und genehmigen uns geraffeltes Wassereis, ein im wahrsten Sinne des Wortes gemischtes Vergnügen. Das giftgrüne Eis ist mit diversen bunten Gelatinewürfeln, Maiskörnern und Bohnen garniert. Damit investieren wir am letzten Reisetag das gesamte Kapital des Vertrauens in die Hygiene malaysischer Gastwirte, das wir auf der Reise angesammelt haben.

Abfahrt von Malakka und damit vom kulturellen Schlusspunkt einer Reise, die mit so viel Natur begann. Über weite Strecken sind am Straßenrand wieder die romantischen Kampongs. Sie sind so malerisch in Palmenhainen verstreut, dass einem beim Gedanken an die Bäume und Siedlungen in der Heimat, die zur Zeit kahl sind, der Weltschmerz befallen könnte. Hunderte und aberhunderte Mal wiederholt sich die Szenerie. Und doch werden Auge und Gemüt nicht satt von den vorbeifliegenden Bildern tropischen Wohlbefindens. Es ist wie eine Fahrt durch das Paradies. Vielleicht muss man sich das Paradies überhaupt so vorstellen: vorbeifliegend an einem Bus, aus dem man nicht aussteigen kann.

Unterwegs hält der Bus auf einem großen Reisemarkt. Wir kaufen ein Stück der hochgepriesenen Eierfrucht. Sie verbreitet, wie wir alsbald feststellen, einen nicht eben vertrauenserweckenden Geruch. Die Versicherung, dass sich dieser nicht auf den Geschmack auswirke, hält der Wirklichkeit, wie wir meinen, nur unvollkommen stand. Daher brechen wir den Versuch schnell ab. Die kaum angebissene, übrigens nicht billige, Frucht geben wir einem Malayen, der sich über das unerwartete Geschenk freut. Er hat gerade mehrere Taschen voll von dieser (Un-)Kostbarkeit gekauft, wofür er ein Vermögen bezahlt hat. Wir ziehen es vor, bei so banalen Früchten wie Mangos und Ananas zu bleiben.

Weiter südlich häufen sich Gummi- und Palmölplantagen. In endlosen Rhythmen ziehen Palmengewölbe und Kautschukkolonaden an uns vorbei. Nach langer Fahrt tauchen wir – es ist längst dunkel – in das Lichtermeer von Singapur ein. Wir sind wieder in einer anderen Welt. Mehr denn je fällt auf, wie geordnet und durchgestaltet, mit anderen Worten, wie künstlich eine solche Stadtwelt ist. Der Bus fährt durch die endlosen Vororte der Millionenstadt, dann mitten durch das märchenhafte Geglitzer des Zentrums, in dem unter bunt angestrahlten Palmen auf betörende Weise orientalischer Luxus zur Schau gestellt wird. Für die meisten Asiaten ist dies das Paradies.

Die Kinder begrüßen das altmodische Hotel, wo wir unser Gepäck abholen müssen, als sei es ihr Zuhause. Vor zwei Wochen war die Stimmung noch eine andere. Vom blitzblanken Australien kommend war ihnen das altchinesische, leicht schmuddelige Gemäuer in einem der letzten traditionellen Viertel der Stadt noch alles andere als geheuer vorgekommen. Reisen, so zeigt sich erneut, heißt Maßstäbe ändern.

Der vollständige Text befindet sich auf der Seite IX Reisetagebuch Malaysia 1985

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Auf der Suche nach dem verlorenen Paradies – Tagebuch einer Rucksackfamilienreise durch Malaysia im Jahre 1985 – Teil 18

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4.4.1985

Das Frühstück findet in einem sauberen Miniaturpfannkuchenrestaurant gleich gegenüber dem Hotel statt. Es ist direkt an die große Moschee gebaut. Eine Tür führt von dort ins Innere des Gotteshauses, das wir auf diese Weise besichtigen können. Es ähnelt mit seinem geschlossenen Innenraum dem einer Kirche.

Für das Besichtigungsprogramm des Tages bietet sich wieder die Schwimmbadlösung an. Dadurch erlangen Judi und ich freie Hand für die Paläste der Babachinesen, jene Häuser mit den auffallenden Fassaden, die wir am gestrigen Abend durch Zufall entdeckt haben.

Die Geschichte der Babachinesen scheint aus 1001-Nacht zu sein. Der Kaiser von China kommt darin vor und 500 schöne Brautjungfern. Diese kamen einst mit der Tochter des Kaisers aus dem fernen China, als diese den Sultan von Malakka heiratete. So feierte man ein großes und prächtiges Hochzeitsfest. Es war aber auch Politik im Spiel. Der Kaiser dachte, als er seine Tochter mit dem Muselmanen vermählte, auch ein wenig an die Straße von Malakka. Die Idee, viele Brautjungfern mitzusenden, war Teil seiner Geostrategie und erwies sich als sehr weitsichtig. Die jungen Damen, die ohne Zweifel äußerst anmutig waren, heirateten nämlich hochstehende Malayen. Ihre Nachkommen wurden schließlich die Babachinesen, welche eine besondere Oberschicht bildeten und die malayischen und die chinesischen Traditionen pflegte. Natürlich sorgten sie dafür, dass das Verhältnis zu China freundlich gestaltet wurde – Kolonialismus auf chinesisch. Die Babachinesen wurden reich und leben, da sie nicht gestorben sind, noch heute. Und zwar nicht schlecht, wie eine Besichtigung ihrer Häuser zeigt.

Wir gehen die Straße auf und ab, in der sich die schönsten ihrer Prachthäuser befinden. In einige kann man hineinschauen und stellt fest, dass sie – wiewohl eher schmal – äußerst geräumig sind. Wie Reihenhäuser sind sie in die Tiefe gebaut, entsprechend den günstigen wirtschaftlichen Verhältnissen der Babachinesen allerdings ein bisschen weiter, als man es sonst kennt, im Schnitt fünfzig bis siebzig Meter.

Die meisten haben einen Eingangsraum, über den normale Besucher nicht hinauskommen. Auch hier muss man aber nicht darben. Prächtige altchinesische Malereien hängen an den Wänden und die Möbel sind wahre Wunderwerke der Schnitzkunst, ungeheure Anhäufungen von Ornamenten mit Perlmuteinlagen, die kaum zum Benutzen vorgesehen zu sein scheinen. Manche Häuser muten wie chinesische Tempel an. Sie haben große Hallen mit den üblichen schwarz-roten Balkenkonstruktionen. In anderen findet sich das ganze Repertoire europäischer Palastinnenarchitektur – Stuckaturen, Säulen mit Prachtkapitellen, Akanthusrankenfriese etc.

Einige der Häuser kann man besichtigen, darunter das vielleicht prächtigste. Es ist ein wahres Schloss von einem Reihenhaus. Der Eintrittspreis ist ebenfalls hochherrschaftlich. Für einen Schnelldurchgang lässt man uns den Preis nach. Schon der erste Eindruck stellt alles in den Schatten, was wir hier gesehen haben. Die Möbel der Eingangsräume sind wahre Exuberanzen des Ornaments im chinesischen Stil. Dann kommt der Salon, der alles übertrumpft. Man ist im Stil eines asiatischen fin de siècle eingerichtet, elegant und verspielt. Wir dürfen auch die inneren Gemächer betreten. Im Zentrum des Hauses ist ein Atrium, das Licht für die umliegenden Zimmer gibt. In seiner Mitte befindet sich ein Bassin, rund herum läuft ein Rankenfries. Besonders prachtvoll geschnitzt ist die Treppe, die in das Obergeschoß führt.

In der Tiefe des Hauses folgen eine Reihe weiterer Räume. Sie sind mit europäisierenden Möbeln ausgestattet, die im 19. Jahrhundert offenbar in Malakka hergestellt wurden. Ansonsten geht es eher viktorianisch zu. Besonders herausragende Stücke hat man in Vitrinen ausgestellt, den Hochzeitsornat eines Babachinesen aus feinstem Brokat mit Seide, wertvolles chinesisches Porzellan und eine prächtig gedeckte Tafel. Am Ende des "Hauses" gelangen wir in die Küche, die zur Verköstigung einer ziemlich großen Familie ausgelegt ist. Reihenweise hängen blankgeputzte Kupfertöpfe an den Wänden.

Die ganze Anlage ist noch geräumiger als die anderen Familienpaläste der Babachinesen. Man hat drei Häuser zusammengelegt, zwei an der Straßenfront, – dadurch ist das Anwesens ungewöhnlich breit – und ein weiteres im hinteren Bereich. Mit dem Atrium und der Tiefenstaffelung erinnert es an pompeianische Häuser. Vermutlich haben die Architekten – es sollen Europäer gewesen sein – angesichts des heidnischen Reichtums der Babachinesen an die antike Luxusstadt gedacht. Der Stil, der sich hier entwickelt hat, wird daher, nicht zu Unrecht, malakkischer Palladianismus genannt. So fern, wie wir im Dschungel von Taman Negara dachten, war der italienische Vitruv also gar nicht von Malaysia.

Wir haben die Besichtigung schon fast beendet und sind, da wir den niedrigen Preis mit der Zusage eines kurzen und ungeführten Rundgangs erhandelt haben, schon auf dem Sprung, dieses innenarchitektonische Wunderwerk wieder zu verlassen, als uns ein freundlicher mittelalterlicher Herr anspricht und beginnt, uns in gepflegtem Englisch die ausgestellten Dinge zu erläutern. Es stellt sich heraus, dass es der Hausherr persönlich ist. Bereitwillig erzählt er uns über die einzelnen Einrichtungsgegenständen und deren Beziehung zur Familiengeschichte. Damit füllt sich mit Leben, was bislang nur Kunstgewerbe war. Die Bilder an den Wänden werden zu den Eltern und Großeltern unseres Führers, er selbst ist als Kind auf einem Familienfoto zu sehen. Die Gegenstände erhalten eine Funktion und werden mit bestimmten Ereignissen verknüpft. Der alte Buick etwa aus den 30-er Jahren, der auf einem Bild zu sehen ist, ist der Wagen des Großvaters; die fertig gedeckte Tafel ist für die Totenmahlzeit bestimmt, die den Ahnen einmal im Jahr zubereitet wird. Eindrucksvoll berichtet unser Cicerone über den Ahnenkult, der jeweils drei Generationen zurückreicht und die zentrale "religiöse" Pflicht des Chinesen ist.

Die Ahnen zu ehren, hat der nette Herr allerdings Grund genug. Sie legten im 19. Jahrhundert den Grundstein für den offenbar ernormen Besitz der Familie. Als Unternehmer der ersten Generation begannen sie Mitte des letzten Jahrhunderts mit dem Zinnabbau, wurden binnem Kurzem sehr wohlhabend, bauten das Prachthaus und statteten es mit allem Komfort aus, den China und Europa zu bieten hatten. Das Bad ist mit italienischen Fließen gekachelt, die Möbel kommen zum Teil aus England. Und man hatte im fernen Malaysia bereits ein Auto, als dies selbst in Europa noch ein seltener Luxus war. Es versteht sich, dass man hoch gebildet war, Europa bereiste und Pretiosen sammelte. Stolz erläutert uns der Hausherr die herrlichen Stücke von chinesischem Porzellan, die überall im Hause zu finden sind. Die nachfolgenden Generationen haben mit den Pfunden der Ahnen weitergewuchert und auf den jeweils neuesten Märkten Malaysias immer eine führende Rolle gespielt. Unser Führer ist – natürlich – im Ölgeschäft und geht im Ölhochhaus von Kuala Lumpur ein und aus.

Man könnte meinen, dass dieser steinreiche und in großen Geschäften stehende Mann anderes zu tun habe, als ein paar beliebige Touristen durch sein Haus zu führen (das er übrigens nicht mehr bewohnt; er hat sich ein neues Haus gebaut, weil ihm das Reihenhaus zu eng und zu unmodern geworden war.) Das Gegenteil ist der Fall. Mit geradezu naiver Freude an der Geschichte seiner Familie führt er uns durch sein Reich. Zu keinem Zeitpunkt müssen wir den Eindruck gewinnen, dass er die Führung hinter sich bringen wolle. Ganz unbefangen plaudert er über seine Jugend und seine geschäftlichen Erfolge. Schließlich lädt er uns auch noch zu Tee und Gebäck ein.

Jetzt rächt sich unsere Sparsamkeit. Wir müssen bei unserer Legende bleiben, wonach wir in Eile seien. Wiewohl wir liebend gerne noch mehr vom Märchen der Babachinesen gehört hätten, müssen wir, indem wir wartende Kinder vorschieben, auf unseren Abgang drängen. Auch dies geht aber nicht ohne ein Photo vom Hausherrn vor der prächtigen Kolonadenfassade seines Hauses ab. Und er besteht darauf, auch uns davor abzulichten.

Herzlicher Abschied nach dieser höchstpersönlichen Führung durch das Paradies der Babachinesen. (wieder ein Paradies – es scheint deren mehrere zu geben.) Allzu viele Besucher des Palastes dürften diesen Service in Zukunft allerdings nicht genießen. Das Gebäude wurde, auf Bitten des Touristenbüros, erst vor wenigen Tagen für Besucher geöffnet. Noch ist der Besuch der Touristen auch für den Besitzer ein Abenteuer.

Goldenes Malakka. Die Babachinesen setzen seine große Handelstradition fort. Die Stadt war allen politischen Wechselfällen zum Trotz immer ein besonders glücklicher Nutznießer der Eitelkeiten, die das Gold repräsentiert. Erst war es der Pfeffer – klein aber gehaltvoll – ,der hier umgeschlagen wurde. In Europa wurde er mit Gold aufgewogen. Malakka wurde dadurch ein kosmopolitisches Handelszentrum, in dem, wie ein Reisender um 1450 berichtete, 84 Sprachen gesprochen wurden.

Politisch sollte das "braune Gold" der Stadt (wie dem größten Teil der Welt) zum Verhängnis werden. Der Pfeffer wurde zum Gewürz der Weltgeschichte. Aber es wurden europäische Gerichte damit gewürzt. Die Gier nach dem "braunen Gold" und der Wille, unliebsame Zwischenverdiener wie Malakka auszuschalten, war in Europa so groß, dass man die sagenhaften Pfefferinseln zu suchen begann, was das Zeitalter der Entdeckungen auslöste. Malakka wurde dadurch zum Spielball der Kolonialmächte, aber es blieb Drehscheibe des Ostasienhandels.

Als man im 19. Jahrhundert in Malaysia die wichtigsten Zinnvorkommen der Welt fand, profitierte wiederum Malakka vom nunmehr grauen Gold und als alle Welt Autos und also Reifen haben musste, vom Saft der Gummibäume – weißem Gold. Im 19. Jahrhundert verlagerte sich der Schwerpunkt des Ostasienhandels zwar mehr und mehr nach Singapur. Dann aber wurde schwarzes Gold in Malaysia gefunden. Jetzt hatten die Bürger von Malakka, die bereits vom grauen und weißen Gold reich geworden waren, allen voran die Babachinesen, das Kapital für die erforderlichen Investitionen in die Ölindustrie. Damit verdienen sie sich heute eine goldene Nase.

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Auf der Suche nach dem verlorenen Paradies –Tagebuch einer Rucksackfamilienreise durch Malaysia im Jahre 1985 – Teil 17

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Wir schlendern durch die Gassen mit ihren aneinandergebauten kleinen Häusern. Hübsche Fassaden finden sich hier und dort. In der Nähe der Tempel kommen wir an einer chinesischen Sargschreinerei vorbei. Die großen geschwungenen Behältnisse aus massivstem Holz – Hauptteil und Abdeckung bestehen jeweils aus einem Stück – sind auf der Straße gestapelt. Sie sind so schwer, dass man mehrere Personen benötigt, um sie auch nur anzuheben. Mancher Urwaldriese landet so auf einem chinesischen Friedhof.

Unerwartet stehen wir vor einem Komplex von rot getünchten Gebäuden. Ein Hauch von Heimat weht um diesen Platz. Hier befand sich das alte holländische Verwaltungszentrum aus dem 17. Jahrhundert. In rötlicher Eintracht stehen "Palast" und Kirche, die Insignien kolonialer Macht, nebeneinander. Von diesem bescheidenen Platz, der sich in einer europäischen Kleinstadt befinden könnte, wurde einst das riesige hinterindische Kolonialreich regiert, ein Reich, das um vieles größer war als das des jeweiligen "Mutterlandes". Es liegt eine merkwürdige Ironie in der Vorstellung, dass die großen Entdecker und Eroberer von einem solchen Provinzstädtchen träumten, wenn sie an Gewürzinseln und Fernosthandel, ja an die Herrschaft über ganz Südostasien dachten. Nur zu deutlich zeigt die idyllische Beschränktheit dieses Machtzentrums, mit welcher Arglosigkeit die Einheimischen den europäischen Welteroberern begegneten. Und sie legt die ganze Schamlosigkeit bloß, mit der sich die "Langnasen" fremden Eigentums bemächtigten.

Wir betreten den verschachtelten ehemaligen Verwaltungspalast. Er ist eher spartanisch eingerichtet. Heute befindet sich dort eine erstaunlich großmütige Ausstellung über die Epoche europäischer Hypertrophie, in der Wahrnehmen und In-Besitz-Nehmen nur schlecht getrennt wurden. Auch vom vorkolonialen Malakka ist einiges zu sehen, vor allem Darstellungen des alten Sultanspalastes, der eine wahre Apotheose malakkischer Spitzgiebeligkeit gewesen sein muss. Man kann düstere Spekulationen darüber anstellen, warum von ihm nichts mehr übrig ist.

Spätestens diese Ausstellung hat ein Problem verdeutlicht. Mit dem Anwachsen des kulturellen und historischen Angebotes beginnt die Interessenlage von Erwachsenen und Kindern auf dieser Reise erstmals deutlich auseinanderzudriften. Erstaunlicherweise findet sich eine Lösung, die beiden "Parteien" gerecht wird. Malakka hat ein Schwimmbad. Ich nehme zur Abkühlung der Gemüter den heißen Gang zurück in die Stadt in Kauf, um im Hotel die Badesachen zu holen. Dann gehen die Kinder einem kühlen Schwimm- und die Eltern einem weniger kühlen Besichtigungsvergnügen nach.

Man muss in Malakka das älteste "europäische" Gebäude Asiens gesehen haben – eine Festung – mit dazu gehörender Kirche versteht sich. Viel ist von der einst mächtigsten portugiesischen Festung im fernen Osten nicht übrig, im Wesentlichen ein prächtiges Tor und die Ruine der Kirche. Albuquerque, der große portugiesische Welteroberer der ersten Generation, ließ das Bollwerk Anfang des 16. Jahrhunderts bauen, nachdem er im Jahre 1511 die schon damals bedeutende Handelsstadt mit nur 800 Portugiesen "eingenommen" hatte. Die Festung war der vorläufige Schlussstein im neuen Weltreich des kleinen europäischen Seefahrervolkes.

Man brauchte damals nicht viel, um ein Weltreich aufzubauen. Eine Festung in Mozambique, die eine oder andere in Indien, eine weitere in Malakka und der Segen des Papstes – das war die Grundlage für die Herrschaft über die Hälfte der – neuen – Welt. Diese hatte Portugal anno domini 1494 – Amerika war gerade entdeckt – im Vertrag von Tordesillas vom Papst zur Aneignung erhalten. Auf westlich-rationale Weise zog man in diesem wohl erstaunlichsten Vertrag der Weltgeschichte in der Nähe der Kapverdischen Inseln kurzerhand einen geraden Strich von Pol zu Pol und teilte so die neue Welt gerecht zwischen den "Findern" Spanien und Portugal. Fünfunddreißig Jahre später, als die "Parteien" dieses Vertrages zu Lasten Dritter nähere Kenntnis von der Lage und dem ungeheuren Umfang der Beute hatten, präzisierten sie die Grenzziehung noch einmal im Vertrag von Saragossa. Bei der Auslegung des Vertrags von Tordesillas waren nämlich unerwartete Schwierigkeiten aufgetreten. Albuquerque hatte die molukkischen Gewürzinseln, um die sich die Welt damals drehte, 1512 von portugiesischer Seite, also von Osten kommend, entdeckt. Die Spanier hatten sie zehn Jahre später von Westen, also von ihrer Seite gefunden. Irgendwo in der Nähe der Molukken verschwimmen nun aber aus europäischer Sicht Ost und West, so dass die schöne klare Grenzziehung von Tordesillas ausgerechnet bei den heißbegehrten Gewürzinseln ins Wanken geriet. Darüber hinaus stritten die ehrenwerten Finder um den „rechtsgültigen“ Aneignungsmodus. Albuquerque hatte die Inseln zwar als Erster entdeckt, er hatte aber – ein unverzeihlicher Fehler für einen rechten Eroberer – vergessen, sie in der erforderlichen förmlichen Weise in Besitz zu nehmen. Das wiederum hatten die verspäteten Spanier nicht versäumt. (wahrscheinlich haben sie eine Fahne in den Strand gesteckt und ein paar hohe Worte in den Wind gesprochen). Nachdem, wie man sieht, beide gute Gründe für ihren Anspruch auf die Inseln hatten, einigte man sich unter Gentlemen. Die Portugiesen bekamen die ostasiatischen Kleinode. Spanien musste sich mit dem unförmigeren amerikanischen Kontinent trösten, was ihm, wie bekannt, nicht sonderlich schwer gefallen ist.

Eine Hinterlassenschaft aus dieser Zeit, ist auch die Portugiesische Siedlung. Wir fahren mit dem Bus einige Kilometer die Küste entlang und schlendern durch die Straßen dieser menschlichen Insel. Hier wohnt, 350 Jahre nach der Vertreibung der Portugiesen durch die Holländer, eine zirka 2000 Personen starke Kolonie, die Traditionen aus der portugiesischen Zeit beibehalten hat. Die Portugiesen hatten keine Einwendungen gegen eine Vermischung der Rassen. Noch heute soll man hier, wenn man genau hinsieht europäische Gesichtszüge feststellen können (man muß in der Tat ziemlich genau hinschauen). Die handvoll Mischlinge, die übrig geblieben ist, hat sich über die Jahrhunderte nicht nur den christlichen Glauben, sondern auch die portugiesische Sprache erhalten, was angesichts der gänzlich andersartigen Umgebung und der völligen Abkoppelung vom "Mutterland" wie ein soziales Wunder erscheint. In der Siedlung, die einen gewissen Wohlstand ausstrahlt, sind allenthalben Hinweise auf christliche Gebräuche zu sehen. Wahrscheinlich ist das, was von der portugiesischen Sprache übrig geblieben ist, eine Fundgrube für Sprachhistoriker.

Es herrscht eine entspannte Abendstimmung in der lebhaften kleinen Kolonie. Zahlreiche Kinder spielen auf der Straße. Alle scheinen aufgeräumt den lauen Abend zu genießen.

In der anbrechenden Dämmerung laufen wir ein gutes Stück in Richtung Stadt zurück. Den Rest fahren wir mit dem Bus. Ein gesprächiger Inder will wissen, welche Früchte wir in Malaysia kennen gelernt haben. Wärmstens empfiehlt er uns die Eierfrucht, ein stachliges Riesengewächs in der Form eines überdimensionalen Schwartemagens, das hier überall in den Läden zu haben ist. Sie ist vermutlich die größte Baumfrucht, die die Welt kennt, kann mehr als einen halben Meter lang sein und über 10 Kilogramm wiegen. Wehe wem das Obst auf den Kopf fällt.

Fröhlich kommen uns am Schwimmbad die ausgetobten Kinder entgegen. In der Nähe des Strandes essen wir in einer geradezu unasiatisch ordentlichen Ansammlung von Straßengarküchen. Der Nachtisch wird im Hotel in Form eines Ananaswettessens gereicht. Die Kinder meinen, jeder eine ganze Ananas essen zu können. Die Augen sind aber größer als die Mägen.

Wir spazieren noch ein wenig durch die abendlichen Gassen. Gegenüber dem Tempel dringt aus einem Haus lautes Trommeln. Wir schauen in den Eingang hinein und werden Zeugen der Probe für einen wilden Drachentanz. Junge Leute hantieren mit einer furchterregenden Drachenmaske, die von zwei Personen im textilen Körper des langen Ungetiers getragen wird. Der Drache soll sich zu ohrenbetäubenden Trommelschlägen aufbäumen, wozu der eine Träger blitzschnell auf die Schultern des anderen klettern muss. Man ist mit großem Eifer und beachtlicher Akrobatik bei der Sache. Auch die Kleinen – sie sind höchstens 6 bis 8 Jahre alt – dürfen sich beteiligen. Sie versuchen sich an den komplizierten Rhythmen der Trommel, was sie mit Verve und Bravour bewerkstelligen.

Beim letzten Gang durch die Stadt – die Kinder sind bereits im Bett – treffen wir in einer Seitengasse auf eine kleine Halle, die zur Straße hin offen ist. Darin befindet sich eine große Zahl von Chinesen, die nach einem offensichtlich strengen Ritual im Kreis gehen. Die ernsten Mienen und die schwarze Kleidung deuten auf eine Trauerzeremonie. Im hinteren Teil des Raumes ist eine Art Altar aufgebaut, an dem ein Priester hantiert. Nach einiger Zeit schließt er sich dem Marsch der Trauergemeinde an. Ein junger Mann tritt auf die Straße, legt verschiedene Gegenstände aus Papier in die Regenrinne und zündet sie an. Im Raum ist ein ganzer Tisch voller Papiergeschenke für den Toten, darunter Stühle und ein Auto. Nachdem der Marsch beendet ist, hebt im hinteren Teil des Raumes ein lautes Kreischen an. Klageweiber stimmen ein herzerweichendes Geheul an. Danach beginnt sich die Trauergesellschaft zu verlaufen. Man geht seiner Wege, so als habe man die Erfüllung einer Pflicht abgeschlossen. Bei aller Ernsthaftigkeit ist während der ganzen Zeremonie immer Distanz zu spüren gewesen. Das Leid wurde offensichtlich durch das Ritual gebändigt. Es gab keine unkontrollierten Gefühlsausbrüche. Selbst das vehemente Klagegeheul hatte etwas Formales. Nie hatte man den Eindruck, dass der Tod auch für die Lebenden eine Tragödie sei.

Auf unserem Gang durch die Stadt geraten wir in eine schmale Straße, in der sich prächtige Häuserfassaden finden, einige davon sind geradezu palastartig. Wie Reihenhäuser stehen sie unmittelbar aneinander, jede Fassade in einem anderen Stil. Die Palette reicht von klassisch-chinesisch bis zum europäischem Klassizismus. Die Straße bedarf dringend der Nachbearbeitung bei Tageslicht.

Den Rest des Abends verbringen wir in einem größeren Gartenrestaurant, in dem sich das bescheidene Nachtleben von Malakka zu konzentrieren scheint. Junge Leute fahren mit Autos und Motorrädern vor. Sonst tut sich nicht viel. In der Nacht genießen wir unsere Klimaanlage.

Der vollständige Text befindet sich auf der Seite IX Reisetagebuch Malaysia 1985

Auf der Suche nach dem verlorenen Paradies – Tagebuch einer Rucksackfamilienreise durch Malaysia im Jahre 1985 Teil 14

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Die Waldmenschen ziehen, so berichtet er, in Gruppen bis zu zwanzig Personen im Dschungel umher, lassen sich hier und dort nieder und bleiben, solange der natürliche Vorrat an Nahrung am jeweiligen Ort reicht. Sie haben genaue Kenntnisse über die Nutzbarkeit von Pflanzen. Ansonsten würden sie sich von der Jagd ernähren, bei der sie das Blasrohr verwendeten. Über die lose zusammengefügten Kleingruppen hinaus gebe es so gut wie keinen größeren sozialen Zusammenhang, keinen Stamm oder gar Staat. Der Wechsel von einer zur anderen Gruppe sei zwanglos und finde vor allem zur Lösung von Spannungen innerhalb der derselben statt. Die Gruppen stünden prinzipiell in einem freundlichen Verhältnis zueinander. Sie kämen sich auch kaum ins Gehege, denn der tropische Wald biete allen genügend Platz und Mittel zur Befriedigung ihrer äußerst einfachen Bedürfnisse.

Kriminalität sei praktisch unbekannt, Eigentums und Bereicherungsdelikte schon mangels Eigentum an beweglichen Sachen. Die Vorstellung, dass jemandem etwas gehören könnte, was er nicht gerade bei sich trägt, sei ihnen fremd. Es spiegele sich hierin der Mangel an Abstraktionen, ein Umstand, der sich in allen Lebensbereichen auswirke. Es fehle etwa die Vorstellung, dass man eine bloß geistige Beziehung zu einer Sache, dass man also einen Anspruch darauf haben könne. Damit fehlt freilich eine schier unerschöpfliche Quelle des Streitens und Rechtens, des Bedarfs, Normen zu schaffen und damit der Anreiz, immer differenziertere und immer geistigere Fähigkeiten zur Auseinandersetzung auszubilden. Eine zeitlang spekulieren wir über den Rattenschwanz von Konsequenzen, welche sich aus dem Begriff des Eigentums ergeben. Kulit ist überzeugt, er sei die Erbsünde, die den Menschen mit sich und Seinesgleichen entzweit habe. Zu allen Zeiten hätten die Menschen empfunden, dass die Versuche, das Eigentum zu rechtfertigen, eine zweifelhafte Überzeugungskraft haben. Die Folge sei die tendenzielle Instabilität der Systeme, die auf Eigentum aufbauen, Kriege und soziale Spannungen.

Wir kehren zurück zu den Orang Asli. Ansprüche, so meine ich mit meiner europäischen Seele, müsse es doch im Emotionalen geben, ein nicht-materielles Band etwa zwischen Frau und Mann bestehen. Auch hier fehle jede Institution, berichtet Kulit. Zwar gäbe es so etwas wie eine Ehe. Man feiere die Hochzeit in bescheidener Form, etwa indem man einen etwas größeren Affenbraten herrichte. Aber es folgten keine Verpflichtungen daraus. Jeder, auch die Frau, sei frei, sich einen neuen Partner zu suchen. Emotionale Probleme, die daraus resultieren können, löse man, indem man die Gruppe verlasse.

Abstraktionen, fährt Kulit fort, hervorgehobene Positionen also, gäbe es auch im Aufbau der Gruppen kaum. Es gäbe keine Hierarchie, zumindest keine, der man sich nicht ohne weiteres entziehen könne. Ebenso wenig gäbe es ausgeformte religiöse Dogmen oder Riten. Man habe eine numinose Vorstellung von Geistern, die jeder für sich konkretisieren könne. Mangels religiöser Überbauten gäbe es auch keine Machtausübung durch religiösen Druck, kein Ausnützen religiöser Bindungsgefühle für irdische Zwecke. „Begraben“ werde in der Krone der Bäume – damit man näher am Himmel sei, meint Kulit unter Verwendung eines eher islamisch-christlichen Höhenbegriffs.

Wie weit die Orang Asli von unserem Denken entfernt seien, zeige auch eine kaum entwickelte Vorstellung davon, dass eine gezielte Einwirkung auf die Gesundheit möglich sei. Sogar dass andere Menschen, Malayen etwa oder Weiße, dazu in der Lage sein könnten, entziehe sich ihrer Vorstellungskraft, weswegen sie von der Möglichkeit medizinischer Hilfe keinen Gebrauch machten. Ihre häufigen Hauterkrankungen – Pilzkrankheiten von der ständigen Feuchtigkeit des Dschungels, insbesondere vom Schlafen auf dem nackten Boden – nähmen sie wie ein Schicksal auf sich und versuchten keine Hilfe in der Zivilisation zu erlangen.

Ihre Behausungen seien für wenige Wochen gebaut. Sie sollen eigentlich nur vor dem Regen schützen. Überhaupt sei ihnen jeder längerfristige Versorgungs- und Schutzgesichtspunkt unbekannt. Das Klima und die Fülle des Dschungels legten es nicht nahe, solche Perspektiven zu entwerfen. Da die äußeren Bedingungen das ganze Jahr über gleich blieben, sei Vorsorge zur Deckung des Lebensbedarfes nicht erforderlich. Reizvolle Überlegungen lassen sich daran anknüpfen – Gedanken etwa über das Entstehen von Abstraktionen als Folge des Zwangs, über den Tag hinausdenken zu müssen.

Mangels Konfrontation mit anderen, aggressiven Sozialsystemen bestehe auch keine Notwendigkeit, Verteidigungsvorsorge zu treffen. Die weiche Mentalität der malayischen „Nachbarn“, mit denen es in dem weiten und leeren Land ohnehin wenig Berührungspunkte gab, habe kein Bedürfnis für Konkurrenzanstrengungen entstehen lassen. Damit sei aber nie die Entwicklung in Gang gekommen, die durch ständiges Abgrenzen und Vergleichen, vor allem aber über die Rüstungsspirale zum unaufhaltsamen „Fortschritt“ führe. So fehle denn auch der Drang zur Überordnung, zum Übertrumpfen, fehlen die dazugehörigen Abwehrprozesse, die Versuche, den Konkurrenzkampf zu regeln, seine Verkleidung in Ideologie und damit überhaupt das dynamische Element in den Sozialbeziehungen.

Wir geraten ins Schwärmen. Die Orang Asli scheinen uns einen Blick fast in die Stunde Null der menschlichen Sozialbeziehungen zu ermöglichen. Bedingt durch eine seltene Kombination äußerer Umstände wie Klima, insuläre Lage, Reichtum der Natur und dünne Besiedlung, befinden wir uns hier möglicherweise vor Beginn fast all der gesellschaftlichen Prozesse, die moderne Gesellschaften kennzeichnen. Auf dem Negativ des Bildes der „primitiven“ Gesellschaftsform erscheinen plötzlich, deutlich wie auf einem Röntgenbild, die Strukturen unserer eigenen Gesellschaft.

Darüber kommen wir endgültig ins Philosophieren. Eine merkwürdige Mischung biblischer und sozialutopischer Dimensionen tut sich auf. Ist die menschliche Geschichte, wie alte Mythen behaupten, von einem paradiesischen Zustand ausgegangen? War der Sündenfall der Beginn der Sozialprozesse? Wie von selbst ergibt sich daraus die Frage, welche die Menschen noch heute bewegt: Ist das Paradies unwiederbringlich verloren oder bewegen wir uns auf ein neues Paradies zu, für das die Wirren der Sozialprozesse nur ein Durchgangsstadium sind, in dem nach unendlich schmerzhaften Läuterungen ihre Widersprüche „endlich“ aufgehoben sind? Können wir, wenn es ein neues Paradies geben wird, den Weg dahin beeinflussen, die Entwicklung beschleunigen, wie viele Denker meinten? Oder sind alle Spekulationen über alte und neue Paradiese nur aus der Sehnsucht geboren, die der Spiegel des Unvollkommenen ist? Wäre das künftige Paradies also nur die Projektion eines nie gewesenen verlorenen Paradieses in die Zukunft?

Ich beginne mich zu fragen, ob Kulits erstaunlicher Bericht über die Orang Asli von solchen Gedanken geprägt ist. Hat der malayisch-islamische Romantiker auf der Suche nach einem neuen Paradies die alte Vorstellung vom ursprünglichen Paradies, die Islam und Christentum teilen, über die Wirklichkeit der Waldmenschen geworfen? Postuliert er, wie schon die europäische Aufklärung, den „guten Wilden“ zum Zwecke der Besserung moderner Gesellschaften?

Wir kommen auch auf das verlorene Paradies der Orang Asli zu sprechen. Viele Waldmenschen verdingen sich als Führer durch den Urwald, verdienen Geld und kaufen produzierte und damit knappe Dinge. Mit den Gegenständen, die nicht alle haben, beginnen die Probleme. Begehrlichkeit und Neid entstehen, es werde gestohlen, der Diebstahl müsse vertuscht werden, Heimlichkeiten, Spannungen und Rechtskonflikte entstehen, Normen und der Mangel daran werden bewusst. Der ganze Prozess der sozialen Evolution komme mit allerlei Geburtswehen und Verwachsungen stockend in Gang. Er habe die große Sorge, dass die Orang Asli diesen Prozess nicht überstehen, denn er gehe in einem Tempo vonstatten, der ihnen den Atem rauben müsse.

Es ist spät geworden. Wir wandern zurück in die nun ruhiger gewordene Stadt. Nochmals lassen wir uns in der Nähe unseres Hotels auf einem Mäuerchen nieder und führen unser nie erlahmendes Gespräch über Malaysia fort. Erst als Kulit Gefahr läuft, den letzten Bus zu seiner Wohnung zu verpassen, die offenbar ziemlich weit außerhalb liegt, nehmen wir Abschied. Wir verabreden uns auf den nächsten Abend im Hotel.

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Auf der Suche nach dem verlorenen Paradies – Tagebuch einer Rucksackfamilienreise durch Malaysia im Jahre 1985 – Teil 13

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1.4.1985

Abschied vom Dschungelcamp. Das Abschiedsgeschenk der Campverwaltung kommt in Form einer saftigen Rechnung für die Anfahrt. Ihr Abrechnungssystem ist ebenso archaisch wie der Dschungel. Auf welchem Niveau rationaler Abstraktion sich unsere westlichen Lebenssysteme befinden, zeigen erst die erstaunlichen Alternativen, die andere Systeme aufzubieten haben. Der Fahrpreis etwa wird im Urwald nicht allgemein aus einer Gesamtkalkulation, sondern mittels Dividieren der Fahrtkosten durch die Anzahl der Fahrgäste eines Bootes jedes Mal individuell errechnet. Da unser Boot mit 6 Personen besetzt war, haben wir also 5/6 des Fahrpreises zu zahlen. Pech für uns, wenn die Campverwaltung das Boot nicht einmal zur Hälfte belegt und auf einigen Sitzen Versorgungsmaterial für das Camp transportiert. Und Glück für unseren mitreisenden Nationalparksammler. Nachdem die stolze Zusage des Tourist Office Managers von Kuantan, dass die Fahrt für die Kinder frei sei, irgendwo im Dickicht von Taman Negara hängengeblieben ist, profitiert unser Mitfahrgast nicht nur ungerechtfertigt von seinen Empfehlungsschreiben, sondern auch noch von unserem Kinderreichtum. Schlaue Travellers haben deswegen schon ausgerechnet, dass es günstiger ist, eine Nacht länger im Camp zu bleiben, als in einem unterbesetzten Boot zurückzufahren. Immerhin haben wir das Glück, wenigstens auf der Rückfahrt in einem gefüllten Boot fahren zu können.

Am Landesteg werden wir von zwei unserer Dschungelfreunde verabschiedet. Die Rückfahrt geht rasend schnell den Fluss hinab, wiewohl die Hinfahrt wegen der Gegenströmung schneller erschien. Es ist ein Morgen, wie man ihn sich nicht eindrucksvoller vorstellen kann. Prächtige Dschungelbilder bieten sich am Flussufer, grüne Wände zunächst, in denen gelegentlich ein Baum in voller Lila-Blüte auffällt, dann dicht gestaffeltes Bergland mit undurchdringlichem Bewuchs. Nach deutlich kürzerer Fahrt kommen wir in Tembeling an. Jetzt ist es der erste Vorposten der Zivilisation.

Wir schnallen die Rucksäcke an und treten den heißen Marsch zur Hauptstraße an, wo der Bus abfahren soll. Ein "freundlicher" Autofahrer – er stand schon an der Bootsanlegestelle – bietet uns eine Fahrt nach Jerantut an. Lässig wirft er hin, dass der Bus höchst selten fahre, der nächste erst ganz spät. Da er damit offensichtlich eine ziemlich unbescheidene Fahrpreisforderung begründen will, lehnen wir dankend ab. Damit geben wir uns allerdings einem ziemlich ungewissen Schicksal hin. Es ist in keiner Weise abzusehen, wann ein Bus fährt. Also üben wir uns in asiatischer Geduld. Wir lassen uns unter einem größeren Baum an der Hauptkreuzung nieder und harren der Dinge.

Schon bald nehmen dieselben einen – auch finanziell – günstigen Verlauf. Ein Bus erscheint und bringt uns in Kürze über die bereits bekannte Berg- und Talbahnstrecke nach Jerantut. Dort steht auch schon ein Anschlussbus nach Temerloh bereit.

Im Bus freunden sich die Kinder mit einem jüngeren Malayen an, den wir schon vom Dschungelcamp kennen. Es ist jener "Führer", der uns vor zwei Tagen so freundlich über mögliche Dschungeltouren beriet. Am Busbahnhof von Temerloh – vor der reich bekuppelten Moschee – hilft er uns, einen Bus in Richtung Kuala Lumpur ausfindig zu machen – der direkte Bus war uns gerade vor der Nase weggefahren. Die Wartezeit bis zur Abfahrt des Busses verbringen wir gemeinsam in einem Restaurant an der Haltestelle und unterhalten uns. Unser neuer Freund – sein Name ist Kulit – spricht ein ziemlich differenziertes Englisch, wenngleich mit starkem Akzent, und hat eine gänzlich offene Art, mit uns umzugehen. Von Beruf ist er Flugzeugmechaniker. Da er ebenfalls nach Kuala Lumpur fährt, bietet er sich uns als Führer an. Wir merken sogleich, dass die Furcht vor aufgedrängten Diensten und den finanziellen Forderungen, die daraus in der Regel resultieren, hier nicht angebracht ist.

Der Bus ist laut und scheppert nervenaufreibend. Wir fahren durch eine hügelige Kampong- und Plantagenlandschaft. Dann wird es ziemlich gebirgig. Vor uns liegen die Camerlon-Highlands, auf denen sich eine der berühmten wohltemperierten Hill Stations befand, in die sich die kolonialen Engländer auf der Flucht vor dem tropischen Klima zurückzuziehen pflegten. Heute ist oben ein großes Casino, dessen ausladender Gebäudekomplex von weitem zu sehen ist. Die ganze Gegend hat etwas gartenhaftes und macht einen sehr gepflegten Eindruck.

Am Fuß der Highlands, in denen Tee angebaut wird, wechseln wir den Bus. Im Busbahnhof ist großes Gedränge. Alles will in die Hauptstadt. Wir haben etwas Zeit, die wir auf dem nahen großen Kinderspielplatz verbringen. In seinen weitausladenden Bäumen hat sich eine besonders reiche Kolonie von Baumfarnen niedergelassen, kreisrunde Prachtexemplare mit auskragendem Rand und einem Durchmesser bis zu zwei Metern.

Die weitere Busfahrt geht durch Hochland und damit durch höchst eindrucksvolle Dschungelberge, weite Hangflächen mit einem Wald dicht wie ein Fell, dessen bräunlich grünes Gesamtbild gelegentlich durch hellgrüne Bananeninseln aufgelockert wird – all das im strahlendsten Nachmittagslicht. Ein Jammer, dass wir wieder einmal im Bus sitzen.

Die vielen Steigungen der Straße scheinen unserem Bus nicht zu schmecken. An einem besonders steilen Stück fängt er an zu zischen und zu spritzen. Der Fahrer hält an, alles steigt aus. Wasser fließt aus dem Kühler. Es herrscht allgemeine Ratlosigkeit. Befürchtungen und Erinnerungen an die Anfahrt zum Taman Negara kommen auf. Aber man behält auch hier die Ruhe, wartet ein wenig, steigt wieder ein und fährt ab. Es folgen weitere Dschungelberge, dann aber auch schon modernere Siedlungen. Schließlich erreichen wir Kuala Lumpur auf einem Busbahnhof, der weit außerhalb der Stadt liegt. Steigen wir also zum fünften Male an diesem Tage um und fahren mit einem weiteren Bus in die Stadt.

Die Suche nach einem Hotel, das unseren altchinesischen Vorstellungen und unseren finanziellen Verhältnissen entspricht, ist in der explodierenden Metropole nicht einfach. Die Stadt wird zwar zu zwei Dritteln von Chinesen bewohnt, mit dem alten China hat man aber nicht mehr viel im Sinn. Von allen Seiten fressen sich Wolkenkratzer und Einkaufszentren in das alte Chinesenviertel aus zwei- bis dreistöckigen Häusern. Wir ziehen durch die Reste dieses Viertels, klettern finstere Treppen hinauf und hinab, besichtigen und verhandeln, bis die Kinder des schweißtreibenden Spieles müde sind. Dann geht Kulit unter Hintanstellung seiner Bedenken gegen unseren altchinesischen Geschmack aufopferungsvoll mit mir alleine weiter in der fast schon aufgegebenen Hoffnung, ein zugleich preiswertes und nicht allzu lautes Hotel zu finden. Wir finden das Idealhotel: ein geräumiges Zimmer zu einem alten Park, zentrale Lage, Tee steht bereit in chinesischem Porzellan, freundliche chinesische Wirte, denen der unerwartete Kinderbesuch gefällt. Allgemeines Duschen folgt. Kulit gehört schon fast zur Familie. Auch er nutzt die Gelegenheit, um sich zu erfrischen.

Schließlich lädt uns Kulit auch noch zum Abendessen ein. An sich befinden wir uns mitten in einem Viertel mit vielen jener chinesischen Straßenküchen, die wir schätzen gelernt haben. Aber Kulit hat anderes mit uns vor. Zunächst machen wir eine ziemlich ausgedehnte Wanderung durch die Geschäftsviertel der Stadt moderne Zweckarchitektur, wie überall in der Welt, die abends ausgestorben ist. Auf einer Flussinsel steht eine märchenhaft beleuchtete Moschee mit feinen Säulenumgängen in maurischem Stil. Ob sie viel älter ist als die Bankgebäude und Firmenzentralen, ist fraglich, Kuala Lumpur ist eine sehr junge Stadt. Von der Wanderung, deren Zweck unklar bleibt, ist uns ziemlich warm geworden. Ein kräftiger Regenguss überrascht uns und bringt Kühlung. Dann wird klar, warum wir durch die Geschäftsviertel irren. Kulit sucht nach einem Bankautomat, um das nötige Geld zum Bestreiten seiner Einladung abzuheben. Mehrere Anläufe sind ohne Erfolg, was ihm äußerst peinlich ist.

Schließlich erreichen wir einen Platz, auf dem sich eine Reihe von Straßenrestaurants befindet, die sich nicht wesentlich von denen in der Nähe unseres Hotels unterscheiden. Sie sind allenfalls etwas weniger chaotisch angeordnet. Zunächst ist Rechnen angesagt. Was können wir uns leisten? Kulit will auf keinen Fall einen Zuschuss von unserer Seite annehmen. Er verhandelt schließlich mit einem Wirt, der ihm, obwohl er ihn nicht kennt, einen Kredit einräumt, womit dieser ohne Zweifel ein ehernes Gesetz der Straßenbranche bricht. Kulit ist ziemlich aufgeregt und gibt sich alle Mühe, uns so gut wie möglich zu bewirten.

Nach dem Mahl – wir bestellten bescheiden, Kulit selbst aß kaum etwas – Rückmarsch zum Hotel mit müden Kindern. Sie gehen nach diesem langen Tag mit Freuden ins Bett. Eigentlich hätten wir uns jetzt gerne in einer der typischen Spelunken in der Nähe unseres Hotels niedergelassen. Aber Kulit hat wieder andere Pläne. Er führt uns zum Hochhaus der Ölfirmen, einem erst kürzlich fertiggestellten Prachtbau, der als neues Wahrzeichen die Silhouette der Stadt beherrscht. Hoch ragt der riesige weiße Büroturm mit seinen ungeniert maurischen Stilelementen in den Himmel; unten sind weitläufige Anlagen und Unterbauten, in denen es eher amerikanisch zugeht, MacDonalds ist vertreten, blitzblanke Geschäfte und Banken, überall Marmor – zweifelsohne aus Carrara – saubere Helle, entsprechend gekleidete junge Menschen. Ausstattung und Dimensionen dürften in Europa nicht so leicht ihresgleichen finden. Kulit will uns offensichtlich zeigen, wie der neue Stil seines Landes ist.

Wir lassen uns auf einer Terrasse des Riesenkomplexes nieder, vor uns ein herrlicher Blick auf die City von Kuala Lumpur im nächtlichen Beleuchtungszauber, unten erleuchtete Terrassengärten, über uns der weiße Turm aus Tausend-und-eine-Nacht. Hier entwickelt sich ein langes Gespräch, in dem uns Kulit seine erstaunliche malayische Seele ausbreitet.

Wir streifen zunächst Probleme Malaysias, erfahren, dass das Malayische eine indogermanische Sprache mit zahlreichen indischen und chinesischen Einspengseln ist. Lange sprechen wir über die Rolle des Islam in einer Gesellschaft, die kaum zur Hälfte moslemisch ist, in der die Religion Mohammeds aber dennoch Staatsreligion und das Staatsoberhaupt immer einer der malayischen Sultane ist. Bemerkenswert auch, was Kulit über die Macht der islamischen "Kirche" berichtet. Verstöße gegen islamisches Sittenrecht werden von islamischen Gerichten unter Umständen sogar mit Geldstrafen belegt, die dazu auch noch vollstreckt werden können. Gegen derartige Eingriffe in das Gewissensleben gebe es zwar den Appell an die zivilen Gerichte, aber man überlege gerade, diesen abzuschaffen.

Uns ist aufgefallen, dass sich die Frauen in Malaysia ziemlich frei bewegen können. So kommen wir auf die offensichtlich unterschiedliche Handhabung des Islam im "Westen" und in Süd-Ost-Asien zusprechen. Kulit hat eine klimatische Erklärung. Die rigiden Formen des Islam, vor allem in Arabien, sind für ihn die Folge der harten Lebensbedingungen der Steppen- und Wüstenvölker. Mit dem Koran, auf den er allein und direkt zugreifen will, hätten solche Verhärtungen nichts zu tun. Weit distanziert er sich von der islamischen Dogmatik und deren beamteten Sachwaltern. Der islamische Glaube der Bumiputras, der ursprünglichen malayischen Landbevölkerung, sei im Übrigen allenthalben von animistischen Elementen aus der Zeit vor der islamischen Eroberung durchsetzt. Bei der Erläuterung dieses Phänomens lässt der malayische Flugzeugmechaniker Kulit zu unserem größten Erstaunen erkennen, dass er mit philosophischen Fragestellungen aus dem alten Europa vertraut ist. Er vergleicht den Animismus und seine allgegenwärtigen guten und bösen Geister mit dem Pantheismus des niederländischen Philosophen Spinoza.

Überhaupt wird immer deutlicher, wie wenig die gängige Vorstellung vom sozial eingebetteten Asiaten auf ihn zutrifft. Kulit lebt offenbar ein Einzelgängerdasein und versucht im Dschungel zu sich selbst zu finden. Sein Traum ist, sich irgendwann einmal eine einsame Insel vor der Küste zu kaufen, um sich dort als Fischer von aller modernen Welt zurückzuziehen. Jede freie Minute, so berichtet er, verbringe er bei den Waldmenschen, den Orang Asli, im Taman Negara oder in den Wäldern unweit von Kuala Lumpur, durch die wir am Nachmittag gefahren sind. Er kenne ihre Sprache, die mit dem Malayischen nichts gemein habe und sehr einfach sei. Meist begnügten sie sich mit kurzen Zurufen. Er selbst habe sich ein kleines Wörterbuch gemacht.

Was er dann über das Leben der Orang Asli erzählt, klingt wie ein Märchen aus dem Sozialparadies, Rousseau hätte es nicht besser erfinden können.

Der vollständige Text befindet sich auf der Seite IX Reisetagebuch Malaysia 1985 

Auf der Suche nach dem verlorenen Paradies – Tagebuch einer Rucksackfamilienreise durch Malaysia im Jahre 1985 – Teil 12

Der vollständige Text befindet sich auf der Seite IX Reisetagebuch Malaysia 1985 

31.3.19 85

 

Flussfahrt. Den Plan einer Wanderung zur Fledermaushöhle, den der Malaye gestern anregte, haben wir fallengelassen. Stattdessen mieten wir für den Tag ein einfaches hölzernes Kanu, einen Einbaum dessen Kanten man mit Brettern leicht erhöht hat. Ausgestattet mit Proviant und Lektüre geht es auf Dschungelflusswanderung. Wir bewegen das nicht eben leichte Boot mit vier einfachen Paddeln bestehend aus einem Stock, an dem ein Holzbrett befestigt ist.

Die Fahrt geht den Nebenfluss des Tembeling hinauf, an dem wir gestern entlang gelaufen waren. Anfangs ist die Strömung schwach, das Wasser tief und dunkel. Wir kommen daher recht gut voran. Mit kühner Statik hängen große Bäume in den Fluss. Sie spenden willkommenen Schatten. Nach etwa einer Stunde passieren wir unseren gestrigen Badeplatz. Jetzt stoßen wir in Neuland vor. Das Wasser wird flacher und schneller. An einigen Stellen müssen wir uns mit allen vier Paddeln kräftig ins Zeug legen. Dann kommen wieder ruhigere Passagen. Offene Strecken wechseln mit tunnelartigen Passagen aus dichtem Bewuchs, in denen tausend Lichtreste auf dem Wasser tanzen.

Schließlich liegt vor uns eine lange schattige Gerade mit unruhigem, flachem Wasser. Hier kommen wir an die Grenzen unserer Wasserkraft. Cinqui und ich müssen aussteigen und das Boot schieben und ziehen. Zum Glück bietet sich ein Rastplatz in der Sonne an. Es ist ein umgestürzter Urwaldriese, der am Ufer im Wasser liegt. Sein Stamm ist so geräumig, dass man quer darauf liegen kann. Zum Ufer hin bildet er eine kleine Lagune. Die Kinder beginnen alsbald, dieselbe für Schiffsaktivitäten zu nutzen.

Wir haben uns gerade auf unserem Baumstrand eingerichtet, da kommt ein Boot den Fluss hinunter – mit guten Bekannten, dem Bundeswehroffizier, dem Elektriker und dem Studenten. Sie sind den Fluss ein gutes Stück weiter hinaufgefahren und berichten von Stromschnellen und recht abenteuerlichem Wasser. Aus Sorge um ihr Gepäck, vor allem die Kameras, haben sie die Fahrt jedoch abgebrochen.

Eine Weile genießen wir gemeinsam die Stille des Flusses. Dann regt sich Tatendrang. Wir, das heißt der Elektriker, der Student, Cinque und ich beschließen, eine Expedition weiter den Fluss hinauf zu machen, ohne Gepäck. Das Boot ist mit uns bis an die Grenze seiner Belastbarkeit gefüllt. Zuerst gilt es, das flache Stück zu überwinden, an dem wir zuvor gescheitert waren, was unter dem Gelächter der Zurückgebliebenen zunächst misslingt. Wir treiben in die falsche Richtung ab. Dann kämpfen wir uns in ruhigere Gewässer vor. Nach einiger Zeit erreichen wir die ersten Stromschnellen. Sie zwingen uns, das Boot zu verlassen und es mit vereinten Kräften durch das turbulente Wasser zu schieben. Es folgen ein ruhigeres Stück, erneute Stromschnellen und wieder Aussteigen, Ziehen und Schieben. Dies wiederholt sich mehrere Male und ist einigermaßen anstrengend. Am meisten werden jedoch die Füße in Mitleidenschaft gezogen, die immer wieder zwischen die großen glatten Steine des Flussbodens rutschen. Cinqui und ich haben immerhin Sandalen an. Das sind zwar auch nicht gerade die idealen Wildwasserwanderschuhe. Es geht uns aber immer noch besser als unseren barfüßigen Begleitern, die ihre Hilfe beim Überwinden von Stromschnellen wegen wunder Füße bald einstellen müssen. Da es nicht überall möglich ist, die Stromschnellen zu Fuß zu umlaufen, müssen wir die beiden im Boot gegen die ohnehin schon verstärkte Strömung ziehen. In der tropischen Mittagshitze ist also Schwerstarbeit zu leisten. Sie wird allerdings durch die permanente Wasserkühlung erleichtert.

Die Uferlandschaft wird inzwischen immer grandioser. Bäume von mehreren Metern Dicke hängen in oft abenteuerlicher Schräglage in den Fluss hinein. Einer der Riesen ist erst kürzlich abgebrochen und streckt nun seinen mächtigen zerzausten Stumpf in die Höhe. Schließlich gelangen wir an die sogenannte obere Badestelle, dem letzten Punkt, den Motorboote noch erreichen können. Der Fluss weitet sich hier zu einem weiten runden Bassin mit fast stehendem Wasser, das weitgehend im Schatten riesiger Bäume liegt – ein Bild weiherhaften Friedens an dem sonst eher unruhigen Gewässer.

Am anderen Ende des Bassins fließt der Fluss beschaulich durch ein tiefes Felsenbett. Es wäre ein Jammer, hier umzukehren. Nun da wir diese Region, die für Paddelboote an sich nicht mehr zugänglich ist, erreicht haben, packt uns der Ehrgeiz. Die Strapazen der "Fahrt" sind plötzlich vergessen. Mit vereinten neuen Kräften paddeln wir bis zu einer Verengung, durch die der Fluss mit beachtlicher Geschwindigkeit hindurchrauscht. Wir klettern auf die Felsen am Ufer und ziehen das Boot gemeinsam an der Schnur durch die reißende Strömung. Es folgt wieder ruhigeres Wasser bis unweigerlich die nächste Stromschnelle erreicht ist, die allerdings steiniger als alle vorangegangenen ist.

Wir überwinden noch zwei oder drei weitere Eng- und Flachstellen bis wir nach rund fünf Stunden strapaziösen Kampfes an der Grenze des Machbaren angekommen sind. Das Gefälle der Flusses wird immer stärker, große Steine versperren den Weg und die Stromschnellen nehmen den Charakter von Wasserfällen an. Wir machen das Boot fest und erklettern eine 30 bis 40 Meter lange Moräne aus ausgelaugtem angeschwemmtem, Pflanzenmaterial, um den weiteren Verlauf des Flusses zu sichten. Dabei stellt sich heraus, dass es keinen Sinn macht, weiter vorzudringen. Wenn wir weiterkommen wollten, müssten wir das schwere Boot über erhebliche Strecken tragen. So brechen wir die Expedition ab. Alle haben das Gefühl, etwas Außerordentliches erlebt zu haben. Unsere zufällig zusammengekommene Mannschaft ist dabei in kurzer Zeit zu einer Gemeinschaft zusammengewachsen.

Der Lohn der Arbeit sollte die Rückfahrt werden. Mit beachtlichem Tempo geht es flussabwärts. Bei den ersten Stromschnellen saugt die Strömung das Boot noch ohne unser Zutun durch die tiefste Stelle hindurch. Die folgenden Engstellen werden zum Prüfstein unserer Navigationskunst, auf den wir des Öfteren ziemlich unsanft auflaufen. Dann ist es soweit. Das Boot ist mit der Spitze auf einem Stein hängengeblieben, die Strömung dreht es zur Seite bis es schließlich kippt. Die ganze Mannschaft landet kopfüber im rauschenden Fluss.

Beim nächsten Mal schießt das Boot mit so viel Elan in tieferes Wasser, dass die Flut über Bord strömt, worauf wir, im Boot sitzend, langsam untergehen. Wir halten das Boot an der Bordwand fest, damit es uns nicht entgleitet, und fahren unter Wasser weiter. Ein unbeteiligter Beobachter hätte eine merkwürdige Szene gesehen: drei Männer und ein Kind, die, bis zur Brust im Wasser, in einer stabilen Reihe regungslos den Fluss hinunter gleiten

Nach einem weiteren Umsturz treiben wir ein längeres tiefes Stück kieloben. Zur Abwechselung liegen wir eine zeitlang auf dem Rücken des Bootes, bis sich die Möglichkeit ergibt, es wieder umzudrehen und zu entwässern.

Zu dieser feuchten und turbulenten Flussfahrt gesellt sich noch ein kräftiges Tropengewitter. Donner grollt, während das Boot auf Steine kracht und nass werden wir, ob wir im Boot oder im Wasser sind. Ein kenterndes Boot im Dschungel, eine unerschrockene, tatkräftige und eingeschworene Mannschaft kämpft bei permanentem Frohsinn gegen die Naturgewalten der grünen Hölle – es wäre Zigarettenreklame, wenn es nicht wahr wäre.

Wir passieren unseren Baumstrand. Er ist leer. Judi, die Kleinen und der Bundeswehroffizier haben, nachdem sich die Expedition weit über die in Aussicht genommene Zeit ausgedehnt hatte, nicht länger auf uns gewartet. Das "Schlimmste" ist nun hinter uns. Allerdings haben wir auch jetzt noch keine Ruhe. Das Boot hat in den Stromschnellen ein Leck abbekommen. Der Wassereinbruch ist so stark, dass das Boot in wenigen Minuten volläuft und nur noch schwer zu manövrieren ist. Mangels Schöpfkelle – wir haben sie als lästiges "Gepäck" im anderen Boot gelassen – müssen wir das Wasser jetzt mit Händen und Paddeln hinausbefördern.

Erschöpft treiben wir den immer ruhiger werdenden Fluss hinab. Über uns breitet sich ein grandioser Gewitterwolkenhimmel aus. Unter den herabhängenden Bäumen ist es dunkel. Die Ruhe nach dem Sturm ist eingekehrt. Die ungewöhnliche Flussfahrt endet an der Mündung des Tembeling, dessen reißende Fluten hinabzufahren auch ein Abenteuer wäre – allerdings nur in eine Richtung.

Beim abendlichen Travellerstreff im Restaurant berichtet jeder über seine Erlebnisse. Auch unsere Mund läuft über. Uli, der Bundeswehroffizier, erzählt von seinen fast hautnahen wild life Erfahrungen. Vor einigen Tagen übernachtete er in einem „hide“, etwa sechs bis acht Stunden vom Camp entfernt. Nachts rieb sich ein Elefant an den Stützen, auf denen die Schlafstatt angebracht ist, mit entsprechenden Fernwirkungen in der Höhe. Insgesamt sei das wild life aber auch dort draußen eher spärlich gewesen. Engere Berührung mit dem wild life haben wir noch an "unserem" um die Ecke gelegenen „hide“.

Am späten Abend begibt sich die ganze Corona voll Abenteuerlust in den finsteren Urwald, um wild life zu erleben. Diesmal haben wir Taschenlampen dabei, die klären sollen, ob wir es bei den bislang gesichteten Schatten mit einem Spiel der Natur oder der Phantasie zu tun hatten. Genügend Licht bringen jedoch auch die Taschenlampen nicht in die "Dinge", sodass es bei der erlkönighaften Zweideutigkeit bleibt. Nach andächtigem Schweigen und durch Ehrfurcht vor dem nächtlichen Urwald gekühltem Abenteuermut geht jeder zu seiner Schlafstatt zurück.

Wie hautnah die Berührung mit dem wild life war, zeigt sich erst, als ich bereits im Bett liege. Auf meinem Bettlaken ist plötzlich ein frischer Blutstropfen. Während ich herauszufinden suche, wie er dorthin kam, beginne ich ernsthaft an meiner Fähigkeit zweifeln, Natur und Phantasie auseinander zu halten. Das Bett ist vollständig von einem Moskitonetz umgeben. Daher kann jede Ursache außerhalb des Bettes ausgeschlossen werden. Dennoch sind alle Recherchen nach einer natürlichen Ursache des Blutfleckens, die nach Lage der Dinge an meinen Beinen sein muss, ohne Erfolg. Die Verwirrung steigert sich, als noch ein zweiter und ein dritter Blutfleck hinzukommen. Damit bricht die Hypothese zusammen, es könne sich vielleicht doch um einen älteren Blutfleck handeln. Da absolut nichts zu finden ist, was das Blut erklären könnte scheinen die malyaischen Nachtgeister am Werk zu sein.

Das Rätsel löst sich dann aber, wie könnte es anders sein, auf westlich-rationale Weise. Der Gewitterregen vom Nachmittag hat die „leaches“ aktiviert, die wegen ihrer mangelnden Tätigkeit in der Natur bei uns schon in den Verdacht geraten sind, in der Hauptsache die Phantasie der Traveller zu beunruhigen. Eines der harmlosen Tierchen mit dem schlechten Ruf hat sich bei unserer nächtlichen Pirsch unter meinem kleinen Zeh eingegraben, wo es fast nicht zu sehen ist. Freiwillig verlässt es das lauschige und offensichtlich nahrhafte Plätzchen nicht. Es muss erst mit einer brennenden Zigarette nachgehofen werden. Kurz darauf entdecke ich einen weiteren der stillen Gäste am anderen Bein. Unbemerkt hat er sich bis an die Wade hinauf geschlichen. Am Morgen erfahren wir, dass auch andere Teilnehmer unserer kurzen Nachtexpedition den gleichen ungebetenen Besuch festgestellt haben.

Der vollständige Text befindet sich auf der Seite IX Reisetagebuch Malaysia 1985 

 

Auf der Suche nach dem verlorenen Paradies – Tagebuch einer Rucksackfamilienreise durch Malaysia im Jahre 1985 – Teil 11

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30.3.1985

Dschungelwanderung. Ausgestattet mit Rucksack, Trinkwasser und Proviant – im Restaurant gab es Kuchen, gebackene Bananen, etc. – geht es auf den großen Marsch durch den Dschungel. Die Schuhe werden mit Baygon eingespritzt, um die „leaches“ abzuschrecken. Bald ist das fast schon gewohnte Dschungelbild um uns: Brettwurzelbäume, Palmlichtungen, wilde Lianenformen. Der Weg – er ist einigermaßen hergerichtet – führt einen steilen Berg hinauf, der kein Ende nehmen will. Es ist still. Von Ferne hallen nur die gellenden Rufe der Gibbons durch den Wald, affenähnliche Tiere, die man nie zu Gesicht bekommt. Gelegentlich sieht man die „leaches“ am Boden. Sie sind wie kleine Würmer, die sich in die Höhe recken, um so ihr Opfer angehen zu können. Von unserem Baygonspray scheinen sie beeindruckt zu sein. Zwei Deutsche von der gestrigen Runde begegnen uns – wer sonst.

Nach einem extremen Steilstück lichtet sich schließlich der Wald. Wir treten auf eine kleine Felsplatte. Vor uns breitet sich ein weiter Blick über die Dschungellandschaft des Nationalparkes aus. Steil abfallend liegt unter uns eine waldige Tiefe, durch die ein braunes Gewässer fließt. Der Blick verliert sich in weiter Ferne. Das ist er nun, der älteste Dschungel der Welt. Naturgeschichtliche Dimensionen tun sich auf. 130 Millionen Jahre alt soll der Wald sein, will heißen, dass sich die klimatischen und biologischen Verhältnisse so lange nicht verändert haben. Man kann sich in die Rolle eines Entdeckers versetzen, der, auf einer Höhe angekommen, plötzlich unberührtes (durch bewusst entdeckende Menschen unberührtes!) Land unter sich ausgebreitet sieht, und der sich mit einem kribbelnden Gefühl ins Unbekannte aufmacht, um völlig neue Horizonte zu eröffnen. Irgendwo dort in der vollkommen unerschlossenen Wildnis liegt der Gunang Tahan, Malaysias höchster Berg mit 2200 Metern. Ein Schild unten im Camp zeigt in seine Himmelsrichtung mit dem Vermerk: 8 Tage. Es gibt Abenteurer, die sich mit Hilfe eines einheimischen Führers dorthin auf den "Weg" machen. Proviant für zwei Wochen ist mitzunehmen.

Auf der Felsplattform trifft sich ein Großteil des gestrigen Abendtisches. Man ruht aus von den Strapazen des Aufstieges und genießt den Ausblick. Der Weg bleibt noch ein Stück auf der Höhe. Wieder öffnet sich der Blick in die Weite der Landschaft. Wir sitzen in einer Schutzhütte und lassen Gedanken und Gefühle in die Ferne ziehen.

Der Abstieg geht extrem Steil die Bergflanke hinab. Er ist mit Stufen und Geländern gesichert. Dann befinden wir uns in der Tiefe, über die unser Blick eben schweifte. Wir sind im dichtesten Dschungel mit großartigen Solitärbäumen – manche Brettwurzeln sind 6 bis 8 Meter hoch und bilden Nischen in denen man bequem wohnen könnte. Ein Tier wird gesichtet. Es ist ein dicker etwa 30 Zentimeter langer Tausendfüßler – wild life. Es gibt abenteuerlich verdrehte Lianenkonstruktionen, in denen die Kinder tollen. Gelegentlich passieren wir Lichtungen mit Bananenstauden und sonstigem Gewächs, dessen saftiggrüne Blätter in der Sonne aufleuchten. Auch eine Reihe von kleinen Bachschluchten ist zu überqueren. Der Weg lässt erahnen, dass wir uns am Rande eines Flusstales befinden.

Mitten im Dschungel findet eine merkwürdige Begegnung statt. Die denkbar entferntesten Pole menschlichen Lebens treffen aufeinander. Eine kleine Gruppe von Personen gänzlich unmalayischen Aussehens kommt uns entgegen. Voran geht eine Frau, die nur mit einem Lendenschurz bekleidet ist. Um die Schultern trägt sie ein Tuch, in dem sich ein wenige Wochen alter Säugling befindet. Es folgen zwei Kinder, etwa 10 bis 14 Jahre alt, ebenfalls barfuss und fast ganz nackt – sie tragen Bananen und ähnliches; dahinter ein Mann, bekleidet mit einer kurzen Hose und Turnschuhen. In seinem Rucksack befindet sich ein Kanister, der nach Petrolium riecht. Die Personen erinnern im Aussehen an die australischen Ureinwohner, sind dunkelhäutig und haben schwarzes krauses Haar. Auf bezeichnende Weise kontrastiert dies mit den leuchtenden Blondschöpfen unserer Kinder. Zwei Familien, durch Jahrtausende der Entwicklung von einander getrennt, stehen sich gegenüber: dunkelhäutige Waldbewohner auf der ältesten heute noch existierenden Stufe menschlichen Lebens und weiße Zivilisationsmenschen des entgegengesetzten Extrems.

Zum Glück gibt das Baby einen schnellen Anknüpfungspunkt. Stolz packt die Mutter den kleinen Jungen aus dem Schultertuch. Man hat ihm die Haare bis auf ein kleines Bündel über der Stirn abgeschnitten. Ein sprachloser Austausch von Reaktionen der Rührung findet statt. In elementaren Punkten sind die Zivilisationen dann doch wieder nicht sehr weit voneinander entfernt. Dann geht jede Familie wieder ihres Weges. Die Waldmenschen verschwinden hinter Palmblättern. Sie lassen uns in weichreichenden Gedanken über den Menschen und seine erstaunliche Entwicklung zurück. Es wäre interessant zu wissen, was den Waldmenschen jetzt durch den Kopf geht. Die kurze Begegnung ist zweifellos das denkwürdigste Erlebnis dieser Reise.

Nach kurzer Wanderung erreichen wir den Fluss und damit die versprochene, von den Kinder lange herbeigesehnte Badegelegenheit. Zuerst ist einige Skepsis zu überwinden. Das Wasser erscheint merkwürdig dunkel. Bei näherer Inspektion zeigt sich aber, dass es glasklar ist und seine dunkel-braune Färbung von einigen Schwebstoffen bezieht. Woher sollte es auch schmutzig sein? Krokodile oder ähnlich badewidriges Getier gibt es, wie man uns schon im Camp versicherte, im System des Tembeling und seiner Nebenflüsse nicht. Also tauchen wir in die herrlich kühle Flut. Die Kinder fangen sich einen kleinen Baumstamm ein, der daher geschwommenen kommt, und bauen mit allerlei Stöcken ein Boot. Damit fahren sie am Ufer auf und ab.

Es ist ein stiller Ort. Der Fluss – er ist zirka 20 Meter breit – fließt ruhig dahin. Man hört allenfalls gelegentliche Vogelstimmen. Ein größerer leuchtend blauer Vogel streift immer wieder in steifem Flug knapp über die Wasseroberfläche. Sonst ist von Tieren nichts zu sehen. Schräg vor uns liegt eine kleine Insel im Fluss. Dahinter biegt der Fluss nach rechts ab. Dadurch macht die Waldwand des gegenüberliegenden Ufers eine eindrucksvolle Biegung.

Nach und nach finden sich weitere Dschungelwanderer ein. Ein Australier spricht mich auf meinen Beruf als Staatsanwalt an, den er – die Travellerswelt ist klein – schon vor diesem Dschungeltreff irgendwie erfahren hat. So entspinnt sich fern jeglicher Zivilisation ein langes Gespräch über Wirtschafts- und Computerkriminalität, organisiertes Verbrechen und sonstige Gebrechen hochentwickelter Gesellschaften. Noch merkwürdiger ist das Gespräch, das ich mit einem jungen Deutschen vom gestrigen Abendtisch führe. Wir befassen uns, während wir im Tropenfluss stehen, mit einem der hochkarätigsten Produkte europäischen Sommerfrischenbedürfnisses: palladianischen Villen. Ausführlich diskutieren wir, gelegentlich in die kühlen Fluten tauchend, Probleme der Renovierung dieser hochartifiziellen Lustgebäude im fernen Italien. Mein Gesprächspartner ist Architekt und hat längere Zeit an der Wiederherstellung einer palladianischen Villenanlage gearbeitet. Auf die Arbeit stieß er durch Zufall auf einer Italienreise. Spontan entschloss er sich gegen Kost und Logis – in der Villa – mitzuarbeiten. Er blieb ein Jahr als dienstbarer Kostgänger – eine europäische Variante des Travellerlebens. Im Laufe seiner Tätigkeit lernte er, da die Villenbesitzer alle in Verbindung miteinander stehen, zahlreiche andere Villen kennen, von Palladio aber auch von anderen Baumeistern. Er forschte in alten Papieren und Plänen und kam so zu höchst intimen Kenntnissen über die italienische Villenkultur. Mitten im Dschungel öffnet sich, kaum dass wir die Waldmenschen hinter uns gelassen, eine Schatzkiste, in der die prächtigsten Edelsteine europäischer Kultur funkeln – wahrlich, es gibt auch geistige Abenteuer.

Mit herannahender Essenszeit – man muss zwei Stunden im Voraus bestellen – machen wir uns auf den Rückweg zum Camp. Hierzu brauchen wir nur dem Fluss zu folgen. Das Camp liegt an der Einmündung dieses Flusses in den wesentlich reißenderen Tembeling. Auf einer Wegkreuzung kurz vor dem Camp stehen einige einfache Hütten aus Palmblättern. Auf dem Platz, den sie bilden, spielen einige Waldmenschen mit einem Ball aus geflochtenen Zweigen Fußball. Auch ein Lederfußball kommt zum Vorschein. Wir befinden uns praktisch mitten in der guten Stube der Waldmenschen. Eine "Hütte" aus geflochtenen Matten steht auf Stelzen. Darin wird offenbar geschlafen. Daneben stehen Hütten, die praktisch nur aus einem A-förmigen Palmblattdach bestehen, das über dem nackten Boden steht und nur etwa einen Meter hoch ist. Darin sitzen Frauen und kochen auf einem Holzfeuer. Der Rauch zieht durch das Palmdach ins Freie. In der Hütte steht ein Kofferradio, aus dem Popmusik tönt. Einige Kinder – sie laufen praktisch nackt umher – haben offensichtlich eine Hautkrankheit. Ihre Haut ist am ganzen Körper aufgesprungen, sodass sie von lauter weißen Schuppen übersät sind.

Hier in der Nähe des Camps – wohl auch von ihm – lebt offenbar die Übergangsform der Waldmenschen. Sehr überzeugend sieht das nicht aus. Das Schicksal der australischen Ureinwohner und der Indianer kommt einem in den Sinn. Nicht weit von den Waldmenschen befindet sich das Kraftwerk des Camps, eine schwere Dieselturbine, die einen Höllenlärm macht.

Während wir auf das Abendessen warten, gehe ich mit Sassi und Lucy zur Bootsanlegestelle. Von der Höhe des Steilufers blickt man auf den Tembeling, der mehr als 10 Meter unter uns fließt. In der Regenzeit steigt er stark an und füllt das tiefe Bett fast bis auf unsere Höhe aus. Die Zeichen seines gewaltigen Wirkens sind an der ausgewaschenen Uferböschung deutlich zu sehen. Es herrscht eine tropische Abendstimmung mit leuchtenden Himmelsfarben. In der Ferne zuckt Wetterleuchten aus einem Gebirge von Wolken.

Abends bunte Runde im Restaurant. Die Australier von Cherating – Waltzing Mathilde – sind eingetroffen. Ein neuseeländischer Arzt mit Freundin ist dabei und die Deutschen von gestern. Zu uns gesellt sich ein junger malayischer Mann und macht uns bereitwillig allerlei Tourenvorschläge für den nächsten Tag. Er scheint einer jener erstaunlich unaufdringlichen Führer zu sein, die im Camp auf Aufträge warten. Auf sympatisch -malayische Weise berücksichtigen sie auch die Interessen der zu Werbenden, etwa indem sie sagen, bei welchen Touren man sie nicht benötigt. Er empfiehlt eine Wanderung auf der anderen Seite des Tembeling – zur Fledermaushöhle.

Ein Diavortrag über das Camp und den Dschungel wird gezeigt. Er ist eine willkommnene Nachbereitung unserer Tageswanderung. Es soll hier 400 verschiedene Baumarten auf einem Quadratkilometer geben. Auf dem Weg zu unserem Bungalow läuft uns der Bootsgenosse von der Hinfahrt über den Weg. Wir laden ihn auf unsere Veranda ein. Der Abendplausch in den Bambussesseln hat wahrhaft koloniale Züge und erinnert an Kipling oder Vicky Baum. Unser Gast macht mit Hilfe von Empfehlungsschreiben irgendwelcher Doktores, die die Empfänger offenbar für wichtig halten, eine Reise durch alle möglichen Naturreservate Asiens. Allerdings scheinen ihn, wie seine Erzählungen zeigen, weniger die Natur als die aufwendige Betreuung und die kostenlose Bewirtung zu interessieren. In Taman Negara hat man offenbar mehr Programm für ihn gemacht, als ihm lieb war. Er ist im Dschungel zusammengebrochen, aus Salzmangel, wie er meint.

Nochmals zieht es uns zum benachbarten Hide. In der Finsternis tasten wir uns bis zum Hochsitz vor. Angestrengt starren wir in das Dunkel. Das Ergebnis ist nicht weniger unklar, als am gestrigen Abend. Es bleibt offen, ob wir der Natur oder unserer Imagination nachspähen.

Der vollständige Text befindet sich auf der Seite IX Reisetagebuch Malaysia 1985 

Auf der Suche nach dem verlorenen Paradies – Tagebuch einer Rucksackfamilienreise durch Malaysia im Jahre 1985 Teil 10

Der vollständige Text befindet sich auf der Seite IX Reisetagebuch Malaysia 1985 

29.3.1985

Frühes Aufstehen, höchst eiliges Frühstück und ab auf die Straße. Dort soll – zu unbestimmter Zeit – ein Bus nach Kuantan abfahren, der uns zum Anschlussbus nach Jerantut bringen soll. Es gibt weder eine Haltestelle noch einen Fahrplan. Wir warten. Nichts tut sich.

Die Zeit wird knapp. Um 14 Uhr müssen wir an einem Bootssteg im Zentrum der Halbinsel sein. Schließlich ist genug gewartet, wir gehen über zu aktiver Verkehrspolitik, per Anhalter. Ein netter junger Mann nimmt uns in seinem Kleinbus mit. Mit der Ruhe und der Selbstsicherheit eines Malayen fährt er in Richtung Kuantan. Unterwegs biegt er in eine Siedlung ab, als habe er dort etwas zu erledigen. Er hält aus dem Auto ein lässiges Schwätzchen mit einem Mann, der zufällig auf der Straße zu stehen scheint, ihm aber offenbar bekannt ist. Dann fährt er weiter, so als habe er seine Erledigung beendet. Alles geschieht ohne Eile und Drang. Ein bestimmter Zweck seiner Fahrt ist nicht zu erkennen. Er bringt uns aber, ohne etwas dafür zu wollen, direkt zum Busbahnhof, wo unser Bus nach Jerantut noch wartet.

Vertrauen erweckend sieht der Bus nicht aus. Es ist nicht klimatisiert und auch nicht gerade geräuscharm. Mit Höllenlärm knattert er in das Landesinnere hinein. Die Straße führt durch hügeliges Land mit weitläufigen Palmen- und Gummiplantagen. Erste Rast machen wir nach 80 Kilometern auf dem geschäftigen Busbahnhof von Temerloh, gleich neben einer großen vielzwiebeltürmigen Moschee. Dort versorgen wir uns mit Mangos und gebratenen Bananen. Im Schneckentempo geht es dann weiter nach Norden. Der Bus wird immer langsamer. Dann kommt die zweite Rast – in einer Werkstatt. Mit der landesüblichen Gelassenheit und mit angemessenen Pausen versucht man irgendeinem technischen Problem auf die Spur zu kommen. Eine Information über Grund und Dauer der Unterbrechung ist nicht vorgesehen.

Es ist heiß. Die Geduld der Passagiere ist asiatisch. Nach einer halben Stunde – es ist halb Eins – frage ich vorsichtig an, wann es weitergehe. Man antwortet mit beschwichtigenden Gesten. Vermutlich wundert man sich über diesen unruhigen Europäer. Nichts tut sich. Es folgen: weitere Nachfrage – Vertrösten; dringliche Nachfrage – der Anschein von Aktivitäten; eindringliche Schilderung unserer Lage (mangels Sprachkenntnisse auf beiden Seiten unter Einsatz von Händen und Füßen) – Ankündigung eines Ersatzbusses; Drohen mit Verlassen des Gebäudes zu Fuß – erneutes Versprechen eines Ersatzbusses; endgültiger Entschluss, es per Anhalter zu versuchen, In-die-Tat-Umsetzen durch Schultern der Rucksäcke und zielstrebiges Ausschreiten in Richtung Tor. Da endlich kommt bei Mannschaft und Fahrgästen Bewegung in Richtung auf einen Ersatzbus auf, der schon die ganze Zeit auf dem Hof stand.

Auf fast leerer Straße – die Verkehrsmenge nähert sich hier im Landesinneren dem Faktor Null – und mit begrüßenswertem Tempo geht es nun nach Jerantut. Dort kommen wir kurz nach halb zwei Uhr an, was uns tatsächlich noch eine Chance gibt, unser Dschungelboot zu erreichen. Sofort beginnen Verhandlungen wegen eines Taxis zur Weiterfahrt nach Tembeling. Mit einem altersschwachen Peugeot-Diesel geht die Fahrt auf einer Strasse weiter, die wie eine Berg- und Talbahn  kerzengrade über die Hügel gelegt ist. Wenn es rauf geht, könnte man alle Hoffnung verlieren. Runter holt der alte Wagen aber alles wieder auf. Dann hofft man, dass die Bremsen funktionieren. Der Fahrer scheint darauf zu vertrauen, nicht benutzen zu müssen. Punkt zwei Uhr sind wir an der Anlegestelle. In der Eile lassen wir unseren gesamten Proviant im Taxi liegen, darunter die Kinderspielzeugschokolade, die wir  eigens für die 60 Kilometer lange Bootsfahrt gekauft haben.

Man wartet bereits auf uns. Wir sind namentlich per Telex angekündigt worden. Die lange Bootsfahrt ist, wie sich herausstellt, höchst exklusiv. Außer uns sind nur noch ein wenig gesprächiger Deutscher und drei Mann Besatzung mit von der Partie. Auch unser Gefährt ist eine Überraschung. Das hölzerne Boot ist vollkommen flach, zirka 15 Meter lang und nur etwas über einen Meter breit.

Es geht sofort los. Auf unsere Bitte hält man kurz nach dem Start noch einmal an, damit wir in Tembeling unsere verlorengegangenen Vorräte ergänzen können. Der Ort ist eine gänzlich unmalayische Ansammlung von Rosthütten, die auf dem Steilufer des Flusses Telom steht. Den Müll, meist Plastik und Blechverpackungen weltweit bekannter Produkte, kippt man direkt aus den Häusern auf das Ufer, sodass dieses eine einzige Müllhalde ist. Der letzte Außenposten der Zivilisation ist zugleich auch ihre übelste Steigerung.

Schnell erledigen wir die wichtigsten Einkäufe, besorgen Bananen, Bisquits, und Getränke. Im Stehen trinken wir noch einen heißen Tee – wer weiß, wann es wieder was zu trinken gibt. Vor allem benötigen wir einen Spray gegen die berüchtigten "leaches", Blutegel, die einen überall im Dschungel anfallen sollen. Man empfiehlt uns Baygon, hergestellt in Leverkusen.

Es geht wirklich los. Pfeilschnell schießt das Boot, angetrieben von einem starken Außenbordmotor, in den Fluß Tembeling, der genau gegenüber dem gleichnamigen Ort in den größeren Telom mündet. In rasender Fahrt geht es nun den glatten Fluss hinauf. Die starke Gegenströmung und unsere niedrige Sitzposition verstärken den Eindruck hoher Geschwindigkeit. Zunächst sieht man noch Menschen am Ufer. Gelegentlich wird ein Boot entladen. Auch baden Leute in den braunen Fluten. Dann werden die Anzeichen von Besiedlung in diesem Gebiet, das nur noch mit Booten zugänglich ist, immer dünner.

Der Dschungel breitet sich bald bis an das Ufer aus. Wie eine große grüne Wand zieht er sich den Kurven des Flusses entlang. Zeitweilig geht es durch bergiges Gebiet. Das Boot rast mit unverminderter Geschwindigkeit durch die Kurven, die nun enger werden. So ähnlich muss sich ein Skifahrer beim Riesenslalom fühlen. Auf den Bergen sieht man dichten Urwald. Über allem ragen die Baumriesen in den Himmel. Einmal liegen Wasserbüffel auf einer Sandbank.

Dann beginnt Taman Negara, der Nationalpark. Von da an fahren wir nur noch durch dichten Wald. Ab und zu liegen gestürzte Urwaldriesen im Wasser. Drei  Stunden lang starren wir wie gebannt in die unberührte Landschaft. Dann treffen wir an der Mündung eines Nebenflusses auf allerlei Betriebsamkeit. Hoch auf dem Ufer liegt, mitten im ältesten Urwald der Welt, das Camp.

Die Unterbringung ist alles andere als unzivilisiert. Wir bekommen einen geräumigen Doppelbungalow. Er hat zwei vollständige Wohneinheiten, jeder mit einer veritablen Badewanne. Verbunden sind die beiden Teile durch eine schattige Terrasse mit bequemen Sitzmöbeln. Ein eigener Terrassenventilator sorgt auch im Freien für Kühlung. Gleich unter uns fließt, tief eingegraben, der Tembeling. Koloniale Gefühle kommen auf.

Wir machen einen kleinen Rundgang durch das Camp, das zirka 150 bis 200 Leute beherbergen kann. Die vielen flachen Gebäude sind so auseinandergezogen, dass die Verbindung zur Landschaft erhalten bleibt. In der beginnenden Dämmerung unterziehen wir den Dschungel einem kurzen kritischen Test. Er muss sich natürlich an Tioman messen lassen. Zu unserer leichten Enttäuschung besteht er den Test nicht. Tioman verdirbt alle Maßstäbe. Ohne Tioman hätten wir vermutlich auch über Cherating keine merkwürdigen Fragen gestellt.

Immerhin soll es hier aber die Möglichkeit geben, Urwaldtiere zu beobachten. Die besten Beobachtungsplätze, "hides" genannt, sind weit draußen im Dschungel. Man übernachtet in Schutzhütten direkt am Beobachtungsort. Ein hide ist aber auch direkt am Camp. In der Dämmerung schleichen wir durch ein Stück Dschungel und klettern auf einen Hochsitz. Vor uns liegt eine ziemlich weite Lichtung. Darin sind ein paar Schatten erkennbar. Lange rätseln wir, ob sie sich bewegen, was der Beweis dafür wäre, dass es sich um Tiere und nicht bloß um aufgewühlten Boden handelt. Sehr lebhaft sind die möglichen Tiere jedenfalls nicht. Die Indizien für ihre Existenz bleiben im wahrsten Sinne des Wortes schemenhaft.

Wesentlich deutlicher machen sich allerhand Kleintiere bemerkbar. Auch sie kann man nicht sehen, dafür umso besser hören. Um uns findet ein Dschungelkonzert von bislang nicht gekannten Dimensionen statt. Lautstarke Insekten, vor allem Zikaden, kennt man ja auch in europäischen Breiten. Gemessen am Tonvolumen, das man hier antrifft, sind deren Klänge aber die reinste Kammermusik. Hier ist ein Riesenorchester am Werk, dessen Mitglieder im Dauerfortissimo spielen. Hinzu kommt, dass auch die Zahl der Instrumententypen vervielfacht ist. Ganz unterschiedliche Melodien bilden unendlich viele Kontrapunkte. Manche spielen ein Thema an, das ein paar Meter weiter von einem anderen erwidert wird. Andere scheinen alleine vor sich hin zu musizieren. Unter jedem Blatt scheint ein Musikant zu sitzen, der seine Stimme gegen allen anderen zu Gehör bringen will. Und Blätter gibt es genügend im Dschungel.

Abendessen in einem der beiden Restaurants – es gibt Nasi Goreng. Während des Essens erscheinen an der offenen Seitenwand des Restaurants zwei überdimensionale "Rehe", etwa so groß wie Pferde. Sie lassen sich von den Touristen füttern. Auch gegen das Streicheln ihres rauhen Felles haben sie keine Einwände – original wild life im Touristenrestaurant.

Eine Gruppe deutschsprachiger Touristen findet sich zusammen, bürgerliche Travellers: ein ehemaliger Bundeswehroffizier, der seit Jahren auf allen Kontinenten herumreist, ein Elektriker aus Berlin, ein Gartenarchitekt, ein Schüler und andere. Man bleibt bis das Restaurant schließt.

Heimweg zum Bungalow – in der Ferne verklingt das Dschungelkonzert. Kurz nach Mitternacht wird das Dieselkraftwerk abgeschaltet. Damit gibt es kein Licht mehr im Haus. Auch der Ventilator fällt aus. Durch den luftigen Bungalow zieht jedoch angenehme Waldluft. Auf der Veranda tollen sich in der Nacht irgendwelche Tiere. Zu sehen bekommt man sie nicht. Wahrscheinlich wissen sie, dass es nachts kein Licht gibt.

Der vollständige Text befindet sich auf der Seite IX Reisetagebuch Malaysia 1985 

Auf der Suche nach dem verlorenen Paradies – Tagebuch einer Rucksackfamilienreise durch Malaysia im Jahre 1985- Teil 9

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28.3.1985

Man lässt uns nicht darben. Das Frühstück ist opulent. Anschließend ziehen wir in einen geräumigen Doppelbungalow. Die Kinder haben die eine Hälfte, wir die andere. Plötzlich erschallt der Ruf, es würden Kreiselspiele gezeigt. Vorne an der Straße ist eine Busladung Pauschaltouristen angekommen, lauter Deutsche. Drei makellos gekleidete Malayen führen ihnen das traditionelle Kreiselspiel vor. Nach gebührend gravitätischer Vorbereitung werden die fast 40 Zentimeter breiten schweren Kreisel auf eine Platte gesetzt. Man zieht kräftig an einem Band. Dann drehen sich die Kreisel "regungslos" bis zu 20 Minuten lang. Die Menge betrachtet sie leicht ratlos und klatscht artig Applaus, wenn nach theatralischer Aktion wieder ein Kreisel in Gang gesetzt ist. Der Höhepunkt ist das Werfen der Kreisel, was, nach den Gesichtern der Akteure zu urteilen, das Schwierigste ist. Die Kreisel werden aus einigen Metern Entfernung auf die Platte geschleudert, wo sie wiederum ihre endlosen Kreise ziehen. Auch ein Affe wird vorgeführt. Er darf ein paar Kokosnüsse von einer Palme holen.

Cherating hat sich im Übrigen gemausert. Einige der unscheinbaren Hütten am Straßenrand haben sich in Souvenirläden verwandelt. Man kann dort unter Anderem verkleinerte Versionen der Kreisel kaufen. Die Frage bleibt allerdings: warum gerade in Cherating? Kampongromantik am Straßenrand?

Die Aufmerksamkeit der Gruppe verlagert sich auf unsere Kinder. Man fragt sie, was sie, leicht geschürzt und braungebrannt wie sie sind, hier mitten in der Schulzeit im fernen Malaysia tun. Ein übersprudelnder Sassi stiehlt den kreiselschleudernden Edelmalayen schließlich ganz die Schau. Er erzählt von seinen unpauschalierten Erlebnissen auf Tioman.

In der Nähe soll sich ein Club Méditerranée mit einem schönen Strand befinden. Vielleicht, denken wir,  löst sich dort das Rätsel von Cherating. Wir wandern also entlang der Landstraße, um zum Clubgelände zu gelangen. Nach einer dreiviertel Stunde treffen wir auf einen schnurgeraden Strand. In nobler Abgeschiedenheit befindet sich dort die Anlage des Clubs, eine Luxusburg aus ineinander verschachtelten und aufeinander geschichteten Kampongelementen. Zu nahe dürfen wir ihr nicht kommen. Der Torwächter pfeift uns sofort zurück. Man kann sich also fast wie zu Hause fühlen.

Lange hält es uns nicht an diesem ungastlichen Ort. Der Strand entspricht durchaus nicht dem, was man hierzulande beanspruchen kann. Im Gegensatz zu Cherating ist er schmal und sehr steil, wodurch die Wellen kurz und heftig brechen. Kein Mensch badet außer uns. Auch im Club scheint nicht gerade sprühendes Leben zu herrschen. Der Clubstrand ist genauso leer wie der unsrige. Wahrscheinlich baden sie dort im Schwimmbad. Hier ist das Rätsel von Cherating also auch nicht zu lösen.

Am frühen Nachmittag kehren wir, des öden Strandes müde, ins "lebhaftere" Cherating zurück. Die Sonne zeigt mehr als je zuvor, was sie in diesen Breiten vermag. Der Rückweg wird zur Qual. "Daheim" erholen wir uns im Travellersverschlag bei Tee und Spezereien. Danach genießen wir die ruhige Nachmittagsstimmung an "unserem" Strand. Einige Einheimische und Travellers sind da. Man kann von Strandleben sprechen.

Mit tiefer gehender Sonne strebt man zurück zum Futternapf im Kampong. Die Travellerschar wartet an den langen Tischen und ist gespannt darauf, was sich die Gastgeber diesmal ausgedacht haben, um sich Freude an unserem Appetit zu verschaffen. Das Mahl, das mit allerlei tropischen Zutaten versehen ist, lässt wieder nichts zu wünschen übrig.

Abends Travellergespräche. Ein junger Italiener, einer der seltenen Weltenbummler dieser Nation, unterhält die Gesellschaft bis spät in den Abend hinein. Er berichtet lebhaft von seinen jahrelangen Reisen auf allen fünf Kontinenten und macht sich über die mangelnde Abenteuerlust seiner Landsleute lustig. Wenn er zwischen seinen Reisen wieder einmal einen Versuch gemacht habe, in seinem lombardischen Heimatdorf zu leben, sei er bereits nach wenigen Wochen wieder reif für weitere Abenteuer gewesen. Mit von der abendlichen Partie ist im Übrigen ein Heer von Moskitos, die man erst zu spät mit Räucherspiralen vertreibt. Allgemeines Jucken und Kratzen ist die Folge.

Erstmals schlafen wir auch unter Moskitonetzen. Es ist angenehm "kühl" im Bungalow – wir haben die Fenster geöffnet. Die malayischen Nachtgeister verschonen uns aber. Wahrscheinlich sind sie nationalistisch.

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Auf der Suche nach dem verlorenen Paradies – Tagebuch einer Rucksackfamilienreise durch Malaysia im Jahre 1985 Teil 8

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27.3.1985

Morgens stehen allerlei Thermoskannen mit heißem Wasser bereit. Wir können damit nicht nur, wie geraten, unseren eigenen Tee zubereiten, sondern auch noch den unabdingbaren Vorrat für die Reise auffüllen. Anschließend findet das Frühstück wieder in der Bäckerei unter dem Hotel statt. Das Gepäck lassen wir zunächst einmal im Hotel.

Die Befürchtung, wir könnten wesentliche touristische Aspekte von Kuantan übersehen haben, treibt uns auf die Suche nach dem lokalen Tourist-Office. Zufällig verhandelt dort gerade jemand über die Einreise in den Nationalpark Taman Negara, von dem wir unterwegs immer wieder gehört haben. Nach Gerüchten, die in Travellerskreisen kursieren, soll man ihn zur Zeit eigentlich nicht besuchen können. Wie sich nun herausstellt, ist es doch möglich, muss aber beim zuständigen Ministerium in Kuala Lumpur besonders beantragt werden. Dagegen ist nichts einzuwenden, wenn es, wie hier, durch das Tourist-Office und dazu noch alsbald geschieht. Der freundliche Manager setzt Telefon und Telexgerät in Bewegung und verkündet nach erstaunlich kurzer Zeit, dass wir am übernächsten Tag einreisen können. Punkt 14 Uhr müssten wir an einer Anlegestelle in Tembeling, einem kleinen Ort im Zentrum der Halbinsel sein, von wo uns ein Boot sechzig Kilometer in den Dschungel fahre. Für die Kinder, so verkündet er stolz, habe er eine kostenlose Bootsfahrt erreichen können.

Das gibt uns Zeit für Cherating. Schon vor hunderten von Kilometern, an der Grenze, hat man uns diesen Ort in einem Atemzug mit Tioman empfohlen. Also packen wir erwartungsfroh unsere sieben Sachen und begeben uns zum Busbahnhof. Abfahrt ist jede Stunde. Cherating, über das wir nichts wissen, scheint ein bedeutender Ort zu sein.

Ein Bummelbus, der an jeder Ecke hält, bringt uns etwa vierzig Kilometer weiter nach Norden. An einer nicht weiter auffälligen Stelle hält er. Der Schaffner verkündet, wir seien in Cherating. Wir steigen aus, der Bus fährt weiter und wir stehen alleine mitten in der Landschaft. Außer ein paar Kampongs unter Kokospalmen ist nicht viel zu sehen, kein Strand, keine spektakuläre Landschaft. Wo ist Cherating?

Am Stamm einer Palme finden wir ein leicht lädiertes Schild, das auf eine Unterkunft hinweist, die uns schon an der Grenze genannt wurde. Offensichtlich sind wir am richtigen Ort, es fragt sich nur warum. Wir folgen dem Schild. Schon nach wenigen Metern verläuft sich der Weg zwischen den Kampongs. Als wir etwas verunsichert in einem der Häuser nachfragen, bedeutet man uns, das wir das Ziel erreicht hätten, eben dies sei der gesuchte Ort. Ein Bett sei allerdings nicht frei. Dennoch weist man uns nicht ab, sondern ist höchst bemüht, uns anderweitig unterzubringen. Man fragt bei Verwandten in der Nachbarschaft nach. Von dort kommt der Dolmetscher, ein großer älterer Engländer im Sarong, weißhaarig, hager, mit mächtigem weißem Bart und nacktem Oberkörper – George Bernard Shaw in Tropenausgabe. Er erklärt, dass wir die erste Nacht im Nachbarkampong schlafen können. Dann werde ein Bungalow frei.

Wieder einmal vertreiben wir einen dienstbaren Kostgänger. Der alte Engländer – er gehört offenbar zum Inventar des Hauses – räumt sein eigenes Zimmer. Wir bekommen zwei Doppelzimmer am Rande des riesigen Hauptraumes, abgetrennt von diesem durch eine jener Wände, die nicht bis an die Decke gehen. Man legt großen Wert auf Sauberkeit. Den blitzsauberen Hauptraum dürfen wir nicht mit Schuhen betreten. Er ist etwa hundert Quadratmeter groß, spärlich möbliert, aber mit einem Fernseher und dazugehöriger Sitzgruppe ausgestattet. So wohnen wir denn einmal in einem Kampong, dem einstöckigen auf Pfählen stehenden traditionellen Holzgebäude, und im wahrsten Sinne des Wortes unter einem Dach mit einer malayischen Familie. Die Kinder fühlen sich sofort zu Hause. Sie springen um den Kampong herum und kümmern sich um eine junge Ziege, die eine Verletzung am Fuß hat.

Wir werden weiter in die Regeln von Cherating eingeführt. Die Verpflegung – man bietet Halbpension – erfolgt im benachbarten Kampong. Dort hat man für die Travellers einen Verschlag mit langen Tischen angebaut, in den man uns hineinbittet. Sogleich bietet man uns Tee und Bisquits, gebackene Hörnchen mit Fleischfüllung und Bananen in unbegrenzter Menge an, ein ständiger und kostenloser Service, der praktisch auf Vollpension hinausläuft. Mit stetem Lächeln und aufmunternder Freundlichkeit werden wir geradezu genötigt, ordentlich zuzupacken. Jeder Biss scheint den Wirtsleuten ein persönliches Vergnügen zu bereiten – ein erstaunlicher Mangel an gastronomischer Professionalität, wenn man bedenkt, dass die Häufung von Reisenden, wie hier, in der Regel regelmäßig den gegenteiligen Effekt erzeugt.

Wir begeben uns zum Strand. Er liegt nicht etwa vor der Haustür, wie man angesichts der "Berühmtheit " von Cherating erwarten könnte. Zuerst ist ein sumpfiger Kokospalmenwald zu durchqueren, in dem einige verlassene und verkommene Kampongs stehen. Der Sumpf resultiert aus den Abwässern der Kampongs, die direkt in den Sand abgelassen werden. In Bodenvertiefungen treten sie wieder an die Oberfläche. Manchmal bilden sie Tümpel, in denen eine große Zahl kleiner springender Fische lebt. Als wir uns nähern, erheben sie sich in einer großen Wolke und fliehen davon.

Der Strand ist wenig spektakulär, eine lange flache Bucht, die auf der einen Seite in niedrige Felsen übergeht. Vermutlich sind solche Buchten an dieser Küste zuhauf zu finden. Unmittelbar am Strand sind eine kleine, ausgestorbene Ferienkolonie aus winzigen Häuschen und ein Restaurant mit lauter Musik aber keinen Gästen. Überhaupt ist so gut wie kein Betrieb – off season Stimmung. Warum gerade Cherating? Die Lage ist es auch nicht. Wahrscheinlich ist es "nur" ein gut propagierter Familienbetrieb zur Bewirtung von Travellers.

Das Meer ist flach. Um untertauchen zu können, muss man eine längere Wanderung zurücklegen. Wir baden in den milden Wellen und spielen mit den Kindern Fangen im Wasser. Eine kleine Felsenbucht dient als Heimathafen.

Abends ist allgemeines Treffen im Verschlag. Zirka 20 bis 30 Travellers, meist junge Leute, finden sich ein. Reisende mit kleinen Kindern hat man hier noch nie gesehen, daher einige Verwunderung und Fragen. Man speist gemeinsam. Das Mahl ist opulent und reichlich, Grundton malayisch. Bei uns sitzt zunächst ein Paar aus Australien, das nicht eben vor Temperament sprüht. Die Unterhaltung ist stockend. Aufregendstes Thema ist – aus der Sicht des weiblichen Teiles des Paares – die Tatsache, dass Australiens bekanntester Song und gewissermaßen die inoffizielle Nationalhymne, "Waltzing Mathilde", vom Komponisten ins Ausland verkauft wurde – die Bedeutung des Ereignisses lässt sich erst ermessen, wenn man sich vorstellt, "Hänschen Klein" würde an einen japanischen Mischkonzern verkauft.

Ein junger Deutscher berichtet von Hakenwürmern, die er sich beim Barfusslaufen – auf Tioman, wie er meint – zugezogen habe. Jetzt muss er am Tag 20 verschiedene Tabletten schlucken, um die kleinen Tiere daran zu hindern, durch die Blutbahn ins Gehirn vorzudringen, wo sie offenbar einiges Unheil anrichten können. Sie sollen sich insbesondere in der Nähe von offenen Toiletten aufhalten. Nachdenklich betrachten wir danach unsere eigenen Füße und rekonstruieren unsere Toilettenbesuche. Wir meinen, immer Schuhe getragen zu haben. Dott ging gerne barfuss, hoffentlich nicht auch auf die Toilette.

Der Rest des Abends ist zu einem erheblichen Teil mit dem Versuch ausgefüllt, die Kinder vom malaysichen Fernsehen weg und ins Bett zu bekommen. Die Erfinder des Kampong haben nicht mit den modernen Medien gerechnet. So nimmt man, da die Wände nicht bis zur Decke gehen, im Schlafzimmer am Fernsehgeschehen im Hauptraum teil.

Man lädt uns ein, mit vor dem Fernseher Platz zu nehmen. Es läuft ein amerikanischer Film mit Untertitel – Weltkultur im Kampong. Amerika beherrscht überhaupt den Bildschirm. In den malaysichen Tageszeitungen werden die neuesten Episoden der Endlosserie "Denver Clan" regelmäßig in großer Aufmachung besprochen. Die Nation leidet mit Christel und Blake. Wie lange wird sich die weiche malayische Seele halten gegen die permanenten Attacken einer Alexis auf Takt und Scham?

In unserem Kampong ist die europäische und asiatische Seele vorerst noch harmonisch vereint. Die Herrin des Hauses, eine freundliche Malayin mittleren Alters, liegt neben dem Riesen aus England, der sie gelegentlich streichelt, auf dem Sofa. Er selbst hat den Sanftmut der Malayen angenommen. Sein ganzes Wesen ist Abgeklärtheit und Weichheit, allerdings von der bewussten und gewollten Art, die einem Europäer wohl allein möglich ist. Peinlich achtet er darauf, dass die Regeln eingehalten werden, vielleicht zu peinlich. Nach dem Waschen – draußen unter der Himmelsdusche – habe ich vergessen, meine Schuhe auszuziehen. Sofort ergreift er vorwurfsvoll schweigend den Besen und kehrt mir nach. Schmutz war wohl kaum wegzukehren, aber der Regelverstoß.

Die Nacht ist heiß und unruhig. In unserem Zimmer steht die Luft. Es fehlt ein Ventilator. Dennoch hat man uns gebeten, das Fenster nicht zu öffnen – aus Angst vor nächtlichen Einsteigern. Die asiatische Seele denkt dabei vermutlich nicht nur an menschliche Störenfriede. Wir halten uns an die Regeln und bringen den malayischen Nachtgeistern ein schweißnasses Opfer dar. Draußen auf der nahen Landstraße donnern die ganze Nacht zahllose Lastwagen entlang. Sie transportieren abgeholzte Urwaldriesen, meterdicke Stämme, aus deren Holz die Vertäferung irgendeiner Chefetage in Amerika, Japan oder Europa gefertigt werden wird. Auch die Geister der westlichen Welt verlangen ihr nächtliches Opfer.

Der vollständige Text befindet sich auf der Seite IX Reisetagebuch Malaysia 1985

Auf der Suche nach dem verlorenen Paradies – Tagebuch einer Rucksackfamilienreise durch Malaysia im Jahre 1985 – Teil 7

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26.3.1985

Am Morgen klagen die Kinder über allzu große Naturnähe. Ameisen haben die Hütte heimgesucht und eine unruhige Nacht beschert.

Es heißt Abschied nehmen. Unser Abgang aus dem Paradies ähnelt dem von Adam und Eva – er findet unter Druck, Zeitdruck statt. In uninsularer Eile hetzen wir in der Frühe zu Nazri’s Strand zurück, von wo es – von wo sonst? – zum Festland geht. Unsere Seelenlage entspricht dem Zustand jener großen Kokospalme am Wegesrand, die über Nacht umgestürzt ist und nun mit ihrer prächtigen Krone im Wasser liegt.

Das Boot liegt schon „auf“ dem Strand. Wir haben gerade noch Zeit, unser Gepäck von den Polen zu holen und hineinzuklettern. Good bye Tioman, good bye deinen Stränden, Korallen, Dschungelbächen, tiefsinnigen Gesprächen, good bye der Palmenidylle, dem Dschungel, dem Tropenkonzert – good bye paradise.

Mit auf dem Boot sind Dott und John. Die Kinder finden bald weitere Bekannte, ein paar Deutsche, die sie auf der Insel kennen gelernt haben. Stolz betrachten wir im Vorbeifahren noch einmal „unsere“ Dschungelwand. Viel zu sehen ist leider nicht. Der obere Teil ist, ebenso wie die Berge im Innern der Insel, von dunklen Wolken eingehüllt. Dafür liegt sehenswerte „Landschaft“ diesmal über dem Meer. Hier türmen sich mächtige Wolkengebirge.

Ich habe einen abgasfreien Platz auf dem wenige Quadratmeter großen Dach des Bootes gefunden. Ein kühler Regenschauer zwingt mich allerdings kurzfristig, darunter Schutz zu suchen. Nachbar auf meiner luftigen Terrasse ist ein Engländer. Er ist Soldat, Ausbilder eines in Hongkong stationierten Gurkaregiments, das er zur Zeit in den Wäldern Malaysias in Überlebenstechnik und Dschungelkampf trainiert – Gelegenheit also nach den gesammelten eigenen Erfahrungen, den Fachmann „sachkundig“ zu befragen. Er berichtet, dass das Leben im Dschungel keinesfalls besonders schwierig sei. Es sei zwar recht feucht, wegen des allgegenwärtigen Schattens sei es aber nicht übermäßig heiß. Von der Tierwelt drohe praktisch keine Gefahr. Die meisten Tiere, insbesondere die Schlangen, verzögen sich aufgeschreckt durch die Bodenerschütterungen, die der Mensch verursacht, schon lange, bevor sie in Sichtweite kämen. Man bekomme daher allenfalls einmal eine Wasserschlange zu Gesicht, da diese die Erschütterungen im Wasser nicht spüren könne. Wasserschlangen seien aber völlig harmlos. Nachts könne man sich gegen versehentliche Kontakte mit gefährlichen Tieren schützen, indem man um sich einen Kreis aus Zweigen eines bestimmten Baumes lege. Die starken Ausdünstungen dieser Pflanze hielten jegliches Getier fern. Allerdings verursachten sie bei manchen Menschen schwere Allergien.

Das südchinesische Meer ist an diesem Tage eher pazifisch gestimmt. Die Meerfahrt ist ein einziges Vergnügen. Es gibt keine bleichen Gesichter und keine danieder gestreckten Traveller. Die Kinder turnen auf dem kleinen Boot herum und unterhalten die Reisenden. Als die kleinen Inseln vor der Küste in Sicht kommen, wissen wir, dass wir auch von Piraten verschont geblieben sind. Angeblich sollen die Piraten, die ihr Unwesen im nördlichen Teil des südchinesischen Meeres treiben und dort insbesondere die Vietnamflüchtlinge überfallen, mit ihren Schnellbooten gelegentlich auch in diesen Breiten auftauchen. Mit einer gewissen Erleichterung fahren wir daher in den geschäftigen Fluss ein, in dem es von Seelenverkäufern nur so wimmelt. Teilweise sind fünf Boote seitlich aneinander geparkt. Bald haben wir wieder festes Land unter den Füßen.

In der Mittagshitze ist zunächst der Weg in die Innenstadt von Mersing zu bewältigen. Dort beginnt unter Beteiligung der einheimischen Bevölkerung ein großes Palaver über die weiteren Verkehrsverbindungen. Gibt es einen Bus nach Norden, fährt er noch am gleichen Tag, nachmittags, abends? Jeder hat andere Informationen. Es gilt Abschied von den Travellers zu nehmen, von Dott vor allem und John.

Wir lassen uns zunächst einmal in einem Restaurant nieder, genießen eine heiße chinesische Suppe und feiern anschließend ein wahres Ananasfest. Von dort gehe ich mit Sassi auf die Suche nach einer Busstation. In den Läden, in denen wir Informationen zu erhalten versuchen – Geschäftsleute können in der Regel am besten Englisch – gibt es alles, von der Zange über Töpfe bis zu jungen Enten. Dicht gedrängt piepsen letztere in einem flachen Korb, der am Boden steht. Sassi fragt gleich nach dem Preis, der nach unseren Maßstäben verschwindend ist. Er ist fest entschlossen, eines der kuscheligen Tierchen  zu kaufen, notfalls von seinem Taschengeld. Nur mit Mühe gelingt es mir, ihn davon zu überzeugen, dass Enten keine besonders guten Reisebegleiter sind.

Entgegen allen Befürchtungen bekomme ich in einem Restaurant Tickets für einen Bus, der noch am gleichen Tag fahren soll. Einen genauen Zeitpunkt für die Abfahrt kann man zwar nicht sagen, wir sollen im Vorraum des Restaurants warten, bis er kommt. Also warten wir mit einigen Einheimischen, in jedes mögliche Schicksal ergeben.

Allzu lange lässt der Bus dann nicht einmal auf sich warten. Überraschenderweise weist er sogar einen beachtlichen zivilisatorischen Komfort auf – getönte Scheiben und eine Klimaanlage. Kann man sich gegen solche Annehmlichkeiten wehren? Tioman und das Paradies sind schon weit weg, jetzt stellen sich andere Probleme!

Erste Busfahrt in Malaysia. Unser Ziel ist zunächst einmal Kuantan, 250 Kilometer weiter nördlich. Das Küstengebiet, durch das die Straße führt, ist ziemlich dicht besiedelt. Überall finden sich, wie üblich unzusammenhängende, Kampongs. Nur selten gewinnt man den Eindruck einer geschlossenen Ortschaft. Die Malayen müssen einen gewissen Hang zur Absonderung haben. Es wäre interessant, zu wissen, was die sozialen Voraussetzungen dieser verstreuten Siedlungsform sind und welche Besonderheiten des gesellschaftlichen Lebens sie erzeugt haben.

Malerisch, wie man nach den Beschreibungen insbesondere regierungsamtlicher Provenienz erwarten konnte, ist die flache Küstenlandschaft nicht. Irgendwo weit außerhalb einer mittelgroßen Stadt machen wir 20 Minuten Rast auf einem größeren Asphaltfleck. Da man nichts weiter tun kann, füttern wir ein paar frei umherlaufende Ziegen mit Bananenschalen.

Gegen Abend erreichen wir Kuantan bei leichtem Regen. Ein Hotel ist bald gefunden. Wir wohnen, unseren Gepflogenheiten entsprechend, altchinesich, das heißt in einem weitläufigen Gebäude, das an einer lauten Straße liegt, nach allen Seiten offen ist, Zimmerwände hat, die nicht bis an die Decke gehen und leicht verstaubt ist. Wir sind die einzigen „Weißen“ im Hotel. Schon als wir nach einem Zimmer fragten, hat man uns erstaunt angeschaut.

Nach Abschluss der Duschzeremonien gibt es etwas zu Essen in der Bäckerei, die zum Hotel gehört. Auf unsere Frage nach einem Getränk empfiehlt man uns, Teebeutel zu kaufen und im Hotel heißes Wasser zu bestellen. Das sei wesentlich billiger, als draußen in einem Restaurant Tee zu trinken – irgendwie praktisch diese Chinesen.

Kleiner Rundgang durch die umliegenden Geschäftsstraßen, die Kinder toben noch etwas in den weitläufigen und verschachtelten Gängen des Hotels bis sie bettreif sind.

Wir machen einen weiteren Spaziergang durch die Stadt. Eine Straßengarküche lockt mit einem Pfannengericht. Der junge Koch gibt sich für uns besondere Mühe und zaubert, assistiert von seiner stolzen Mutter, mit artistischer Fingerfertigkeit aus allerlei Zutaten einen höchst schmackhaften Imbiss. Die Freude an seiner Tätigkeit steht ihm ins Gesicht geschrieben.

Ein Supermarkt ist noch geöffnet. Es gibt alles, was die Malaysier dringend benötigen: Honig aus Australien, Mineralwasser aus Frankreich, Popcorn aus Amerika. Ein Zentrum abendlichen Lebens können wir nicht finden, daher gehen wir früh zu Bett.

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Auf der Suche nach dem verlorenen Paradies – Tagebuch einer Rucksackfamilienreise durch Malaysia im Jahre 1985 – Teil 6

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25.3.1985

Am Morgen liegt das Schulboot am Landungssteg. Es bringt die Kinder von Guara für 14 Tage in ihre Schulquartiere auf der Hauptseite der Insel. Dort wohnen sie bei Verwandten und Bekannten. Die Kinder warten, sauber herausgeputzt, mit ihren besorgten Müttern am Pier auf die Abfahrt des Bootes. Allerlei Gepäck und Verpflegung muss untergebracht werden. Zwischen Bergen von Kokosnüssen und sonstiger Last sitzen die Kinder auf dem offenen Deck. Judi und die beiden Kleinen entschließen sich, die Gelegenheit zu nutzen und mit dem Schiff zurückzufahren. Sie gesellen sich zu den zierlichen Malayenkindern, unter denen sie wie Riesen aussehen.

Die wahren Dschungelenthusiasten wählen den Fußweg – schon eingedenk der hohen Wellen, in denen wir gestern gebadet hatten. Auch hatten wir die Dschungelfotos wegen der schlechten Lichtverhältnisse im Wald noch zurückgestellt. Sie mussten unbedingt nachgeholt werden. Das Boot – es ist von der üblichen Bauart – schaukelt aus der Bucht. Dott, die eigentlich mitfahren wollte, hat es verpasst, weil es früher abgefahren ist als geplant – auch das gibt es in Asien. Es sollte allerdings ihr Glück sein. Kurze Zeit später erscheint nämlich John und sucht – nicht ganz unbesorgt – seine eskapatistische Gemahlin, wozu er sich offensichtlich schon in aller Frühe auf die Beine gemacht hat.

Nach einem letzten Wellenbad machen Cinqui und ich sich ebenfalls auf den Rückweg. Wir durchqueren wieder die flache Bucht mit ihren Kokospalmen. Natürlich holen wir uns eine letzte Abkühlung in „unserem“ Fluss am Ende der Bucht. Es folgt der lang ansteigende Weg ohne Schatten. Die Sonne steht im Zenit. Schon bald sehnen wir uns wieder nach Wasser. Da der Weg weit oberhalb der Täler verläuft, ist Wasser auf dieser Seite des Aufstiegs rar. Später können wir es zwar hören, finden jedoch keinen Zugang. Endlich kommt der Dschungelpool. Er besteht aus einem kreisrunden Loch von etwa sieben Metern Durchmesser, ist zwei Meter tief und mit klarstem fließendem Wasser gefüllt. Wir nehmen darin ein ausgiebiges Bad.

Nach dieser Erfrischung ist der weitere Weg schon wesentlich angenehmer, zumal wir das schlimmste hinter uns haben und uns der Schattenzone nähern. Abseits des Weges entdecken wir das weich ausgewaschene Tal eines Wildbaches, der unter einem Gewirr von abgebrochenen Ästen und umgestützten Bäumen hindurchrauscht. Abenteuerliche Lianen spannen sich hier sogar quer über das Flussbett. Es folgt der steile Abstieg über Stock und Stein. Jetzt öffnen sich aufregende Blicke in die Tiefe, etwa entlang der Schneise, die ein gestürzter Urwaldriese irgendwann einmal geschlagen hat. Überhaupt ist es die Gemengelage von toter und lebender Natur, die einen so berührt, vielleicht, weil sie deutlich macht, wie einseitig unser Bild von der Natur ist. Es ist sehr von den „aufgeräumten“ Kulturlandschaften Europas geprägt. Mehrfach rasten wir am Rande eines kleinen Baches, kühlen uns die Füße und staunen.

Viel zu schnell ist alles wieder vorbei. Noch einmal eröffnen sich Ausblicke, von denen man das Ganze der durchstiegenen grünen Wand mit den hellen Stämmen der Riesen überblicken kann. Die Dorfmoschee ist erreicht, dann folgen Kulturlandschaft, Häuser und die flache Bucht. Es bleibt noch der heiße Gang zu Nazri’s, der uns sehr lang erscheint.

Vom Rest der Familie ist dort nichts zu sehen. Wir warten am Strand, gehen dann in Richtung ABC-Strand auf Suche. Von dort kommen uns Judi und die beiden Kleinen bereits entgegen. Sie berichten von einer grandiosen Fahrt entlang den unzugänglichen Steilküsten der Insel und von reichlich Seekrankheit bei den malayischen Schulkindern.

Nachdem der Hüttenbann in Guara gebrochen wurde, entschließen wir uns, tiefsitzenden Sehnsüchten folgend, die letzte Nacht im Paradies zu verbringen, wo es natürlich nur Hütten gibt. Damit emanzipieren wir uns endlich von Nazri, der uns jetzt wie der letzte Außenposten einer fragwürdig gewordenen westlichen Zivilisation erscheint. In der malerischen Kolonie am Rande des Paradiesbaches finden sich tatsächlich zwei passende Hütten. Die Kinder bestehen nicht einmal darauf, dass sie in unmittelbarer Nachbarschaft stehen.

Den Abend verbringen wir philosophierenderweise im Restaurant am ABC-Strand bei einer neuen Variation des Malayendinners, das die Köchin vermutlich für europäisch hält: Fisch, Reis mit Soße, Gemüse – diesmal mit Bananen. Die Weltprobleme loten wir mit einem holländischen Travellerspaar aus. Das Gespräch, das bis tief in die Nacht geht, wird eine Art Stoffsammlung zum Thema „Soziale Funktion der Religionen“, die einem Religionssoziologen, hätte er mitgeschrieben, monatelanges Literaturstudium erspart hätte. In tiefster Finsternis suchen wir mit Petroleumlampen unsere Hütte auf für eine Nacht am Rande des Dschungels, in dem ein Riesenorchester aus allem möglichen Kleingetier ein lautstarkes Konzert veranstaltet.

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Auf der Suche nach dem verlorenen Paradies – Tagebuch einer Rucksackfamilienreise durch Malaysia im Jahre 1985 Teil 4

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23.3.1985

Früh morgens blökt eine Kuh mit großer Ausdauer in unser Fenster hinein.

Wir mieten bei Nazir Taucherbrillen und Schnorchel und entdecken eine neue Welt. Unmittelbar am Strand gibt es Korallen. Meist sind es ausgedehnte Korallenfriedhöfe. Dazwischen finden sich aber immer wieder intakte Stellen. Dort nehmen die merkwürdigen Gebilde zwischen Pflanze und Tier höchst bizarre Formen und kräftige Farben an. Alles ist übersät von leuchtenden Korallenfischen; dreißig bis vierzig Zentimeter lange sind dabei, die vollkommen durchsichtig sind, und Schwärme winziger Flimmerlinge, in die man eintauchen kann. Dazwischen ist alles, was sich eine überreiche Phantasie nur erdenken kann. Besonders beeindruckende Exemplare von Korallen finden sich hinter dem Felsvorsprung, der die Bucht abtrennt. Es sind große, einzeln stehende Knollen, auf deren Oberfläche sich Windungen von penibelster Genauigkeit befinden. Das Gehirn hat, um Oberfläche zu gewinnen, ähnliche Muster entwickelt.

Man gerät unweigerlich ins Grübeln über die Gründe für den Reichtum an Formen, den eine einzelne Gattung, ein besonderes Lebenssystem, hervorbringt. Unter Wasser scheint er sogar noch größer als darüber zu sein. Bei jeder Form fällt die Funktionalität geradezu ins Auge. Die immer gleiche Problemstellung, möglichst viel Oberfläche zu schaffen, um mit möglichst viel Kleingetier in Kontakt zu kommen, führt zu ganz unterschiedlichen, offensichtlich aber gleichwertigen Lösungen. Vielfalt und Funktionalität sind, wie sich zeigt, keine Gegensätze. Mancher moderne Architekt könnte daraus lernen.

Ein Schwarm junger Polen fällt ein, Studenten, die eine große Asienreise vor sich haben. Wir unterhalten uns eine Weile mit ihnen, die uns Hause so unendlich weit weg zu sein scheinen. Man muss weit reisen, um seine Nachbarn kennen zu lernen.

Nachmittags zieht es uns wieder in das Paradies. In der untergehenden Sonne tauchte ich am ABC-Strand lange in einem riesigen Korallengebiet, das sich entlang des Felsvorsprunges zieht. Der felsige Untergrund hat hier ein starkes Bodenrelief und dadurch eine weitläufige Unterwasserlandschaft mit tiefen Schluchten und jähen Felswänden gebildet. Anders als bei Nazir’s Strand sind die Korallen des Paradieses weitgehend unbeschädigt. Offensichtlich tut Nazir’s unternehmerisches Wachstum, das „natürlich“ vermehrte Abwässer zur Folge hat, den Korallen nicht gut. In der Dämmerung verblassen schließlich die Farben und ich muss von der  schweigend-bizarren Unterwasserwelt fröstelnd Abschied nehmen. Nachträglich denke ich, dass ich mich durch die bunte Glitzerwelt vielleicht doch zu weit habe hinauslocken lassen. Tiger gibt es sicher keine auf Tioman. Aber würde mir jemand 1000 DM für jeden gesichteten Hai bieten?

Das Abendmenu nehmen wir wieder im Restaurant des Paradieses ein. Mit leichten Variationen entspricht es dem vom Vorabend. Zu uns setzen sich Dott und ihr Ehemann John. John ist ein später Aussteiger und Friedensbewegter. Er denkt ernsthaft darüber nach, sich wegen der atomaren Bedrohung auf der nördlichen Erdhalbkugel nach Neuseeland zu verziehen, wo er glaubt der Hölle des Ost-Westkonfliktes entkommen zu können. Wir landen im Laufe der langen Unterhaltung  unweigerlich bei den allgemeinsten Fragen der Weltpolitik.

Es folgt wieder der nächtliche Marsch zu Nazri – langsam bekommen wir Übung darin, Pfade im Dunkeln aufzuspüren. Nachdem die Kinder im Bett sind,  sitzen wir noch ein wenig in Nazri’s Restaurant und sprechen mit den jungen Polen, die erstaunlich weltoffen sind. Wie weit sind wir doch noch davon entfernt, so mit unseren benachbarten Landsleuten sprechen zu können.

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Auf der Suche nach dem verlorenen Paradies – Tagebuch einer Rucksackfamilienreise durch Malaysia im Jahre 1985 Teil 3

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22.3.1985

Faulenzen am Strand. Die Kinder sind in ihrem Element. Man spricht mit Reisenden, darunter einem polnischen Offiziellen, vermutlich aus dem auswärtigen Dienst. Beim Zitronensaft in Nazir’s Restaurant stoße ich auf zwei Deutsche, die im Flugzeug nach Singapur neben mir gesessen hatten. Auch andere europäische Träume richten sich auf die ferne Tropeninsel. Man genießt die Ruhe und die Idylle.

Gegen Mittag machen wir einen Spaziergang entlang des Strandes, vorbei an malerisch verstreuten Kampongs, die zwischen allerlei blühenden Sträuchern unter Palmen stehen. Überall sehen wir freundlich lachende Gesichter.
Es herrscht  eine Atmosphäre weichen Friedens. Am späten Nachmittag unternehmen wir eine etwas längere Wanderung zum anderen Ende der Bucht. Alle 100 bis 150 Meter kommt ein Bach mit silbrig klarem Wasser aus dem Dschungel, über den kleine Holzbrücken führen.

Schließlich stoßen wir auf das Paradies. Es liegt am ABC-Strand. Malerisch hintereinander gestaffelt stehen hier einige A-förmige-Hütten in einem lockeren Palmenwald. Junge Leute liegen unter großen Bäumen in Hängematten am Strand, lesen, schreiben Tagebücher oder sinnieren über die Schönheit der Welt, eine stille und ausgeruhte Stimmung. Neben der kleinen Siedlung rauscht der unvermeidliche kleine Bach. Kurz vor seinem Austritt auf den Strand füllt er die Badewanne des Paradieses. Sie besteht aus einer Vertiefung in den glatten runden Felsblöcken, die groß genug ist, dass man im kühlen, rauschenden und kristallklaren Bergwasser untertauchen kann. Dazu plätschert die Paradiesdusche hinein, deren Wasser über Bambusrohre aus dem grünen Palmengewirr des Urwaldes geführt wird. Flugs ist die ganze Familie in der Dschungelbadewanne.

Derart erfrischt geht es dann in den Dschungel. Die Bucht endet hinter dem ABC-Strand mit einem Felsvorsprung aus aufgetürmten schwarzen Quadern. Dahinter führt ein schmaler Pfad steil in den dichtesten Wald hinein. Den Kindern wird es unheimlich, zumal es ziemlich dunkel ist. Cinque schimpft und vermutet überall Schlangen und sonstiges Ungetier, insbesondere Tiger. Zur Beruhigung muss ich zu drastischen Mitteln greifen. Ich verspreche jedem, der einen Tiger sieht 1000 DM. Das überzeugt. Die Kinder wissen gleich, dass die Wahrscheinlichkeit, einen Tiger zu finden, dann nicht sehr groß sein kann. Tatsächlich gibt es nicht einmal Moskitos in diesem Wald. So sind die Kinder denn auch bald beruhigt, schaukeln in den Lianen und klettern in den riesigen Baumwurzeln herum, unter denen der Weg durchführt.

Nach einigen hundert Metern beruhigt sich der Weg und führt steil hinunter zu einer kleinen Bucht. Ein Dschungelbach hat hier einige Dutzend Meter weißen Sand aus den Bergen gespült und zwischen den Felsen einen verwunschenen Strandwinkel geschaffen. Er gehört uns ganz alleine. Wir genießen die laue Abendsonne. Die Kinder stauen den Bach und lassen das Wasser danach mit großem Hallo wieder auslaufen. Leider zwingt uns der anbrechende Abend, den zauberhaften Ort alsbald wieder zu verlassen. In den Tropen wird es sehr schnell dunkel.

Der Weg durch den Wald ist inzwischen noch dunkler geworden. Als wir am ABC-Strand ankommen, ist es finster. Hier und da wird eine Hütte mit einer Petroleumlampe beleuchtet. Wir nehmen in dem einfachen Restaurant das Abendessen ein, das wir schon auf dem Hinweg bestellt hatten, Es gibt mehrere Gänge, Fisch, Reis mit Soße, Gemüse und Ananas, all das zu Preisen, die deutlich unter denen liegen, die Nazir verlangt. Die Kinder spielen mit einem jungen Affen, den sie mit Reiskörnern füttern. Er findet Gefallen daran und versorgt sich bald selbst. Sobald man ihm den Rücken kehrt, stibitzt er sich Reis vom Teller.

Wir gesellen uns zu „alten“ Bekannten von der gemeinsam durchlittenen Schiffsfahrt. Die Travellers haben meist eine Neigung zum Philosophischen und Kulturkritischen, genug Stoff also für angeregte Gespräche. So diskutiert man bis tief in die Dunkelheit über Travellerschicksale und über Gott und die Welt.

Durch diese Dunkelheit müssen wir schließlich den Heimweg über Brücken ohne Geländer und umgestürzte Bäume antreten. Diesmal haben wir überhaupt kein Licht. Die Nacht ist mondlos. Allein das Sternenlicht lässt den Saumpfad aufscheinen, der kaum mehr als ein Fuß breit ist. Wir machen die ungewohnte Erfahrung, dass auch solches Licht den Weg weisen kann. Wie viel Helligkeit die Sterne erzeugen, merkt man daran, dass wir vollkommen im Dunkeln tappen, wenn diese Lichtquelle unter dichten Bäumen oder Sträuchern ausfällt. Da hilft nur noch, den Wegrand mit den Füßen zu ertasten.

Nachdem die Kinder im Bett sind, gehen wir ein Stück zurück zum sogenannten blauen Restaurant. Dort treffen wir Dott, eine ältere amerikanische Lady mit verwittertem Gesicht voller Vitalität und Abenteuerlust, die ich bereits am Nachmittag am Strand kennen gelernt hatte. Sie ist mit ihrem Mann, einem Architekten, seit über einem halben Jahr auf Travellersweise unterwegs und bewegt sich unter lauter jungen Leuten. Begeistert erzählt sie von ihren monatelangen Trecks im Himalaya. Bei Dott sind eine junge englische Lehrerin, die in Singapur unterrichtet und eine Chinesin, ebenfalls aus Singapur. Alle sind sehr gesprächsfreudig. So entspinnt sich bis tief in die Nacht hinein – die müden Köche haben das Restaurant längst geschlossen – eine angeregte Diskussion, die von der Wirtschaftskriminalität bis zu allerlei Reiseerlebnissen verläuft. Mir gelingt es, die Chinesin, die demnächst eine Europareise antreten will, davon zu überzeugen, dass es in Europa abgesehen von der Schweiz, wo sie allein lohnende Reiseziele vermutete, noch andere Sehenswürdigkeiten gibt. Am Schluss findet ein allgemeiner Adressentausch statt. Fiona, die englische Lehrerin, lädt uns in ihr Haus nach Singapur ein. Wir haben die feste Absicht, dieser Einladung zu folgen.

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Auf der Suche nach dem verlorenen Paradies – Tagebuch einer Rucksackfamilienreise durch Malaysia im Jahre 1985 Teil 2

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21.3. 19 85

Provianteinkauf – es soll kein Obst auf Tioman geben – Bankgeschäfte etc. Dann geht es zum Hafen, wo großer Betrieb herrscht. Viele Holzboote liegen am Pier, aber auch ein „größeres“ Schiff, das vergleichsweise modern anmutet. Wir folgen den Travellers, die darin verschwinden. Die Überraschung liegt dahinter – eine kleine Holzschaluppe für uns, gerade groß genug, um zehn bis fünfzehn Leute aufzunehmen, die dazu noch auf dem Boden sitzen müssen. Tioman hat offenbar zwei Gesichter: Das größere Schiff fährt zum Luxushotel Merlin, die Travellers zu einen nicht näher benannten Strand mit dem Seelenverkäufer, der weit mehr als die doppelte Zeit braucht.

Die Fahrt geht durch den langen Flusshafen, dann vorbei an zahlreichen Inselchen vor der Küste, die mit Palmen bestanden und von kleinen weißen Strandbuchten umsäumt sind. Einsiedler- oder Paradiesträume kann man aber kaum pflegen. Die Inseln sind wohl zu klein, um Trinkwasser zu haben. Dann das offene Meer. Weit und breit ist kein Reiseziel zu erkennen. Erst nach längerer Zeit tauchen in der Ferne spitze, jähe Felsen auf – Tioman. Doch der Weg dahin ist erst noch durchzustehen. Die kleine Schaluppe schaukelt hilflos in den wachsenden Wellen. Brecher gehen über die Bordwand, bald auch mancher Mageninhalt. Auch mich hat es erwischt. Wellen und die Abgase des Schiffsmotors, die ohne Auspuff seitlich aus dem Schiff geführt werden, sind schließlich zuviel. Dann döst man stundenlang, auf verquere Weise zwischen allerhand Beinen und Gepäck auf dem Boden hingestreckt. Wann sind wir endlich in Tioman?

Die Kinder turnen indessen unbeeindruckt auf dem wackeligen Boot herum. Eigentlich sollte man besser auf sie aufpassen. Aber bei einigen Wellen hat man genug damit zu tun, sich selbst festzuhalten. Die Kinder unterhalten derweil einige weniger von der Seekrankheit befallene Mitreisende. Im Windschatten von Tioman beruhigt sich das Meer schließlich und gibt es etwas Erleichterung.

Das Boot tuckert noch eine ganze Weile an der Insel entlang. Vor uns breitet sich ein prächtiges Panorama aus: Strände mit Kokuspalmen, dahinter steil aufsteigend Berge mit dichtem Urwald, eine tiefgrüne Wand, aus der die weißen Stämme der Baumriesen herausblinken; über allem anfangs noch steile Felsen – hunderte von Metern hoch.

Nach über viereinhalb Stunden endlich Ankunft. Das Boot fährt in eine Bucht. Es gibt keinen Landesteg, man läuft direkt auf den Strand auf. Wir klettern über die Bordwand und waten mit erhobenem Gepäck durch das Wasser zum Ufer. Dort liegen bereits einige Travellers und pflegen der Muße auf dem Strand; es ist sehr einladend hier.

Kein Problem ist es, Unterkunft zu finden. Nazir, der Herr dieses Strandes mit offensichtlich gutem Draht zum Bootskapitän, erwartet uns bereits und bietet kleine A-förmige Hütten mit Palmdach unter Palmen an. Sie bestehen aus einem Raum, haben weder Wasser noch Möbel und natürlich keinen Strom. Wir nehmen zwei Hütten, keine zwanzig Meter vom Strand zum Preis von je 5 DM pro Nacht. Der Blick aus der „Tür“ geht auf das Meer und auf die weiter draußen liegenden Inseln.

Während die Kinder baden, gibt es reichlich Gelegenheit, sich von der strapaziösen Schiffsreise auszuruhen. Es herrscht totale Ruhe. Auf der Insel gibt es keine Autos. Die Bucht ist etwa einen Kilometer breit und nur wenige hundert Meter tief. An ihren beiden Enden türmen sich schwarze Felsquader und riegeln sie von den Nachbarbuchten ab. Kein Bedarf also für Fahrzeuge, man geht zu Fuß. Ein paar dutzend Malayen, die hauptsächlich von der Bewirtung der Travellers leben, wohnen hier in ihren Kampongs. Treffpunkt der Travelers ist Nazir’s Restaurant, das eine kleine Palette einfacher Mahlzeiten und – allerdings nur bis gegen Mittag – kühle Getränke bietet. Unser Strand wird nach dem touristischen Allroundunternehmer, der ihn beherrscht,  Nazir’s Beach genannt.

Gegen Abend gehen wir mit einigen jungen Deutschen in die Hauptbucht, wo sich Tekek befindet, mit wenigen hundert Einwohnern der Hauptort der Insel. Der Weg dauert etwa vierzig Minuten. Hier fahren gelegentlich Mopeds auf den schmalen Wegen. In einem bunt beleuchteten Restaurant verspeisen wir einen ebenso so bunten, weil mit allerlei Früchten dekorierten Fisch von beachtlicher Größe.

Der Heimweg wird zu einer nächtlichen Expedition. Es ist vollkommen düster. Der schmale Weg, der nur mit Mühe zu erkennen ist, führt über einige ziemlich schiefe, teilweise schon halb eingesunkene Brücken. Um die Dinge nicht allzu sehr zu erleichtern, fehlen immer wieder mal ein paar Bohlen. Wir behelfen uns zur Vermeidung eines ungewollten nächtlichen Bades in den sicherlich erfrischenden Dschungelbächen mit einer dürftigen Taschenlampe, die einer unser deutschen Begleiter mit sich führt, ansonsten mit Streichhölzern. Gelegentlich hilft der Schein einer Glühbirne von einem malayischen Haus. In der totalen Finsternis blendet allerdings selbst eine schwache Birne, sodass wir in unmittelbarer Nähe der Häuser überhaupt nichts mehr sehen. Die Birne wird, wie wir kurz darauf feststellen, von einem kleinen „Kraftwerk“ gespeist, das von einem Dieselmotor betrieben wird. Es arbeitet nur abends, was der Grund dafür ist, dass es auf der Insel kalte Getränke nur spät abends und morgens gibt.

Dann muss auch noch der Felsvorsprung, der „unsere“ Bucht abtrennt, überwunden werden. Im Dunkeln scheint er geradezu alpine Qualitäten aufzuweisen. Hände, Füße und Hosenboden sind gefragt.

Vielleicht war es die aufregende Rückwanderung im Dunkeln – die Kinder jedenfalls fühlen sich in der lichtlosen Strandhütte nun doch nicht recht heimisch. So nutzen wir die Möglichkeit, die uns Nazir bietet, in das „moderne“ Haus hinter dem Strand überzuwechseln, wo es, wenn das Kraftwerk in Betrieb ist, Strom und sogar einen Ventilator, dazu einen eigenen Waschraum gibt. Es ist das neueste und modernste Gebäude weit und breit. Nazir baut offenbar immer wieder mal ein Stück an, sodass ein Gebäude ähnlich den altmalayischen Langhäusern entsteht. Der Teil, den wir bewohnen, ist gerade erst fertig geworden und gibt mit seinen sauberen „Polstermöbeln“ den Kindern ein wenig das Gefühl, in geordneten Verhältnissen zu leben. Nazir setzt offensichtlich auf Wachstum. Man kann nur hoffen, dass seine unternehmerischen Ambitionen vom malayischen Phlegma begrenzt werden.

Der Ausklang des Tages findet, während die Kinder schon schlafen, am stockdunklen Strand statt. Die brechenden Wellen erzeugen weiße Bänder, die rasend schnell den Strand entlanglaufen. Dann geht es ins Bett. Der Schlaf wird gegen 1 Uhr unterbrochen, als die Temperatur in unserer modernen Behausung schlagartig ansteigt. Der Ventilator hat seine Tätigkeit einstellt, weil das Kraftwerk der Bucht abgestellt worden ist.

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Auf der Suche nach dem verlorenen Paradies – Tagebuch einer Rucksackfamilienreise durch Malaysia – Teil 1

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Singapur   20.3.1985

Was tun? Wir haben uns in Singapur getroffen. Judi und die Kinder sind aus Australien gekommen, ich selbst aus Europa. Aber der Plan, gemeinsam nach Bali zu fahren, hat sich zerschlagen. Die Flugreise für fünf Personen sprengt entgegen den Erwartungen das Familienbudget. Jetzt lässt die geographische Lage Singapurs am Ende einer zweitausend Kilometer langen Halbinsel nur noch eine Möglichkeit – nach Norden zu reisen. Also Malaysia. Es gibt nicht viel zu überlegen. Das schwere Gepäck bleibt in unserem chinesischen Hotel in der Altstadt von Singapur. Jeder bekommt einen kleinen Rucksack. Noch einmal Duschen mit Hilfe von Blechbüchsen im Hotel, Essen in dem kleinen Restaurant, das sich in seinem Untergeschoß befindet. Wo fährt der Bus nach Malaysia ab? Gleich um die Ecke! Dann also los: Familie mit kleinen Kindern, 6, 7 und 9 Jahre alt, auf Entdeckungsreise in Südostasien, kein Plan, kein Ziel.

Wir wissen nichts über Malaysia. Erste Hinweise gibt es an der Grenze. Zwei freundliche junge Männer in einer winzigen Holzhütte, die offenbar das Tourist Office sein soll, empfehlen nach einem Blick auf unser spärliches Gepäck Tioman – also auf nach Tioman. Es soll eine Insel im südchinesischen Meer sein.

Der Bus endet gleich nach der Grenze. Taxifahrer und Geldwechsler umlagern uns. Aber man muß die ersten Angebote abwehren. Wir laufen den kurzen Weg zum Grenzort Jahor-Baharu. Gut warm ist es. Eine Dusche wäre fällig. Obwohl es erst früher Nachmittag ist, fährt der nächste Bus, wie sich an der Busstation herausstellt, nicht vor dem nächsten Morgen. Das ist nicht mehr die brodelnde Millionenstadt Singapur. Die Dinge gehen hier einen gemächlicheren Gang.

Die Vorstellung, den restlichen Tag und die Nacht in J-B, wie die Einheimischen sagen, zu verbringen, einem Grenzkaff ein paar Kilometer von Singapur, klingt nicht gerade nach Abenteuer. Also treten wir dem Gedanken näher, ein Taxi nach Mersing, das immerhin 200 Kilometer entfernt ist, zu nehmen. Die Entscheidung wird uns dadurch erleichtert, dass es jetzt nur noch die Hälfte von dem kostet, was 500 Meter weiter, an der Grenze, verlangt wurde (40 statt 80 DM).

Ein freundlicher Inder fährt uns durch endlose Plantagenlandschaften – Ölpalmen und Gummibäume in langen Reihen, immer im gleichen Abstand. Dann folgen vielversprechende Dschungelgebiete, Berge, auf denen Riesenbäume in den Himmel ragen, wodurch die dichtbewachsenen Kämme merkwürdig licht erscheinen. Einmal hält der Inder an, zum Kauf von Melonen und Kokusnüssen.

Unser Fahrer erzählt von seiner Familie und seinem Leben in Malaysia. Vor zwanzig Jahren ist er als junger Mann aus Indien eingewandert, um eine Inderin aus der gleichen Kaste zu heiraten. Dass er Indien verlassen habe, sei die beste Entscheidung seines Lebens gewesen, meint er. Gott froh sei er, diesem armen, überfüllten Land mit all seinem Elend, den einschnürenden Lebensregeln und seinem unberechenbaren Klima entkommen zu sein. In Malaysia habe er ein ausreichendes Einkommen, besitze ein eigenes Haus in Mersing und könne der Zukunft seiner drei Kinder mit großer Hoffnung entgegensehen. Malaysia sei überhaupt in allem das Gegenteil von Indien, wohlhabend, dünn besiedelt, reich an Bodenschätzen; es gebe Wasser im Überfluss und die Menschen könnten sich freier bewegen.

Unter diesen Lobpreisungen erreichen wir nach dreistündiger Fahrt Mersing. Unser Fahrer sucht uns sogar noch das Hotel. Was er uns zuerst ein Stück außerhalb der Stadt am Meer anbietet, ist zauberhaft, sieht aber nicht nach unserem Geldbeutel aus. Wir sind froh, dass kein Zimmer frei ist. Dann findet er uns ein kleines Hotel in der Stadt, das von einer chinesischen Familie be-trieben wird. Das Zimmer ist Teil der Wohnung, vor unserem Einzug haben darin noch die Kinder der Wirtsfamilie gespielt. Jetzt werfen sie den blonden Neuankömmlingen neugierige Blicke nach.

Wir brechen zur Stadtbesichtigung auf. Mersing ist ein freundliches Provinznest mit einer Moschee, einem indischen und einem chinesischen Tempel und allen sonstigen Einrichtungen, die für die drei Hauptreligionen dieses Landes erforderlich sind. Wir machen einen nächtlichen Spaziergang zum Bootshafen, der sich in der Flussmündung befindet, und hören uns um nach Travellers-Informationen für die Reise nach Tioman. Nach dem Essen in einem Restaurant, das reichlich zu scharf geraten war, gehen die Kinder ins Bett; die Erwachsenen nach einem weiteren Bummel durch die schon ausgestorbene Stadt. Morgen werden wir endgültig festes Land verlassen.

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Theologie der Geometrie – Über den Platonismus in der modernen Architektur

Wer den Borobodur, den grandiosen Außenposten der europäisch-asiatischen Kultur aus dem 8. Jahrhundert auf der fernen Insel Java, besucht, der macht eine merkwürdige Erfahrung. In einem einzelnen Bauwerk ist hier ein Gedanke verwirklicht, der auch der Entwicklung des Grundstromes der modernen Architektur westlicher Prägung zugrunde zu liegen scheint.

Der Borobodur gilt wegen seines einzigartigen Baukonzeptes und der Qualität, mit der es ausgeführt wurde, als eines der bedeutendsten Bauwerke Asiens, ja der Welt. Merkwürdig an diesem riesigen Bau des Mahajana-Buddhismus, in den man nicht eintritt, sondern den man meditativ begeht, ist bereits die Kombination von Stupa, Mandala und Stufenpyramide. Völlig außergewöhnlich aber ist die Entwicklung seiner Bauformen, die in den unteren Partien von überbordendem Reichtum sind, nach oben aber immer einfacher werden. Die Erbauer des Borobodur ließen dabei nicht nur den Grundsatz der Kontinuität des Stiles außer Acht, der für Gebäude, denen ein einheitlicher Plan zu Grunde liegt, ansonsten so etwas wie eine Konstante der Baukunst ist. Sie stellten auch die architektonische Regel des europäisch-asiatischen Kulturkreises auf den Kopf, die oberen Partien eines repräsentativen Gebäudes als krönenden Abschluss auszubilden.

Die fünf unteren Stufen des Borobodur, welche die Grundform eines Quadrates haben, sind über und über mit feinsten Steinmetzarbeiten geschmückt. Die erste Stufe umlaufen lange, verwinkelte Reliefgalerien mit außerordentlich detailreichen Schilderungen aus dem Leben von Mensch und Tier, die mit komplexen Profilen und reichem Ornament gefasst sind. Ähnlich lebhaft geht es auf der zweiten Stufe zu, auf der Bilder aus dem Leben des historischen Buddha gezeigt werden. Auf den nächsten drei Stufen wird die steigende Vergeistigung der verschiedenen Buddhas auf dem Weg zur Erlösung dargestellt. Dem entspricht eine „Verfremdung“ der Darstellung durch zunehmende Formalisierung der Bildgestaltung und Sparsamkeit des Dekors. Nach den fünf quadratischen Terrassen, deren Grundriss in sich sehr differenziert ist, folgen drei einfache, kreisrunde Stufen, die fast keine Baudekoration mehr aufweisen. Hier befinden sich 72 glockenförmige Stupas aus gitterförmig angebrachten Steinen, in deren Halbdunkel man gerade noch die idealisierten Statuen von Bodhisattvas erkennen kann, jenen „Heiligen“ im Vorstadium des Buddhatums, die nach den Vorstellungen des Mahajana-Buddhismus dem Gläubigen auf dem Weg ins Nirwana behilflich sind. Abgeschlossen wird das Ganze von einem ganz einfachen zentralen Stupa, dessen vermutlich leeres Inneres dem Blick dem Betrachters gänzlich entzogen ist.

Auf diesen oberen Stufen wird der Besucher des Borobodur, zumal nachdem er die lebensprallen unteren Stufen passiert hat, auf merkwürdige Weise von einem Gefühl der Leere erfasst. Für den (religiös) unbefangenen Betrachter wirken diese oberen Terrassen geradezu als Fremdkörper. Unwillkürlich fragt er sich, ob das Bauwerk unvollendet geblieben ist, etwa weil den Erbauern die Mittel ausgingen; oder ob seine oberen Stufen nach den Zerstörungen, die der Borobodur – ähnlich Pompeii – durch die Einwirkungen des nahe gelegenen Vulkanes Merapi erlitt, unvollständig rekonstruiert wurden. Dabei fallen ihm die merkwürdig verfremdeten Gebäude ein, die im Nachkriegseuropa unter Weglassen der ursprünglichen stilistischen Einzelheiten (nur) nach den alten Maßen wiederaufgebaut wurden.

Das Gefühl der Fremdheit und der Leere, das er auf den oberen Stufen des Borobodur erfährt, kennt der westliche Besucher aber auch sonst vom Gang durch seine Städte. Auch hier findet er, wenn auch nicht im Raum sondern in der Zeit gestreckt, eine radikale Reduktion der Formensprache. Am Anfang des 20. Jahrhunderts. sind die bestimmenden Bauwerke der westlichen Städte noch durch einen großen Reichtum an Formen und Ornamenten und phantasiereiche Anspielungen auf die Stile einer zweieinhalbtausend-jährigen Architekturgeschichte gekennzeichnet. In den folgenden Jahrzehnten reduzieren sich die Gestaltungselemente auf die Grundformen der Bautradition. Die Details, die zusammen mit dieser Tradition entstanden waren, fallen zunehmend weg. Danach haben sich im Hauptstrom des Architekturentwicklung – mehr oder weniger variiert – die leeren geometrischen Grundformen und die Betonung des Strukturellen durchgesetzt. Diese Entwicklung weist eine so große Ähnlichkeit mit dem Baugedanken des Borobodur auf, dass man hinter beiden die gleiche Geisteshaltung vermuten kann.

Dass der Borobodur auf so ungewöhnliche Weise von der allgemeinen architektonischen Praxis abweicht, hat seinen Grund darin, dass seine Erbauer in ihm eine philosophisch-religiöse Idee darzustellen versuchten. Nach buddhistischer Vorstellung erlangt der Mensch Erlösung, indem er durch geistige Konzentration, zu dem ihm unter anderem das Mandala verhilft, aus den Niederungen des alltäglichen Lebens in einen Zustand höheren (Bewusst-)Seins emporsteigt. Durch Abtöten der Begierden, die ihn an der wahren Erkenntnis hindern, lässt er stufenweise alles Konkrete und Individuelle „unter“ sich. Auf diese Weise verlässt er die Sphäre der Kausalität, in der Werden und Vergehen herrscht, und tritt aus dem leidvollen Kreislauf der Wiedergeburten heraus, um ins Nirwana einzugehen, einem Zustand absoluter Veränderungslosigkeit, in dem er zu erhabener ewiger Ruhe kommt. Hinter dieser Vorstellung steht, wenn auch auf budhhistische Weise ins Nihilistische gewendet, die altindische Vorstellung von einer (höheren) Seinsform jenseits der Alltagswirklichkeit, ein Gedanke, der dazu führte, dass man diese (reale) Wirklichkeit schließlich als eine bloße Täuschung (Maya) ansah. Die lebendige Sphäre der Kausalität und der Alltagswirklichkeit wird am Borobodur mittels Figuren, Ornamenten und sonstiger architektonischer Differenzierungen dargestellt. Das entwicklungslose Absolute aber, das eigentlich nicht darzustellen ist, weil es seiner Natur nach überindividuell und formlos ist, wird durch die Reduktion auf die einfachsten Formen (nur) symbolisiert.

Aufs Erste gesehen scheint der Entwicklung der modernen Architektur, die, wie gesagt, in ihrer Hauptrichtung einen ähnlichen Weg gegangen ist, ein derart religiös – philosophischer Gedanke fern zu liegen. Die Reduktion der Form scheint hier neben vordergründig sozialkritischen Aspekten im wesentlichen durch fertigungstechnische und wirtschaftliche Gesichtspunkte bedingt. Und doch können diese „technischen“ Gesichtspunkte allein das Phänomen der modernen Architekturform nicht erklären. Dies zeigt schon die Tatsache, dass sie sich im Zeitalter der beginnenden Industrialisierung, in dem sie auch schon wirksam waren, nicht formreduzierend, sondern im Gegenteil sogar formdifferenzierend ausgewirkt haben. Die so genannte Gründerzeit etwa ist gerade durch einen besonders großen Reichtum an Stilen und Formen gekennzeichnet. Sogar die Wolkenkratzer Amerikas, von denen der Siegeszug der modernen Architektur ausging, sind anfangs noch ganz in den vielfältigen Formen der traditionellen Architektur gehalten. Im übrigen ist das Gesetz der Formreduktion auch in der neueren Zeit nicht unumschränkt wirksam. Selbst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, in dem es seine großen Triumphe feierte, gab es davon immer wieder prominente Ausnahmen. Es kann daher kein Zweifel daran bestehen, dass auch im Falle des Hauptstromes der modernen Architektur eine Idee im Spiel ist, die über die vordergründigen praktischen Aspekte hinausgeht. Diese Idee ist, dies zeigt bereits die Ähnlichkeit der Lösungen, offensichtlich verwandt mit der Idee, die dem Borobodur zugrunde liegt. Alles spricht dafür, dass es sich dabei um eine Spielart des Platonismus handelt.

Nicht anders als das indische Denken, das vermutlich Pate stand, unterscheidet auch der Platonismus zwischen einem unsichtbaren Wirklichen und einem unwirklichen Sichtbaren. Dieser Gedanke taucht in Europa bekanntlich erstmals um 500 v. Chr., also etwa gleichzeitig mit dem Auftreten Buddhas in Indien, bei Parmenides von Elea auf. Bemerkenswerterweise enthält er schon hier ein Erlösungsmotiv, die Vorstellung nämlich, dass mit dem Erkennen des „Wirklichen“ ein Aufstieg vom irdischen Dunkel in eine himmlische Helle verbunden sei. Ein knappes Jahrhundert später brachte Platon diesen Gedanken in seiner Ideenlehre auf den Punkt. Nach dieser Lehre, die Platon exemplarisch in seinem berühmten Höhlengleichnis darlegte, ist die Welt, die wir für wirklich halten, nur der Abglanz von Ideen, welche die eigentliche Wirklichkeit sind. Im „Symposion“ heißt es in einer erstaunlichen Parallele zum buddhistischen Denken in Bezug auf die Idee des Schönen – um diese geht es im vorliegenden Zusammenhang – , sie kenne kein Werden und Vergehen, kein Wachsen und Verblühen und auch keine Bilder. Das Schöne spiegele sich vielmehr ewig in sich selbst. Auch bei Platon, der mindestens ebenso sehr Theologe wie Philosoph war, findet sich das Erlösungsmotiv. Denn wer die Idee des Schönen erschaut, soll unsterblich werden (was bei Platon, der auch von der Seelenwanderung ausgeht, ebenfalls das Entrinnen aus dem Kreislauf der Wiedergeburten bedeutet). Seit Platon „geistert“ diese Wirklichkeitsvorstellung in allen möglichen Varianten durch das europäische Denken. Unsere Geistesgeschichte ist weitgehend eine Abfolge wiederkehrender Platonismen und realistischer Gegenreaktionen, wobei man im mittelalterlichen Universalienstreit, – dies zeigt, wie weit man die Dinge „verdrehen“ kann – ausgerechnet die platonisierende Position als Realismus bezeichnete.

Der Platonismus hat naturgemäß auch die Ästhetik, die Lehre von den Erscheinungsformen (des Schönen), beeinflusst. Dem entsprechend hat man – ähnlich wie im Falle des Borobodur – auch im Abendland versucht, die idealistische Wirklichkeitsvorstellung zu vergegenständlichen. Es lag nahe, dass man sich dabei auch des Stilmittels der Formreduktion bediente. Schon Parmenides vergleicht das anfangs- und endlose (wahre) Sein mit der Kugel als dem perfekten und einfachsten Körper. Platon stellt vor allem in seinem Spätwerk immer wieder Beziehungen zwischen den einfachen geometrischen Formen bzw. Zahlen und den Ideen her. Im „Timaion“ zieht er zur Bezeichnung des Vollkommenen Kugeln und Kreise heran. Von diesen wird die Vorstellung von Vollkommenheit auf die Körper übertragen, welche in enger Beziehung zur Kugel stehen. Dazu gehören insbesondere die fünf regelmäßigen geometrischen Körper, die von der Kugel einbeschrieben und umschrieben werden (Tetraeder, Würfel, Oktader, Pentagondodekaeder und Isokaeder). Da Platon mit Hilfe dieser Körper die Elemente und ihre Eigenschafen zu erklären versuchte, was, wie sich leicht vorstellen lässt, nicht ohne einige dogmatische „Anstrengungen“ – um nicht zu sagen Verdrehungen – abgehen konnte, wurden sie als „platonische Körper“ bezeichnet.

Von je her hat sich der idealistische Gedanke der Betonung einfacher geometrischer Formen auch auf die Architektur ausgewirkt. Er ist die Grundlage der regelmäßig wiederkehrenden Architekturströmungen, die wir als Klassizismus bezeichnen. Bis in das 20. Jahrhundert ist die Herrschaft des idealistischen Klassizismus freilich nie unumschränkt. Er wird immer durch Gegengewichte und konträre Bewegungen gemildert, die ihren Formenschatz vor allem der Natur entlehnen – man denke an die Figuren und die Pflanzenornamente, die sich etwa an antiken Tempeln finden, welche ihrerseits das Grundmuster der Klassizismen abgegeben haben. Die vormoderne Architekturentwicklung Europas ist dadurch gekennzeichnet, dass mal die naturnah-individual-isierenden, mal die mathematisch-typisierenden Aspekte der Form betont werden, die Form selbst aber immer beide Elemente enthält. Die (bloß) abstrakte Form hat in der Architektur, wenn man einmal von Sonderentwicklungen wie Pyramiden absieht, erst Anfang des 20. Jahrhunderts die Oberhand gewonnen. Seitdem bezieht die Hauptströmung der Architektur ihre Grundformen aus den platonischen Körpern.

Diese Entwicklung ist, auch wenn sie keinesfalls zwingend ist, kein Zufall. Sie ist Ausdruck der mathematisch-wissenschaftlichen Weltsicht der Neuzeit, in der Zahlen und geometrische Formen beherrschende Faktoren sind. Die platonischen Körper haben beim Entstehen dieser Weltsicht von Beginn eine wichtige Rolle gespielt. Schon Kepler, einer der Begründer des mathematisch-wissenschaftlichen Denkens, versuchte das neuzeitliche (heliozentrische) Weltsystem mit Hilfe der platonischen Körper zu erklären, was zu jener merkwürdigen Mischung aus Zahlenmagie und naturwissenschaftlich-mathematischem Denken führte, welche die Vorstellungswelt am Anfang der Neuzeit noch kennzeichnet. Seine Nachfolger haben die Zahlen und ihre geometrischen Derivate endgültig zum Maßstab der Weltinterpretation gemacht. Insofern ist Platon mit einem gewissen Recht auch immer wieder als einer der geistigen Väter der modernen Weltsicht gesehen worden.

Eine Architektur, die auf einer solchen Grundlage ruht, hat „naturgemäß“ einen Preis. In dem Maße, in dem die Idee an die Stelle des Persönlichen und Individuellen tritt, stellt sich auch ein Verlust an „Menschlichkeit“ ein. Die vormoderne Architektur suchte ihre Form- und Proportionsmodelle wie bei den unteren Stufen des Borobodur im Menschen oder in der lebendigen Natur. Die antike Säule etwa und ihre Nachfolger von der Gotik bis zum Barock hatte einen Fuß, einen Leib und einen Kopf, wobei man auf die Gestaltung des Kopfes (dem Kapitell- von lat. caput = Kopf) besonders großen Wert legte. In ähnlicher Weise war meist auch das Verhältnis der Teile eines Gebäudes zueinander aufgefasst. In der Regel hatte es einen erdenschweren Sockel, einen wohlproportionierten Körper und einen eindrucksvollen Abschluss in Form eines Giebels, eines Turmes oder eines Dachhutes. Die Fenster wurden wie die Augen einer schönen Frau, die Türen wie ein ausdruckvoller Mund hervorgehoben. Dem entsprechend waren Gebäude, soweit sie gestalterische Ansprüche erhoben, regelrechte Baupersönlichkeiten, zu denen man emotionale Beziehungen aufbauen konnte. Selbst eine so stark typisierende Architektur wie die des Mittelalters war in großem Maße individuell. Wer gotische Kathedralen unter diesem Gesichtspunkt betrachtet, wird – allen Vorstellungen über die quasi dogmatische Strenge ihres Stiles zum Trotz – feststellen, dass man es bei diesen architektonischen Wunderwerken jeweils mit außerordentlich prononcierten Baucharakteren zu tun hat. Zur Individualität gehörte „natürlich“, dass Bauten, sieht man einmal vom strengen Klassizismus ab, auch „unwesentliche“ Ecken und Kanten hatten und dass sie geschmückt waren. Gerade die Tatsache, dass sie geschmückt wurden, zeigt, dass diese Gebäude die Zuneigung ihrer Betrachter und Benutzer suchten.

In der Moderne sind Natur und Mensch als Maß der Architektur weitgehend verloren gegangen. Die Säule ist zur ungegliederten Stütze geworden. An die Stelle des ausgearbeiteten Korpus eines Gebäudes ist die bloße Wand oder die Repetition von Fassadenelementen getreten. Fenster und Türen sind mehr oder weniger nur noch Öffnungen der Wand. Auf einen Kopf oder eine Bedeckung desselben wird häufig verzichtet (nichts macht den Verlust des Individuellen deutlicher als die Entwertung des Kopfes als des Teiles eines Organismus´, der ihn am deutlichsten von anderen unterscheidet und damit individualisiert). Dass bei dieser Auffassung von Architektur das Ornament keinen mehr Platz hat, ist nur konsequent. Wie auf den oberen Stufen des Borobodur hat man es inzwischen als „unwesentlich“ aus dem Repertoire der Bau“kunst“ gestrichen (bezeichnenderweise lautete das Credo Mies van der Rohes, einem der Gurus der Moderne: „Höchste Wirkung schließt Dekoration aus“). Ein ähnliches Schicksal erlitt die Regionalität des Architektonischen, die so etwas wie die geographische Variante des Individuellen ist. An die Stelle ist ein Weltstil getreten, was dazu führte, dass auf allen Kontinenten tendenziell gleich gebaut wird. Dem Mangel an Individualität entspricht, dass man zu den abstrakten Gebilden, die auf diese Weise entstehen, nur schwer emotionale Beziehungen aufbauen kann. Wirklich lieben kann man eben nur Individuen und nicht abstrakte Personen oder Dinge an sich.

Der Verlust an konkreter „Menschlichkeit“, der in der Unterbewertung des Individuellen liegt, ist typisch für den Platonismus. Schon im Buddhismus ist der Aufstieg des Einzelnen in die höheren Sphären mit einer Aufgabe seines Selbst verbunden. Das Nirwana ist – wie im Borobodur auf so unvergleichliche Weise in Stein ausgedrückt – das Aufgehen des Einzelnen in der Allseele. In ähnlicher Weise ist auch bei Platon das lebensvolle Individuum mit seinem Werden, Aufblühen und Vergehen und damit das Persönliche von vergleichsweise untergeordneter Bedeutung. Den Satz “Der Mensch ist das Maß aller Dinge“ etwa konnte Platon nicht akzeptieren. Dieses Motto, das wir heute als einen wesentlichen Bestandteil des humanistischen Erbes der Antike ansehen, ist paradoxerweise zwar durch Platon überliefert. Es findet sich bei ihm jedoch nur, weil er es in seinem Dialog „Protagoras“ als falsche Meinung des Sophisten dieses Namens zitiert. Dem entspricht, dass Platon auch in seiner Staatsphilosophie mehr Gewicht auf allgemeine Prinzipien als auf die Betonung der Rechte des Individuums legte, weswegen er zu einer nicht-demokratischen – um nicht zu sagen autoritären – Staatsauffassung kommt.

Bestätigt wird die Annahme, dass wir es beim Hauptstrom der modernen Architektur mit einer Spielart des Platonismus zu tun haben, durch den Umstand, dass auch hier, wenngleich etwas versteckt, das Erlösungsmotiv auftaucht. So wie die Absorption des Platonismus in das Christentum durch die Kirchenväter zur Trennung von Diesseits und Jenseits sowie von Leib und Seele führte, was zu einer tendenziellen Abwertung des individuellen (irdischen) Lebens einschließlich des Körpers als seines angeblich dürftigen Trägers und zu einer Vertröstung auf eine bessere spätere Existenz in einem idealen Großen Ganzen (etwa im Paradies) führte, werden wir auch durch die moderne Architektur auf eine angeblich höhere Wirklichkeit verwiesen. Das Gefühl der Leere und der Unwirtlichkeit, das einen bei der Begegnung mit modernen Gebäuden, Plätzen und Stadtvierteln so häufig erfaßt, wird hier durch die Verheißung kompensiert, dass man am Zeitgeist teilhabe. Dieser „Geist“ aber ist ein sprunghafter und schnelllebiger Abkömmling des Weltgeistes, von dem uns die idealistische Philosophie einschließlich ihrer politischen Varianten immer schon viel Erhebendes versprach. Er ist damit nichts anderes als eine Spielart des Erlösungsgedankens. Denn dem, der des Welt-Zeit-Geistes teilhaftig wird, wird versprochen, durch das Wissen um die Zusammenhänge von Geschichte und Gegenwart an der Erkenntnis der Zukunft zu partizipieren. Damit aber wird nicht weniger als die teilweise Erlösung von der Last der Schicksalsungewissheit in Aussicht gestellt, ein Mittel der Wirklichkeitsreduktion, mit dem sich der Mensch in den unterschiedlichsten Varianten schon immer getröstet hat. Einer derartigen Erkenntnis- und Erlösungsgewissheit entspricht denn auch die Tendenz zur Ausschließlichkeit in der modernen Architektur, die alle Attribute des Missionarischen hat. In der Verengung des Blicks, die daraus resultiert, dürfte auch der Grund dafür liegen, dass man das abstrakte Bauen wegen seiner egalitären Effekte trotz seiner humanen Leere für demokratisch halten konnte.

Damit schließt sich der Kreis. Sieht man alles zusammen – Abwertung des Individuellen, Vertröstung auf Erlösung durch Teilhabe an einer höheren Wirklichkeit und Missionseifer – dann zeigt sich, dass der Grundgedanke des Hauptstromes der modernen Architektur theologischer „Natur“ ist. Womit wir wieder beim Borobodur wären.

Zwischen Lido di Classe und Lido di Dante

 

Südlich von Ravenna, Dante’s einstigem Asyl, beginnt eine Reihe von Strandorten, die sich, kaum unterbrochen, über Milano Marittima und Rimini bis hinunter nach Cattolica zieht. In der Regel besteht der Kern dieser Marinas aus lieblos gebauten Hotelkomplexen längs einer Hauptstraße, welche der Küste folgt. Zahlreiche Querstraßen, nicht selten nur als solche benannt und durchnummeriert, führen auf der seeabgewandten Seite in Bungalow- und Reihenhaussiedlungen, in denen sich die Gebäude gleichen wie ein Ei dem anderen. In den Gärten sieht man vereinzelt Personen, die säuberlich Hecken schneiden oder Wege kehren. Auf der Seeseite führen die Traversalen zum flachen Strand, der durch eine unabsehbare Reihe von Bagnos in etwa gleich große Abschnitte geteilt wird. So weit das Auge reicht, ziehen sich Sonnenschirme und Strandliegen, farblich jeweils einem Bagno zugeordnet, in Reih und Glied den Strand entlang. Darauf und darunter liegen unzählige schlafende, schwätzende oder lesende Menschen, die ihr Heil in der Sonne suchen. In der Hauptstraße reiht sich ein Ladengeschäft an das andere. Die Verkaufsräume enthalten alles, was sich der Mensch an Nützlichem und Überflüssigem wünschen kann. Aufgeblasene bunte Schwimmutensilien aus Plastik quellen allenthalben bis auf die Straße hinaus. Abends flaniert hier gebräuntes Volk, füllt Gelaterias und Pizzerias, stellt sich und alles, aber auch alles, was es hat, zur Schau, schwatzt und schwänzelt und vertreibt sich die Zeit auf jede nur denkbare Weise. In den Spielsalons trifft sich die Jugend Europas. Gebannt sitzt man vor langen Reihen zappelnder Bildschirme. Apparate krachen und zischen, Kugeln rasen, elektronische Aggregate blitzen und listen erzielte Punkte auf. Man wähnt sich am Steuer rasender Rennwagen, im Cockpit von Flugzeugen und Raumschiffen, man schießt, kämpft und jagt – pausenlos, sich und andere.

 

Nördlich von Lido di Classe aber klafft eine große Lücke in der Reihe der Marinas. Bagnos und Strandschirme brechen plötzlich ab. Der flache, saubere Strand, den die Besucher der Bagnos vermutlich für naturgegeben halten, geht über in eine hügelige Dünenlandschaft, deren Wassersaum von Muscheln übersät ist. Dahinter erstreckt sich ein tiefer, dunkler Pinienwald. Hier herrscht eine Ruhe, die fast unwirklich erscheint.

 

Aus dem Hinterland ist dieser tote Winkel schwer zu erreichen. Die große Strasse, welche die Adriaküste sonst kaum verlässt, ist hier um mehrere Kilometer landeinwärts verschoben. Es gibt auch keine Stichstraße, die den Wald mit seinen uralten Pinien durchdringen und zum Meer führen würde. So kann man diesen Küstenstrich nur durch einen längeren Fußmarsch oder mit dem Fahrrad erreichen. Je weiter man sich von Lido di Classe entfernt, desto weniger werden denn auch die Sonnenanbeter. Schließlich finden sich in den Dünen nur noch hier und dort vereinzelte Menschen, die offensichtlich Einsamkeit suchen. Jeder Neuankömmling wird kritisch beäugt.

 

Auf halbem Weg zwischen Lido di Classe und Lido di Dante, der nächsten Sommermarina, wird der Strandweg durch einen Fluss unterbrochen. Bevor sich der Fluss mäandernd in das Meer wälzt, bildet er hinter den Dünen noch einige stille Gewässer, schilfumsäumte kleine Seen und Sümpfe, in denen sich allerhand Wasservögel tummeln. Im seinem trüben, langsam dahinziehenden Wasser schwimmen im Gruppenzickzack unzählige kleine Fische umher. Ein Schiffer senkt von einem Kahn ein flaches Netz in Tiefe, in dem die silbrigen Flitzer kurz darauf, aus ihrem Element gezogen, verzweifelt zappeln und in die Höhe springen.

 

Eine Brücke über den Fluss gibt es nicht. Wer dem Strand weiter folgen will, muss den Fluss durchwaten. Eine geeignete Stelle ist mit krummen Ästen gekennzeichnet. Am anderen Ufer gelangt man in eine Marina anderer Art. Verstreut in Gärten, in denen Wein, Tomaten und Pfirsiche wachsen, stehen auf dem Flussufer kleine ebenerdige, meist hölzerne Häuschen einfachsten Zuschnitts. Man sitzt unter Bäumen und unterhält sich. Eine Hauptstraße oder Geschäfte gibt es nicht.

 

Auf den Veranden der Hütten liegen Schlafsäcke und allerlei Gegenstände von Menschen, die lange unterwegs sind. Über einem Holzfeuer hängt an einer Kette ein Kochtopf. Auf dem Boden liegen um ihn herum junge Leute, die wilde Bärte tragen und tätowiert sind. In einem Pinienwäldchen sitzt in meditativer Haltung ein einsamer Heilsuchender. Nicht weit davon bilden Hunde und Menschen ein kaum zu entwirrendes Knäuel. Dazwischen spielen schmutzige Kinder. Eine Gruppe junger Männer kauert in einem Kreis. Einige schlagen Handtrommeln, die anderen lauschen andächtig, so als enthielten die endlos wiederkehrenden Rhythmen eine höhere Erkenntnis.

 

Nach dieser Siedlung sieht man nur noch wenige Menschen. Einige unbekleidete Männer stehen, die Hände in die Hüften gestützt, aufrecht in den Dünen und halten Ausschau. Einzelne streifen alleine durch den Pinienwald hinter dem Strand. Immer wieder bleiben sie stehen und blicken um sich.

 

Schließlich gelangt man nach Lido di Dante, wo wieder die Bagnos und das übliche Strandleben beginnen.

 

Es ist eine merkwürdiger Landstrich zwischen Lido di Dante und Lido di Classe. Früher war hier der Hafen von Classe, Standort der römischen Flotte, welche die Macht und die Herrlichkeit der einstigen Weltherrscher in der Osthälfte ihres Riesenreiches sicherte. Er ist versandet und von seiner früheren Größe ist nichts übriggeblieben. Ein Stück landeinwärts steht einsam das uralte Gotteshaus San Apollinare in Classe. Seinen weiten Innenraum bilden zwei würdige Reihen antiker Säulen, die so mächtig sind wie die Pinienstämme im nahen Wald. Auf der Stirnwand zeigt ein großes Mosaik den frühchristlichen Märtyrer auf einer paradiesischen Wiese inmitten friedlich grasender Schafe. Nicht weit davon ist heute der Vergnügungspark Mirabilandia. Dort stürzen sich die Bewohner der Marinas in die Abgründe einer kompliziert verschlungenen Berg- und Talbahn, fahren in wilder Wasserfahrt in die Tiefe und lassen sich in Kanzeln und Gondeln umherwirbeln. Abends starren sie bei rechnergesteuerter Musik gebannt in die geradlinigen Raumgebilde von Laserstrahlen. Schließlich kehren sie, geblendet durch ein turbulentes Feuerwerk, in ihre Marinas zurück.

 

Es ist ein Landstrich zwischen Lido di Dante und Lido di Classe, dessen Linien wundersam verwunden sind, ein Ort, an dem man sich sucht und sich verlieren kann. Hier verirrte sich einst auch einer der größten Gott- und Selbstsucher. Im dichten Wald von Classe stieß Dante auf eine Pforte mit der Aufschrift, wonach der, der sie durchschreite, alle Hoffnung fahren lassen soll. Er trat ein, durchmaß die neun Kreise der Hölle und fand nach Überwindung des Läuterungsberges sein Paradies.

Der Palazzo dei Diamanti in Ferrara

Wer dem Corso Ercole I. d’Este in Ferrara folgt, der vom mittelalterlichen Kastell der Herzöge schnurgerade aus dem verschlungenen Zentrum der Stadt führt, glaubt sich gelegentlich in eine jener Idealstädte der Renaissance versetzt, wie sie auf den perspektivischen Intarsienbildern im Chorgestühl mancher italienischer Kirchen zu sehen sind. Auf beiden Seiten der Straße befinden sich lang gestreckte Patrizierpaläste. Straße und Gebäudefronten bilden Fluchtlinien, die in eine endlose Tiefe zu führen scheinen. Ordnung und Klarheit beherrschen das Bild. 

Auf halber Stecke des Corsos, der aber dennoch zu nichts anderem zu führen scheint, liegt der Palazzo dei Diamanti. Schon durch seine weiße Fassade, über die sich ein leicht hell-roter Schimmer von Cipollinoadern zieht, fällt er aus dem Rahmen der Umgebung, die von Terracotta oder jenem braun-roten Backstein geprägt ist, mit dem in der Po-Ebene mangels Naturstein sonst meist gebaut wird. Darüber hinaus besteht seine Außenhaut – auch dies ist weit und breit ohne Beispiel – aus Tausenden von pyramidenförmigen Marmorquadern, die wie überdimensionale Edelsteine aussehen. Diese haben ihm den Namen „Palazzo dei Diamanti“ eingebracht. 

Das Gebäude wirkt, da es rechtwinklig über Eck gebaut ist, auch als Ganzes wie ein großer Kristall. Von der Ecke aus erblickt man zwei fast identische Fassadenflächen, die ohne wesentliche Untergliederungen jeweils rund sechzig Meter in die beiden Straßen hineinlaufen. Das Bauwerk liegt – schwer wie ein Eckstein, auf den es ankommt – auf der Kreuzung zweier großer Straßen. Wie jemand, auf den es ankommt, ist sich vermutlich auch der Bauherr Sigismondo d’Este, der Bruder von Herzog Ercole I, nach dem der Corso benannt ist, bei der Entscheidung vorgekommen, das Gebäude aufzuführen. Das Bewusstsein seiner Größe ist durch den fertigen Bau wohl noch verstärkt worden. Wahrscheinlich hat er im Laufe der Zeit immer mehr daran geglaubt, die Riesengeschosse des Palastes ausfüllen zu können, die für die Helden gebaut zu sein scheinen, deren Namen er und sein Bruder trugen. 

Der Habitus des Gebäudes vermittelt freilich den Eindruck, als haben seine Bewohner mit der Stadt und ihren Menschen nicht viel zu tun haben wollen. Die Öffnungen nach außen sind spärlich. Das gewaltige Eingangstor signalisiert schon durch die schiere Masse seiner Portalflügel eher Ausschluss als Einlass. Die Sechzig -Meter Fassaden, die jeweils nur sieben Fenster pro Stock aufweisen, wirken geschlossen. Dort, wo sie aufeinander stoßen, ist, ferraresischer Sitte entsprechend, zwar ein Balkon angebracht. Er ist jedoch so klein, dass er sich selbst dementiert. Schon die Größe der Pforte, die von Innen auf den Balkon führt, steht in keinem Verhältnis zu den Dimensionen der Gebäudeöffnungen, welche die Palastbewohner für sich ansonsten für angemessen hielten. Offensichtlich hatte man nie die Absicht, sich dort dem gemeinen Volke auszusetzen. Auch der spärliche Bauschmuck deutet an, dass die Palastbewohner nicht all zu viel nach außen kehren wollten. Neben dem dünnen Ornamentband, welches die beiden Geschosse trennt, finden sich außen nur vier verzierte Pilaster. Zwei von ihnen flankieren das Portal, die anderen beiden bilden den Eckpfeiler an der Schnittstelle der beiden Fassaden. An diesen wenigen Stellen freilich zeigt der Hausherr, wie hoch seine Ansprüche sind. Die Pilaster sind mit feinsten Renaissance-Reliefs geschmückt. Am Portal wird dabei (Ab-) Wehrhaftigkeit demonstriert. Dort sind im Wesentlichen Teile römischer Rüstungen aufeinander gestapelt. Was die Bewohner des Hauses sonst noch umtrieb, verraten die Pfeiler an der Palastecke. Auf einem der Reliefs sieht man geflügelte Halbpferde und Faune, die spiegelbildlich um eine Mittelachse aus Kandelaberelementen angebracht sind. In sinniger Fortführung dieser Symmetrie sind weiter oben Herkules und Venus abgebildet. Am Fuß des Pilasters sitzen drei missmutig dreinschauende Harpyien, denen, die vertikale Spiegelsymmetrie in die Horizontale wendend, oben drei nackte Menschen gegenübergestellt sind, welche offenbar den Genüssen des Lebens zusprechen. Man mag darüber nachsinnen, ob diese Dreiergruppen Pole einer Lebensphilosophie oder Wünsche und Befürchtungen darstellen. Gemessen an den riesigen Fassadenflächen sind diese Anklänge von Menschlichkeit freilich verschwindend. Vorherrschend ist eine kristalline Ordnung. Als Ganzes betrachtet hat der Palast daher etwas Abweisendes. Seine Massigkeit wirkt geradezu apologetisch. Es scheint, dass sich der Hausherr verteidigen will. Bei näherer Betrachtung wirkt die diamantene Fassade denn auch stachelig. Es ist, als habe sich dahinter jemand eingeigelt.  

First Price – Last Price – Balinesische Geschäfte

 

Der Käufer einer Ware oder einer Leistung sieht sich immer wieder mit der schwierigen Frage konfrontiert, ob feste Preise ein zivilisatorischer Fortschritt oder der Ausdruck der übermächtigen Position des Verkäufers sind. Schwierig ist die Frage, weil man einerseits froh darüber ist, bei einem Erwerbsvorgang nicht immer das komplizierte Spiel der Bildung des Preises aus Angebot und Nachfrage durchexerzieren zu müssen. Es ist ohne Zweifel komfortabel und damit ein in gewisser Hinsicht ein zivilisatorischer Fortschritt, wenn man sich nicht bei jedem Geschäft umständliche Gedanken darüber zu machen braucht, was die Sache oder die Leistung, die man benötigt oder auf die man ein begehrliches Auge geworfen hat, „wirklich“ wert ist. Andererseits wird man bei der Konfrontation mit festen Preisen aber auch das Gefühl nicht los, dass man als Marktteilnehmer nicht recht ernst genommen wird. Feste Preise laufen für den Käufer ja darauf hinaus, dass sich seine Möglichkeiten bei der Gestaltung eines Erwerbsgeschäftes auf die Alternative Kaufen oder Nichtkaufen reduzieren, was tendenziell die Position des Verkäufers stärkt. Merkwürdig ist in diesem Zusammenhang nun, dass der Einzelne bei der Bildung des Preises gerade in den Marktwirtschaften eine so untergeordnete Rolle spielt, die man gemeinhin als entwickelt bezeichnet. Wenn sich in dieser Form des Wirtschaftens also der Fortschritt manifestieren sollte, dann würde er weitgehend darin bestehen, dass man als Käufer zum Befehlsempfänger des Verkäufers geworden ist. Mit einer gewissen Wehmut erinnert man sich daher der tragenden Rolle, welche man beim Ringen um den Preis in weniger entwickelten Wirtschaftsystemen spielen darf – zum Beispiel in Bali:

 

Als ich Mitte der 70-er Jahre erstmals das zauberhafte Tropeneiland am Rande des südchinesischen Meeres besuchte, entschloss ich mich, als erstes eine Fahrt quer durch die Insel in den Norden zum Vulkan Mount Batur zu unternehmen, in dessen riesigen Krater man, wie ich gehört hatte, mit dem Auto fahren konnte, um unten in einem See in warmen Quellen zu baden. An einer geführten Tour im klimatisierten Jeep, die für harte Dollars an jeder Ecke des Touristenzentrums Kuta Beach angeboten wurde, hatte ich kein Interesse. Ich wollte auf eigene Faust durch die Insel fahren. Schließlich, so sagte ich mir, konnte man nur so in wirklichen Kontakt zum Inselvolk treten, dessen Liebenswürdigkeit, Sanftheit und Tiefsinnigkeit allenthalben gerühmt wird. Ich fragte mich daher zur Abfahrtstelle der Bemos durch, den Minibussen meist japanischer Provenienz, mit denen die Einheimischen ihre Transporte durchführen. In den kleinen Fahrzeugen, die für acht bis zehn Personen gedacht sind, werden in Bali bis zu dreißig Personen befördert, was sicher damit zusammenhängt, dass die Balinesen klein und zierlich sind, möglicherweise aber auch mit dem Fehlen fester Vorgaben oder einer sehr flexiblen Handhabung derselben. Als Europäer ist man in einem Bemo eigentlich schon deswegen deplaziert, weil man unverhältnismäßig viel Platz einnimmt. Wahrscheinlich ist dies auch der Grund dafür, dass man meist einen höheren Fahrpreis als die Einheimischen entrichten muss.

 

Ich stieg also am Hauptplatz von Kuta in einen der Minibusse, der mich die kurze Strecke zum Stadtrand von Denpasar, der Hauptstadt Balis, brachte. Hier erfuhr ich, dass ich mit einer Motoradrickshaw zum anderen Ende der Stadt fahren müsse, von wo aus die Bemos in den Norden der Insel abführen. Ich war nicht der einzige, der mit der Motoradrickshaw durch Denpasar wollte. Die heulenden Dreiräder stauten sich in den engen Strassen der wenig ansehnlichen Stadt und der bläuliche Dunst, den die Zweitaktmotoren ungehindert ausstießen, verdichtete sich zu Wolken, aus denen Atemluft zu beziehen, kaum zu vermeiden war. Auf der anderen Seite der Stadt standen ein paar Bemos, von denen allerdings keines Anstalten zur Abfahrt machte. Ich wartete schweißverklebt in der Hitze und überlegte, ob es nicht sinnvoller gewesen wäre, mit einem klimatisierten Jeep zu fahren. Aber ich sagte mir, dass ich ja das wirkliche Leben des Volkes kennen lernen wollte. Kurz darauf hieß es einsteigen. Ich kletterte durch die Hintertür des Kleinbusses – Bemos betritt man durch die Hintertür – und nahm auf einer der beiden längs gestellten Sitzbänke Platz.

 

Die Fahrt ging außerordentlich langsam voran. Das Bemo hielt an jeder Ecke, um Leute ein- und aussteigen zu lassen. Nach einiger Zeit waren die Sitzbänke mit jeweils acht oder neun Personen voll besetzt. Der Raum zwischen den Bänken war mit allerhand Gepäck gefüllt – Säcken mit Getreide und geflochtenen Körben mit Gemüse aber auch lebendem Federvieh. Das hinderte aber nicht, dass immer wieder neue Passagiere hinzukamen. Diese mussten sich irgendwie zwischen dem Gepäck platzieren. Als dann ein kräftiger Tropenregen niederging, fand man auch noch Platz für einen wasserscheuen Motorradfahrer samt seinem Fahrgerät. Der kleine Bus war so nun so voll, dass der Schaffner nicht mehr von vorne nach hinten durchsteigen konnte, um den Fahrpreis von den Neueinsteigern zu kassieren. Er kletterte vielmehr – während der Fahrt – aus dem vorderen Seitenfenster auf das Dach und kam durch die Hintertür wieder herein. Ich selbst befand mich kurzbehost mitten im Fahrzeug, um mich herum lauter kleine Balinesen in den traditionellen bodenlangen Lunghis, die mich etwas verwundert aber freundlich ansahen. Mein Wunsch, Kontakt zum Volk zu bekommen, war ohne Zweifel schon jetzt weitgehend in Erfüllung gegangen. Weiterlesen

Milonga – Argentinische Variationen rund um den Tango

 

 

Was eine Milonga ist, erfuhren wir von Cristina. Wir lernten Cristina an einem heißen Sommertag in einem der Restaurants kennen, die sich um die prachtvolle gusseiserne Markthalle aus dem 19. Jahrhundert in der heruntergekommenen Altstadt von Montevideo angesiedelt haben. Sie saß am Nachbartisch und machte uns in gutem Englisch darauf aufmerksam, dass wir als Folge unserer begrenzten Kenntnisse der spanischen Sprache gerade eine in vollendeter Höflichkeit vorgetragene Einladung des Kellners zu einem kostenlosen Glas Wein abgelehnt hatten. Cristina schien irgendwo zwischen vierzig und fünfzig Jahre alt zu sein. Sie hatte schwarze Haare, war klein und zierlich und sah ganz so aus, wie man sich eine Argentinierin vorstellt (obwohl beileibe nicht alle Argentinierinnen so aussehen). Sie hatte die Figur einer Fünfzehnjährigen und trug entsprechend kurze, abgeschnittene Jeans. Mit ihr am Tisch saßen zwei ältere Herren, die sich sehr ernst über Politik unterhielten.  

Im Laufe des Essens kamen wir mit Cristina ins Gespräch. Es stellte sich heraus, dass sie aus Buenos Aires war, wo wir gerade herkamen, und Urlaub im uruguayischen Nobelbadeort Punta del Este gemacht hatte, der uns, weil jeder davon schwärmte, als nächstes Reiseziel vorschwebte. Wie alle Argentinier wollte Cristina wissen, wie wir ihr Land und insbesondere wie wir Buenos Aires fanden. Und wie die meisten Argentinier gab sie uns bereitwilligst Hinweise darauf, was wir in ihrem Land unbedingt sehen oder erleben sollten. Dabei kamen wir, wie nicht anders zu erwarten, auch auf den Tango zu sprechen. Bei diesem Thema wurde Cristina noch lebhafter und offener als sie es ohnehin schon war. Tango, so begründete sie ihre Begeisterung, sei schließlich das einzige, was die Argentinier wirklich ganz ihr Eigen nennen können. Sie fragte uns auch, ob wir in Buenos Aires schon Tango gesehen hätten. Wir nannten Veranstaltungen, wie sie im wesentlichen den Touristen angeboten werden – unter anderem hatten wir ein Tango-Musical mit dem Namen „Passiones Argentinas“ in einem schönen alten Theater und eine Tango-Vorführung in einem Nebenzimmer des prachtvoll-altmodischen Café Tortoni besucht. Beide waren voller Kraft und Temperament, aber reichlich laut und mit Tanzeinlagen garniert, bei denen man sich gelegentlich fragte, wie es den Tänzern gelang, eine Verknotung ihrer Glieder zu vermeiden. Cristina meinte, das sei nicht der richtige Tango. Tango müsse man bei einer Milonga erleben. Dort träfen sich die Portenios, wie die Einwohner von Buenos Aires genannt werden, um ganz ohne Show nur für sich den klassischen Tango zu tanzen.  

Einmal beim Thema Milonga angelangt, war Cristina kaum mehr zu bremsen. Mit allen Mitteln versuchte sie uns davon zu überzeugen, dass wir eine Milonga besuchen müssten. Gerade jetzt lohne sich dies, da dort zur Zeit in einer Art Wettbewerb die besten Tänzer der Stadt ermittelt würden. Für einen Fremden sei es allerdings nicht ganz einfach, diese Veranstaltungen zu finden, da sie jeden Abend an einem anderen Ort stattfänden. Wortreich versuchte sie uns zu klar zu machen, wo wir die nötigen Informationen zur Ermittlung der Lokalitäten erhalten könnten. Schließlich lief sie zu ihren Auto und holte daraus eine Zeitschrift mit dem Namen „Tango“, in der die Termine für die Milongas der kommenden Woche veröffentlicht waren. Sie strich die Veranstaltungen für den Tag, an dem wir wegen eines Fluges wieder in der Stadt sein mussten, an, und trug den Ort der Handlung unter zahlreichen Erläuterungen in unsere Stadtkarte ein. Am besten sei die Milonga im „Salon Canning“, wo es einfach zauberhaft sei. Die Veranstaltung beginne gegen elf Uhr abends. Wenn wir nicht wesentlich früher kämen, müssten wir einen Tisch reservieren. 

Als wir uns von Cristina verabschiedeten, meinte sie, wir würden uns, wenn wir in den Salon Canning gingen, dort wahrscheinlich wiedersehen. Sie gehe zwei bis drei Mal in der Woche zu einer Milonga. Dann gab sie uns, für den Fall, dass wir noch Fragen hätten, ihre Visitenkarte. Darauf war als Berufsbezeichnung „Directora“ angeben. Auf unsere Frage, was dies bedeute, sagte sie beiläufig, sie sei Besitzerin einer Radiostation. 

Drei Tage später waren wir wieder in Buenos Aires. Wir hatten den Plan einer Fahrt nach Punta del Este aufgegeben, nicht zuletzt weil der Ort nach der Schilderung Cristinas auch nicht viel anders sein sollte, als die bekannten Badeorte am Mittelmeer. Stattdessen hatten wir das ehemals portugiesische Städtchen Colonia am uruguayischen Ufer des Rio de la Plata besucht. In einer der malerischen Gassen der alten Schmugglerstadt sprach uns ein Mann aus Buenos Aires in der leutseligen Art der Argentinier an und fragte wieder einmal danach, wie wir sein Land fänden. Als wir zum Thema Tango kamen, meinte er, er möge diese Musik nicht besonders, sie sei ihm zu pessimistisch: einmal verliere jemand seine Geliebte, ein anderes Mal finde er keine, dann wieder sterbe einer Mutter das Kind weg und wenn dies nicht der Fall sei, sterbe gewiss die Mutter und hinterlasse ein Kind – es gebe einfach zu viele Schicksalsschläge. Dagegen lobe er die Brasilianer, die ihren Samba hätten, bei dem es immer fröhlich zugehe. Was der Mann sagte, stand ganz im Gegensatz zu dem, was wir von einem Anwalt aus Cordoba gehört hatten, den wir im Café Tortoni kennen gelernt hatten. Nachdem dieser das übliche Klagelied über die desolaten Verhältnisse der argentinischen Politik abgesungen hatte, geißelte er die mangelnde Ernsthaftigkeit seiner Landsleute und lobte die Brasilianer, weil bei ihnen nach vierzehn Tagen außerordentlich heftigen Karnevalsfeierns Schluss sei; in Argentinien hingegen sei das ganze Jahr über Karneval.  

Von Colonia waren wir nicht, wie die meisten Reisenden, auf dem direkten Weg quer über den Rio de la Plata nach Argentinien zurückgekehrt. Vielmehr hatten wir uns der (Tango)Metropole in einem großen Bogen nach Nordwesten durch die weitläufige Inselwelt genähert, in der sich die riesigen Flüsse „Uruguay“ und „Paraná“ auflösen, bevor sie den gewaltigen Süsswassermeerbusen des Rio de la Plata bilden. Wir hatten den letzten Tag, an dem das Thermometer auf 37 Grad und das Hygrometer auf 100 Prozent stieg, im Delta des Paraná vor den Toren von Buenos Aires verbracht, an dessen weitverzweigten Kanälen die Sommerhäuser der wohlhabenderen Portenios inmitten von prachtvollen Gärten, hier und da allerdings auch gewaltige Schrotthaufen von abgewrackten Schiffen liegen. Dort schippert man mit dem Boot zu wunderbar gelegenen Gartenrestaurants, aus denen immer laute Musik schallt, oder trifft sich in den riesigen Yacht- und Ruderclubs, die im Stile venezianischer Paläste oder englischer Landhäuser gebaut sind.  

Abends fuhren wir mit dem eleganten Küstenzug durch die Villenvororte der Stadt mit ihren wohlgepflegten, stilvollen kleinen Bahnhöfen. In Maipu wechselten wir in die wesentlich gewöhnlichere Vortortbahn, die durch endlose Hochhausviertel mit weniger stilvollen Haltestellen und entlang von Bahndammslums zum gigantischen Bahnhof von Retiro fuhr, der wiederum wie das Rathaus einer größeren französischen Stadt aussieht. Als wir in die glühende Altstadt kamen, zogen erste Gewitterwolken auf. Auf der „Avenida Florida“, der Einkaufsmeile der Stadt, tanzte vor der neobarocken Shoppingtherme des „Pacific“ ein Mann im dunklen Anzug mit einer spärlich bekleideten jungen Dame zum Vergnügen zahlreicher Passanten einen lasziven Tango, bis ein Regenschauer die Menge vertrieb. Tango dröhnte hier auch aus verschiedenen CD-Läden.  

Gegen acht Uhr speisten wir- offenbar viel zu früh, denn wir waren die einzigen Gäste – in einem großen Restaurant der Altstadt mit dem Namen „Los Immortales“, der außen zwanzig Meter hoch in senkrechten Lettern an der Fassade des Gebäudes angebracht war. Innen waren die Wände mit Fotos von den „unsterblichen“ Tangogrößen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts geschmückt, gut aussehende Männer mit glatt gekämmten Haaren in mittleren Jahren, allen voran der ewig jugendliche Carlos Gardel, der, aus einfachsten – übrigens französischen – Verhältnissen kommend mit dem Tango Weltruhm erlangte. Er wurde durch seinen frühen Unglückstod im Jahre 1935 ähnlich unsterblich wie Argentiniens gute Fee Eva Peron, die Wohltäterin der Armen, die in noch jüngeren Jahren verstarb. Im Hotel zogen wir unsere verknitterten Ausgehkleider aus dem Rucksack und bestellten um zehn Uhr ein Taxi. Der Taxifahrer war erstaunt, als wir den „Salon Canning“ im gutbürgerlichen Stadtteil Palermo als Fahrziel nannten. Fremde, meinte er, würden kaum jemals dorthin hingefahren werden wollen.  

Während der Fahrt durch die lebhaften Avenuen der Stadt benannte uns der Taxifahrer in einer holprigen Mischung aus Spanisch und Englisch die großen Gebäude, an denen wir vorbeikamen. Aus den eher feierlich-strengen, meist neobarocken oder neoklassizistischen Prachtbauten französischer Prägung ragte wie ein Solitär das farbenreiche Gebäude der städtischen Wassersorgung heraus, das einen ganzen Straßenblock einnimmt. Die Elemente der europäischen (Bau)Tradition sind hier so außerordentlich dicht und in immer neuen und überraschenden Variationen aufeinandergehäuft, dass man von einem architektonischen Tango sprechen könnte. Über einem Portal war die Jahreszahl 1887 eingemeißelt, was ungefähr dem Zeitpunkt entspricht, zu dem sich der Tango nicht zuletzt unter Geburtshilfe italienischer Einwanderer aus verschiedenen Vorgängertänzen entwickelte. Nach zwanzig Minuten hielt das Taxi vor einem nicht weiter auffälligen Haus. Wir glaubten zunächst, dass sich der Taxifahrer geirrt habe. Kein Mensch war zu sehen. Es war auch kein Salon zu erkennen. Wir befanden uns am Anfang eines langen schmucklosen Ganges. Vom anderen Ende war allerdings Tangomusik zu hören. 

Das Etablissement, in das wir am Ende des Ganges nach Zahlung eines Obolus von rund zwei Dollar traten, hatte nichts vom Stil der repräsentativen Großbauten von Buenos Aires oder gar des Cafés Tortoni mit seinen prachtvollen Säulen, verspielten Lampen und leuchtenden Buntglasdecken. Es ähnelte eher einer Schulturnhalle, die zum Schulfest hergerichtet worden war. Im Grunde war es nicht mehr als ein schmuckloses Rechteck von etwa 30 auf 30 Metern, in dessen Mitte sich ein Parkettboden befand, über dem ein paar Lautsprecher hingen. Um diesen Parkettboden herum waren zwei Reihen Tische mit nicht sonderlich bequemen Caféhausstühlen aufgestellt, die alle leer waren. Immerhin war der Raum klimatisiert, was angesichts der Schwüle, die nach dem außerordentlich heißen Tag noch überall in der Stadt hing, einigermaßen erfrischend war. An den Wänden hingen großformatige, ziemlich skurile Gemälde aus neuerer Zeit, auf denen Figuren in allerhand verbogenen Stellungen zu sehen waren. Auf einem Bild konnte man Gardel ausmachen. Bei näherem Hinsehen zeigte sich, dass fast alle Tische reserviert waren. Wir bekamen – unmittelbar vor dem Platz, der für ein Orchester vorgesehen war – einen der wenigen Tische zugeteilt, die noch frei waren und harrten der Dinge. Diese waren einstweilen noch wenig aufregend.  

Auf dem Parkett betätigten sich ein bis zwei Dutzend Paare in mehr oder weniger alltäglicher Aufmachung bei Musik aus den Lautsprechern nach den Anweisungen einer Lehrerin. Sehr meisterlich sah das Ganze nicht aus. Für den Tangolaien hatte es allerdings den Vorteil, dass man die komplizierten Schrittfolgen des Tanzes in sezierter Form präsentiert bekam. Außerdem wurden die subtilen Schwierigkeiten gerade dadurch deutlich, dass Manches misslang. Allerdings fürchteten wir, unsere Zeit und unser Eintrittsgeld für eine bloße Tanzstunde bezahlt zu haben, an der wir schon mangels entsprechender Vorkenntnisse, die, wie sich aus einem Aushang ergab, bei den Teilnehmern vorausgesetzt wurden, nicht hätten teilnehmen können. 

Um elf Uhr allerdings verwandelte sich die Szene. Die Lehrstunde war beendet, weitere Gäste kamen und man fing an, ernsthaft zu tanzen. Und es sollte in der Tat ernsthaft werden. Nach Regeln, die wir einstweilen noch nicht durchschauten, trafen sich die Partner, um jeweils eine Anzahl von Tänzen zu bestreiten. Bevor es losging, lauschten die Paare, die Oberkörper aneinandergelehnt, schweigend eine paar Takte in die Musik hinein. Dann gab der Mann entschlossenen den Impuls zu den ersten Schritten, bei denen dann aber auch schon alles stimmte. In den Gesichtern der Tänzer spiegelte sich nun höchste Konzentration. Die Frauen schlossen die Augen und lehnten die Stirn an den Kopf des Mannes. Die Schritte beherrschten sie offensichtlich im Schlaf. Die Verantwortung für das Gelingen der Figuren und für die havariefreie Navigation über das Parkett lag allein beim Mann. Dementsprechend setzte dieser eine sehr ernste Miene auf. Gesprochen wurde während des Tanzes nicht. Allenfalls in den kurzen Pausen zwischen den einzelnen Tänzen wechselte man ein paar Worte. Was die Damen von den Herren hielten, ließ sich allerdings, insbesondere soweit es sich um Zustimmung handelte, an ihrer sehr beredten Körpersprache ablesen. Eine Dame mittleren Alters mit großer blonder Mähne und frischem Urlaubsbraun war gar so beigeistert, dass sie während der ganzen Tanzrunde die Zähne fast bis zu den Ohren freilegte. 

Allen rhythmischen Raffinessen der Musik zum Trotz zelebrierten die Tänzer keine aufwendigen Figuren oder extreme Wendungen; höchstens dass die Dame einmal gemessen eine Kadenz ausdrehte und dabei die Beine anwinkelte oder sich stocksteif über das Parkett schleifen ließ. Die Musik war nicht annähernd so argentinisch passioniert und laut wie bei den Veranstaltungen, die wir zuvor besucht hatten. Sie hatte geradezu etwas Lässiges. Grosse Schicksalsschläge wurden offenbar nicht besungen. Der elegische Tonfall, den wir Europäer eher mit dem Tango verbinden, war allenfalls andeutungsweise zu hören. Die Tänze endeten meist urplötzlich, indem die Musik unvermittelt und ohne Schlusspunkt einfach zum Stillstand kam. Die Paare schien die nicht zu überraschen. Immer gelang ihnen ein vollkommen harmonisches Bremsmanöver. Nach einigen Tänzen tönte eine Art Sirene und es wurde eine Musik eingespielt, die völlig unpassend wirkte. Dann begab man sich getrennt an die Tische und hielt Ausschau nach einem Partner für die nächste Runde.

Die Damen betätigten dabei ihre Fächer und nippten an Sektgläsern. Die Herren tranken meist Wasser, das in Plastikflaschen serviert wurde, und blickten sehr aufmerksam in die Runde. Im Laufe der Zeit füllte sich der Raum und es kam mehr Bewegung in das gepflegte Treiben. Einige jugendliche Könner zeigten, dass man auch auf gemessene Weise spektakuläre Figuren hinlegen kann. Um Mitternacht waren alle Tische besetzt. Gegen ein Uhr war der „Salon“ voll. Viele der Anwesenden, die aus allen Altersgruppen stammten, waren miteinander bekannt. Man begrüßte sich mit großem Hallo. Unter den Ankömmlingen waren einige, die offensichtlich sehr angesehen waren. Dazu gehörten insbesondere einige ältere Herren. Sie lösten mit einer Aufforderung zum Tanz auch bei jüngeren Damen so etwas wie Verzückung aus.  

Auf einmal war Cristina da. Wir hatten sie in ihrem schwarzen, hautengen Outfit zunächst gar nicht gesehen. Sie löste sich plötzlich von einem Tanzpartner und fiel uns um den Hals, als seien wir alte Bekannte. Mit argentinischem Überschwang drückte sie ganz ungebremst ihre Freude darüber aus, dass sie uns wiedersah. Dann wickelte sie noch den laufenden Tanz ab und ließ sich mit einer Freundin und einem Glas Sekt an unserem Tisch nieder. Von diesem Moment an bekamen unsere Beobachtungen Richtung und Sinn.  

Zunächst erfuhren wir von Cristina, dass eine Tanzrunde immer aus drei Blöcken zu je vier Tänzen zusammengesetzt ist. Davon enthält nur einer Tangos. Die beiden anderen Blöcke bestehen aus – meist schnellen – Walzern und aus Milongas, einem – ebenfalls schnellen – Tanz mit afrikanischen Wurzeln, welcher der Veranstaltung den Namen gibt. Erst nach dieser Erläuterung fiel uns auf, dass die Figuren dieser Tänze anders als die des eigentlichen Tango waren – was aber insbesondere beim Walzer nichts daran änderte, dass es aus unserer Sicht immer noch ziemlich lateinamerikanisch, um nicht zu sagen tangoartig wirkte.  

Erhellend war auch, was uns Cristina zum Problem der Kontrolle der erotischen Aspekte des Tanzes sagte, der ja als der erotischste aller Tänze gilt. Zu den eisernen Regeln einer Milongaveranstaltung gehöre, dass man an einem Abend nie mehr als drei Runden mit dem gleichen Partner tanze; ausgenommen davon seien nur Paare, die aber selten seien. Man gehe nicht mit seinem (Ehe)Partner zu einer Milonga, man suche aber auch keinen Partner für die Dauer. Auch der Körperkontakt sei streng begrenzt. Man berühre sich nur am Oberkörper, mit dem Mann im übrigen den Tanz steuere. Damit hatten wir die Erklärung für die merkwürdige Pyramidenform, welche die Tanzpaare bildeten.  

Für die menschlichen Probleme, die mit der Partnerwahl verbunden sein können, hat sich eine argentinisch-weiche Lösung herausgebildet. Da man den Beteiligten möglichst die Peinlichkeit der Erklärung oder des Empfangs einer Absage ersparen wolle, verständige man sich zunächst über Augenkontakt. Mangelndes Interesse werde durch Verweigerung des Augenkontaktes signalisiert. Jetzt wurde uns klar, warum in den Pausen ein allgemeines Beäugen begann. Gleichzeitig war an der Art, in der die Protagonisten um sich schauten, zu erkennen, wer im Salon etabliert war und wer zu den Aufsteigern gehörte. Einige ältere Herren – sie waren an einem strategisch günstig gelegenen Tisch versammelt – hatten es nicht nötig, lange umherzuschauen. Sie wussten offensichtlich, dass sie immer zum Zuge kamen. Cristina erläuterte uns, dass dies die Tangohelden der Stadt seien. Jede Frau würde gerne von Ihnen aufgefordert werden. Es handele es sich häufig um Männer aus einfachen Verhältnissen, die aber, weil sie die alte Tango-Kultur repräsentierten und beim Tanz absolut sicher führten, auch bei den Damen der Gesellschaft hohes Ansehen genössen. Cristina deutete insbesondere auf einen glatzköpfigen Mann in schwarzer Kluft, der weit über siebzig Jahre alt sein musste. Er sei einer der bekanntesten Tänzer der Stadt, tanze aber, zumal er sehr krank sei, nur noch sehr wenig. Mit einem Anflug von Bescheidung meinte sie, sie habe noch nie die Ehre gehabt, von ihm aufgefordert zu werden. Kurze Zeit später bemerkte ich, wie der Mann mit einer jener jugendlichen Könnerinnen tanzte, die mir dadurch aufgefallen war, dass sie besonders brilliante Figuren auf das Parkett zauberte. Jetzt führte der alte Herr das junge Fohlen in höchstem Maße versammelt durch das Gedränge. Als besonders gute Tänzerin bezeichnete uns Cristina eine nicht mehr ganz junge Frau, die ganz in rot gekleidet war; sie sei Tangolehrerin. Diese Dame drehte ihre Kreise im Zustand überirdischer Entspannung. Einmal in den Armen eines Mannes schien sie in Trance zu fallen. 

Unterdessen kam Cristina vor lauter Erläuterungen gar nicht dazu, sich in ausreichendem Maße an dem System des Signalisierens von Tanzbereitschaft zu beteiligen, das ein ständiges Beobachten der Lage erfordert. Wir mussten sie mehrfach auffordern, doch das tun, weswegen sie eigentlich hierher gekommen war. Auch ihre Freundin hatte schon bemerkt, dass die intensive Beschäftigung mit uns diesem Ziel zuwiderlief, weswegen sie unseren Tisch wieder verlassen hatte. Auf unsere Aufforderung schloss sich Cristina ihr an. Nach kurzer Zeit war sie aber wieder zurück und erklärte, sie habe gestern Abend schon von sieben bis ein Uhr getanzt, sie könne heute auch einmal Pause machen. So erfuhren wir noch einiges mehr über die Besonderheiten einer Milonga – und über Cristina.  

Zu unserem Erstaunen erzählte uns Cristina, dass die Anzahl der Milonga-Tänzer in der Riesenmetropole Buenos Aires nicht sonderlich groß sei. Es sei ein relativ geschlossener Kreis, in dem man immer wieder die gleichen Personen treffe. Auch das Spektrum der Musik, das Verwendung finde, sei begrenzt. Man pflege den lockeren Stil der klassischen Zeit des Tango, im wesentlichen die Musik der vierziger Jahre des letzten Jahrhunderts, als sich der Tango endgültig aus Schmuddelvororten wie San Telmo oder Boca, wo er entstanden war, gelöst und, ähnlich wie hundert Jahre zuvor der Wiener Walzer, in der „besseren“ Gesellschaft (des Zentrums von Buenos Aires) etabliert hatte. Mit dem Tango Nuevo eines Astor Piazolla etwa, den man in Europa so schätzt, habe das nicht viel zu tun, da man auf diesen nicht tanzen könne. Im allgemeinen gehe es bei den Milongas nicht sonderlich großartig zu. Die meisten Lokalitäten, in denen sie abgehalten würden, seien deutlich weniger komfortabel als der „Salon Canning“. Meist gebe es kein Tanzparkett und keine Klimatisierung. Mir kamen dabei zwei einstmals prachtvolle Hotels in der Nähe von Cordoba in den Sinn, die wir zwei Wochen zuvor gesehen hatten. In La Falda steht in einem verwilderten Park das monumentale Hotel „Edén“, das einen großen, säulengestützten Tanzsaal besitzt, der heute düster und feucht wir eine altrömische Zisterne ist. Der Riesenbau ist im Verfall begriffen; nur in einem Flügel betreibt man heute noch ein ziemlich rustikales Café. Schlechter noch steht es mit dem weitläufigen „Sierra-Hotel“ im Höhenkurort Alta Gracia, wo sich in den dreißiger und vierziger Jahren die reichlich vorhandene Geldaristokratie des Landes zum einem offenbar immerwährenden Tanzvergnügen traf (auch der spanische Komponist Manuel De Falla verbrachte hier seine letzten Lebensjahre). Zu denen, die hier täglich bis zum Morgengrauen tanzten, gehörten auch die Eltern von Che Guevara, der unweit des Hotels aufwuchs, wobei er vermutlich erstes Anschauungsmaterial für seine sozialrevolutionären Ansichten gewann. Das Etablissement, dessen gepflegte Heiterkeit man heute noch ahnen kann, ist völlig verwaist; seine Kolonnaden sind leer, der Park ist vernachlässigt und der riesige Tanzsaal, der in einem eigenen Pavillon untergebracht war, ist eine Ruine, auf deren Boden zerbrochen die Ornamente liegen, welche in den goldenen Zeiten Wände und Decke schmückten. 

Wir fragten natürlich nicht, wie eine Frau in Cristinas Alter dazu kommt, so häufig zu Milongas zu gehen. Cristina erzählte uns aber im Laufe des Abends einiges, was uns wie eine Erklärung für ihre Tanzleidenschaft vorkam. Sie berichtete, sie sei die Mutter von vier erwachsenen Kindern. Drei ihrer Kinder seien weit verstreut in der Welt. Ihr ältestes Kind, das bereits 32 Jahre alt sei, leide unter dem Down Syndrom und wohne – übrigens zu ihrer großen Freude – bei ihr. Mit einem Unterton von Selbstbehauptung sagte sie, dass sie vor drei Jahren – nach einer Ehe von fast drei Jahrzehnten – „aus dem ehelichen Haus gegangen“ sei. Begeistert sprach sie von ihrer Radiostation, bei der es sich um einen privaten Sender für Palermo handele, einem Stadtteil, der größer sei als die meisten großen Städte in Europa und um einiges größer als die Stadt, von der er seinen Namen bezogen habe. Über ihre Station würden mehr als siebzig Programme jeglichen Inhaltes ausgestrahlt. Für das Konzept des Senders, der privaten Interessenten gegen Entgelt Sendezeit zur Verfügung stelle, habe sie vor wenigen Monaten in Barcelona den renommierten Ondas-Preis verliehen bekommen. Stolz sagte sie, seinerzeit sei ihr Bild in allen Zeitungen des spanischen Sprachraumes zu sehen gewesen. 

Zwischendurch wandte sich Cristina, da ihr das übliche Anbahnungsverfahren angesichts unserer Anwesenheit zu aufwendig war, einem einfach aussehenden Mann zu, der am Nachbartisch saß und der sich, sei es aus Mangel an Erfolg oder Desinteresse bisher wenig am Tanzgeschehen beteiligt hatte. Er ging sofort auf sie ein, übernahm auf dem Parkett alsbald die Führung und die beiden verschwanden in pyramidenförmiger Haltung im Gedränge. Hinterher erklärte uns Cristina, es sei ungewöhnlich, dass eine Frau den Mann zum Tanz auffordere. Darauf könne er nun stolz sein. Besonders stolz müsste er demnach darauf gewesen sein, dass er später noch für eine weitere Runde zum Zuge kam. 

Während unserer Unterhaltung, bei der wir nie vergaßen, die jeweils neuesten Paarungskonstellationen und deren tänzerische Leistungen zu begutachten, begann man unmittelbar hinter uns damit, ein Tangoorchester aufzubauen. Schon vor Mitternacht werkelten einige Herren in schwarzen Anzügen an Mikrofonen, elektrischen Leitungen und Notenständern. Gegen ein Uhr war alles aufgebaut und die Mitglieder des Orchesters, vier Geiger, ein Pianist, ein Baßgitarrist und zwei Bandoneonspieler, waren einsatzbereit auf ihren Plätzen. Aus Gründen, die wir nicht erkennen konnten, kamen sie jedoch vorläufig nicht zum Einsatz. Immer wieder starteten neue Zwölferrunden aus dem Lautsprecher. Die Musiker, die sich, da die Temperatur im Saale ständig anstieg, inzwischen ihrer schwarzen Jacken und Krawatten entledigt hatten, wurden ungeduldig. Einige hielten ihre Finger dadurch warm, dass sie einfach in die Musik aus der Konserve hineinfingerten. Hier und da spielten sie die laufende Musik auch mit. Auch wir wurden langsam unruhig, zumal wir am nächsten Morgen ziemlich früh zum Flughafen mussten. Da wir uns aber das Erlebnis eines größeren Tango-Orchesters am Ort der Entstehung der Gattung nicht entgehen lassen wollten, warteten wir weiter ab.  

Nach schier endlosen weiteren Tanzrunden wurde das Orchester mit einer kleinen Rede begrüßt und konnte loslegen. Es war inzwischen Viertel nach zwei Uhr. Die Herren in den weißen Hemden legten ein schwungvolles Anfangsstück auf und hatten das Publikum sofort auf ihrer Seite. Ohne große Pause ging es weiter mit dem nächsten Stück, auch dieses von großer Vitalität und Beweglichkeit. Und so folgte ein Tanz nach dem anderen. Im Mittelpunkt standen die beiden Bandoneonspieler, Herren um die sechzig Jahre alt, die sich lustvoll die Bälle zuwarfen. Sie beherrschten das Geschehen mal mit weitschwingenden Kantilenen, mal mit diffizilem Passagenwerk, dazwischen aber immer wieder mit unerbittlich präzisen Rhythmen und scharfen synkopischen Einwürfen, bei denen sie ihr Instrument leicht federnd oder kraftvoll auf die Knie schlugen. Die Geigen trugen fast nur rhythmisches Füllwerk und Unisono-Passagen bei, in denen mehr oder weniger das wiederholt wurde, was die Bandonieros schon vorgetragen hatten. Klavier und Bassgitarre unterstützten das Ganze mit Harmonietönen und gelegentlichen Solos. Das Spiel der zehn Herren wurde im Laufe der Zeit immer turbulenter. Sie steigerten sich in einen Rausch. Von der Sentimentalität oder Melancholie, die man dem Tango gerne nachsagt, war weder etwas zu sehen noch zu hören. Das Publikum, das nach der Musik offensichtlich bestens tanzen konnte, war begeistert und quittierte die Darbietungen des Orchesters mit immer lauteren Beifallskundgebungen.  

Eine gute halbe Stunde nachdem man begonnnen hatte, war dann aber schon wieder alles vorbei. Nach einem rasanten Finalstück packten die Herren ihre Instrumente ein. Die Milonga im „Salon Canning“ ging ihrem Ende zu. Cristina sagte, die wahren Enthusiasten, zu denen sie – heute – aber nicht gehöre, da sie am nächsten Morgen wieder in ihre Radiostation müsse, gingen nun an einen anderen Ort und tanzten weiter bis zum Frühstück. 

Auch wir brachen auf, kamen allerdings nicht weit. Draußen führte der argentinische Wettergott einen passionierten Tanz auf, als wolle er demonstrieren, dass er mit der Beendigung der Vorstellung nicht einverstanden sei. Die gewaltigen atmosphärischen Spannungen des Tages entluden sich in einem ebenso großen Gewitter. Durch die Straßenschluchten von Palermo zuckten die Blitze und krachten die Donnerschläge wie die synkopischen Einwürfe der Bandoneons im Salon. Der Regen schoss in solchen Mengen vom Himmel, dass es unmöglich war, zu einem Taxi am Straßenrand zu gelangen, ohne vollständig durchnässt zu werden. Vorläufig war ein Taxi allerdings auch nicht zu haben, da unter diesem Umständen unzählige nachtschwärmerische Portenios nach einem solchen Gefährt verlangten. Cristina versuchte mit ihrem Handy immer wieder vergeblich, die Taxizentrale zu erreichen.  

Gemeinsam mit den Herren vom Orchester, die sehr aufgeräumt parlierten, und zahlreichen Tänzern warteten wir in dem Gang, der zum Salon führte in der Hoffnung, dass die Kraft des Wettergottes nachlasse. Dieser hatte sich aber die Ausdauer der Tangotänzer zum Vorbild genommen und legte, kaum dass man den Eindruck einer Abschwächung seiner Vitalität gewonnen hatte, immer wieder nach. Von einem unvermittelten Stillstand oder einem harmonischen Bremsmanöver wollte er nichts wissen. Als sich nach einer Stunde – mittlerweile war es vier Uhr – die Chance auf einen Transport bot, ergriffen wir die Gelegenheit, wobei uns und unserer Ausgehkleidung eine Vollwäsche (mit anschließender Körpertrocknung) zu Teil wurde. Cristina ließ es sich, obwohl sie wesentlich empfindlicher gekleidet war, nicht nehmen, uns zum Taxi zu begleiten und beteuerte, als ob ihre Einladung zum Tango und die Kapriolen des Wettergottes in einem Zusammenhang stünden, immer wieder, wie leid es ihr tue, dass wir durch sie in solche Kalamitäten geraten seien.  

In den folgenden Tagen konnten wir fast eineinhalbtausend Kilometer weiter nördlich in tropischem Ambiente die Tänze erleben, welche die Wasser des Iguazu an der Grenze zu Brasilien aufführen, kurz bevor sie sich in den Paraná ergießen. Der breite Strom, der von den Zuflüssen vieler Landschaften lebt, bietet dort, wie der Tango, das seltene Phänomen der Teilung in tausend faszinierende Einzelerscheinungen. Er stürzt mal in wildem Strudel, mal in malerischen Kaskaden zu Tal, strömt hier wie ein breiter Rüschenvorhang an einer Wand herab, rieselt dort fein verästelt durch Hängepflanzen, schlängelt sich an wieder anderer Stelle in kleinen Nebenbächen davon und zerstäubt letztendlich in einer schwer zu bestimmenden Tiefe zu Tröpfchen, die in allen Farben des Regenbogens leuchten. So weit man schauen kann, ist lebhafteste Bewegung und glitzerndes Rauschen. Unten im Tal sammelt sich, was so vielfältig aufgelöst war, und bildet einen gewaltigen Strom, der wenig später ein Kraftwerk speist, das einstmals das größte der Welt war. Es gibt nur wenige Orte, an denen sich das fließende Element so unerschöpflich, so außerordentlich dicht und in immer neuen und überraschenden Variationen zeigt.

Ein – ungeplanter – Tag in Bangladesch

Ein Besuch in Bangladesch ist vermutlich von fast allen Ausgangspunkten eine Reise mit der Zeitmaschine in eine andere Welt. Für den allerdings, der auf dem Weg von Bangkok nach Europa für nur einen Tag Station in Dhaka macht, ist es eine sozio-kulturelle Achterbahnfahrt, deren jähe Höhen- und Tiefenfahrten einem den Atem rauben können. 

Eigentlich begann mein Besuch in Bagladesch bereits mit der Zeitungslektüre in Bangkok. Die „Bangkok Post“ hatte Ende Januar 1996 unter dem Titel „Still Alive“ (Noch am Leben) einen Artikel über die Abenteuer veröffentlicht, welche man bei Benutzung der landeseigenen Fluggesellschaft Biman Bagladesch zu gewärtigen habe. Darin war von schlechtem Service, insbesondere von einem chaotischem Umgang mit Fahrplänen die Rede. Man müsse schon damit rechnen, einige Tage in Dhaka hängen zu bleiben, einer Stadt, die bei allen Verbesserungen, die sie in den letzten Jahren sicherlich erfahren habe, nicht unbedingt der Ort sei, wo man sich ohne Not aufhalten wolle. Der Artikel hatte eine Fülle von Leserbriefen ausgelöst. Sie ließen sich unter anderem mehr oder weniger hämisch über den Leichtsinn der Personen aus, die sich, wie ich, von den günstigen Preisen zur Wahl dieses Luftfahrtunternehmens verleiten ließen. Das Ganze gipfelte in der Feststellung, man müsse eben bereit sein, die Konsequenzen für seine Entscheidungen zu tragen.  

Als ich nach zwei Wochen Abwesenheit wieder nach Thailand kam, wurde in der Zeitung noch immer Biman Fan-Post abgedruckt. Mittlerweile war sie politisch geworden. Ein Briefschreiber nahm eine abfällige Bemerkung eines anderen Lesers über die britische Kolonialherrschaft, mit der die Probleme des Landes – und offenbar auch seiner Fluggesellschaft – verständlich gemacht werden sollten, zum Anlass, umfangreich darzulegen, dass es dem Land nie so gut, wie zur Zeit der englischen Herrschaft gegangen sei. Er betonte, dass alle seine wesentlichen Institutionen, darunter die gesamte Verkehrsinfrastruktur, von der Kolonialverwaltung geschaffen worden seien. Diese Strukturen seien inzwischen aber nicht weiter entwickelt, sondern nur abgenutzt worden. Statt sich um die Entwicklung des Landes zu kümmern, habe man sich in den letzten fünfundvierzig Jahren aus religiösen Gründen die Köpfe eingeschlagen. Dies habe es während der englischen Zeit nicht gegeben. Dem entsprechend sei in den fünfundzwanzig Jahren seit der Trennung von Pakistan das Bruttosozialprodukt pro Kopf der Bevölkerung von 150 Dollar auf gerade mal 230 Dollar im Jahr angestiegen, womit das Land nur einfünfzigstel des Wertes von Singapur erziele, das ebenfalls britische Kolonie gewesen sei. 

Hinzu kamen Berichte über steigende Spannungen. Entsprechend einem Muster, das in Asien typisch zu werden beginnt, kämpften die weiblichen Hinterbliebenen zweier ermordeter Spitzenpolitiker um die Macht. Die Verbissenheit, mit der die beiden Begums – die eine Ministerpräsidentin, die andere Oppositionsführerin – miteinander rangen, resultierte nicht zuletzt daraus, dass es um den Schlagabtausch zweier Familienclans ging, die in der äußerst unruhigen und nicht selten blutigen Politik des jungen Landes von Anfang an eine führende Rolle spielten – schon die beiden ermordeten Männer waren Staatspräsidenten gewesen. Hinzu kam der Verdacht, dass der eine für den Tod des anderen verantwortlich gewesen sei.  

Unmittelbarer Anlass für die Spannungen waren die bevorstehenden Parlamentswahlen. Die Opposition verweigerte – die Boykottradition des Landes fortsetzend – die Beteiligung an den Wahlen mit dem Argument, das Ergebnis werde verfälscht, weil die gegnerische Bewerberin den Wahlkampf aus der Position der Ministerpräsidentin führe. Gleiche Wahlchancen seien nur gegeben, wenn die Regierung einige Monate vor der Wahl an einen Treuhänder übergeben werde. Der Streit um diese erstaunlich radikaldemokratische Forderung wurde mit größtem Einsatz geführt. Sie gipfelte in gewalttätigen Auseinandersetzungen wie Überfällen auf Polizeistationen, Tankstellen und Banken, bei denen es eine Reihe von Toten gegeben hatte. Für Mitte Februar war darüber hinaus ein Generalstreik ausgerufen worden. Die ausländischen Botschaften in Dhaka forderten die Fremden auf, sich nicht in der Nähe größerer Menschenansammlungen aufzuhalten.

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Verschlossene Bedürfnisanstalt – ein Gruß aus dem Reich der Mitte

 

Als ich dieser Tage um den West-Lake von Hangzhuo spazierte, kam mir der Marienplatz in Stuttgart in den Sinn. Ich weiß, dass der Vergleich von Stuttgart und Hangzhou und des West-Lakes mit dem Marienplatz nicht ganz fair ist. Hanghzou ist mehr als zehn Mal so groß wie Stuttgart und sein See ist eine der großen Touristenattraktionen für die Chinesen. Auch stellte schon Marco Polo fest, dass Hangzhou die schönste und prächtigste Stadt der Welt sei, was von Stuttgart noch niemand behauptet hat. Da aber das Lob Marco Polos schon 700 turbulente Jahre zurückliegt und Hangzhou in der Reihe der Städte Chinas der Größe nach ähnlich platziert ist wie Stuttgart in Deutschland, scheint mir der Vergleich doch nicht so übertrieben. Dies gilt um so mehr, als die Sache, die meine Aufmerksamkeit erregte, bei allem Unterschied in beiden Städten sehr ähnlich ist. Hier wie dort war die Aufgabe, einen „Platz“ zu bauen, an dem sich die Menschen treffen und sich ihres Lebens freuen können. In Hangzhou ging es dabei um die Gestaltung der Ufer des West-Lakes, in Stuttgart um den Marienplatz. Beide „Plätze“ sind, auch das verbindet sie, nach einer Zeit der Vernachlässigung in den letzten Jahren völlig neu gefasst worden. Was mich ins Grübeln brachte, war, dass das Ergebnis so völlig unterschiedlich ausfallen konnte.

 

Im Hangzhou hat man am Ufer des Sees eine Vielfalt von grünen Anlagen mit abertausenden frisch gepflanzten Bäume geschaffen, die locker um natürliche und künstliche Gewässer gruppiert sind. Dazu gehören dramatisch wilde Steingärten, idyllische Miniaturlandschaften, von Säulen umstandene Plätze, verspielte Pavillons und Pagoden, buckelige Brückchen und rechtwinklig gezackte Stege mit Geländern, auf denen zahlreiche, jeweils unterschiedliche Löwenfiguren stehen; außerdem lange Dämme und allerhand sonstige Monumente. Alles ist bewegt und von einer ausgeklügelten Asymmetrie, weswegen der Blick immer wieder neue Haltepunkte und Perspektiven findet. Selbst in den Natursteinbelag der geschlängelten Wege hat man allenthalben handgearbeitete Steinreliefs mit figürlichen Szenen eingelegt, von denen keines dem anderen gleicht. Das Ganze ist mehr oder weniger im traditionellen chinesischen Stil gehalten. Die Anlagen werden von tausenden gutgelaunten Menschen bevölkert.

 

Den Marienplatz in Stuttgart, die Mitte eines großen Stadtteiles, der sich rund herum die Hügel hinaufzieht, hat man völlig leer gelassen. Das weite Rund ist mit rauen gelben Kunststeinplatten bepflastert, die nur von rasterartig angebrachten Regenrinnen unterbrochen werden. Eingefasst ist es von einer dicken Sichtbetonwand, deren einziger Schmuck kleine runde, symmetrisch angebrachte Vertiefungen sind, die so aussehen, als seien sie von einem Maurerlehrling angebracht worden, auf dessen Ausbildungsplan gerade Übungen im Fräsen von Löchern in hartem Beton standen. Vor der Wand liegen in regelmäßigen Abständen einfache dunkle Betonklötze, welche die Menschen dazu veranlassen sollen, sich niederzulassen. Sie sind so massiv, als habe der Platzarchitekt sicherstellen wollen, dass sie keinesfalls bewegt werden. An den Rand des Platzes, wo sich auch ein paar Bäume finden, hat man einen Spielplatz gelegt, der ebenfalls von dicken grauen Betonwänden eingerahmt wird. Aus schmucklosen Edelstahlöffnungen in der Wand fließt hier Wasser in eine rechteckige Wanne, in der ein paar geglättete Felsbrocken liegen. An einer anderen Ecke des Platzes sind ein paar symmetrische gepflasterte Bodenwellen zu sehen, deren Sinn nicht ohne weiteres zu erkennen ist. Ansonsten findet sich nicht viel, was das Auge anziehen könnte oder was ihm gar vertraut wäre. Am ehesten ist dies noch bei dem Toilettenhäuschen der Fall, das ebenfalls am Rande des Platzes aufgestellt wurde. Ein Industriedesigner hat es in einem gestalterischen Geniestreich in einem kompakten, eleganten Oval untergebracht. Kopf und Fuß des Pavillons sind durch senkrechte Rillen verbunden, die an die Kanneluren klassischer Säulen erinnern. Seine Türe öffnet sich allerdings nur dem, der im dringenden Moment das nötige Kleingeld zur Verfügung hat. Der Platz ist, wie die Bedürfnisanstalt, meist leer. Die Menschen scheinen nicht so recht zu wissen, was sie damit anfangen sollen.

 

Wir haben uns am westlichen Ende des eurasischen Kontinents fast schon daran gewöhnt, dass neu geschaffene Plätze so ähnlich wie der Marienplatz aussehen. Beim Blick vom anderen Ende des Kontinents drängte sich mir nun aber mit einer Vehemenz, die mich erstaunte, der Verdacht auf, dass bei uns irgendetwas falsch gelaufen ist, dass wir so etwas wie die Mitte verloren haben.

 

Ich will einmal, obwohl man sich bei der Mentalität unserer Stadtgestalter da keineswegs sicher sein kann, unterstellen, dass die Erbauer des Marienplatzes nicht die Absicht hatten, die Menschen, für die der Platz geschaffen wurde, ratlos zu machen. Gerade dann stellt sich aber die Frage, wieso es ihnen nicht gelungen ist, einen Platz bauen, der den Bedürfnissen der Menschen dient, der sie auf seine Mitte zieht, mit anderen Worten, auf dem sie sich wohl fühlen. Nachdem sich mir die Frage aus der chinesischen Perspektive stellte, habe ich meine Hoffnung darin gesetzt, aus diesem Blickwinkel auch die Antwort zu erhalten. Ich muss allerdings gestehen, dass ich den Umweg über Ostasien ein wenig auch deswegen einschlage, weil ich hoffe, so den vollkommen „logischen“ kulturgeschichtlichen, praktischen und ökonomischen Begründungen aus dem Weg gehen zu können, die unsere Stadtgestalter ohne Rücksicht auf das konkrete Ergebnis für ihre Lösungen immer parat haben.

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Todernstes Spiel – Kult und Sport am Beispiel des altmexikanischen Ballspieles

 

 

Wer die präkolumbianischen Ruinen Mittelamerikas besucht, dem fällt auf, dass sich zwischen feierlichen Plattformen und Pyramiden immer wieder auch Ballspielplätze befinden. Auffällig ist dies deswegen, weil es sich bei den gewaltigen steinernen Resten der untergegangen indianischen Zivilisationen mit ihren monumentalen Podesten, Treppen und Schrägen um die Überreste der Sakralzonen der alten Städte handelt. Die Ballspielplätze liegen meist in unmittelbarer Nähe der wichtigsten Pyramiden und sind von allerhand sonstigen Zeremonialbauwerken von elementarer Geometrie umgeben. Schon die Lage der Spielfelder zeigt daher, dass es hier um mehr als Sport und Spiel ging. Tatsächlich wurden in diesen Arenen kultische und damit außerordentlich ernste Dinge verhandelt. Nach allem, was wir wissen, stand bei einigen Völkern dabei sogar das Leben auf dem Spiel.

 

Der Gedanke, dass der Sport kultische Funktionen haben kann, ist den christlich geprägten Gesellschaften fremd. Wir wissen eben noch, dass die Olympischen Spiele Altgriechenlands religiöse Bezüge hatten. Der Sport wurde in Europa aber schon in der Antike säkularisiert. Zweitausend Jahre leibfeindliches Christentum haben ein übriges dazu getan, einen möglichen Zusammenhang von Sport und Kult aus unserem Bewusstsein zu tilgen. Nach dem altchristlichen Menschenbild liegen Kult und Sport geradezu gegensätzliche Prinzipien zu Grunde. Die Stiftung von Sinn ist danach im wesentlichen eine Sache des Geistes und muss gewissermaßen gegen den Körper durchgesetzt werden. Spielerische körperliche Aktivität macht somit für sich keinen höheren Sinn.

 

In unserem Kulturkreis können wir daher über den ursprünglichen Zusammenhang von Kult und Sport nicht viel erfahren. Aufschluss hierüber können wir aber von der Betrachtung der präkolumbianischen Kulturen Mesoamerikas erwarten, bei denen Kult und Sport nie getrennt wurden. Dies gilt um so mehr, als die indianischen Zivilisationen weder das Rad noch Zugtiere kannten mit der Folge, dass der körperlichen Aktivität des Menschen ein besonders hoher Stellenwert zukam. Tatsächlich wurde auf den Ballspielplätzen des alten Mexiko denn auch ein Sport praktiziert, der besonders anschaulich zeigt, dass beim Spiel mit dem Ball wesentlich mehr als der Ball im Spiel ist.

 

Archeologische Funde zeigen, dass die Anfänge des altmexikanischen Ballspieles tief in der Geschichte liegen. Es wurde offenbar bereits über tausend Jahre vor unserer Zeitrechnung bei den Olmeken gespielt, dem sagenhaften kulturellen Muttervolk Mesoamerikas, dessen markanteste Hinterlassenschaft die „ballartigen“ monumentalen Kopfskulpturen sind, die man an der mexikanischen Golfküste fand. Wie viele andere kulturelle Errungenschaften der Olmeken wurde das Ballspiel von allen indianischen Völkern der Region übernommen und weiterentwickelt. Welche Bedeutung es in der mesoamerikanischen Kultur schließlich erlangte, spiegelt sich in der Tatsache, dass viele Zeremonialstädte mehrere Ballspielplätze besaßen. In der mayanisch-toltekischen Stadt Chichén-Itzá im Norden der Halbinsel Yukatan etwa wurden acht, in der zweitausend Kilometer davon entfernten Totonaken-Stadt El Tajín, 200 km nordöstlich von Mexiko City, sogar siebzehn Ballspielplätze gefunden. Als die Spanier Anfang des 16. Jahrhunderts in Mittelamerika einfielen, war das Ballspiel bei den Völkern, die damals dort lebten, noch in Gebrauch. Die christlichen Eroberer sorgten jedoch, wie bei allem, was mit der indianischen Religion zusammenhing, auf’s Gründlichste dafür, dass es bald in Vergessenheit geriet. Dadurch ist der Traditionszusammenhang des Spieles vollständig verloren gegangen.

 

Die präkolumbianischen Kulturen sind erst vor relativ kurzer Zeit aus dem Dornröschenschlaf geweckt worden, in den sie teilweise schon lange vor der Ankunft der Spanier gefallen waren. Erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde die Welt durch die Berichte europäischer und amerikanischer Reisender, die die Ruinen der Maya Städte im Dschungel aufgesucht hatten, auf die erstaunlichen Leistungen der indianischen Kulturen aufmerksam. Seitdem versucht man, die Zusammenhänge dieser Kulturen, deren Besonderheit, legt man unsere Maßstäbe zugrunde, eine höchst merkwürdige Mischung von Avanciertheit und Retardierung ist, in mühsamer Kleinarbeit zu rekonstruieren. Dabei ist man auch auf das vergessene Ballspiel gestoßen. Mittlerweile ist das Spiel im Zuge einer Rückbesinnung auf altmexikanische Traditionen an einigen Orten sogar wieder aufgenommen worden.

 

Unser Wissen über das altmexikanische Ballspiel ist dennoch begrenzt. Am besten Bescheid wissen wir über die Anlagen, auf denen das Spiel ausgetragen wurde. Ballspielplätze sind in mehr oder weniger gutem Erhaltungszustand bei Ausgrabungen überall in Mittelamerika gefunden worden. Sie bestanden in der Regel aus einem rechteckigen Platz, der von Mauern oder Wällen umgeben war, die in der Mitte tribünenartig in das eigentliche Spielfeld hineinsprangen. Das Spielfeld wurde dadurch im Mittelteil verengt und hatte so in etwa die Form einer römischen Eins. Die Größe der Arenen variierte erheblich. Einige Ballspielplätze waren kürzer als ein Basketballfeld, andere länger als ein Fußballplatz. Den größten Ballspielplatz fand man in Chichén-Itzá. Die Anlage, die inzwischen vollständig wiederhergestellt ist, ist so gewaltig, dass zweifelhaft ist, ob sie überhaupt bespielbar war. Das Spielfeld hat eine Länge von nicht weniger als 164 Metern und ist in der Mitte 36 und an den Enden 70 Meter breit. Mit ihren hohen Mauern, auf denen feierliche Tempel stehen, erinnert sie an die Arenen des europäischen Altertums, wie man sie etwa in dem amerikanischen Monumentalfilm „Ben Hur“ dargestellt hat.

 

Die genauen Regeln des Ballspieles sind uns mangels einer näheren Beschreibung oder gar eines überlieferten Regelbuches leider nicht bekannt. Wir wissen aber, dass es sich um ein Mannschaftsspiel handelte, das in seiner Grundstruktur dem heutigen Volleyballspiel ähnelte und Elemente von Basketball enthielt. Der Ball war eine massive, elastische Kugel, die meist in etwa die Größe eines Handballes hatte und aus Kautschuk bestand, einem Material, das man vom Gummibaum gewann, der im Siedlungsgebiet der Olmeken an der Golfküste heimisch ist. Dieser Ball wurde wie beim Volleyballspiel über eine Mittellinie gespielt und durfte den Boden nicht berühren. Zusätzlich war er möglichst durch zwei Ringe von der ungefähren Größe eines Basketballkorbes zu schießen, welche an der Mittellinie in einigen Metern Höhe senkrecht an der Seitenbegrenzung des Spielfeldes angebracht waren. (Die aufwendig ornamentierten, steinernen Ringe haben die Spanier übrigens mit Vorliebe als Mühlsteine benutzt, was geradezu symbolisch für die Mischung von Sendungsbewusstsein und Nützlichkeitsdenken des europäischen Kolonialismus ist.) Die besondere Herausforderung an die Geschicklichkeit bestand darin, dass die Spieler den Ball nur mit dem Gesäß, den Hüften, den Schultern oder den Knien befördern durften. Da das Spielgerät ziemlich hart war und einiges Gewicht hatte, wurden diese Körperteile und die Hände, mit denen man sich beim Gesäßstoß am Boden abstützte, mit Lederpolstern oder Holzschienen geschützt, eine Art der Aus(f)rüstung, die sich noch heute in einigen typisch amerikanischen Sportarten wie American Football oder Baseball findet. Der gepolsterte Gürtel, den die Akteure beim Spiel trugen, erlangte im alten Mexiko geradezu eine eigenständige kultische Bedeutung. Solche Gürteljoche wurden, in Stein gehauen und prachtvoll geschmückt, überall in der Region gefunden.

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Echte Menschen – Eine Begegnung mit den Urwaldbewohnern Malaysias

Wir trafen Kulit, einen 27-jährigen malaysischen Flugzeugmechaniker, in einem klapprigen Bus auf dem Weg von den Urwäldern im Zentrum der malayischen Halbinsel nach Kuala Lumpur. Er kam, wie wir, aus dem malaysichen Nationalpark Taman Negara, wo er einem ausgefallenen „Hobby“ nachgegangen war. Er suchte den Kontakt zu den Waldmenschen, jenen seltsamen, in keiner Weise mit den einheimischen Malayen verwandten Bewohnern der Urwälder, die man Orang Asli nennt, was so viel wie „ursprüngliche“ aber auch „echte Menschen“ heißt.

 

Wir selbst standen noch ganz unter dem Eindruck unserer eigenen unerwarteten Begegnung mit den Waldmenschen, einer nur wenige Minuten langen Episode, die uns als der Höhepunkt unserer Reise durch Malaysia erschienen war. Es war auf einer Wanderung im Taman Negara, dessen Urwald man als den ältesten der Erde bezeichnet, weil sich die Lebensbedingungen dort seit 400 Millionen Jahren nicht verändert haben. Mitten darin fand die eindrucksvolle Begegnung mit den Waldmenschen statt, deren Lebensform so alt zu sein scheint, wie der Wald, in dem sie leben.

 

Fernab vom Touristencamp war uns eine Gruppe von gänzlich unmalayisch aussehenden Menschen entgegengekommen. Voran ging eine Frau, die nur mit einem Lendenschurz bekleidet war. Um die Schultern trug sie ein Tuch, in dem sich ein wenige Wochen alter Säugling befand. Es folgten zwei Kinder, etwa 10 bis 14 Jahre alt, barfuss und nackt, dahinter ein Mann, der eine kurze Hose und Turnschuhe trug. Mit ihrer dunklen Haut und dem schwarzen krausen Haar erinnerten sie an die australischen Ureinwohner. Offenbar überrascht, sich einer europäischen Familie mit ebenfalls 3 Kindern gegenüber zu sehen, deren leuchtende Blondschöpfe auf’s deutlichste mit ihrer eigenen Haartracht kontrastierten, hielten sie einen Augenblick inne. Zwei Familien, durch Jahrtausende der Entwicklung voneinander getrennt, standen sich gegenüber: Waldbewohner der ältesten heute noch existierenden Stufe menschlichen Lebens und weiße Zivilisationsmenschen des entgegen gesetzten Extrems. Zum Glück gab das Baby einen schnellen Anknüpfungspunkt. Stolz packte die Mutter den kleinen nackten Jungen aus dem Schultertuch. Man hatte ihm die Haare bis auf ein kleines Büschel über der Stirn abgeschnitten. Es fand ein sprachloser Austausch von Reaktionen der Rührung statt – in elementaren Punkten sind die Zivilisationen eben doch nicht sehr weit voneinander entfernt. Dann ging jede Familie wieder ihres Weges. Die Waldmenschen verschwanden hinter Palmblättern und ließen uns in weitreichendsten Gedanken über den Menschen und seine erstaunliche Entwicklung zurück, deren langer Weg uns plötzlich deutlicher denn je zuvor Augen stand. Viel hätten wir dafür gegeben, mehr von den Waldmenschen zu wissen, nicht zuletzt darüber, was ihnen nach dieser Begegnung durch den Kopf ging.

 

Nur einen Tag nach dieser denkwürdigen Begegnung war uns dann Kulit über den Weg gelaufen, der unsere Begierde, mehr über die Waldmenschen zu wissen, in ungeahnter Weise befriedigen konnte. Was er dabei berichtete, klang wie ein Märchen aus dem Sozialparadies. Rousseau hätte es nicht besser erfinden können.

 

Seit Jahren, so begann er, verbringe er jede freie Minute mit den Waldmenschen. Wochenlang habe er mit ihnen in den Wäldern gelebt. Er kenne ihre Sprache, die sehr einfach sei. Meist begnügten sie sich mit kurzen Zurufen. Er selbst habe sich ein kleines Wörterbuch gemacht, vielleicht das Einzige, dass von ihrer Sprache existiere. Die Waldmenschen, fuhr er fort, ziehen in Gruppen bis zu 20 Personen im Dschungel umher, lassen sich hier und dort nieder und bleiben an einem Ort nur solange, wie er ihnen Nahrung bietet. Sie leben von den Pflanzen, die ihnen die Natur bietet, und von der Jagd, bei der sie das Blasrohr verwenden. Über lose zusammengefügte Kleingruppen hinaus gibt es so gut wie keinen größeren Zusammenhang, eine weitläufige Stammeszugehörigkeit zwar, nichts aber, was einem Staat ähnlich wäre. Der Wechsel von einer zur anderen Gruppe ist zwanglos und findet nicht zuletzt zur Lösung von Spannungen innerhalb der Gruppe statt. Die verschiedenen Gruppen stehen in einem freundlichen Verhältnis zueinander. Sie kommen sich auch kaum ins Gehege, denn der tropische Wald bietet allen genügend Platz und Mittel zur Befriedigung ihrer äußerst einfachen Bedürfnisse. Kriminalität sei unbekannt, Eigentums- und Bereicherungsdelikte schon mangels Eigentum an beweglichen Sachen. Fremd sei ihnen bereits die Vorstellung, dass jemandem etwas gehören könne, was er nicht gerade bei sich trägt. Es fehle an jeder Art von Abstraktion, weshalb sie auch keine Vorstellung darüber hätten, dass man eine bloß geistige Beziehung zu einer Sache, einen Anspruch haben könne. Ich wusste nicht so recht, ob ich sie deshalb bedauern oder beglückwünschen soll. Mit dem Begriff des Anspruchs freilich fehlt den Orang Asli eine schier unerschöpfliche Quelle des Streitens und Rechtens und damit des Bedarfs, Normen zu schaffen. Allerdings fehlt ihnen auch der Anreiz, immer differenziertere, geistigere Fähigkeiten zur Auseinandersetzung auszubilden. Eine Gesellschaft, die keinen Bedarf an Juristen hat – ist das die Definition des Paradieses?

 

Ansprüche, so meinte ich mit meiner europäischen Seele, müsse es doch wenigstens im Emotionalen geben, ein nicht materielles Band etwa zwischen Mann und Frau bestehen. Auch hier fehle jede Institution, berichtigte mich Kulit. Zwar gäbe es so etwas wie eine Ehe. Man feiere die Hochzeit in bescheidener Form, etwa indem man einen etwas größeren Affenbraten herrichte. Aber es folgen keine Verpflichtungen daraus. Jeder, auch die Frau, sei frei, sich einen neuen Partner zu suchen. Emotionale Probleme, die daraus resultieren können, löse man, indem man die Gruppe verlasse. Ohnehin hielten sich solche Frustrationen in Grenzen. Wo kein Anspruch, da auch keine Enttäuschung, meinte er lakonisch.

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Aufstieg und Fall in Burma – Der Kolonialabenteurer Felipe de Brito e Nicote

 

Am 30. März 1613 wurde der Portugiese Felipe de Brito e Nicote in der Hauptstadt des von ihm gegründeten Königreiches in Burma als Usurpator und Tempelschänder öffentlich gepfählt. Damit endete ein Leben, das nicht weniger spektakulär war als sein Tod. Das Schicksal dieses Kolonialabenteurers, das hierzulande nicht bekannt ist, war einer jener unglaublichen Lebensläufe, wie sie Zeiten des Umbruchs hervorbringen können, Zeiten, in denen auch derjenige, dem das Schicksal wenig oder gar Widriges in die Wiege gelegt hat, aus scheinbar fest zementierten gesellschaftlichen Verhältnissen ausbrechen und unerwartet in die größten Höhen der Macht aufsteigen kann.

De Britos Erwartungen, an der großen Macht teilzuhaben, konnten kaum sehr hoch sein. Es war die Zeit, in der sich in Europa die Karten des Spieles um die Macht fest in den Händen einer kleinen Clique befanden. Zwar mischte man die Karten ohne Unterlass, um Krieg zu spielen. Aber man achtete sorgfältig darauf, dass sich der Kreis der Spieler nicht erweiterte. Durch die Entdeckungen der Seefahrer aber waren neue Karten ins Spiel der Macht gekommen, so viele, dass die europäischen Potentaten sie unter sich kaum verteilen konnten. Das war die Chance für Naturen wie De Brito, der es vom Schiffsjungen zum König brachte.

Natürlich suchten die etablierten Protagonisten möglichst auch die neuen Karten in ihre Hände zu bekommen. Danach, ob sie ein Recht darauf hatten, wurde nicht lange gefragt. Es war eine Zeit, in der die Europäer Wahrnehmen und Inbesitznehmen nicht zu trennen pflegten. Nur mühsam kaschierte man die Gier nach Macht und Gold mit dem Motiv, den Heiden das Christentum bringen zu wollen. Eilig sicherten sich die ersten Entdeckermächte, Spanien und Portugal, mit Hilfe des – spanischen – Borgia-Papstes Alexander VI die Beute der Entdeckungsfahrten. Bereits zwei Monate nach der Rückkunft des Kolumbus von seiner ersten Amerikareise erliess der Papst das Edikt „Inter caetera“, das die Basis des unglaublichsten Vertrages wurde, den die Weltgeschichte kennen dürfte. Im Vertrag von Tordesillas teilten Spanien und Portugal 1494 die Welt kurzerhand in zwei Hälften. Alles was östlich einer Linie, die man in der Nähe der Kapverdischen Inseln schön übersichtlich von Pol zu Pol zog, an unchristlichem Land gefunden werden würde, sollte den Portugiesen gehören, das westlich davon gelegene Land den Spaniern. Jeder sollte in seiner Region auch das Monopol des Handels haben. Ein Verstoß dagegen galt als besonders sündhaft und hatte, laut päpstlichem Edikt, die automatische Exkommunikation zur Folge.

So ging jeder in seine Richtung und bediente sich nach Kräften. Die Spanier überfielen Amerika und gingen bekanntlich nicht sehr christlich mit denen um, die ihnen im Weg standen. Die Portugiesen segelten um Afrika nach Osten und suchten vor allem die sagenhaften Pfefferinseln. Es stellte sich schon bald heraus, dass die Beute wesentlich größer war, als erwartet und dass ein kleines Land wie Portugal sie kaum verkraften konnte. Die Portugiesen begnügten sich daher zunächst damit, eine Reihe von befestigten Hafenplätzen an den Küsten Süd- und Ostasiens zu besetzen, um auf diese Weise den Osthandel in den Griff zu bekommen. Nicht nur der Pfeffer, der seinerzeit in Gold aufgewogen wurde, sondern auch andere Waren aus den hochentwickelten Ländern Asiens, wie Seide und Porzellan, erfreuten sich in Europa großer Beliebtheit und erbrachten besten Gewinn, seit man, der Absicht der Entdeckungsfahrten entsprechend, die diversen nah- und fernöstlichen Zwischenverdiener ausgeschaltet hatte.

Dreh- und Angelpunkt der portugiesischen Kolonialpolitik waren starke Forts, die mit wenigen Leuten und vor allem mit Kanonen leicht gegen die schlechter bewaffneten Einheimischen zu verteidigen waren. Es ist heute kaum mehr glaublich, mit welch‘ geringem Aufwand die Portugiesen sich zu Herrschern über den ganzen Osthandel machen konnten. Ihre wichtigsten Stützpunkte waren tausende Kilometer voneinander entfernt. In Südasien etwa klaffte eine riesige Lücke zwischen Goa an der Westküste des indischen Subkontinents und Malakka auf der Malayischen Halbinsel. Dies war das Betätigungsfeld von Abenteurern wie De Brito, die hier, angeregt durch die Großen wie Albuquerque, auf eigene Faust ihr Glück suchten.

De Brito stammte aus ärmlichen Verhältnissen. Er war der vermutlich illegitime Sohn eines Franzosen und einer portugiesischen Mutter. Sein Vater war offenbar der französische Botschafter in Portugal Jean Nicot, nach dem, da er als erster Tabak nach Frankreich brachte, der Wirkstoff Nikotin benannt ist. Geboren wurde De Brito im Jahre 1550 in Lissabon. Es wird berichtet, dass er bereits im Alter von 10 Jahren als Schiffsjunge auf die damals außerordentlich lange Fahrt nach Asien gegangen und schon früh mit Burma in Kontakt gekommen sei. Über seine ersten 50 Lebensjahre ist wenig bekannt. Er betätigte sich zunächst als Salz- und möglicherweise auch als Kohlenhändler im Golf von Bengalen. Das Vermögen, das er dabei verdiente, hätte an sich für einen geruhsamen Lebensabend zu gereicht. Wie die meisten seiner Landleute, die es in diese Breiten verschlagen hatte, begab er sich aber auch in die gutbezahlten Dienste der lokalen Fürsten. Diese glaubten, die Fremden mit ihren Wunderwaffen bei ihren endlosen und höchst blutigen Streitigkeiten um Länder und Throne gebrauchen zu können und setzten sich dabei die Läuse in den Pelz, die sie nur noch mit Mühe oder überhaupt nicht mehr loswurden. De Brito hatte allerdings noch Höheres im Sinn. Als sich in seinem 50. Lebensjahr Gelegenheit bot, beschloss er, sich im Spiel um die Macht nicht länger mit der Nebenrolle des Königsmachers zu begnügen, sondern eine Hauptrolle zu übernehmen.

Die Gelegenheit ergab sich, als in den letzten Jahren des 16. Jahrhunderts das burmesische Großreich von Pegu zusammenbrach und in mehrere kleinere Königreiche zerfiel, die sich um die Erbschaft von Pegu stritten. Das Land war nach verheerenden Kriegen, an denen De Brito als Offizier und Berater des Königs von Arakan tatkräftig beteiligt war, verwüstet und die Bevölkerung dezimiert. „Es ist eine beklagenswerter Anblick“ schrieb der Jesuit Andreas Boves, der De Brito im März 1600 durch das südburmesische Deltagebiet begleitete, „die Ufer des Flusses zu sehen, an denen man jetzt allenthalben die Ruinen von vergoldeten Tempeln und vornehmen Gebäuden sieht; die Wege und Felder sind voll Schädel und Knochen der unglücklichen Bewohner von Pegu, die getötet wurden oder verhungert sind.“ Am Entstehen dieses Zustandes war De Brito nicht unbeteiligt, denn er hatte dem König des burmesich-begalischen Grenzlandes Arakan als hoher Offizier bei der Eroberung und Plünderung der Reichshauptstadt Pegu wichtige Dienste geleistet.

Mit der Zerstörung des einst mächtigen Reiches von Pegu war die Mündung des Pegu-Flusses in den Rangunfluß, der wichtigsten Verbindung Burmas zum Meer, dem Zugriff frei. Als guter Portugiese erkannte De Brito die handelspolitische und strategische Bedeutung der Flussmündung, an der später die heutige burmesische Hauptstadt Rangun entstehen sollte, und beschloss, sich hier festzusetzen. Er brachte den König von Arakan, der sich ihm verpflichtet fühlte, dazu, ihm die Verwaltung des Hafens von Syriam unweit der Mündung des Pegu-Flusses zu überlassen. Dann überzeugte er ihn davon, dass hier eine Zollstation errichtet werden müsse, wobei er dem König vorgauckelte, er könne sich damit die Mittel verschaffen, die ihn zum Herrscher über ganz Burma und damit zum Erben des Reiches von Pegu machen würden.

Im Jahre 1600 begann De Brito im Auftrag des Königs ein Zollhaus zu erstellen. Aus der Zollstation wurde, was der König zu spät bemerkte, ein regelrechtes Fort, wie sie die Portugiesen zu bauen pflegten. Auch befestigte De Brito die Stadt Syriam, als handele es sich um eine Hauptstadt. Gleichzeitig stellte er, die Rivalitäten der burmesischen Volksstämme nutzend, um einen Kern von 60 Portugiesen eine Armee aus 3 000 Einheimischen auf und warf damit den Vertreter des Königs aus der Stadt. Als dem König von Arakan klar wurde, dass sein einstiger Vertrauter dabei war, sich in Syriam festzusetzen, war es zu spät. De Brito war bereits auf dem Weg nach Goa, um sich vom portugiesischen Vizekönig den Plan absegnen zu lassen, von Stützpunkt Syriam aus Niederburma zu erobern. Zuvor hatte er allerdings den Thron von Pegu, den er selbst ersteigen wollte, an mehrere weitere Fürsten gegen das Versprechen verkauft, während seiner Abwesenheit Ruhe zu bewahren.

Viel Ruhe hatte die Garnison von Syriam freilich nicht. Mit immer neuen Heeren und Flotten versuchten die Könige von Arakan und Taungu, die Stadt einzunehmen. Die wenigen Verteidiger, so wird berichtet, sollen sich aber selbst gegen eine Flotte von 1200 Schiffen und ein Heer von 40 000 Mann haben halten können. Schließlich fuhren die Burmesen, die die Größe der Gefahr offensichtlich erkannt hatten, großes Belagerungsgerät auf und brachten die Portugiesen in arge Bedrängnis. De Brito’s Vertreter musste die portugiesischen Schiffe verbrennen, um Desertionen seiner Leute zu verhindern. Am Ende kamen zu Gunsten der Belagerten aber die Sterne ins Spiel. Ein großer Meteor soll die Verteidiger aus ihrer verzweifelten Lage gerettet haben. Die Belagerer sahen in dem nächtlichen Feuerstrich ein himmlisches Zeichen und zogen sich unter Hinterlassen ihres gesamten Belagerungsgerätes zurück.

De Brito stieß beim portugiesischen Vizekönig in Goa mit seinen Eroberungsplänen auf großes Interesse. Die schönen Tage von Tordesillas waren vorbei. Das Spiel um die Macht in den neuen Welten begann unübersichtlicher zu werden. Inzwischen hatte die Reformation stattgefunden und die Christenheit war – auch in ihren kommerziellen Interessen – gespalten. Die protestantischen Holländer – soeben dem Joch Spaniens, das Portugal in Personalunion regierte, entkommen – kümmerten sich weder um den Vertrag mit seinen symetrisch-klaren Spielregeln für die Weltpolitik, noch um päpstlichen Segen und Bannstrahl. Als besonders unangenehmen Spielverderber mussten die iberischen Weltaufteiler den Holländer Jan Huyghens van Linschoten ansehen. Er hatte in den Jahren 1586-92 – ausgerechnet und bezeichnenderweise beim Erzbischof von Goa, dessen Sekretär und Buchhalter er war – in aller Stille Nachrichten über die sorgsam geheimgehaltenen Seewege nach Osten und den Asienhandel sammeln können und dieselben 1596 unter den Titel „Itinerario“ veröffentlicht. Das Werk wurde eine kolonialer Bestseller und sofort in mehrere Sprachen übersetzt. Es enthielt genaue Angaben über Handelsplätze und Waren sowie Küsten, Inseln, Proviantstellen und sogar Meeresuntiefen. Kaum waren die Holländer im Besitz dieser Informationen, sandten sie Handelsflotten nach Asien aus. Auch im – ebenfalls unkatholischen – England entzündete van Linschoten’s „wegweisendes“ Werk den Geist der Konkurrenz. Dort wurde im Jahre 1600 die später berüchtigte englische Ost-Indien-Kompangnie gegründet und von Königin Elisabeth mit Privilegien ausgestattet, die Portugal als äußerst störend empfinden musste. Zur Sicherung der portugiesischen Macht erschien es dem Vizekönig daher, nun da die Karten aufgedeckt waren, durchaus sinnvoll, die bloße Stützpunktpolitik zu Gunsten des Versuches aufzugeben, sich eine territoriale Basis im Hinterland der asiatischen Staaten zu verschaffen. Er ernannte De Brito zum Kapitän von Portugal sowie zum General der Eroberung von Pegu, stellte ihm 6 Kriegsschiffe und 3 000 Soldaten zur Verfügung und gab ihm zur dynastischen Absicherung seine uneheliche Tochter zur Frau, die aus einer – offensichtlich kolonialen – Verbindung mit einer Javanerin stammte. Damit konnte sich De Brito offiziell in den exklusiven Kreis der Spieler um die Macht aufgenommen fühlen, eine Gesellschaft, in der er seine Rolle alsbald mit Bravour zu spielen begann.

Kaum war De Brito zurück in Syriam, ließ er sich mit Unterstützung der Mon, einer burmesich-siamesischen Volksgruppe, die durch die Kriege um Pegu entwurzelt worden war, zum König von Niederburma ausrufen. Sein Ansehen bei den Mon scheint anfangs groß gewesen zu sein, denn die Zahl seiner Untertanen wuchs zunächst beträchtlich. Die Erfolge der Portugiesen bei der Verteidigung von Syriam und ihr augenscheinlich gewordener guter Draht zu den Sternen – ein in Burma außerordentlich wichtiger Faktor – hatten die Einheimischen so beeindruckt, dass sie sich danach drängten, unter seinen Schutz zu kommen. Auch die lokalen Fürsten suchten jetzt, da er der offizielle Repräsentant einer gefürchteten Weltmacht war, um seine Freundschaft nach, so auch der König von Arakan, der sich mit einem reichen Geschenk ruhigstellen ließ.

Als getreuer Untertan seiner katholischen Majestät baute De Brito in Syriam eine Kirche, deren Reste man noch heute sehen kann, und begann mit Hilfe einiger Mönche seine Untertanen zu christianisieren. Über die Methoden, die er hierbei anwandte, gibt es unterschiedliche Darstellungen. Burmesiche Chronisten heben seine rücksichtslose Unduldsamkeit hervor und sprechen von zwangsweiser Katholisierung. Sie beklagen vor allem, dass er – mit Zustimmung der Mönche, die den Erzbischof von Goa vertraten – die reichen buddistischen Tempel geplündert, alle goldenen Ornamente und Bildnisse eingeschmolzen und die bronzenen Glocken zu Kanonen gegossen habe. Ältere portugiesischen Schriftsteller sehen in der Zerstörung der Tempel hingegen das konsequente Ausrotten des Aberglaubens. De Brito’s gewaltsamer Tod hat ihm bei diesen folgerichtig den Titel eines Märtyrers für den Glauben eingebracht. Realistischerweise dürften seine missionarischen Aktivitäten, dem allgemeinen Brauch entsprechend, der mehr oder weniger bewussten – bei ihm eher mehr als weniger bewussten – Tarnung seiner kommerziellen Interessen gedient haben. Denn sein Hauptaugenmerk richtete er darauf, seiner Zollstation Geltung zu verschaffen. Er verordnete, dass alle Schiffe, die Niederburma anlaufen wollten, ihre Waren im Hafen von Syriam zu verzollen haben. Schiffe, die sich diesem selbstgesetzten Zollmonopol widersetzten, zwang er mit Hilfe seiner Kriegsschiffe in den Hafen oder beschlagnahmte sie, wobei er manchen guten Fang machte. Schon bald kontrollierte er fast den gesamten Seehandel Burmas, was nicht nur sehr einträglich, sondern auch deswegen nützlich war, weil er dadurch den Waffenerwerb seiner Feinde steuern konnte. Hilflos mussten sie zusehen, wie ihre Karten immer schlechter wurden.

De Britos fiskalischen Erfolge waren so bedeutend, dass der König von Arakan zu bedauern begann, sich mit einem bloßen Geschenk zufrieden gegeben zu haben. Er kündigte die erzwungene Freundschaft mit einer Flotte von 700 Schiffen auf, die er gegen Syriam sandte. Auch dieser Versuch der Rückeroberung sollte ihm jedoch teuer zu stehen kommen. De Brito konnte die Angreifer nicht nur zurückschlagen, ihm fiel auch der Sohn des Königs in die Hände, den er erst nach Zahlung einer gewaltigen Lösegeldsumme und Abtretung einer Insel, auf der sich sehr ertragreiche Salinen befanden, wieder herausgab.

Die Geschichte der nächsten Jahre ist so undurchsichtig und verschlungen wie der Dschungel, in dem all dies stattfand. De Brito ging immer wieder neue Bündnisse mit einheimischen Fürsten ein und brach oder erneuerte sie nach Bedarf. Er schloss Blutsbrüderschaft mit dem einen König, verheiratete seinen Sohn mit der Tochter eines anderen, half diesem bei der Eroberung, jenem bei der Verteidigung einer Hauptstadt und machte gemeinsame Sache mit anderen portugiesischen Abenteurern und Piraten. Was es im einzelnen mit all diesen Verwicklungen auf sich hatte, bei denen immer viel Blut floss und zahlreiche Schiffe zu Bruch gingen, lässt sich kaum mehr aufklären. Am Ende, so wird berichtet, war De Brito im Besitz von großen Goldschätzen. Einige Geschichtsschreiber wollen wissen, dass sich sein privates Vermögen auf 13 Millionen Goldmünzen belief. Man wird nicht weit von der Wahrheit sein, wenn man vermutet, dass die verwirrenden Spielzüge viel mit diesen Schätzen zu tun hatten.

Auch de Brito musste in all diesen Intrigen gelegentlich schweren Tribut entrichten. Die Unverfrorenheit, den König von Arakan ein weiteres Mal übertölpeln zu wollen, bezahlte er mit dem Leben seines Sohnes. Diesen hatte er unter dem Vorwand, einen Vertrag über eine Handelsniederlassung abschließen zu wollen, mit einigen Schiffen in die Stadt Dianga, die zu Arakan gehörte, gesandt. Der König von Arakan argwöhnte, wohl nicht zu Unrecht, dass De Brito nur beabsichtigte, einen weiteren Fuß in die Tür zu seinem Königreich zu zwängen. Er lud den Sohn samt seinen Kapitänen in seinen Palast und ermordete sie. Auch ließ er alle Schiffsbesatzungen und bei dieser Gelegenheit die 600 Portugiesen von Diango, die dort seit längerem ansässig waren, umbringen.

Einige Jahre scheint De Brito auch in relativem Frieden gelebt zu haben, weshalb er sich Dingen zuwenden konnte, die seinen Bewunderern als Beweis seiner staatsmännischen Fähigkeiten galten. Er baute zerstörte Städte wieder auf und fand Musse, sich als Geschichtsschreiber zu betätigen. Die von ihm verfasste Geschichte der Belagerung der Stadt Syriam im Jahre 1607 durch die Könige von Arakan und Taungu, die interessante Einblicke in die Seele eines Eroberers ermöglichen dürfte, liegt leider noch unveröffentlicht in der Bibliothek des Königs von Spanien.

Am Schluß hat er jedoch zu hoch gepokert. Er trieb es so weit, dass der König von Ava schwor, De Brito ins Meer zu werfen. Auch dieser König hatte die Absicht, wieder ein grossburmesiches Reich zu schaffen und hatte zu diesem Zweck schon einen großen Teil seiner Widersacher beseitigt. Sein Bruder, der König von Taungu, der früher mit dem König von Arakan gegen De Brito gekämpft hatte, war aber mit der untergeordneten Rolle, die ihm dabei zugedacht war, nicht zufrieden. Daraus ergab sich einer der blutigen Familienkämpfe um die Macht, die die Geschichte Burmas durchziehen, und der, folgt man einheimischen Geschichtsschreibern, auf merkwürdige Weise mit einer der großen burmesischen Romanzen verwoben war.

Der genannte König von Taungu hatte nämlich eine berühmte Schönheit zur Frau, zu der er auf Grund etwas seltsamer Umstände gekommen war. Angeblich hatte er sich in sie verliebt, als er ihr vom Tod ihres ersten Mannes, der sein Cousin war, in einer Schlacht berichtete. Sein Vater verbot ihm aber die ersehnte Ehe, weil die Schöne 6 Jahre älter war als er. Die Folge waren zahlreiche Liebesgedichte – sie werden zu den schönsten der burmesischen Literatur gezählt -und der Schwur, die Angebetete zur Königin von ganz Burma und dementsprechend sich selbst zum König desselben zu machen. Während sich der junge Mann, der übrigens auch philosophische Essays verfasste, wieder einmal in einer Schlacht befand, heiratete ein anderer Cousin die schöne Frau. Dieser – er gehörte zu einem verfeindeten Familienzweig – hatte das Pech, bei der Eroberung von Pegu in Gefangenschaft auf der Seite des Gedichteschreibers zu kommen, wo ihn derselbe heimlich im Gefangenenlager aufsuchte und erschlug. Nachdem auch sein strenger Vater gestorben war, heiratete der heißblütige Liebhaber, der nunmehr König von Taungu war, die doppelte Witwe.

Nun galt es noch den Rest des Schwures zu verwirklichen, nämlich König von ganz Burma zu werden, und da es hierbei Schwierigkeiten gab, verbrüderte sich der flexible Herrscher mit seinem früheren Feind De Brito. Die Schwierigkeiten beruhten darauf, dass er inzwischen von seinem Bruder, dem nicht minder ehrgeizigen König von Ava, überfallen und zu dessen Vasallen degradiert worden war. De Brito sollte ihm helfen, die Schmach zu tilgen (dass er ihm dadurch auch helfen sollte, die Krone von ganz Burma zu erlangen, musste er natürlich verschweigen, denn dazu musste er De Brito am Ende selbst aus dem Land werfen). Er forderte den Portugiesen also auf, Taungu vom Joch seines Bruders zu befreien. Es kam zur Belagerung von Taungu, wobei die Stadt allerdings zerstört und des Königs schöner Palast in Flammen aufging – ob versehentlich oder weil De Brito die Machenschaften seines Blutsbruders durchschaute, ist ungeklärt. Daraufhin begab sich der König von Taungu mit De Brito nach Syriam.

Dieser Eingriff in die Familienangelegenheiten war nun der Anlass für den bereits erwähnten weiteren Schwur in der königlichen Familie. Der König von Ava beschloss, mit dem portugiesischen Spuk in Syriam endlich Schluss zu machen. Zu diesem Zweck soll er vor den Toren von Syriam ein Heer von 150 000 Mann und 15 000 Reitern sowie eine Flotte von 3 000 Schiffen zusammengezogen haben. Auch wenn diese Zahlen, wie auch andere in den Berichten über De Brito, tropische Wucherungen enthalten und weniger Tatsachen als die Größe des Problems beschreiben dürften, das der freche Portugiese in Burma darstellte, kann kein Zweifel daran bestehen, dass es De Brito diesmal mit einem äußerst entschlossenen Gegner zu tun hatte. Seine nur 100 Portugiesen und 3000 Einheimischen hatte alle Hände voll zu tun, die Mauern von Syriam zu verteidigen.

Am Ende soll De Brito im wahrsten Sinne des Wortes sein Pulver verschossen haben, weshalb er seine Kanonen und damit seine wichtigste Waffe nicht mehr zur Verteidigung jener Mauern einsetzen konnte, mit denen alles angefangen hatte. Der Bote, den er mit einer Menge Geld nach Bengalen geschickt hatte, um für Nachschub zu sorgen, verhielt sich wie sein Auftraggeber. Er dachte an seinen eigenen Vorteil und verschwand mit dem „Pulver“.

De Brito versuchte nun Zeit zu gewinnen, denn er erwartete Unterstützung aus Goa, wohin er einen Hilferuf gesandt hatte. Eine Zeitlang war es auch noch möglich, die Angreifer mit heißem Pech und Öl zurückzuhalten. Nach einer Belagerung von mehr als drei Monaten konnte er jedoch nicht mehr verhindern, dass die Burmesen unter den Mauern, denen ihre schwachen Geschütze nichts hatten anhaben können, einen Tunnel durchstießen und in die Stadt und die „Zollstation“ eindrangen. Als einen Tag danach Hilfe aus Goa eintraf, war das Spiel bereits aus.

Das Nachspiel war, wie gesagt, bitter. Der König von Ava soll seinem Bruder die Brust haben aufschlitzen lassen. De Brito sah man, anders als im christlichen Portugal, als gemeinen Tempelplünderer an, weswegen er die dafür übliche Strafe erhielt. Er wurde im Angesicht seiner Leute und seiner Mauern auf Eisenpfähle gespießt.

Die Berichte über De Brito’s grausamen Tod – und übrigens auch über andere Details aus seinem bewegten Leben – unterscheiden sich auf merkwürdige Weise. Die Angaben über die Länge seines Todeskampf etwa schwanken auffällig zwischen einem und drei Tagen, wobei jeder der Berichterstatter den Eindruck erweckt, als sei seine Version gesichert. Es scheint, als sei der Bericht der Geschichtsschreiber davon beeinflusst, welche Strafe sie für seine Taten als angemessen erachten. Jedenfalls behaupten seine Bewunderer, dass er bereits nach einem Tag gestorben sei, während burmesiche Geschichtsschreiber angeben, seine öffentliche Qual habe drei Tage gedauert. Diejenigen Historiographen aber, die den Anspruch erheben, objektiv zu berichten, halten sich in der Mitte und geben an, dass er nach zwei Tagen gestorben sei.

Weltgeist – punktuell versammelt – Die jüdischen Künstler und Intellektuellen im Wien der Jahrhundertwende

Es gibt Zeiten, in denen sich der Weltgeist an einem Ort zu versammeln scheint. Unversehens finden sich außergewöhnlich viele große Begabungen und wirksame Geister in einer Stadt oder einer Landschaft ein und schaffen in kurzer Zeit neue Welten und Werte. Anschließend sind Generationen, ja nicht selten Jahrhunderte, damit beschäftigt, ihre Hinterlassenschaft zu verstehen und aufzuarbeiten. 

Solche Brutstätten des Geistes sind das Athen des 4. Jh. v. Chr., Florenz und Rom in der Renaissancezeit, Weimar um 1800 und gelegentlich die großen europäischen Metropolen. Eine der letzten großen Versammlungen des Weltgeistes fand um die Wende des 19. zum 20. Jh. inWien statt. Die Besonderheit dieser Veranstaltung, in der unter anderem wesentliche Grundlagen der Moderne gelegt wurden, ist, dass sie im Zeichen einer beispiellosen Explosion jüdischer Geistigkeit stand.

 Mit Siegmund Freud, dem „Entdecker“ des Unbewussten, und Arnold Schönberg, dem „Befreier“ der Töne, lebten in der österreichischen Hauptstadt um die Jahrhundertwende gleich zwei Persönlichkeiten jüdischer Abstammung, die in ihrem Bereich jeweils so etwas wie eine kopernikanische Wende auslösen sollten.

 Eine weitere überragende Gestalt war, um bei der Musik zu bleiben, Gustav Mahler. Fruchtbare Komponisten waren darüber hinaus Karl Goldmark und Erich Wolfgang Korngold. Eine geradezu archetypische Wiener Gestalt war die schillernde Figur des Geigers Fritz Kreisler, der später vor allem die Sehnsucht der Amerikaner nach Alt Wiener Sentiment befriedigte. Dass auch die bedeutenden Opernkomponisten Franz Schreker und Alexander Zemlinski, die seinerzeit in Wien lebten, einen jüdischen Elternteil hatten, sei hier nur am Rande erwähnt. 

In der Literatur sind nicht weniger illustre Namen jüdischer Herkunft zu vermerken. Gleichzeitig lebten und wirkten in Wien Karl Kraus, der langjährige Herausgeber undVerfasser der „Fackel“ und Peter Altenberg, der Dichter des Impressionismus; außerdem Richard Beer-Hofmann, der glänzende Gestalter historischer Stoffe und der unermüdlich auf der Suche nach Sternstunden der Menschheit befindliche Stefan Zweig; schließlich und nicht zuletzt Arthur Schnitzler, dem wir das heiter-melancholische Bild verdanken, das wir mit dem Wien dieser Zeit meist verbinden.

 Hinzu kommen Literaten wie Egon Friedell, der Essayist und spätere Verfasser der faszinierenden „Kulturgeschichte der Neuzeit“ und Alfred Polgar, der Meister feingeschliffener kurzer Prosa. Zu den Literaten wird man heute auch die tragische Figur des philosophischen Frauenverächters Otto Weininger rechnen müssen, der das unerhörte Werk „Geschlecht und Charakter“ verfasste.

 Auch auf allen anderen Gebieten des geistigen Lebens taten sich Juden hervor und dies in so überreichemMaße, dass hier nur noch einige wenige Namen genannt werden können. In der Hauptsache Juden waren es, welche die Wiener Walzer- und Operettentradition in unser Jahrhundert weiterführten, darunter Oscar Straus, Emmerich Kalman und Leo Fall. Eine der größten Berühmtheiten Wiens war seinerzeit der Theatermann Adolf von Sonnenthal. Internationale Reputation hatte der Staatsrechtler Hans Kelsen, derVater der österreichischen Verfassung von 1920. Der feinsinnige Feuilletonist und Schriftsteller Theodor Herzl schließlich, dessen Leben und Werk das Schicksal der Juden in besonderer Weise symbolisiert, sollte gar weltgeschichtliche Bedeutung erlangen. Mit der nur 70-seitigen Broschüre „Der Judenstaat“erzeugte er das mächtige politische Erdbeben des Zionismus, dessen Nachbeben wir noch heute täglich erleben.

 Man muss lange suchen, will man eine Stadt finden, die in einem so kurzen Zeitraum so viele besonders produktive und wirksame Menschen erzeugt hat. Die großen Kultur- undWeltmetropolen habenbedeutende Menschen meist nur angezogen, selten jedoch hervorgebracht. Ein großer Teil dieser jüdischen Künstler und Intellektuellen aber ist in Wien geboren oder dort seit früher Kindheit aufgewachsen. Erstaunlich ist dies vor allem, wenn man berücksichtigt, dass die Juden im Grunde eine kleine Minderheit waren. Im Jahre 1910 betrug ihr Anteil an der Bevölkerung Wiens, wo sie weit stärker als in den sonstigen Teilen des kaiserlich- königlichen Vielvölkerreiches vertreten waren, 8,6 Prozent.

 Bemerkenswert ist auch der kurze Anlauf, der diesen außerordentlich talentierten Köpfen genügte, um an die Spitze des europäischen Kulturlebens zu gelangen. Im östlichen Europa war der jüdische Teil der Bevölkerung Mitte des 19. Jh. den Ghettos, in denen er von den spezifisch europäischen Kulturtraditionen weitgehend abgeschnitten war, noch nicht sehr lange entwachsen. Seine großen Figuren sind daher fast ohne Vermittlung auf die Bühne der abendländischen Kultur getreten. Ein erheblicher Teil kam aus eher kleinbürgerlichen Verhältnissen. Mahler etwa entstammte einer armen und kinderreichen Familie von Schnapsbrennern, Weiningers Vater war Goldschmied, Schönbergs Eltern betrieben ein Schuhgeschäft, er selbst war ursprünglich Bankangestellter. Sonnenthal, der legendäre Darsteller grandsenioraler Eleganz, war von Haus aus Schneidergeselle, Polgar Klavierbauer. Andere wie Freud, Kraus, Zweig, Friedell, Altenberg, Beer-Hofmann und Herzl kamen aus Kaufmanns- und Industriellenfamilien, die es erst in der Welle der Industrialisierung, die Österreich um die Mitte des 19. Jahrhunderts erfasste, zu Wohlstand gebracht hatten. Nur wenige hatten so etwas wie eine „erbliche Vorbelastung“. Leo Falls Vater etwa war Militärmusiker, Goldmarks Vater Kantor an einer Synagoge und Korngolds Vater – ursprünglich Rechtsanwalt – ein angesehener Musikkritiker.

 Betrachtet man Leben und Werk dieser jüdischen Künstler und Intellektuellen, fällt auf, dass viele von einem außergewöhnlichen Impetus angetrieben wurden. Es ist, als seien sie von dem Vorstellung beherrscht gewesen, etwas ganz Ungewöhnliches und Unerhörtes leisten zu müssen oder als hätten sie sich gedrängt gefühlt, das zu tun, was niemand erwartet oder wovon andere nur zu träumen wagen. Dieser Drang lag sicher im Zuge einer Zeit, die dazu neigte, die Grenzen des Möglichen auszuloten und Noch- Nie-Dargewesenes zu schaffen, zugleich aber auch einem diffusen Glauben an den Fortschritt und die Veränderbarkeit aller Dinge verfallen war. Auf allen Gebieten des Wissens und der Künste wurde seinerzeit vieles neu durchdacht, wobei Altes radikal verworfen aber auch vehement bekräftigt wurde. Bemerkenswert ist, wie viele Künstler und Intellektuelle jüdischer Herkunft sich an der Spitze dieser Bestrebungen finden. Dies gilt keineswegs nur für die Fraktion der Neuerer, sondern auch für die der Traditionalisten, eine Tatsache, die spätere antisemitische Reaktionäre freilich nicht zur Kenntnis nehmen wollten.

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Die Herabkunft des Ganges – Wasserkulturen des indischen Raumes

 

Wasser spielt im Süden und Südosten Asiens eine besondere Rolle. Wer über den indischen Subkontinent fliegt, bemerkt einerseits riesige Stromsysteme, welche sintflutartige Wassermengen abführen können, andererseits unzählige „Tanks“, Wassersammelstellen, mit deren Hilfe man das lebenspendende Nass im ständigen Kampf gegen die verzehrende Sonne Südasiens über die Trockenzeit zu retten versucht. Besonders in Indien hängen Wohl und Wehe vom Kommen und Gehen des Monsuns ab. Wie elementar das Problem des Wassers hier ist, zeigt der besondere Schutz, den die „Tanks“ genießen. Ihre Beschädigung ist von Alters her mit schweren Strafen bedroht. Nach dem Arthashastra, dem altindischen Staatslehrbuch aus dem 4. Jahrhundert v. Chr., stand auf der Zerstörung eines mit Wasser gefüllten „Tanks“ die Todesstrafe. Der Täter wurde in dem „Tank“ ertränkt, gegen den er gefrevelt hatte. Das Wasser bedachte man mit allen Insignien der Verehrung. Wo es einer Quelle entsprang, baute man aufwendige Brunnen, zu denen häufig ein Tempel gehörte. In Nordwesten Indiens etwa schuf man riesige, nicht selten wunderbar dekorierte Treppenanlagen, über die man zu den Quellen gelangte, die meist tief unter der Erdoberfläche lagen. Bedeutende Tempel wurden an Seen oder wichtigen Kreuzungspunkten des Wassers gebaut. Haridwar etwa, die Stelle, an der Ganges aus dem Himalaya in die Ebene tritt, ist einer der heiligsten Orte Indiens. Alle 12 Jahre findet dort das Kumbb Mela, das „Wasserfest“ statt, an den mehrere Millionen Pilger teilnehmen. Generell gehört zu einem Tempel möglichst ein rechteckiger Tank, dessen unter Umständen gewaltige Ausmaße sich nach der Bedeutung des Tempels richten.

 

Wasser, das ist im indischen Raum allerdings nicht bloß die physische Lebensgrundlage von mehr als einer Milliarde Menschen, die weitgehend von der Wasserpflanze Reis leben. Wasser hat die indische Zivilisation auch in einem tieferen Sinn geprägt. Das unfeste Element ist ohne Zweifel eine wesentliche Ursache für das Fließende und eigentümlich Bewegliche, welches mehr oder weniger alle Erscheinungsformen der originären Kulturen des indischen Raumes charakterisiert.

 

Bleiben wir zunächst bei den geographischen Grundlagen. Dies sind in erster Linie die großen Flüsse, allen voran die sieben Ströme, die ihren Ursprung im Himalaja haben. Diese Flüsse, die so gigantisch sind wie das Gebirgsmassiv, dem sie entstammen, liefern nicht nur einen wesentlichen Teil des Wassers, ohne das sich eine höhere Zivilisation nicht entwickeln kann. Sie sind schon deswegen Grundlage der indischen Zivilisation, weil die Hochkulturen des Subkontinentes weitgehend auf dem fruchtbaren Schwemmland entstanden sind, welches die großen Flüsse vom Dach der Welt gespült haben.

 

Die drei großen Ströme Vorderindiens entspringen in unmittelbarer Nachbarschaft im Zentrum des Himalaja. Der Indus wählt den Weg nach Westen, gräbt sich tausend Kilometer hinter der Hauptkette des Gebirges durch und wendet sich nach einer großen Schleife durch Kaschmir südwärts dem arabischen Meer zu. Der Fluss, der mit seinem Namen, der nichts anderes als Fluss bedeutet, den ganzen Subkontinent repräsentiert, ist der Altvater der Hochkulturen des indischen Raumes und die Lebensader des fruchtbaren Fünfstromlandes, einer Region, in der sich vor fast 5000 Jahren mit der Induskultur eine der ersten Stadtzivilisationen der Erde entwickelte. Ebenfalls hinter der Hauptkette des Himalaja entspringt der Brahmaputra. In bemerkenswerter Symmetrie umfängt er, spiegelbildlich zum Indus, den östlichen Teil des Himalaja. Nach einer Schleife durch Assam wendet auch er sich nach Süden, wo er sich mit dem Ganges zu einem gemeinsamen Delta vereinigt. Das bengalische Delta, das größte der Erde, ist gleichfalls uraltes Siedlungsgebiet. Heute leben auf seinem labilen Schwemmland die Menschen in größerer Dichte als auf jedem anderem Fleck des Globus. Der Ganges schließlich fließt ohne Umschweife in die Ebene, die seinen Namen trägt. Mit seinen zahlreichen Nebenflüssen bildet er die Seele des indischen Kernlandes am Fuße des Himalaja. An seinem Ufer lag einst Patalipuram, die Hauptstadt des Maurya-Reiches, die der griechische Gesandte Megastenes Ende des 4. Jh. v. Chr. als die prächtigste Metropole der Welt beschrieb.

 

Auch die gewaltigen Ströme Hinterindiens sind anfangs vereint. In einmaliger Engführung fließen vier Flüsse, nur durch eine Bergkette voneinander getrennt, wie durch parallel geführte Rinnen vom Dach der Welt, um schließlich tausende Kilometer voneinander entfernt ins Meer zu münden. Der Irawadi, der die zentralburmesische Ebene zu einem der reichsten Reisanbaugebiete der Welt macht, strebt zum Golf von Bengalen. Dort endet auch der Saluen, ein hierzulande kaum bekannter Fluss, der Burma im Osten entwässert und immerhin noch mehr als doppelt so lang wie Deutschlands größter Fluss, die Elbe, ist. Der dritte im Bunde ist der Mekong, was „Mutter der Gewässer“ bedeutet. Er durchzieht auf seinem 4.500 Kilometern langen Lauf die chinesische Provinz Yünnan sowie Laos und Kambodscha, um schließlich im Süden Vietnams in einem weiten Delta ins südchinesische Meer zu münden. Der vierte schließlich ist niemand geringeres als der Jangtsekiang, einer der längsten Flüsse der Erde. Vom osttibetanischen Flussstreff kommend durchquert er das chinesische Riesenreich, bis er sich bei Schanghai in den stillen Ozean ergießt. Ähnlich lang ist die Reise des Gelben Flusses, der in der Nachbarschaft der genannten vier Ströme entspringt, sich allerdings gleich nach Osten wendet, um nach einer großen Schleife durch den Norden Chinas südlich von Peking in das Gelbe Meer zu fließen.

 

Bei so viel Wasser ist es nicht verwunderlich, dass sich, zumal angesichts eines begünstigenden Klimas, am und um das nasse Element einige außerordentliche menschliche Lebensformen entwickelt haben.

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Indische Tatsachen – Fälschung der Geschichte – Geschichte der Fälschung

Im südindischen Mahabalipuram wird der Besucher in einem nahe den berühmten altindischen Felsbauten befindlichen Hotel, das durch seinen Baustil und allerhand Ausstellungsstücke an die Kolonialzeit erinnert, an der Theke mit folgendem Text konfrontiert:

„Ich habe Indien der Länge und der Breite nach bereist und habe keinen einzigen Bettler und keinen Dieb gesehen. Ich habe in diesem Land einen solchen Reichtum, solch` hohe moralische Werte und Menschen von solchem Format gefunden, dass ich nicht glaube, dass wir dieses Land jemals erobern können, wenn wir nicht das eigentliche Rückrad dieser Nation brechen, nämlich ihr spirituelles und kulturelles Erbe; und daher schlage ich vor, dass wir ihr altes und altertümliches Bildungssystem, ihre Kultur verdrängen; denn wenn die Inder denken, dass alles Ausländische und Englische gut und besser als ihr Eigenes ist, werden sie ihre Selbstachtung verlieren, ihr angeborenes Selbstverständnis, und sie werden dass sein, was wir wollen, eine wirklich beherrschte Nation.“

Der Unterschrift nach handelt es bei dem Text um eine Passage aus einer Rede, welche der große englische Schriftsteller und Politiker Lord Thomas Babington Macaulay am 2.2.1835 im britischen Parlament gehalten hat.

 Man braucht kein besonderer Kenner der Figur Macaulays zu sein, um sich darüber zu wundern, dass sich der profilierte Lord derart unverblümt zur Kolonialpolitik geäußert hätte. Verwunderlich ist dies schon deswegen, weil Macaulay diese Sätze im Parlament und damit in seiner Eigenschaft als Politiker gesagt haben soll. Politiker aber, zumindest die demokratischer Staaten, pflegen eventuelle zweifelhafte Absichten in aller Regel in kunstvoller Verpackung zu präsentieren. Wenn eben möglich versuchen sie, dieselben als Wohltat oder jedenfalls als unabweisbare Notwendigkeit darzustellen. Hinzu kommt, dass die Kolonialpolitik als prinzipiell fragwürdiges Geschäft ein geradezu paradigmatischer Fall für die Notwendigkeit derartiger Verpackungskünste war. Zu ihrer Rechtfertigung hat man daher in der Regel einen besonders hohen Ton angeschlagen. Meist hieß es, dass man den zurückgebliebenen Völkern die Segnungen der Zivilisation oder des Christentums bringen wolle oder gar müsse. Dass ausgerechnet ein Formulierungskünstler wie Macaulay in einer so prekären Frage fundamentale Gesetze der politischen Kommunikation völlig außer Acht gelassen haben sollte, wäre schon für sich Grund genug, der genannten Textpassage mit Misstrauen zu begegnen.

Man braucht auch keine besonders guten Kenntnisse über Macaulay und die indischen Verhältnisse, um sich am Inhalt des Textes zu stoßen. Der extreme Kontrast seiner Grundpositionen erinnert reichlich auffällig an die plakative Charakterzeichnung der Figuren in indischen Dramen und in Bollywood Filmen, wo ganz Böse gerne ganz Guten gegenübergestellt werden. Die alte indische Sozialkultur wird eingangs des Textes derart rosig dargestellt, dass man sogleich spürt, dass der Satz in einem üblen Kontrapunkt enden soll. Tatsächlich wird dem englischen Lord denn auch ein Zynismus und eine Skrupellosigkeit und Gemeinheit unterstellt, wie man sie aus schlechten Filmen oder allenfalls noch von Psychopathen oder Verbrechern kennt. Zur Spezies der letzteren, der sicher manche Politiker angehören, wurde Macaulay allerdings bislang gerade nicht gezählt. Er gilt geradezu als das Muster eines Gentleman.

 

Ebenfalls schon auf den ersten Blick fällt auf, dass in dem Text mit der übermäßigen Wertschätzung des (Westlich)Ausländischen und dem Beklagen eines Mangels an heimischer Tradition ein Topos aus der aktuellen indischen Gesellschaftsdiskussion angesprochen wird. Das Thema treibt neben Traditionalisten und Außenhandelsstatistikern nicht zuletzt die einheimischen Warenproduzenten um, die auf dem indischen Markt möglichst wenig Konkurrenz durch die Produkte ausländischer Anbieter haben möchten, welche die Inder zum Bedauern der einheimischen Produzenten aber meist attraktiver finden. Dass Macaulay der Ansicht gewesen sein soll, in Indien eine Vorliebe für Ausländisches mit einer Bildungsreform erzeugen zu können, klingt nicht sonderlich überzeugend. Man wird daher bei dieser Behauptung den Verdacht nicht los, dass mit ihr einem Geschehen, das tatsächlich eingetreten ist und von Manchen nicht geschätzt wird, nachträglich eine passende Ursache unterschoben werden soll. Dies gilt umso mehr, als sich ein ähnlicher Wertschätzungsbonus des Westlich-Ausländischen auch in anderen – nicht zuletzt unterentwickelten – Ländern findet, darunter auch solchen, deren Bildungssystem gerade nicht von England geprägt ist.

 Wer nähere Kenntnisse über Macaulay hat, stellt außerdem schnell fest, dass der Lord im Jahre 1835 gar keine Rede im britischen Parlament gehalten haben kann. Macaulay befand sich 1835 nicht in England. Er war von 1834 bis 1838 in Indien.

 Der Kenner Macaulays weiß im Übrigen, dass Gedanken, wie sie in dem genannten Text enthalten sind, weder mit seiner privaten noch mit seiner politischen Biographie in Einklang zu bringen sind. Macaulay stammte aus einem Elternhaus, das sich ganz dem Kampf gegen die Exzesse des Kolonialismus verschrieben hatte. Sein Vater, den er hoch verehrte, gehörte der legendären Clapham Sect an, die unter mit ihrem politischen Frontman Lord Wilberforce nach zahlreichen Anläufen im Jahre 1807 das Verbot des Sklavenhandels und 1833 schließlich auch das Verbot der Sklaverei durchsetzte –  der Vater wurde dafür sogar mit einer Gedenkstätte in Westminster Abbey geehrt. Die Einstellung, die hinter diesem Engagement stand, hat Macaulay stark geprägt. Er war davon überzeugt, dass der soziale und politische Fortschritt, für den er in seinem Heimatland kämpfte, auch und gerade bei den kolonisierten Völkern möglich sei. Der prominente Liberale war zwar wesentlich an der Gestaltung der englischen Kolonialpolitik betreffend Indien beteiligt. Er war mehrere Jahre im politischen Aufsichtsrat der „East India Company“, die Indien damals regierte, und war in den genannten vier Jahren von 1834 bis 1838 sogar Mitglied der indischen Kolonialregierung. Seine Auffassungen über Kolonialpolitik und insbesondere über das Verhältnis von England und Indien waren aber bei weitem nicht so einfach oder gar so finster, wie es das genannte „Zitat“ suggeriert. Macaulay sah den Zweck seiner Mission keineswegs nur darin, die Interessen Englands durchzusetzen. Er setzte sich im Gegenteil mit großem Engagement dafür ein, die Rechte der riesigen einheimischen Mehrheit zu stärken und die ausufernden Ansprüche der wenigen englischen Siedler zu begrenzen (was ihn bei letzteren alles andere als beliebt machte). In einer Rede, die er am 10. Juli 1833, also noch vor seiner Abreise nach Indien, im Rahmen der Aussprache über ein neues Regierungsstatut für Indien tatsächlich im britischen Parlament hielt, hat er etwa über die Rolle der englischen Siedler, die unter Berufung auf ihre politische Freiheit eine ausschließlich für sie zuständige Gerichtsbarkeit verlangten, Folgendes gesagt: „Niemand liebt die politische Freiheit mehr als ich. Aber ein Privileg, dessen sich nur wenige Individuen erfreuen können, inmitten einer Bevölkerung, die dieses Privileg nicht hat, kann nicht Freiheit genannt werden. Es ist Tyrannei.“ Und er fügte mit Blick auf die indische Rechtstradition, die er übrigens mit einem egalitären Strafgesetzbuch beendete, hinzu, es sei bereits „das schlimmste aller Rechtssysteme, eine mildes Strafgesetz für die Brahmanen“ zu haben, „die aus dem Kopf des Schöpfers entsprungen sind und ein strenges Gesetz für die Sudras, die aus seinen Füssen stammen. Indien hat schon genug unter der Kastentrennung gelitten und unter den tief wurzelnden Vorurteilen, welche diese Trennung erzeugt. Gott bewahre, dass wir es mit dem Fluch einer neuen Kaste überziehen, dass wir ihm neue Brahmanen schicken, die berechtigt wären, die gesamte einheimische Bevölkerung als Parias zu behandeln!“ Er kam in dieser Rede, in der er das außerordentlich komplizierte Geflecht der englisch-indischen Beziehungen brilliant analysierte, zu dem Schluss, es wäre „der stolzeste Tag der englischen Geschichte“ (!), wenn Indien als Folge der englischen Kolonialpolitik eines Tages in die Lage versetzt würde, sich selbst gut zu regieren. „Niemals“, so fügte er hinzu „würde ich versuchen, dies zu verhindern oder zu verzögern.“ Macaulay war also ganz im Gegensatz zu dem Eindruck, den das „Zitat“ vermitteln will, so etwas wie der erste Propagandist einer (künftigen) Freiheit Indiens – wobei er die Bedingungen, unter denen diese über hundert Jahre später tatsächlich eintreten sollte, erstaunlich genau voraussah.

 

Schließlich kann, das zeigen bereits die Auszüge aus der genannten Rede, derjenige, der sich kundig machen will, leicht feststellen, dass Macaulay die sozialen Verhältnissen im Indien seiner Zeit alles andere als positiv einschätzte. Er hielt die Grundlagen der indischen Gesellschaft vielmehr für ziemlich unzivilisiert, weitgehend sogar für barbarisch und unmoralisch und die Inder für ränkevoll und falsch. Dass er die indischen Verhältnisse in einer Weise gelobt hätte, wie dies eingangs des genannten Textes der Fall ist, ist daher auszuschließen.

 

Angesichts all dieser Ungereimtheiten ist klar, dass der genannte Text nicht von Macaulay stammen kann. Es handelt sich offensichtlich um eine Fälschung.

 

Die normale Reaktion auf eine derart plumpe Fälschung wäre eigentlich, sie nicht zu beachten. Dass sie dennoch unser Interesse und unseren Jagdinstinkt weckt, liegt zum einen darin, dass sie in Indien seit dem Jahre 2002, als sie erstmals auftauchte, eine erstaunliche Resonanz erfahren hat. Das „Zitat“ hat nicht nur den Hoteldirektor von Mahabalipuram so überzeugt, dass er es an prominenter Stelle platzierte. Es wurde auch in zahlreichen Internetseiten kolportiert. Binnen kurzem fand es Eingang in ein offizielles Dokument der Planungskommission der indischen Regierung. Selbst der indische Staatspräsident hat es in einer Rede vom 2.9.2004 verwendet.

 

Interessant ist die Fälschung außerdem, weil sie alles andere als geschickt ist. Der Fälscher hat nicht nur reichlich dick aufgetragen. Er hat sich auch nicht die Mühe gemacht, die offenkundigen Unstimmigkeiten bei der Datierung des „Zitates“ zu vermeiden. Im Gegenteil, er hat die Fälschung auch noch kurzerhand mit einem Datum versehen, unter dem Macaulay tatsächlich eine berühmte (und berüchtigte) Stellungnahme zur indischen Bildungspolitik abgegeben hat, die „minutes“ vom 2.2.1835, die allerdings für die indische Kolonialregierung geschrieben wurden. Den Fälscher hat also weder gestört, dass man so grundlegende Tatsachen, wie die, ob Macaulay 1835 in England war, mittlerweile in Sekundenschnelle per Mausklick überprüfen kann. Es war ihm auch egal, dass man leicht feststellen kann, was Macaulay seinerzeit zur Bildungspolitik gesagt hat (tatsächlich findet in den „minutes“ vom 2.2.1835 natürlich nichts, was in die genannte Richtung geht). Es stellt sich daher die Frage, wieso sich der Fälscher so wenig um Plausibilität bemüht hat, insbesondere, wieso er nicht, wie alle guten Fälscher, die Nähe der Tatsachen wenigstens so weit gesucht hat, wie dies möglich war oder sich von Tatsachen, die leicht zu überprüfen waren, möglichst fern gehalten hat. Die Vermutung liegt nahe, dass er glaubte, sein Ziel auch ohne derartige Vorsichtsmaßnahmen erreichen zu können. Er hatte offensichtlich nicht nur keine Ehrfurcht vor der Wahrheit, sondern auch keine Furcht vor den Tatsachen. Er muss also davon ausgegangen sein, die Tatsachen würden seinen Zwecken auch dann nicht schaden, wenn sie, was zu erwarten war, bekannt würden.

 

All dies reizt dazu, zu fragen, wie es zu einer solchen Fälschung kommen konnte, wer der Fälscher war, was ihn antrieb und wieso er sich für die gewählte Vorgehensweise entschied. Nun, wer genau der Fälscher war, können wir nicht sagen. Er hat aber einige Spuren hinterlassen, die Rückschlüsse auf seine Gedanken und sein Weltbild zulassen.

 

Die geschilderte laxe Einstellung gegenüber den Tatsachen deutet zunächst einmal darauf hin, dass der Fälscher mit einer unkritischen Akzeptanz seiner Behauptungen bei denen rechnete, an die sich die Fälschung richtete. Eine solche Haltung konnte er naturgemäß am ehesten voraussetzen, wenn er annehmen konnte, dass die Adressaten des Textes ein Interesse an falschen Tatsachen oder kein Interesse an ihrer Widerlegung hatten. Wir können also nähere Erkenntnisse über den Fälscher erwarten, wenn wir fragen, welches Interesse Inder vom Anfang des 21. Jh. daran haben können, einen englischen Lord aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhundert so heftig zu denunzieren.

 

Man könnte zunächst einmal vermuten, dass ein solches Interesse das Resultat des Traumas ist, welches die Unterwerfung einer uralten Hochkultur unter eine Fremdherrschaft hinterlassen musste. Macaulay wäre hierfür eine durchaus die geeignete Projektionsfigur. Er war, wie gesagt, nicht nur ein maßgeblicher Protagonist der englischen Kolonialpolitik. Er gilt auch als Vater der Anglisierung und damit der Europäisierung des Subkontinents, wobei die „minutes“ vom 2.2.1835 eine wichtige Rolle gespielt haben. Wie die Erwähnung des Datums in der Unterschrift des „Zitats“ und das angesprochene bildungspolitische Thema zeigen, war dies unserem Fälscher bekannt (und hat ihm offensichtlich nicht gefallen). Macaulay verfasste die Stellungnahme vom 2.2.1835 im Zusammenhang mit einem Streit über die Ausrichtung des höheren indischen Bildungssystems, der in der indischen Kolonialregierung seit Anfang des 19. Jahrhunderts schwelte. Es ging dabei darum, ob die einheimische Führungselite wie bislang orientalisch, das heißt in Sanskrit, Arabisch und Persisch, oder in englischer Sprache zu erziehen sei. Für beide Standpunkte gab es gute Argumente, die von gewichtigen Persönlichkeiten höchst engagiert vertreten wurden. Es war der kulturhistorisch weit ausholenden Argumentation und der suggestiven Rhetorik des renommierten und routinierten Essayisten Macaulay in seinen „minutes“ zu verdanken, dass sich der damalige Generalgouverneur von Indien, Lord Bentinck, für die anglizistische Lösung entschied. Die Bedeutung dieser Weichenstellung war außerordentlich. Sie gab der Entwicklung des Subkontinents den Impuls in Richtung Westen, Demokratie, Aufklärung und Verwissenschaftlichung, den der Fälscher und seine Anhänger offensichtlich bedauern. Der englische Lord ist daher die geborene Reizfigur für alle Altindien-Nostalgiker. Dies gilt umso mehr, als er sich für die Rolle des kulturellen Bösewichts besonders gut eignet. Macaulay litt nicht nur nicht an mangelndem Selbstbewusstsein, sondern pflegte sich auch sehr plastisch auszudrücken. Und er hielt, wie angedeutet, mit seiner mangelnden Begeisterung für die indische Kultur nicht hinter dem Berg. In den „minutes“ vom 2.2.1835 finden sich Formulierungen und Vergleiche, die aus der Sicht seiner Kritiker wunderbare Angriffspunkte bieten, etwa wenn er zur Begründung der Überlegenheit der westlichen Kultur unangefochten eurozentrisch feststellte, ein einziges Bücherbrett in einer guten europäischen Bibliothek sei so viel wert, wie die ganze einheimische Literatur Indiens und Arabiens; oder wenn er behauptete, die gesamte historische – und das war aus damaliger Sicht weitgehend die sozial relevante – Information, die in all den asiatischen Büchern stecke, befände sich schon in den dürftigsten Kurzausgaben, welche man in den englischen Vorschulen benutze.

 

Die Massivität, mit welcher der Fälscher versucht, den Ruf Macaulays zu ruinieren, deutet allerdings darauf hin, dass es ihm nicht nur darum geht, längst geschlagene Schlachten noch einmal aufzurollen. Sein Interesse an Macaulay, das zeigt nicht zuletzt die Tatsache, dass er mit der Überbetonung des Ausländischen ein Problem des heutigen Indien anspricht, hat offensichtlich auch einen sehr gegenwärtigen Grund. Wir können daher erwarten, dass sich uns dieser Grund offenbart, wenn wir uns näher mit Macaulays Gedanken über Indien befassen.

 

Macaulay war ein aufgeklärter Demokrat. Schon in seinem Heimatland kämpfte er in den legendären Redeschlachten über die „Reform Bill“ von 1830 für die Verbreiterung der demokratischen Basis durch Ausweitung der Wahlberechtigung auf die bürgerlichen Schichten der Städte. Ein politisches System nach englischem Muster schwebte ihm auch für Indien vor. Er ging jedoch realistischerweise davon aus, dass das Land hierfür mangels einer modernen Denkweise noch nicht reif sei. Sein Bestreben ging daher dahin, zunächst einmal die Grundvoraussetzungen für ein demokratisches Steuerungsmodell zu schaffen. Als ein wesentliches Hindernis erschien ihm dabei die traditionelle Struktur der indischen Gesellschaft, wonach die Menschen in Gruppen von gänzlich unterschiedlicher Wertigkeit eingeteilt waren. Er kam ihm daher darauf an, in Indien erst einmal ein Bewusstsein von der prinzipiellen Gleichheit der Menschen zu schaffen. Als fortschritts- und büchergläubiger Liberaler mit einem Faible für historische Parallelen meinte er, dieses Ziel sei dadurch zu erreichen, dass man in Indien einen ähnlichen Prozess in Gang setzt, wie ihn Europa ab dem 15. Jahrhundert durchlaufen hatte. Schon in der Unterhausrede vom 10. Juli 1833 vertrat er die Ansicht, Indien sei nach dem Zusammenbruch des Reiches der Großmoghulen, welche die Engländer vorfanden, in einer Lage vergleichbar derjenigen gewesen, in welcher sich Europa nach dem Zusammenbruch des Weströmischen Reiches befunden habe. Hier wie dort sei auf die Auflösung der alten Strukturen eine dunkle Periode gefolgt, in Europa das Mittelalter, in Indien staatliche Zersplitterung und der daraus resultierende Verlust der Unabhängigkeit. So wie Europa den Weg aus seiner dunklen Periode über die Wiederentdeckung der griechischen und römischen Literatur gefunden habe, würde Indien seinen Weg in eine aufgeklärte Zukunft über die englische Sprache und der darin verfassten Literatur nehmen, in der nun einmal das beste Wissen der Welt zusammengetragen sei. Wie in Europa würde sich in Indien dann die Vorstellung von der prinzipiellen Gleichheit der Menschen und letztendlich auch die Demokratie einstellen.

 

Macaulays Hoffnungen haben sich, wie wir heute wissen, insofern verwirklicht, als westliches Gedankengut nicht zuletzt über die englische Sprache tatsächlich in hohem Maße Eingang nach Indien gefunden hat. In der Folge wurden viele soziale Missstände beseitigt. Das diskriminierende Kastensystem etwa ist offiziell abgeschafft. Das Land hat heute eine demokratische Verfassung, deren Vater, Bimrao Ambedkar, sogar ein Unberührbarer war.

 

Dass Macaulay weiterhin aktuell ist, hat seinen Grund nun aber darin, dass der Fortschritt in der Praxis bei weitem nicht so groß ist, wie es der Lord in seiner mechanistischen Denkweise erwartet hatte. Der erstrebte Kulturtransfer scheiterte weitgehend an der Veränderungsresistenz der kulturellen Grundlagen Indiens, die in drei Jahrtausenden auch die gewaltigsten politischen Turbulenzen und Systemänderungen überstanden haben und welche die gesellschaftlichen Verhältnisse weiterhin bis in die feinsten Verästelungen bestimmen. Insbesondere das Kastensystem einschließlich der Ausgrenzung der Kastenlosen wird allen offiziellen Parolen zum Trotz noch immer weitgehend praktiziert. Für diejenigen, die unter diesem System leiden, gilt daher Macaulay heute als derjenige, der das Tor öffnete, durch welches ein Denken nach Indien einströmte, welches, wenn überhaupt irgend etwas, diese Grundlagen weiter erschüttern könnte. Der lange verstorbene englische Lord ist insbesondere für die intellektuellen Köpfe der Dalits, jenen 200 bis 250 Millionen Indern, die nach traditioneller indischer Vorstellung als Kastenlose außerhalb der regulären Gesellschaft stehen, so etwas wie ein Schutzheiliger geworden. Macaulay wird, zumal er auch die Unabhängigkeit Indiens voraussah, geradezu als eine frühe Inkarnation Mahatma Gandhis angesehen, der die Dalits, zweifellos unter dem Einfluss westlicher sozialer Vorstellungen zu „Kindern Gottes“ (Harijans) erklärte, ein Begriff, der schon im christlichen Westen Träger des Gleichheitsgedankens war. Einige Führer der Dalits, die in Indien inzwischen als Macaulayts bezeichnet werden, gehen sogar so weit, ihren Schutzpatron als einen der größten Philosophen zu bezeichnen, den unser Planet je hervorgebracht hat (was zumindest zeigt, dass das Problem, welches sie belastet, als außerordentlich groß empfunden wird).

 

Damit sind wir dem Motiv für die Fälschungstat ein wesentliches Stück nähergekommen. Es liegt auf der Hand, dass sich die indischen Traditionalisten davon, dass sich die Dalits zur Untermauerung ihrer Forderung nach Gleichheit ausgerechnet auf einen englischen Lord berufen, nicht nur als Hindus sondern auch Vertreter der indischen Nation herausgefordert fühlen. Wir dürfen unseren Fälscher daher in diesen Kreisen vermuten. Er und seine Adressaten haben ein Interesse daran, Macaulays Ruf in den Schmutz zu ziehen. Das Interesse aber ist eines der wichtigsten Elemente des Tatmotivs. Tatsächlich gilt Macaulay vor allem den Hindunationalisten neben den drei anderen „Ms“ – Moslems, Marxisten und Missionare – als einer der großen Zerstörer der altindischen Kultur, die sie sich – damit schließt sich der Kreis – wie am Anfang des „Zitates“ angedeutet, ohne all die Übel vorstellen, welche sie in der heutigen indischen Gesellschaft beklagen. Sinnigerweise können sie sich dabei nicht zuletzt auf die Schilderungen einiger früher Indienbesucher berufen, die, was Reisende gelegentlich tun, in ihren Berichten möglicherweise auch etwas dick aufgetragen haben, so der Grieche Megastenes, der Indien um 320 v. Chr. besuchte und die Wahrheitsliebe, Ehrlichkeit und Gerechtigkeit seiner Einwohner rühmte oder der Chinese Yuan Chwang, der im 6. Jh. nach Chr. berichtete, die Inder kennten keine List und keinen Trug.

 

Es bleibt noch die Frage, warum der Fälscher meinte, so plump vorgehen zu können. Der Grund hierfür ist offenbar, dass er nicht nur von einem mangelnden Interesse seiner Adressaten an den Tatsachen ausgegangen ist, sondern auch von einer begrenzten Fähigkeit, mit ihnen umzugehen. Er scheint geglaubt haben, dass seine Leser nicht ohne weiteres in der Lage seien, Tatsachen von Behauptungen zu unterscheiden, dass also Tatsachen ihre Meinungen in besonders geringem Ausmaß beeinflussen. Dies führt uns zu einem Problem, das Indienbesuchern schon immer aufgestoßen ist und das sie nicht wenig verwirrt hat. Wer Indien der Länge und der Breite nach bereist der wird – und zwar schon bei ganz alltäglichen Dingen – in einem Ausmaß, das für einen Europäer schwer fassbar ist, mit Verhaltens- und Denkweisen konfrontiert, welche von der Vernachlässigung oder Missachtung von Tatsachen zeugen. Die Tatsachen bzw. die Behauptung derselben sind in einem für uns völlig ungewohnten Ausmaß mit Bedeutung aufgeladen. Sie scheinen weitgehend ein Instrument zur Gestaltung sozialer Beziehungen zu sein, was naturgemäß immer dann besonders störend ist, wenn Nützlichkeitserwägungen im Spiel sind. Vor allem europäische Beobachter haben sich über diesen Umgang mit den Tatsachen daher enttäuscht, meist sogar entrüstet geäußert (und die Schilderung dieses Phänomens gerne zur Demonstration ihrer eigenen Wahrheitsliebe verwendet).

 

Für Macaulay war diese Eigenart des indischen Denkens ein weiteres grundlegendes Hindernis auf dem Weg zu einer modernen Gesellschaft. Die Ursache hierfür sah er nicht zuletzt in der traditionellen indischen Literatur, die bis dato dem höheren Unterricht zu Grunde gelegt wurde, und in der es in der Tat ungewöhnlich tatsachenfremd zugeht. In den „minutes“ vom 2.2.1835 stellte er fest, dass in Indien medizinische Lehren herrschten, die einem englischen Pferdearzt zur Schande gereichen würden, eine Astronomie, die bei Mädchen eines englischen Internats Gelächter hervorrufen würde, eine Geschichtsdarstellung, die voller Könige von 30 Fuß Größe sei, deren Herrschaft 30.000 Jahre andauerte, und eine Geografie, die Seen aus Butter und Syrup kenne. Oberste Priorität war daher für ihn, in Indien eine wissenschaftliche, das heißt an Tatsachen orientierte Denkweise zu etablieren. Er war überzeugt davon, dass die traditionelle Denkweise Indiens, die der Europas im Mittelalter ähnlich sei, durch die Einführung moderner europäischer Literatur ebenfalls bald überwunden werde.

 

Der Lord mit der Neigung zur geistigen Koloniegründung hat sich über die Möglichkeiten des Kulturtransfers auch hier gewaltig getäuscht. Er hat nicht gesehen – und als eurozentrischer Rationalist vermutlich auch nicht sehen können – wie sehr europäisch unsere Art des Interesses an den Tatsachen ist und wie tief das Desinteresse daran in der indischen Kultur verwurzelt ist. Ein Denkgebäude, das den indischen Geist besonders gut zum Ausdruck bringt, ist etwa die Philosophie des Avaita Vedanta, die Schankara, der als der größte Denker Indiens gilt, im 8. Jahrhundert nach Chr. auf ihren Höhepunkt geführt hat. Nach dieser Philosophie, die sich unmittelbar auf die altindischen Texte der Upanishaden bezieht, ist die Welt der Tatsachen mit ihren kausalen Verhältnissen nur scheinbar wirklich. Sie verhülle wie ein täuschender Schleier, den die Inder Maya nennen, die eigentliche Wirklichkeit. Das wahre Interesse der menschlichen Erkenntnis sei darauf gerichtet, den Schleier der Maya zu durchstoßen und zum eigentlichen Sein durchzudringen, in dem alle Unterscheidungen und Kausalitäten und auch alle moralischen Bewertungen keine Rolle mehr spielen. Es versteht sich, dass es die Tatsachen in einer Kultur, die von solchen Gedanken beherrscht wird, nicht gerade einfach haben.

 

Nun hat Indien sicherlich nicht das Monopol für Tatsachenwidrigkeit. Die „Falschheit“ ist eine Grundfunktion des menschlichen Geistes, dem freilich in Indien eine besondere dominante Rolle zugewiesen ist. Nietzsche stellte sogar einmal fest, nichts sei unbegreiflicher, als wie unter den Menschen ein ehrlicher und reiner Trieb zur Wahrheit aufkommen konnte. Man kann sich auch des Eindrucks nicht erwehren, als gewönne die Tatsachenwidrigkeit in einer Zeit, in der die Medien eine immer größere Rolle bei der Vermittlung der Tatsachen spielen, gerade auch in unserer angeblich so tatsachenorientierten Kultur zunehmend an Boden. Der Fall Macaulay geht aber über dieses allgemeine Problem hinaus. Er ist symptomatisch dafür, welche Hemmnisse dem Export einer Tatsachenorientierung und Wissenschaftlichkeit europäischer Genese, die wir wie Macaulay gerne als universelles Prinzip ansehen, in anderen Kulturen entgegenstehen. Es ist von geradezu symbolischer Bedeutung, dass ausgerechnet ein Mann wie der indische Präsident Kalam das falsche Macaulay-Zitat verwendete. Kalam ist ein Mann der Wissenschaft. Er hat als Vater des indischen Raketenprogramms wesentlich dazu beigetragen, dass das Land in einem wichtigen Bereich des technologisch-wissenschaftlichen Denkens zur Weltspitze aufschließen konnte. Jahrelang war er der oberste Wissenschaftsberater der indischen Regierung. Er müsste also eigentlich ein Mann der Denkart sein, wie ihn sich Macaulay für Indien gewünscht hatte. Dennoch ist ihm nicht aufgefallen, dass an dem „Zitat“ des Mannes, der die Genauigkeit des Denkens nach Indien bringen wollte, nichts mit den Tatsachen übereinstimmen kann.

(Näheres zu Person und Leben Macaulays findet sich im dem Essay „Politischer Kopf“ in diesem Blog – vgl.  Inhaltsverzeichnis IV, 13)

 

 

<!–[if !supportFootnotes]–>

<!–[endif]–>

<!–[if !supportFootnotes]–>[1]<!–[endif]–> I have travelled across the length and breadth of India and I have not seen one person who is a beggar, who is a thief. Such wealth I have seen in this country, such high moral values, people of such calibre, that I do not think we would ever conquer this country, unless we break the very backbone of this nation, which is her spiritual and cultural heritage, and, therefore, I propose that we replace her old and ancient education system, her culture, for if the Indians think that all that is foreign and English is good and greater than their own, they will lose their self-esteem, their native self-culture and they will become what we want them, a truly dominated nation.