Monatsarchiv: April 2009

Ein- und Ausfälle – Rechtsstaat und Gerechtigkeit

Der Rechtsstaat – ein Hort der Gerechtigkeit? Nein – ein Ort eines zuvor nicht bekannten Abbaus von Ungerechtigkeit.

Ein- und Ausfälle – Chinas pragmatische Logik

Der chinesische Philosoph Mo Ti aus den 5 Jh. v. Chr. ging die Frage der (sozialen) Logik ziemlich undogmatisch an. Nach ihm bestehen die drei Gesetze des vernunftmäßigen Denkens

 

            1.) im Studium der Erfahrungen der weisesten Menschen der Vergangenheit – dort, sagt er, finde man die Grundlage;

 

            2.) im Studium der Erfahrung des Volkes; – dadurch gelange man zu einem allgemeinen Überblick;

 

            3.) in der Einführung der dabei gewonnen Erkenntnisse in Gesetzgebung und Regierungspolitik und der anschließenden Prüfung, ob es der Wohlfahrt des Staates förderlich sei oder nicht.

 

Mit diesen schlichten Überlegungen kommt Mo Ti zu Ergebnissen, über welche die Väter der europäischen und indischen Philosophie mit ihren gewaltigen Gedankensystemen auch nicht wesentlich hinausgekommen sind, nämlich dass sozial wirksam die Gedanken sind, die sich

 

            1.) auf große Namen berufen können,

2.) in der Tradition (des Volkes) verwurzelt und

            3.) in der Praxis erprobt sind.

 

So ist es denn auch nicht verwunderlich, dass Mo Ti trotz ganz anderer Ausgangspunkte im Detail zu ähnlichen Ergebnissen wie die großen Denker unserer Tradition kommt. Er hält die Existenz eines persönlichen Gottes ebenso für erwiesen, wie die von Geistern und Gespenstern, letztere mit Begründung, weil viele sie gesehen haben. Die Notwendigkeit des (Ahnen)Kultes schließt er daraus, dass er sozialen Zusammenhalt fördere (weil dabei die Menschen auf Grund gemeinsamer Überzeugungen zusammenkommen). Das Prinzip der Nächstenliebe leitet er einfach aus dem Umstand ab, dass dadurch eine Menge sozialer Probleme gelöst würden (weil es die Ausuferung des individuellen Entfaltungsdrangs eindämme). In einem Punkt war er unseren Denkern allerdings weit voraus. Seiner Weisheit letzter Schluss ist das (behutsam angewendete) „Trial and error“- Prinzips als Korrektiv für überschäumende soziale Gestaltungsphantasien. Mit einem derart pragmatischen Prinzip hatten unsere Systemdenker einige Schwierigkeiten. Der Natur ihres Ansatzes entsprechend neigten sie zu logischen Scheingebäuden oder „wissenschaftlichen“ Großversuchen, die zum Teil mit gewaltigen Spesen endeten.

 

Die Tatsache, dass man von so unterschiedlichen Ansätzen zu so ähnlichen Ergebnissen kommt, sagt einiges darüber, wie wenig das Ergebnis des Denkens von der Art der Gedankenführung und wie sehr es davon abhängt, wie wichtig es einem ist.

Ein- und Ausfälle – Zur Diktatur des rechten Winkels

Ein Glück, dass unsere Zeit schnelllebig ist. Man stelle sich vor, der rechte Winkel würde die Architektur so lange dominieren wie einst der Spitzbogen.

Ein-und Ausfälle – Descartes und sein Gottesbeweis

Descartes meinte, man könne die gedanklichen Probleme so lange zerlegen, bis lauter kleine und einfache Fragestellungen übrig bleiben, deren Antwort gewissermaßen auf der Hand liege. Damit verwendete er eine ähnliche Methode der Problembehandlung wie der Computer. Eigentlich müsste er auch zu ähnlich genauen (und letztlich ebenso unfruchtbaren) Ergebnissen wie der Computer  gelangt sein. Dass dies nicht der Fall war, lag daran, dass er seine Methode nicht eben genau anwendete, was ihn (eben doch) als Philosophen ausweist. So konnte er, der doch, um nicht das Opfer bloßer Denkgewohnheiten zu sein, erst einmal alles bezweifeln wollte, etwa zu dem Ergebnis kommen, dass etwas so wenig Zweifelsfestes wie die Existenz Gottes, über jeden Zweifel erhaben sei.

Ein- und Ausfälle – Sorge um die Starken

Die westlichen Kulturen haben sich zu Recht in besonderem Maße um die Schwachen gekümmert. Darüber haben sie allerdings tendenziell die Starken vernachlässigt. Nicht weniger wichtig als die Grenzen der Schwachen zu erweitern, ist aber, den Starken ihre Grenzen aufzuzeigen.

Um 1750 Johann Gottlieb Graun (1701 – 1771) Konzert für Gambe, Basso Continuo und Orchester a-moll

Die Brüder Johann Gottlieb und Karl Heinrich Graun waren zusammen mit Johann Joachim Quantz die führenden Protagonisten einer Richtung der europäischen Kunstmusik, die man gelegentlich als die „Berliner Schule“ bezeichnet hat. Sie prägten in der Mitte des 18. Jh. jahrzehntelang das Musikleben der brandenburgischen Residenzen. Das Schaffen der drei Musiker ist eng mit den Bestrebungen Friedrichs des Großen verbunden, in Berlin einen barocken Musenhof zu schaffen, einen jener uns heute ziemlich exotisch erscheinenden Orte, an denen sich handfeste Realpolitik, ästhetische Selbstdarstellung und Kunstbegeisterung auf merkwürdige Weise mischten. Die Voraussetzungen für einen solchen Musenhof waren in Preußen seinerzeit nicht sonderlich gut. Friedrichs Vater, Friedrich Wilhelm I., war ein Herrscher, der seine Ziele ohne große Umschweife anstrebte. Bei seiner Thronbesteigung im Jahre 1713 entschied er, dass seine – politischen – Ziele auch ohne kostspielige Opfer an die Musen zu erreichen seien. Daher löste er das Berliner Hoforchester kurzerhand auf. Auch seinen designierten Thronfolger Friedrich überließ er nur ungern dem Einfluss der Musen. Er befürchtete offenbar, dass sie den Realitätssinn des künftigen Staatslenkers vernebeln und damit seine politische Entscheidungskraft schwächen könnten. Daher tat er alles, um zu verhindern, dass Friedrich sich allzu intensiv mit den schönen Künsten, insbesondere mit der Musik beschäftigte.

 

Die Entschlusskraft seines Sohnes scheint er damit aber eher gestärkt zu haben. 1728, als er 16 Jahre alt war, begann Friedrich heimlich Flötenunterricht bei Quantz zu nehmen. Zu seinem Vertrauten wählte er sich außerdem den acht Jahre älteren musischen Leutnant v. Katte, mit dem er 1730 vom badischen Steinsfurt aus vor dem prosaisch-gestrengen Vater – nach England – fliehen wollte, was aber misslang, da die beiden offenbar nicht den nötigen Sinn für die Realitäten hatten, die dabei zu beachten gewesen wären. Friedrich Wilhelm I. glaubte nun seine Entschlusskraft dadurch unter Beweis stellen zu müssen, dass er v. Kattes Verurteilung zum Tode veranlasste und seinen Sohn zwecks Gewöhnung an die preußischen Realitäten zwang, an der Vollstreckung der Strafe teilnehmen. Friedrich selbst, den beinahe das gleiche Schicksal getroffen hätte, verlor zunächst seine Stellung als Kronprinz. Er wurde aber Ende 1731 rehabilitiert und zunächst als Kommandeur eines Infanterieregimentes nach Ruppin verbannt, wo er die Niederungen des Staatslebens kennenlernen sollte. Dort ließ man ihn, zumal er inzwischen standesgemäß verheiratet war, weitgehend seinen eigenen Lebensstil pflegen, zu dem wesentlich die Musik gehörte.

 

Friedrich versammelte in Ruppin eine ausgesuchte Schar von Musikern, zu denen seit 1732 auch die Gebrüder Johann Gottlieb und Karl Heinrich Graun gehörten, die sich in Sachsen, wo sie musikalisch sozialisiert wurden, einen gewissen Ruf als solide Musiker erworben hatten (Johann Sebastian Bach etwa hatte seinen Sohn Friedemann zur Ausbildung in die Hände von Johann Gottlieb Graun gegeben). Als Konzertmeister und Vizekonzertmeister des kleinen Ruppiner Ensembles hatten die Grauns, wie damals üblich, neben dem Spieldienst auch Musik für den täglichen Gebrauch oder für Feste und Gottesdienste zu komponieren. Die Musiker, die Friederich, um in Berlin nicht aufzufallen, haushaltstechnisch als Domestiken führen ließ, nahm er mit, als er 1736 nach Rheinsberg übersiedelte. Auf Schloss Rheinsberg, das der Vater dem Sohn wohl schenkte, um ihn wieder an die Welt des Hofes anzunähern, steigerte Friedrich seine musikalischen Aktivitäten beträchtlich. Er betätigte sich nicht mehr nur als Flötist, sondern nun auch als Komponist. Als er 1740 schließlich den preußischen Thron bestieg, war eine seiner ersten Amtshandlungen, seine Musiker zu legalisieren und Quantz, der bislang nur sporadisch von Dresden zum Unterricht kam, mit einem hohen Gehalt nach Berlin zu holen.

 

Das königliche Musikleben spielte sich nun auf drei Ebenen ab. Friedrich selbst pflegte regelmäßig in kleinem Kreis, zu dem auch Franz Benda und Philipp Emanuel Bach gehörten, in seinen Schlössern zu musizieren, wobei der Schwerpunkt auf Werken für Flöte lag. Allein Quantz steuerte hierfür rund 200 Solosonaten und 300 Flötenkonzerte bei. Wie es bei dieser „Kammermusik“ zugegangen sein mag, hat Adolf Menzel später in dem bekannten Gemälde "Das Flötenkonzert von Sanssouci" stimmungsvoll dargestellt.

 

Ein weiterer Teil des Musiklebens war die Oper, die in Berlin mangels entsprechender Räumlichkeiten zuvor ein Schattendasein geführt hatte. Schon kurz nach seinem Regierungsantritt hatte Friedrich die Order gegeben, so schnell wie möglich ein Opernhaus zu bauen. Der Architekt Georg v. Knobelsdorff erstellte, da Friederich ungeduldig drängelte, daraufhin die heute noch bestehende Lindenoper in nur etwas mehr als einem Jahr. Zum Kapellmeister der Oper ernannte Friedrich Karl Heinrich Graun. Da es in Berlin keine geeigneten Darsteller gab, schickte er ihn erst einmal mit einer prall gefüllten Börse nach Italien, um Sänger einzukaufen. Karl Heinrich leitete die Oper, die hauptsächlich zu festlichen Anlässen spielte, bis zum seinem Tode im Jahre 1759. Er komponierte 29 Opern, an deren Gestaltung der König nicht selten persönlich beteiligt war. Friedrich steuerte etwa das ein oder andere Libretto oder Arien bei und verlangte, dass Stücke, die ihm nicht gelungen schienen, neu komponiert werden.

 

Die dritte Ebene des Musiklebens bestand aus den Konzerten der Hofkapelle, die unter der Obhut der Damen des Königshauses standen. Zum Konzertmeister dieses Klangkörpers wurde Johann Gottlieb Graun ernannt, eine Stellung, die auch er bis zu seinem Tode beibehielt. Hierfür entstand vor allem viel Instrumentalmusik.

 

Die Gebrüder Graun komponierten zahllose Werke aller Gattungen, darunter rund 100 Symphonien und dutzende Konzerte für die verschiedensten Instrumente, wobei die Mehrzahl der Instrumentalwerke wohl von Johann Gottlieb stammen dürfte. Das bekannteste Werk, die Passionskantate „Der Tod Jesu“, die bis in das späte im 19. Jh. große Triumphe in Berlin feierte, hat Karl Heinrich komponiert. Wer allerdings im Einzelnen welche der Kompositionen verfasst hat, die unter ihrem Namen geführt werden, ist in vielen Fällen ebenso wenig geklärt wie der genaue Zeitpunkt der Entstehung (häufig ist darüber hinaus schon ihre Urheberschaft zweifelhaft). Die Brüder sind biographisch und stilistisch so etwas wie siamesische Zwillinge, welche die Musikwissenschaft bisher nur teilweise trennen konnte. Das liegt nicht zuletzt daran, dass die meisten ihrer Kompositionen lediglich in Handschriften überliefert sind, auf denen, wenn überhaupt, häufig nur der Name „Graun“ vermerkt ist. Abschriften der Werke fanden sich überall in Nord- und Mitteldeutschland und bis nach Skandinavien, was zeigt, dass sie sehr geschätzt waren. Je weiter die Fundorte allerdings von Berlin entfernt sind, desto mehr scheint seinerzeit das Bewusstsein davon abhanden gekommen zu sein, dass es sich um zwei Personen handelte. Auch das 900-seitige außerordentlich penible Werkverzeichnis, das erst 2006 – bezeichnenderweise für beide gemeinsam – herauskam, konnte die Fragen der Datierung und Zuschreibung nur bruchstückhaft klären.

 

Stilistisch liegen die Werke der Gebrüder Graun einerseits im Rahmen des allgemeinen europäischen Kontextes zwischen auslaufendem Barock und dem aufkommenden galanten oder empfindsamen Stil, der zur Klassik überleitete. Anderseits sind sie, wie das gesamte damalige Berliner Musikleben, stark durch die Vorlieben Friedrichs des Großen gekennzeichnet, der in musikalischen, anders als in politischen und denkerischen Dingen, nicht sonderlich experimentierfreudig war. Der König, der militärisch und schriftstellerisch manchen gewagten Coup landete, war in der Kunst kein großer Freund einer Auseinandersetzung mit den Realitäten, sondern meinte, wie ein Beobachter feststellte, „dass die schönen Künste überhaupt angenehm und ergötzend sein müssen und der Ausdruck nie bis zur höchsten Reibung und Erschütterung treiben dürfe.“ Die sächsischen Brüder, die solcherart Vorstellungen bedienten, hat man nicht zuletzt deswegen etwas zwiespältig auch als die „sanften Graun“ bezeichnet.

 

Auch das Gambenkonzert in a-moll ist ein Werk der Zwischenperiode. Es hat mit seiner Basso-Continuo-Basis eine barocke Grundstruktur. Man kann auch den Einfluss Vivaldis heraushören, dessen Werke die Grauns in ihrer frühen Zeit in Dresden, wo man diesen Meister sehr schätzte, kennengelernt haben dürften. Allenthalben ist aber auch der neue Stil zu spüren, der in Berlin vor allem mit Philipp Emanuel Bach vertreten war. Zugleich ist das Konzert unverkennbar von der friederizianischen Ästhetik geprägt. Es handelt sich um Unterhaltungsmusik der Art, die der König offenbar liebte, natürlich auf sehr hohem Niveau.

 

Friederich ist übrigens gegen Ende seines Lebens, vielleicht im Hinblick auf die verschiedenen Kriege, die er geführt hat, schließlich doch noch von den Realitäten eingeholt worden, die einen Staatsmann von den Musen entfremden können. Nach dem Tode Karl Heinrich Grauns verlor er weitgehend das Interesse an der Oper und einige Zeit nachdem Quantz und schließlich auch Johann Gottlieb Graun verstorben waren, stellte er auch das Flötenspiel ein. Es scheint, dass dem handfesten Realpolitiker, im Alter illusionslos geworden, die Vorstellung von einem Musenhof zunehmend exotisch vorgekommen ist.

Weitere Texte zu Werken von rd. 70 Komponisten siehe Komponisten- und Werkeverzeichnis