Im Jahre 1776 erklärten die dreizehn Gründungsländer der Vereinigten Staaten von Amerika ihre Unabhängigkeit von England mit einem Dokument, dem welthistorische Bedeutung zugemessen wird. Geradezu zum geflügelten Wort wurden daraus die Formulierungen am Anfang, wo es heißt: „Wir halten die fol-genden Wahrheiten für klar an sich und keines Beweises bedürftig – der englische Begriff dafür ist „ self evident“ – , nämlich: dass alle Menschen gleich geboren; dass sie von ihrem Schöpfer mit gewissen unveräußerlichen Rechten begabt sind; dass zu diesen Leben, Freiheit und das Streben nach Glück – englisch: „pursuit of happiness“ – gehören usw.“ Dass diesen hohen Worten eine gänzlich andere Praxis gegenüberstand, ist eine der monstruösen Merkwürdigkeiten der amerikanischen Sozialmoral. Die Gründerväter hielten es nicht so sehr mit den gleichen Rechten aller Menschen und legten damit den Grundstein für die fundamentale Widersprüchlichkeit des amerikanischen Traums vom Streben nach Glück. Sie waren durch die Bank Sklavenhalter. Der hoch verehrte Thomas Jefferson etwa, dem die genannten hehren Formulierungen zugeschrieben werden, „besaß“ rund 200 Sklaven und „bilanzierte“ genau, welchen Gewinn ihm insbesondere 10-jährige Jungen einbrachten. Mit seiner Lieblingssklavin Sally Hemings hatte er ein uneheliches Kind (was lange vertuscht und erst in den 90-er Jahren des 20. Jahrhunderts durch DNA-Analyse geklärt wurde). Wahrscheinlich war er auch der Vater der vier oder fünf weiteren Kinder, die Sally Hemings gebar. Eine hohe Aktivität legten die (Nord)Amerikaner aber immer dabei an den Tag, anderen Menschen beizubringen, was man als das Glück anzusehen und wie man dies zu erstreben habe. Dazu gehörte insbesondere die Verbreitung des Glaubens an den Schöpfer, der allen Menschen das gleiche Recht zugeteilt hatte. Keines Beweise bedürftig war ihnen dabei, dass es sich dabei um die Figur handelt, dessen Sohn vor vielen Jahrhunderten im Nahen Osten zur Welt gekommen war.
Ein besonderer „Glücksfall“ war bei dieser missionarischen Aktivität der ameri-kanische Ethnolinguist Daniel Everett. Der junge Kalifornier ging in den 70-er Jahren des 20. Jahrhunderts im Auftrag einer jener amerikanischen evangelikalen Organisationen, die sich in besonderem Maße berufen fühlten, das Streben anderer Menschen nach dem Glück in die richtigen Bahnen zu lenken, samt seiner Familie zu den Piraha-Indianern in Amazonien, um zu erforschen, wie man diesem Naturvolk von nur 400 Personen das Evangelium beibringen könne. Die Pirahas – „Indianer“ werden wir die Bewohner der Amazonas-Region nicht mehr nennen, denn es kann kaum richtig sein, die ursprüngliche Bevölkerung dieses Landstriches mit einem Begriff zu kennzeichnen, welcher diesen Menschen nicht nur das Recht auf eine eigenständige Bezeichnung und damit geradezu auch auf eine eigene Herkunft und Identität verweigert, sondern der dazu auch noch aus einem Irrtum der Europäer stammt, welcher aus der Beschränktheit ihres Horizontes resultiert, und den zu korrigieren sie aus Gründen, welche wiederum mit eben dieser Beschränkung zu tun haben, nie für nötig hielten – die Pirahas also sind einer der letzten Stämme im Amazonasgebiet, die sich noch weitgehend der modernen Zivilisation entzogen haben. Sie leben auf dem Niveau, auf dem vor Beginn der Zivilisationsspirale vermutlich alle Menschen gelebt haben und dies über weit längere Zeit als die modernen Menschen und ins-besondere die (weißen) Amerikaner auf ihrem Level. Everett und seine Auftraggeber waren dennoch davon überzeugt, dass diese Urwaldmenschen, wiewohl sie das Leben schon über Jahrtausende gemeistert hatten, ohne die Vermittlung des christlichen Glaubens nicht glücklich sein könnten. Daher wollten sie die Sprache der Pirahas erforschen, um festzustellen, auf welche Weise man ihnen das Wort Gottes näher bringen und sie dadurch (endlich) glücklich machen könne.
Als sie am Amazonas ankamen, fanden sich Everett und seine Familie, wie nicht weiter verwunderlich, schon mit einigem Unverständnis dafür konfrontiert, dass sie in das archaische Gemeinwesen eingelassen werden wollten. Die Pirahas wiesen die Fremden zwar nicht zurück, zeigten jedoch ein begrenztes Interesse an ihnen. So ließen sie es an der nötigen Nächstenliebe fehlen, als die Amerika-ner an Malaria erkrankten, eine Krankheit, welche die Amazonianer vermutlich auch gar nicht recht verstanden, da sie selbst dagegen immunisiert waren. Sehr enttäuscht war Everett, als er fand, dass die Pirahas auch kaum Verständnis für die Frohe Botschaft Christi hatten. Er musste feststellen, dass sie sich nicht mit einer Sache befassen wollten, deren Überzeugungskraft aus Umständen resultieren sollte, die weit in der Vergangenheit lagen und deren Versprechungen sich in einer noch weiteren Zukunft realisieren sollten. Ihre Sprache hatte schlicht keine Möglichkeit, Sachverhalte auszudrücken, die zeitlich so weit auseinander liegen wie die Geburt Jesu oder gar die Erschaffung Adams und Evas auf der einen und die künftige ewige Glückseligkeit auf der anderen Seite. Was sie hin-gegen schnell verstanden war die augenblickliche Wirkungsweise von Alkohol, welchen sie von Vertretern der entwickelten Zivilisation, die weniger subtile Interessen als die Evangelikalen verfolgten, immer wieder mal geliefert bekamen. Unter dessen Wirkung entluden sich ihre Vorbehalte gegen die Fremdlinge sogar in Gewalttätigkeiten. Everett und seine Familie mussten sich, wenn die Urwaldbewohner dergestalt entfesselt waren, in ihrem Haus verbarrikadieren, bis der Rausch abgeklungen war. Die Pirahas konnten auch nicht einsehen, was sie mit Sachverhalten zu tun haben, die unter Leuten passiert sein sollten, welche sie nicht kannten und die womöglich auch noch so ähnlich und seltsam wie Everett und seine Familie waren und im Übrigen in einer unabsehbaren Ferne gelebt haben sollen. Des Weiteren waren für sie Dinge wenig relevant, die man nicht selber sehen konnte, sondern die sich aus Zeichen ergeben sollten, welche auf einem dünnen weißen Material gemalt waren, das leicht zerriss. Darüber hinaus fehlte es ihnen auch an Verständnis dafür, dass man das, was eine einzel-ne Person wie Everett für bedeutsam erklärte, ebenfalls für wichtig halten müsse. Immer wieder fand sich Everett im Übrigen mit der Frage konfrontiert, ob er diesen Jesus, der sich ja für all das verbürgen sollte, was man für die Zukunft versprach, denn je gesehen habe. Da Everett dies verneinte, zeigten die Pirahas ein vollständiges Desinteresse an dieser Figur. Mit anderen Worten, die Pirahas konnten mit dem, was ihnen Everett nahe zu bringen versuchte, absolut nichts anfangen.
Was nun aber Everett gänzlich verwirrte, war die Tatsache, dass die Pirahas trotz des Mangels der Frohen Botschaft nicht unglücklich oder desorientiert waren. Sie schienen vielmehr in einer paradiesischen Unbefangenheit zu leben und das Glück, das man in den entwickelten Zivilisationen immer nur erstrebte, tat-sächlich erreicht zu haben. Was die äußere Welt angeht, wussten sie sich, das war kein Wunder, ohne Wegweiser bestens zurechtzufinden. Sie kannten ihre Umgebung und nie schien ein Mitglied ihres Stammes im Urwald die Orientierung verloren zu haben. An ein Wunder schien Everett aber zu grenzen, dass sie auch für die wesentlich weitere, ja unendliche und daher doch eigentlich verwirrende und orientierungsbedürftige innere Welt keinen Wegweiser brauchten, ein Bedürfnis, welches der Amerikaner immer für „self-evident“ gehalten hatte. Es gab in dem Stamm niemanden, der die Funktion eines Seelenführers gehabt hätte.
Im Laufe der Zeit kam Everett zu der Erkenntnis, dass der Grund für das Glück der Pirahas darin liegen müsse, dass für sie nur das real und relevant war, was im Augenblick verfügbar oder durch jemanden bezeugt war, der anwesend ist. Er kam zu dem Schluss, dass die Urwaldmenschen gerade deswegen glücklich seien, weil sich ihre Lebensweise ganz auf das Jetzt und das bezog, was für sie unmittelbar greifbar war. Diese Erkenntnis erschütterte das Selbstverständnis des Amerikaners, der es gewohnt war, an eine Zukunft zu glauben, die sich aus der Vergangenheit einer kleinen Weltgegend ergibt. In der menschheitsgeschichtlichen Perspektive, welche ihm der Kontakt mit den Pirahas eröffnet hatte, erschien ihm das Christentum nun sehr jung und regional. Und so kamen bei ihm Zweifel auf, ob er auf dem richtigen Weg zu seinem eigenen Glück sei. Schließlich wandelte er sich vom Glücksvermittler zum Glückssucher. Er gab den ganzen orientalischen Plunder samt der damit verbundenen Fixierung auf Präteritum, Perfekt und Futur und gleich auch noch den Konjunktiv auf und versuchte, wie die Pirahas eine Haltung ohne Voraussetzungen und Visionen einzunehmen und ganz gegenwärtig zu leben. Ausgerechnet die Anschauung einer vor- und außerchristlichen Zivilisation hatte ihn zum Atheisten gemacht.
Everett blieb auf der Suche nach dem Glück sieben Jahre bei den Pirahas. Ob er das Glück gefunden hat, ist freilich zweifelhaft. Everett fühlte sich zwar von der Last der Dogmen sowie von den unterdrückten Zweifeln an denselben befreit. Die Rückkehr in das Paradies der Pirahas dürfte ihm aber verwehrt gewesen sein. Das Paradies ist ja ein Ort, der eingehegt ist. Seinen Horizont bildet eine massiv befestigte Grenze, die nur in eine Richtung überschritten werden kann. Im Falle der Pirahas ist dies ihr begrenzter Sprach- und damit Welthorizont. Der moderne Ethnolinguist aber hatte längst vom verbotenen Baum der avancierten Erkenntnis gegessen und damit Sprache und Weltvorstellung entgrenzt. Damit hatte er sich selbst aus dem Ort vertrieben, in den es keine Rückkehr gibt.