Archiv der Kategorie: Wagner (Richard)

Friedrich von Flotow (1812 – 1883)Jubelouvertüre F-Dur

Flotow ist ein gutes Beispiel für die enorme Aktivität, welche in der europäischen Kunstmusik des 19. Jahrhunderts unterhalb der Ebene der großen Namen stattfand, die heute in aller Munde sind. Der Spross aus alt-mecklenburgischem Adel ging früh nach Paris, wo er im regen, opernlastigen Musikbetrieb der französischen Metropole bald bestens vernetzt war. Hier begann er mit guten Ergebnissen die lange Reihe seiner musikdramatischen Werke, die bis auf seine Erfolgsopern „Alessandro Stradella“ und „Martha“ heute allerdings mehr oder weniger vergessen sind. Bekanntlich tat sich der spätere Großmeister Richard Wagner, mit dem Flotow die Lebensdaten bis auf ein Jahr teilt, in Paris gleichzeitig außerordentlich schwer. Ironischer Weise musste der eigenwillige Sachse, der Flotows Musik und musikdramatische Auffassung verachtete, aber, nachdem er in der Welthauptstadt der Oper unter demütigenden Umständen untergegangen war, ein paar Jahre später als Kapellmeister an der Dresdener Oper Flotows „Martha“ dirigieren. Flotow ist, wie gesagt, heute weitgehend vergessen, ein Schicksal, das er mit den meisten Figuren der zweiten Reihe teilt. Ein Grund dafür ist bei ihm sicher, dass er sich, anders als Wagner, nicht als musikalischen Himmelsstürmer und Fortentwickler oder gar Zertrümmerer der Form, sondern eher als kunstfertigen Handwerker verstand, der die vorhandenen Formen gekonnt anwendet, um das zeitgenössische gebildete Publikum auf leichte und gepflegte Weise zu unterhalten. Aber auch wegen seiner Sujets stoßen seine Werke heute nicht mehr ohne weiteres auf Interesse. Sie sind nicht selten kolportagehaft und – den historistischen und exotistischen Tendenzen der Zeit entsprechend – meist in der Vergangenheit oder in weiter Ferne (bis hin nach Indien) angesiedelt.

Neben den Bühnenwerken, für die Flotow in der Hauptsache steht, entstanden auch einige durchaus hörenswerte Instrumentalkompositionen, darunter zwei Klavierkonzerte und einiges an Kammermusik – letztere führte Flotow teilweise mit seinem sieben Jahre jüngeren besten Freund Jacques Offenbach auf, der wie Flotow ebenfalls in jungen Jahren von Deutschland, eben von Offenbach, nach Paris gekommen war und die Stadt später bekanntlich gänzlich eingenommen hat – im Gegensatz zu Wagner, der 1861 auch bei seinem zweiten Versuch, sich hier – mit seinem „Tannhäuser“ – zu etablieren, kläglich gescheitert ist. Zu den größer besetzten Instrumentalwerken gehört die Jubelouvertüre aus dem Jahre 1857, die Flotow, der seinerzeit Leiter der Hofmusik und Theaterintendant in Schwerin war, zur Einweihung des aufwändig umgebauten dortigen Schlosses komponierte, an dem so große Namen wie Gottfried Semper und Friedrich August Stüler gearbeitet hatten. Zum gleichen Anlass schrieb Flotow auch noch die Oper „Johann Albrecht“, deren Held jener mecklenburgische Herzog der Renaissance ist, nach dem der Baustil benannt ist, welcher bei dem Umbau zusammen mit anderen alten Stilen nach Art des romantischen Historismus „wiedergeboren“ wurde. Die Fertigstellung des märchenhaften Baus, den man das „nordische Neuschwanstein“ genannt hat, war sicher ein Grund zum Jubeln. Lärmige Freudenausbrüche, die man angesichts der Titulierung des Stückes erwarten könnte, sind aber Flotows Sache nicht. Das Werk, das nicht ohne Anleihen bei Wagner ist, kommt mit jener biedermeierlichen Mischung aus weihevoller Feierlichkeit und verspielter Leichtigkeit daher, die typisch für Flotows Kompositionshaltung und den Stilmix des Schlosses ist.

Werbung

1857/58 Richard Wagner (1810-1883) Wesendonk-Lieder

Wagner, der in der Hauptsache Vokalmusik komponierte, schrieb die Texte für seine Musik in aller Regel selbst. Die wichtigste Ausnahme von dieser Regel sind die sogenannten Wesendonk-Lieder. Deren Textvorlagen stammen von Mathilde Wesendonk, der Frau des reichen Kaufmannes Otto Wesendonk, welcher den politischen Flüchtling Wagner nach seiner Flucht aus Sachsen im Schweizer Asyl finanziell unterstützte. Die Wesendonks, die an sich aus Deutschland stammten, führten in Zürich ein großes Haus und hielten literarisch-musikalische Gesellschaften ab, zu denen neben Wagner etwa auch Gottfried Keller und Gottfried Semper erschienen. Angeregt durch die Künstler, die in ihrem Haus verkehrten, schrieb Mathilde Wesendonk auch selbst Gedichte. Daß die schwärmerisch-schwermütigen Gelegenheitsdichtungen einer Dilettantin vom Jahrhundert-Musiker Wagner vertont wurden, hatte seinen Grund in der besonderen persönlichen Beziehung zum Komponisten, in der es ziemlich dramatisch zuging.

Ihren Höhepunkt erreichte die Beziehung als Wagner im Spätsommer 1857 der unmittelbare Nachbar der Familie Wesendonk wurde. Seinerzeit bezog der Komponist auf Einladung von Otto Wesendonk mit seiner Frau Minna das „Asyl“, ein älteres Fachwerkhaus, das auf dem Grundstück der imposanten Villa stand, die sich die Wesendonks auf einem „grünen Hügel“ im Stil der italienischen Renaissance erbauen ließen. Über das, was danach geschah, schreibt Wagner später in seiner Autobiographie „Mein Leben“: „Wir waren durch die ländliche Nachbarschaft so nahe gerückt, daß eine starke Vermehrung der Beziehungen bloß durch die einfache tägliche Berührung nicht ausbleiben konnte“. Im Klartext heißt dies, daß Wagner sich endgültig in die fast 20 Jahre jüngere Mathilde verliebte, Besuche, Billette, Botschaften und Briefe hin- und her wechselten, Eifersuchtsszenen in allen Kombinationen abliefen und eben auch Gedichte übergeben und vertont wurden. Welche Hochspannung zwischen Villa und Asyl herrschte, zeigt nicht zuletzt die Tatsache, daß auf dem Hintergrund der Beziehung zu Mathilde Wesendonk Wagners aufregendstes und revolutionärstes Werk, die Oper „Tristan und Isolde“, entstand, in der es um eine Dreiecksbeziehung mit „liebestödlichem“ Ausgang geht.

Das Drama „Richard und Mathilde“ freilich endete so prosaisch wie dies im richtigen Leben eher der Fall zu sein pflegt. An einem Abend im April 1857 diskutierten die beiden Protagonisten über die Frage, wie die Figur des „Faust“ bei Goethe zu beurteilen sei. In der ihm eigenen Art, Hochgeistiges und Persönliches zu vermischen, nutzte Wagner die Auseinandersetzung dazu, seine Eifersucht auf Mathilde Wesendonks jungen italienischen Sprachlehrer De Sanctis zu Ausdruck zu bringen. Dabei muß er ziemlich aus der Rolle gefallen sein. Am folgenden Morgen versuchte er die Scherben mittels eines Briefes zu kitten, den er mit „Morgenbeichte“ überschrieb. Das Schriftstück, das einige interpretationsfähige Formulierungen enthielt – unter anderem tauchte darin mehrfach das Wort „Liebe“ (mit „!“) auf -, wurde von seiner misstrauischen Ehefrau abgefangen. Sie ging damit postwendend zu Mathilde und machte ihr heftige Vorhaltungen. Die Folge war, daß das komplizierte, künstlerisch verbrämte Beziehungsgeflecht zwischen Villa und Asyl zusammenbrach. Wagner floh, Mathilde mit großer Geste entsagend, nach Venedig, wo er die unaufgelöste Liebesspannung in der Weiterführung des Jahrhundertkunstwerkes „Tristan“ sublimierte.

Die Lieder nach den Texten Mathilde Wesendonks sind menschlich und künstlerisch im Kleinen, was der „Tristan“ im Großen ist. Ihre Musik ist weitgehend vom Tonfall, insbesondere von der irisierenden Harmonik der Oper geprägt. Die Lieder „Im Treibhaus“ und „Träume“, die in ihrem schopenhauerischen Pessimissmus und ihrer buddhistisch angehauchten Allmystik der Gedankenwelt des „Tristan“ inhaltlich besonders nahe stehen, sind als Vorstudien zur Oper anzusehen. Wie wichtig der persönliche Hintergrund der Lieder war, offenbart sich nicht zuletzt darin, daß Wagner unter dem Einfluß offenbar noch immer glühender Gefühle – möglicherweise aber auch in weiterhin werbender Absicht – die Rangfolge der Werke seinerzeit auf den Kopf stellte. In einem „Tagebuch für Mathilde“, welches er in Venedig führte, schrieb er: „Besseres als diese Lieder habe ich nie gemacht, und nur sehr weniges von meinen Werken wird ihnen zur Seite gestellt werden können“.

Die Lieder, die zwischen Herbst 1857 und Sommer 1858 jeweils unmittelbar nach der Abfassung der Gedichte meist an einem Tag komponiert wurden, sind ursprünglich für Klavier und Sopran geschrieben. Instrumentiert wurden sie erst später von Felix Mottl. Die Rechtfertigung und das Modell für die Orchesterfassung lieferte Wagner selbst, indem er das Lied “Träume“ für acht Instrumente setzt.  Diese Fassung brachte er Mathilde am Morgen ihres 29. Geburtstages (23.12.1857) als Überraschungsständchen im Treppenhaus der Wesendonk-Villa dar, was beim Hausherrn, der sich auf Geschäftsreise in New York befand, zu einigen Irritationen und in der Züricher Gesellschaft zu allerhand Gerede führte.

Weitere Texte zu Werken Wagners, und rd. 70 weiterer Komponisten siehe Komponisten- und Werkeverzeichnis; zu Mathilde Wesendonk siehe insb. auch  https://klheitmann.com/2008/08/13/1870-richard-wagner-1813-1883-siegfried-idyll-2/

1883 Anton Bruckner (1824- 1896) Symphonie Nr. 7 E-dur

Bruckners symphonisches Gesamtwerk ist so etwas wie das Gegenstück zu den „Carceri“ des italienischen Kupferstechers Giovanni Battista Piranesi. Im den 16 Radierungen der „Carceri“ werden monumentale, offenbar subterrane Architekturen mit düsterer unterweltlicher Ausstattung dargestellt, die aus gewaltigen, immer wieder ähnlichen, aber auf  rätselhafte Weise zusammengefügten Bauteilen bestehen, mit denen Raumperspektiven eröffnet werden, welche seinerzeit unerhört waren. Obwohl jedes der Bilder ein eigenständiges Werk ist, spürt man, dass die verschiedenen Architekturen miteinander in Verbindung stehen. In ähnlicher Weise erscheinen Bruckners neun autorisierte Symphonien (und sein Streichquintett) wie eine einzige monumentale – allerdings himmelstrebende – Klangarchitektur. Auch die Symphonien bestehen aus gewaltigen, sich ähnelnden Einzelteilen, die auf merkwürdige Weise zusammengesetzt sind und bis dato ungehörte Klangperspektiven eröffnen. Wie bei Piranesi scheint jedes Einzelwerk nur einen Aspekt eines seltsamen, riesigen Gesamtkomplexes abzubilden. Dies hat zu dem bon mot geführt, Bruckner habe nur eine einzige Symphonie geschrieben, diese aber gleich neun Mal. Auch Bruckner selbst hat seine Kompositionsarbeit offenbar im Sinne des Schaffens an einem einheitlichen Werk verstanden. Dies zeigt die Tatsache, dass er ständig an der Gesamtheit der gigantischen Klangbaustelle arbeitete. Immer wieder nahm er sich Teile daraus vor, um sie im Lichte der Erkenntnisse zu überarbeiten, die er bei der Erstellung anderer Teile gewonnen hatte.

 

Der hohe Grad an Homogenität des symphonischen Gesamtwerks bedeutet freilich nicht, dass die einzelnen Bauteile nicht in sich vollendet wären oder keine unverwechselbare Individualität hätten. Jede der einzelnen Symphonien stellt vielmehr einen eigenständigen Flügel des Gesamtwerkes dar. Dabei ragt die siebte Symphonie als besonders prachtvoller, in sich wohl proportionierter Hauptflügel aus der Großarchitektur heraus. Das zugleich eingängige und komplexe Werk hat den Weltruhm des Komponisten begründet.

 

Bruckners symphonisches Werk hatte anfangs einen schweren Stand. Dies lag zum einen an der Kompositionsweise, die für damalige Verhältnisse revolutionär war – nicht zuletzt an den ungewöhnlichen oder gar fehlenden Übergängen zwischen den Satzelementen (eine Weiterentwicklung Schubert`scher Kompositionsprinzipien) oder an der eigentümlichen Wellentechnik, bei  welcher der musikalische Einfall mehr oder weniger zum bloßen Baustein gewaltiger dynamischer Prozesse wird. Zum anderen war für Bruckner ein Problem, dass er sich von Richard Wagner vereinnahmen ließ, der über ihn Einfluss in Wien zu erlangen versuchte. Dadurch wurde er in die heftigen Auseinandersetzungen zwischen den Anhängern des umstrittenen Sachsen auf der einen und des Wiener Platzhirsches Brahms auf der anderen Seite gezogen. Insbesondere geriet er in das Fadenkreuz des Großkritikers Eduard Hanslick, der Wagner heftig bekämpfte. Selbst der sonst eher zurückhaltende Brahms, der in diesem Streit zum Gegenpol Wagners und Bruckners aufgebaut wurde, ließ sich in der Hitze des Gefechtes zu der unvorsichtigen Einschätzung verleiten, Bruckners Symphonien seien nichts als Schwindel, der bald vergessen sei. Noch im Jahre 1890, sechs Jahre nach ihrer ersten Aufführung in Leipzig (durch Arthur Nikisch), hieß es in dem erfolgreichen Konzertführer von Kretschmar über die „Siebte“: „Höhere Originalität und technische Reife suche man in dem Werke nicht. Selbst der Kontrapunkt ist steif und der Entwicklung der Ideen fehlt die Logik, der Zusammenhang und das Maß in einem Grade, der in gedruckten Symphonien unerhört ist. … Der Entwurf der Hauptsätze scheint vom Zufall der täglichen Arbeitslaune bestimmt.“

 

Heute weiß man, wie sehr sich Bruckners Gegner geirrt haben. Gerade an der „Siebten“ wird der kunstvolle Entwurf, etwa in der Wechselbezüglichkeit der Themen und Tonarten, und die einleuchtende Struktur bewundert. Davon abgesehen fällt das Werk durch die ausgreifende Melodik insbesondere des ersten Satzes auf. Der Anhänglichkeit des Komponisten an Wagner schließlich haben wir nicht nur Bruckners außerordentliche harmonische Beweglichkeit im Allgemeinen, sondern speziell in der „Siebten“ auch einige der ergreifendsten Passagen des Gesamtwerkes zu verdanken. Gegen Ende der Arbeit am zweiten Satz, der als das Zentrum der Symphonie angesehen werden muss, erfuhr Bruckner vom Tode Wagners in Venedig. In der Coda dieses Satzes, in dem ohnehin schon vier „Wagnertuben“ eingesetzt werden, erwies Bruckner dem verehrten Meister daraufhin mit in wunderbararer Harmonie verlöschenden  Akkorden des Tubenquartettes eine letzte Reverenz.

Weitere Texte zu Werken von Bruckner und rd. 70 anderen Komponisten siehe Komponisten- und Werkeverzeichnis

Zu Piranesi und den “Carceri” siehe auf dieser Website den Philosophischen Roman Piranesis Räume

1870 Richard Wagner (1813 – 1883) Siegfried Idyll

Wagners Leben war bekanntlich ein einziges Drama – künstlerisch, politisch, finanziell und nicht zuletzt menschlich. Wie eine Insel der Ruhe liegt darin das Siegfried Idyll, ein Werk, das Wagner einmal als seine liebste Komposition bezeichnete. Und doch beschreibt auch das Siegfried Idyll nur das mehr oder weniger glückliche Ende dramatisch verwickelter Verhältnisse.

 

Das Werk ist ein Weihnachts- und Geburtstagsgeschenk des 57-jährigen Komponisten für seine frisch angetraute junge Frau Cosima und markiert das Ende der langen und äußerst unruhigen Anfangsphase dieser Beziehung. Begonnen hatte diese 13 Jahre zuvor, im Jahre 1857, als Cosima, die Tochter Franz Liszts, ausgerechnet auf der Hochzeitsreise mit ihrem ersten Ehemann, dem großen Pianisten und Dirigenten Hans von Bülow, mehrere Wochen bei Wagner in Zürich Station machte. Bereits damit trat Cosima, wiewohl vorläufig noch in einer Nebenrolle, in Wagners ohnehin schon komplizierte Frauenbeziehungen.

 

Wagner wohnte seinerzeit mit seiner Frau Minna im  „Asyl“, einem Nebengebäude der Villa des reichen Kaufmannes Otto Wesendonk in Zürich, der den hochverschuldeten Komponisten finanziell unterstützte. Gleichzeitig unterhielt Wagner, der hier seine Treubruchsoper „Tristan und Isolde“ begann, mit dessen junger Ehefrau Mathilde zarte Bande, für die allerdings weder seine Frau noch Mathildes Mann viel Verständnis hatten. Die Spannung, die sich in diesem Vierecksverhältnis aufgebaut hatte, führte im Jahre 1858 zu einem ersten Höhepunkt des Wagener´schen Frauendramas. Minna fing einen heimlichen Brief Wagners an Mathilde ab und legte ihn offen. Im Zuge der Verwicklungen, die daraus resultierten, flüchtete Wagner aus dem Asyl und war damit von Minna und Mathilde getrennt. Dies hatte zur Folge, daß Cosima in den Vordergrund des Geschehens treten konnte. Wagners Geliebte wurde sie schließlich im Sommer 1864 in Starnberg, wo der Komponist seinerzeit auf Einladung König Ludwig II. von Bayern lebte.

 

Nach der Beziehung zu Mathilde Wesendonk befand sich Wagner damit ein zweites Mal in der Rolle des Tristan, desjenigen also, der einen Vertrauten oder Gönner mit dessen Frau hintergeht (als solcher freilich schuldlos, weil er „versehentlich“  einem Liebestrank erlag). Während eine Frucht der Wesendonk-Affäre, die möglicherweise nur platonischen Charakter hatte (darüber streiten die Gelehrten), ein Geistesprodukt, nämlich die Oper „Tristan und Isolde“ war, stellte sich als Folge der Starnberger Ereignisse bei Cosima von Bülow im Frühjahr 1865 eine leibhaftige Isolde ein. Für Hans von Bülow sah das neue Dreiecksdrama eine merkwürdige Doppelrolle vor. Er galt als Ehemann von Cosima einerseits als Vater von Isolde, andererseits hatte er die menschlich nicht unproblematische, musikhistorisch aber höchst bedeutsame Aufgabe, kurz nach der Geburt von Isolde die Treubruchsoper „Tristan und Isolde“ aus der Taufe heben zu dürfen.

 

Der Wechsel der Szene zum Schauplatz des Siegfried-Idylls erfolgte, als Wagner sich wieder einmal in die Politik einmischte und, nachdem er wegen derartiger Umtriebe früher schon aus Sachsen geflohen war, nunmehr auch Bayern schnellestens verlassen mußte. Er ging im Jahre 1865 zurück in die Schweiz, wo sein neues Asyl das wunderschön gelegene Landhaus Tribschen am Luzerner See wurde. Nach diesem Ort wurde das Siegfried Idyll ursprünglich als Tribschener Idyll bezeichnet.

 

Für eine idyllische Wendung der Handlung war freilich auch in Tribschen vorerst kein Raum. Fast zwei Jahre war Cosima zwischen ihren beiden Männern hin- und hergerissen und pendelte unter peinlichen Umständen zwischen München und Luzern, eine Zeit, in der sie, wiewohl noch immer mit Hans von Bülow verheiratet, ein weiteres Kind (Eva) gebar, dessen Vater Wagner war. Erst als Cosima im Herbst 1867 samt ihren vier Töchtern – zwei stammten aus der Ehe mit Hans von Bülow – ganz nach Tribschen zog, begannen sich die Dinge zu entspannen. Im Sommer 1869 – Wagner komponierte gerade den „Siegfried“ zu Ende –  kam der lang ersehnte Stammhalter zur Welt und erhielt den Namen des Titelhelden dieser Oper. Kurz darauf wurde Cosima von Hans von Bülow geschieden und konnte Wagner heiraten.

 

Das Siegfried Idyll, das unmittelbar danach im Oktober 1870 entstand, spiegelt die erlösende Ruhe, die nach all diesen Verwicklungen in Wagners persönlichen Verhältnissen eingetreten war. Seine Musik ist, wie immer bei Wagner, äußerst beziehungsreich. So enthält sie nicht nur musikalische Elemente der Oper „Siegfried“, was im Hinblick auf den frisch geborenen Sprößling nahe lag, sondern vor allem auch Motive, die bereits in der Zeit entstanden waren, in der Cosima in Starnberg seine Geliebte wurde. Andere Motive spielen auf Familien-Ereignisse an – so der Ruf von Fidis (Tochter Evas) Vogel, den die Trompete am Ende des Mittelteiles einwirft (der ursprüngliche Titel des Werkes lautete: Tribschener Idyll mit Fidi-Vogelgesang und Orange-Sonnenaufgang). Auch dramatische Verwicklungen sind nicht ausgelassen. Das ganze Werk ist durch ein intimes Programm geprägt, das Wagner dezenterweise zwar für sich behalten, von dem er aber gesagt hat, dass er es bis auf das „und“ schreiben könne. Zugleich ist es aber auch ein ganz aus sich selbst verständliches Stück „absoluter“ Musik, das zum Vorbild für viele spätere Orchesterstücke wurde.

 

Die Uraufführung fand nach heimlicher Vorbereitung am Morgen des Weihnachtstages 1870 im Treppenhaus von Tribschen statt. Cosima, die Geburtstag hatte, wurde von den leisen Anfangsklängen aufs Zärtlichste geweckt und erhielt anschließend die Partitur überreicht. Es ist als habe Wagner damit ein Ereignis konterkarieren wollen, das noch in die unruhige Zeit des Beginns seiner Beziehung zu Cosima gehört. Im Jahre 1857 hatte er nämlich Mathilde Wesendonk zum Geburtstag, der ebenfalls in der Weihnachtszeit lag, in Abwesenheit ihres Ehegatten frühmorgens im Treppenhaus ihrer Villa mit der Uraufführung eines der Wesendonk-Lieder überrascht, was im Hause Wesendonk zu erheblichen Turbulenzen führte.

1875 ff Georges Bizet (1838-1875) – Carmen-Suiten Nr.1 und 2

Im Jahre 1888 verfasste Friedrich Nietzsche nach dem zwanzigsten Besuch von Bizets Oper „Carmen“ in Turin einen „Brief“, in dem er einen fulminanten Generalangriff auf seinen früheren Abgott Richard Wagner und den Wagnerismus startete. In der brillianten Schrift, die unter dem Titel „Der Fall Wagner“ veröffentlicht wurde, lobt er „ridendo dicere severum“ (Lachend das Ernste sagend) den vermeintlichen französischen Kleinmeister Bizet „auf Kosten“ des selbsternannten deutschen Großmeisters Wagner. Wagners Musikdrama des „feuchten Nordens“, dessen Helden die Erlösung durch (Senta)sentimentale höhere Jungfrauen suchten, die in heiligen Hallen wandeln, stellt Nietzsche Bizets trocken-mediterranes „Meisterstück“ um die männerverzehrende „femme fatale“ Carmen gegenüber, die in einer andalusischen Zigarettenfabrik arbeitet. Für Nietzsche ist Wagner der „décadant“, der die Musik falsch und krank gemacht habe und den Geist vernebele. Bizet Musik dagegen, die den Geist frei mache, erscheint ihm vollkommen. „Sie kommt“, schreibt er, „leicht, biegsam und mit Höflichkeit daher. Sie ist liebenswürdig, sie schwitzt nicht.“ Im Gegensatz zum Polypen der Musik, der unendlichen Melodie Wagners, baue und organisiere sie; sie werde fertig.

 

Als sich Nietzsche derart enthusiastisch über die Carmen-Musik äußerte, war ihr Schöpfer schon lange tot. Das Lob hätte Bizet ohne Zweifel lieber dreizehn Jahre früher gehört, nämlich im Jahre 1875 als sein Meisterstück in Paris erstmals zur Aufführung kam. Seinerzeit gab es für ihn aber nichts als Enttäuschungen. Während Wagner in Bayreuth der Fertigstellung eines eigenen  Opernhauses entgegensah, hatte Bizet schon Schwierigkeiten, ein fertiges Haus zu finden, daß seine Oper aufführen wollte. Der Direktor der Opéra Comique in Paris, wo die Uraufführung des hochdramatischen Werkes unpassenderweise stattfinden sollte, fand seinen Inhalt, der auf einer Erzählung von Prosper Mérimée beruht, skandalös und verzögerte die Produktion. Nachdem sich dieses Problem durch den Abgang des Operndirektors gelöst hatte, gab es Komplikationen beim Einstudieren des Werkes. Das Orchester beschwerte sich über die technischen Schwierigkeiten der Partitur, der Chor darüber, daß er nicht nur zu singen, sondern auch zu agieren hatte. Die Uraufführung am 3. März 1875 wurde vom Publikum kalt aufgenommen. Die Kritik bemängelte neben dem „unsittlichen“ Libretto einen Mangel an Melodik; die Singstimmen seien dem Durcheinander und Lärm des Orchesters völlig ausgeliefert. Man warf Bizet ausgerechnet Wagnerismus vor, was in Frankreich seinerzeit rufschädigend war. Wagner galt als der musikalische Repräsentant des deutschen Kaiserreiches, welches sich wenige Jahre zuvor „auf Kosten“ Frankreichs gebildet hatte. Bizet, der schon mit seinen vorangegangenen musikdramatischen Versuchen keinen Erfolg erzielen konnte, hat den erneuten Tiefschlag nicht verkraftet. Geschwächt durch den Stress der Vorbereitungsarbeiten und mutlos durch die enttäuschende Aufnahme starb er drei Monate nach der Uraufführung im Alter von 36 Jahren an einer seit langem schwelenden Halskrankheit.

 

Bizets „Carmen“ ist mittlerweile die meistgespielte Oper überhaupt. Ihr Aufstieg begann schon einige Zeit bevor Nietzsche Wagner leicht maliziös an Bizet maß. Noch im Jahre 1875 wurde sie mit großem Erfolg in Wien gespielt. Von dort begann ihr einzigartiger Siegeszug durch die Welt. Da ihre Musik, nach Nietzsches Feststellung, „baut, organisiert und fertig wird“, hat man aus ihr später leicht zwei Suiten fertigten können, welche die mittlerweile allbekannten Themen enthalten. Bei Wagners unendlicher Melodie dürfte dies – Antiwagnerianer mögen sich bestätigt fühlen – nicht so ohne weiteres möglich sein.