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Peter Tschaikowski (1840 – 1893) Konzert für Violine und Orchester D-Dur

Man kann sich manchmal nur wundern, wie weit Personen, die sich als Kenner der Musik verstehen, bei der Beurteilung eines Werkes daneben liegen können. Tschaikowskis Violinkonzert zählt heute zu den ganz großen Werken dieser Gattung und ist eines der am meisten gespielten Kompositionen für die Geige überhaupt. Dennoch meinte der berühmte Wiener Kritiker Eduard Hanslick, das Werk bringe ihn „auf die schauerliche Idee, ob es nicht auch Musikstücke geben könnte, die man stinken hört“. Beim Hören des Schlusssatzes wähnte er sich auf einem traurigen und brutalen russischen Kirchweihfest, sah überall wüste und gemeine Gesichter, hörte rohe Flüche und stellte fest, dass die Geige bei der Aufführung rot und blau geschlagen worden sei – all das weil es dort „ein wenig“ volkstümlich zuging. Wie man auf die Idee kommen kann, in diesem Werk einen Mangel an Zivilisiertheit zu sehen, ist heute, wo man wirklich wilde Musik kennt, kaum mehr nachzuvollziehen. Das Konzert und nicht zuletzt der Schlusssatz haben sicher einige temperamentvolle und rhythmisch akzentuierte Passagen, die aber aus dem thematischen Material konsequent herausgearbeitet und Teil einer schlüssigen Dramaturgie sind. Über weite Strecken ist es aber ausgesprochen kantabel und insbesondere im langsamen Satz von lyrischer Innerlichkeit. Der Bildungsbürger Hanslick, der nicht nur in diesem Fall den Gang der Musikgeschichte falsch eingeschätzt hat, scheint von antirussischem Ressentiment geprägt gewesen sein und konnte offenbar nicht sehen oder akzeptieren, dass Russland, das bis dato in der europäischen Kunstmusik keine Rolle gespielt hatte, nicht zuletzt mit Tschaikowski dabei war, zur Spitze der musikalischen Entwicklung aufzuschließen und Wien als Hochburg der Musik Konkurrenz zu machen (tatsächlich sollte Russland schon bald eine führende Rolle einnehmen). Auch der seinerzeit berühmte ungarische, in Russland lebende Geigenvirtuose und -pädagoge Leopold Auer, dem Tschaikowski das Konzert in der Annahme gewidmet hatte, dass er es aus der Taufe heben werde, lehnte es mit der Begründung ab, es sei „unviolinistisch“. Er verlangte, dass der Solopart vor einer Aufführung überarbeitet werde und erstellte dafür auch eine eigene Version. Tschaikowski, der von dieser Eigenmacht wenig begeistert war, ließ das Konzert daraufhin ohne die Widmung an Auer neu drucken und widmete es seinem Landsmann Adolph Brodski, der es im Jahre 1881 in Wien unter der Leitung von Hans Richter erstmals mit Orchester aufführte, womit die fast dreijährige und sicher wenig ermutigende Durststrecke der Uraufführungsgeschichte dieses Werkes ein Ende fand (zwei Jahre zuvor war es allerdings in New York bei einem Privatkonzert schon einmal in der Fassung mit Klavier, die Tschaikowski  auch erstellt hatte, gespielt worden).

Das Konzert entstand im Jahre 1879 binnen vier Wochen im Glarens am Genfer See, wohin sich Tschaikowski nach dem Scheitern seiner überhastet eingegangenen Ehe, die nur wenige Wochen dauerte, und dem daraus resultierenden nervlichen Zusammenbruch geflüchtet hatte. Von dort berichtete er seiner Gönnerin Nadezhda von Meck, mit welcher er eine der merkwürdigsten Künstlerbeziehungen der Kulturgeschichte unterhielt, begeistert vom schnellen Fortschritt der Komposition. In Glarens besuchte ihn der 22-jährige russische Geiger Josif Kotek, der ebenfalls zu den Schützlingen von Nadezhda von Meck gehörte (und dieselbe über Details aus dem Leben des verehrten Meister versorgte, den sie trotz engsten, über fünfzehn Jahre anhaltenden brieflichen Kontakts und erheblicher finanzieller Unterstützung nie getroffen hat). Mit ihm spielte Tschaikowski neue Werke der Violinliteratur durch, darunter insbesondere die zwei Jahre zuvor herausgekommene „Symphonie espagnole“ von Éduoard Lalo, ein Werk, das Tschaikowski zur Komposition seines Violinkonzertes angeregt zu haben scheint. Was er darüber an Frau von Meck mitteilte, klingt wie eine Charakterisierung seiner eigenen Vorstellungen von einem Violinkonzert. Lalos Werk, hat, so schrieb er, „viel Frische, Leichtigkeit, pikante Rhythmen, schöne und exzellent harmonisierte Melodien. …Er (Lalo) strebt nicht nach Tiefsinn, aber er vermeidet sorgfältig Routine, probiert neue Formen aus, und denkt mehr an musikalische Schönheit als an die Beachtung etablierter Traditionen, wie es die Deutschen tun.“ Kotek, der unter anderem beim Geigenpapst Josef Joachims studierte, beriet Tschaikowski bei der Lösung spieltechnischer Fragen. Der Komponist schrieb darüber an Frau von Meck: „Es versteht sich von selbst, dass ich ohne seine Hilfe überhaupt nicht in der Lage gewesen wäre zu arbeiten.“ Aus diesem Grund hatte er zunächst erwogen, das Werk Kotek zu widmen, nahm davon aber Abstand, weil er befürchtete, dass dies Gerede über eine homoerotische Beziehung zwischen ihm und dem jungen Mann auslösen könnte (die tatsächlich bestanden zu haben scheint). Kotek war ein weiterer Kandidat für die Uraufführung des Konzertes, hatte dieselbe aber abgelehnt, wiewohl er so wesentlich an der Entstehung beteiligt war (kolportiert wird, weil er seinen Ruf nicht gefährden wollte).

Kaum dass das Werk fertig war, übersandte es Tschaikowski an Frau von Meck. Die reiche Witwe eines Eisenbahnunternehmers und Mutter von elf Kindern hatte mehr musikalischen Verstand als der berühmte „deutsche“ Kritiker und antwortete begeistert: „Gott wie ist das schön und wie viel Genuss gibt ihre Musik“. Auch das internationale Publikum wusste das Konzert zu schätzen. Bei der ersten Aufführung in England im Jahre 1882 brachen die Zuhörer in Begeisterungstürme aus.

 

1877 Peter Tschaikowski (1840 – 1893) Symphonie Nr. 4 f-moll

Tschaikowskis 4. Symphonie trägt die Widmung „Für meinen besten Freund“. Bei Tschaikowski, der bekanntlich homoerotisch veranlagt war, dies aber unter den damaligen gesellschaftlichen Verhältnissen auf keinen Fall öffentlich werden lassen durfte, könnte man bei einer derart auffällig unbestimmten Widmung vermuten, dass damit ein Mann gemeint sei, den er nicht kompromittieren wollte. Tatsächlich handelte es sich aber um eine Frau. Über fast eineinhalb Jahrzehnte unterhielt Tschaikowski zu dieser Frau eine Beziehung, wie man sie mit einem besten Freund haben könnte.

Bei der Frau handelte es sich um Nadeshda von Meck. Als die Mutter von achtzehn Kindern, von denen elf erwachsen wurden, Ende 1876 mit einem Kompositionsauftrag erstmals Kontakt zu dem Komponisten suchte, war sie 45 Jahre alt und hatte gerade ihren Mann, einen reich gewordenen Eisenbahnunternehmer verloren. In der Folge sollte sich zwischen ihr und Tschaikowski eine der merkwürdigsten Romanzen der Kulturgeschichte entwickeln. Die beiden verkehrten ausschließlich in der virtuellen Welt der Briefe, von denen sie in den vierzehn Jahren ihrer Beziehung insgesamt rund 1200, im Durchschnitt also einen alle vier Tage wechselten. In dieser Sphäre schriftlicher Selbstdarstellung ließen sie ihren Gedanken und Gefühlen außerordentlich freien Lauf. Aus der ohne Zweifel begründeten Befürchtung, die Wirklichkeit könne demgegenüber enttäuschend sein, achteten sie sorgfältig darauf, dass sie sich nie persönlich begegneten, suchten aber, was die Spannung durch Quasi-Intimität erhöhte, immer wieder auch die Nähe, etwa durch den gleichzeitigen Aufenthalt am selben Urlaubsort. Die Beziehung zu Frau von Meck war für Tschaikowski und damit für die Musikgeschichte schon deswegen von großer Bedeutung, weil sie ihn finanziell unterstützte, ab 1878 sogar so großzügig, dass er seine aufreibende Tätigkeit als Lehrer am Moskauer Konservatorium aufgeben und sich ganz der Komposition widmen konnte. Darüber hinaus ist das Verhältnis für die Nachwelt auch deshalb wichtig, weil der Briefwechsel, auch wenn darin seitens Tschaikowski manches stilisiert gewesen und der Bestätigung der Erwartungen einer Gönnerin gedient haben sollte, tiefe Einblicke in die Gedanken und Seelenwelt des Menschen und Komponisten aber auch des Zeitgenossen Tschaikowski ermöglicht. Denn wie kaum einer anderen Person offenbarte er Frau von Meck auch sein künstlerisches Selbstverständnis und teilte ihr Einzelheiten seines Schaffensprozesses mit. Dies gilt in besonderem Maße im Falle der 4. Symphonie, von der er im Verhältnis zur Nadeshda von Meck als „unserer Symphonie“ sprach.

Die Komposition des Werkes, die Tschaikowski im Winter 1876/77 begann, fiel in die Anfangszeit der Beziehung zu Frau von Meck, eine Zeit, in der Tschaikowski mit massiven Problemen zu kämpfen hatte. Nicht nur, dass er erhebliche finanzielle Schwierigkeiten hatte, weswegen er sich im Mai 1877 genötigt sah, Frau von Meck, die ihn durch überhöhte Zahlungen ihrer Kompositionsaufträge ohnehin schon unterstützte, um ein größeres Darlehen zu bitten (bei dieser Gelegenheit bot er ihr auch die Widmung der Symphonie an). Er befürchtete seinerzeit vor allem, dass seine homoerotische Veranlagung publik werden könnte. Wohl um die bereits umlaufenden Gerüchte zu entkräften, hatte er sich in der zweiten Jahreshälfte 1876 entschlossen, zu „heiraten, wen es auch sei“. Im Juli 1877 hatte er sich schließlich in eine Ehe mit einer Frau gestürzt, die er kaum kannte. Das Manöver endete nach wenigen Wochen im psychischen Desaster und einer „leidenschaftlichen Sehnsucht nach dem Tode.“ Am Ende flüchtete Tschaikowski, seine Frau verlassend, für sieben Monate nach Westeuropa. Dort zur Ruhe gekommen konnte er die Arbeit an der Symphonie, die längere Zeit unterbrochen war, im Herbst 1877 abschließen. Mit ihr und der Oper „Eugen Onegin“, an der er gleichzeitig arbeitete, sollte er seinen Weltruhm begründen.

Über all diese Turbulenzen hat Tschaikowski mit Nadeshda von Meck im Laufe des Jahres 1877 ausführlich korrespondiert. Als sie ihn nach der Uraufführung der Symphonie, die am 10. Februar 1878 in seiner Abwesenheit in Moskau stattfand, fragte, ob dem Werk ein „Programm“ zu Grunde liege, gab er ihr und nur ihr, wie er betonte, dann eine nachträgliche Deutung im Lichte dieses annus horribilis. Diese Auslegung hat seitdem die Sicht auf die Komposition weitgehend bestimmt.

Das Samenkorn des Werkes, aus dem alles wachse, so schreibt er am 17. Februar 1878 aus Florenz, wo er noch immer „auf der Flucht“ ist, sei das Fanfarenmotiv der Einleitung. Es stehe für das „Fatum, die verhängnisvollen Macht, die unser Streben nach Glück verhindert und eifersüchtig darüber wacht, dass Glück und Frieden nie vollkommen werden, eine Macht, die wie ein Damoklesschwert über unserem Haupte hängt und unsere Seele unentwegt vergiftet.“ In einem Brief an seinen Bruder Modest hat er sich hierüber deutlicher in dem Sinne geäußert, dass damit die ständige Angst vor der Zerstörung seiner gesellschaftlichen Stellung angesichts seiner Veranlagung gemeint sei. Vor der Bedrohung, so fährt Tschaikowski gegenüber Frau v. Meck fort, flüchte sich der Mensch in Träume, die ihm das Glück vorgaukeln. Doch letztlich sei „das Leben nur ein unaufhörlicher Wechsel von düsterer Wirklichkeit und flüchtigen Träumen.“ Dies, so Tschaikowski,  sei „in etwa“ das Programm des ersten Satzes, der nach Länge, Gewicht und kompositionstechnischem Aufwand das Kernstück der Symphonie ist. Für die Deutung des zweiten Satzes imaginiert Tschaikowski eine Person, die das Leben, welches sie müde gemacht hat, vor sich Revue passieren lässt. „Traurig ist es und doch süß“, so resümiert er, „sich in die Vergangenheit zu verlieren …“ Im dritten Satz kommen, so Tschaikowski, keine besonderen Gefühle zum Ausdruck. Es seien launige Arabesken und flüchtige Bilder, die einem etwa im leichten Weinrausch oder beim Einschlummern durch den Kopf ziehen, „unverständlich, bizarr und zerrissen“. Das besondere dieses Satzes ist, dass die Streicher hier ausschließlich Pizzicato spielen. In vierten Satz schließlich sucht der in sich selbst gefangene Mensch, ähnlich wie Faust beim Osterspaziergang, den Ausweg, indem er sich unter das Volk mischt. Der Satz beginne mit dem „Bild eines Volksfestes an einem Feiertage“. Doch auch hier melde sich das Fatum. Am Ende aber zeige dem bedrohten Mensch die Art wie das Volk sich freue und glücklich sei: „Es gibt doch noch einfache und unwüchsige Freude – Du kannst noch leben!“

Tschaikowski hat natürlich gewusst, dass eine derart eindeutige Interpretation seines und überhaupt eines Musikwerkes dieser Art kaum möglich ist. Deswegen schickte er seiner Deutung im gleichen Brief nicht nur eine ausführliche Schilderung der Eigengesetzlichkeit (und Rauschhaftigkeit) des Schaffensprozesses voraus, sondern relativierte seine Auslegung auch gleich wieder. Beim nochmaligen Durchlesen, so schrieb er, sei er erschreckt, ob der Unvollständigkeit und Unklarheit des Programms, das er entworfen habe. „Zum ersten Mal in meinem Leben, habe ich Gelegenheit gehabt, meine musikalischen Ideen und Gestalten in Worte zu kleiden und in Sätze zu fassen. Diese Aufgabe habe ich aber nur sehr schlecht gelöst.“ Das erste sollte denn auch das letzte Mal bleiben, dass Tschaikowski sich auf das Unterfangen einer derartigen Selbstinterpretation einließ.

Wiewohl in Tschaikowski 4. Symphonie ohne Zweifel Persönliches und Musikalisches im Sinne eines Bekenntnisses untrennbar miteinander verbunden ist , kann die geschilderte Interpretation wohl nur auf dem Hintergrund seiner Beziehung zu Nadeshda von Meck verstanden werden. Gegenüber seinem Schüler Tanejew äußerte er sich nur wenige Wochen später denn auch ganz anders. Auf dessen „Vorwurf“, die Symphonie klinge nach Programmmusik, antwortete Tschaikowski in einem ausführlichen „Verteidigungsbrief“ vom 8. 4. 1878, das Werk habe natürlich ein Programm, aber keines „das man in bloße Worte fassen könne“. Ein solches „würde komisch wirken und ganz gewiss ausgelacht werden.“ Er könne es sich aber andererseits „absolut nicht wünschen, dass aus meiner Feder jemals symphonische Werke entstehen könnten, welche nichts auszudrücken hätten und bloße Akkorde und Harmonien sowie Rhythmen- und Modulationsspiel bedeuten würden.“ Die Musik solle vielmehr „alles  ausdrücken, wofür es keine Worte gibt und geben kann, was aber doch aus dem menschlichen Herzen herausdrängt und ausgesprochen werden will.“ Dem Musiker Tanejew bietet Tschaikowski dann eine eher musikhistorische Deutung seiner Symphonie an. „Glauben sie ja nicht, dass ich jetzt vor ihnen mit tiefen Gefühlen oder großen Gedanken prahlen wollte. Ich hatte durchaus nicht das Bestreben, in diesem Werk neue Ideen auszusprechen. Im Grunde genommen ist nämlich meine Symphonie eine Nachahmung der 5. Symphonie Beethovens, das heißt ich habe nicht ihren musikalischen Inhalt nachgeahmt, sondern nur ihre musikalische Grundidee entlehnt.“ Und Beethovens Symphonie habe nicht etwa nur „irgendein Programm, es kann vielmehr nicht die geringste Meinungsverschiedenheit darüber bestehen, was sie eigentlich ausdrücken will.“

Weitere Texte zu Werken Tschaikowskis und rd. 70 weiterer Komponisten siehe Komponisten- und Werkeverzeichnis