Monatsarchiv: Februar 2009

Ein- und Ausfälle – Zur Schrittgeschwindigkeit von Konservativen und Avantgardisten

Konservative sind Menschen, die befürchten, man könne bei den Veränderungen der Gesellschaft, die natürlich auch sie für unvermeidlich halten, zu weit gehen. Sie neigen daher nach einem Schritt nach vorne dazu, zur Sicherheit noch einmal nach hinten zu schauen. Avantgardisten sind hingegen Menschen, die bei Unsicherheit darüber, ob ein Schritt nach vorne richtig war, noch einen Schritt weitergehen.

Ein- und Ausfälle – Gott und seine Sprache

Offenbarungsreligionen haben ein Stilproblem: Gottes Sprache müsste eigentlich so perfekt sein wie sein Wesen, muss aber anderseits so ungenügend sein wie die Sprache der Menschen, die Gott verstehen sollen. Die Lösung des Problems hat man im wesentlichen auf drei Weisen versucht.

 

Die einfachste Lösung des Stilproblems ist, Gott nicht selbst, sondern durch einen Propheten sprechen zu lassen, der Gottes Wort mit seinen (menschlichen) Worten wiedergibt. Hier besteht keine grundlegende Diskrepanz zwischen der Sprache des Sprechers und der seiner Adressaten. Diesen Weg hat, mit wenigen Ausnahmen (etwa bei den Zehn Geboten), das Alte Testament gewählt. Eine Mittellösung besteht darin, Gott zwar selbst sprechen zu lassen, ihn aber zu diesem Zwecke zum Menschen werden zu lassen. Diese Konstruktion liegt dem Neuen Testament zugrunde. Der dritte Ansatz geht davon aus, dass Gott den Text selbst verfasst habe und dass er durch einen Propheten (nur) verkündet werde. Dies ist im Wesentlichen die Lösung des Islam.

 

Jede der Lösungen leidet unter der religionsstilistischen Unschärferelation. Gottnähe und Stilreinheit sind nämlich nicht gleichzeitig zu haben. Je näher der offenbarte Text bei Gott angesiedelt wird, desto unreiner muss sein Stil sein und umgekehrt.

Ein- und Ausfälle – Der größte Mensch

Das wäre einer, der den Menschen das Licht (der Erkenntnis) gebracht hat, ohne sie hinter dasselbe zu führen, insbesondere jemand, der die Menschen von unverzichtbaren Normen des Zusammenlebens überzeugte, ohne von ihnen zu verlangen, dass sie unverzichtbare Gesetze des Denkens missachten – Konfutius etwa.

Ein- und Ausfälle – Glaube und Politik

Wenn Glauben heißt, Gewissheit von der Wahrheit dessen zu haben, was man glaubt, dann kann dies, da Gewissheit immer eine Sache des Individuums ist, auch immer nur den Einzelnen betreffen. Dennoch gibt es Dritte, die glauben, darüber wachen zu können und zu müssen, dass der Einzelne das Richtige für gewiss hält. Möglich ist dies nur, wenn etwas ins Spiel kommt, das mehr als diese Gewissheit ist,  die Überzeugung nämlich, dass es sinnvoll sei, wenn mehrere das Gleiche glauben – mit anderen Worten Politik.

Ein- und Ausfälle – Gottebenbildlichkeit als Euphemismus

Die Antike hat die Macht des Wortes bekanntlich außerordentlich hoch eingeschätzt. Unter anderem hoffte man, dass die Dinge so sind, wie man sie benennt. Da es dabei eigentlich immer darum ging, schlechte Tatsachen verbaliter zu Guten zu machen, werden derartige Benennungen als Euphemismus bezeichnet. Es entspricht der Logik des Euphemismus, dass das Misstrauen in eine (schlechte) Sache um so größer gewesen sein muss, je höher die Worte waren, deren man sich zur Verschleierung dieses Misstrauens bediente. Ein bekanntes Beispiel für einen derart reziproken Euphemismus ist die Bezeichnung des unwirtlichen Schwarzen Meeres als „Gastliches Meer“ (Pontus Euxinus). Ein weniger präsentes Beispiel ist die Beschreibung des Menschen als gottebenbildlich, was ebenfalls eine Erfindung der Antike ist. Dabei ist dieser Fall von Euphemismus besonders eklatant. Denn da man zur Beschreibung des Menschen Anleihen beim Absoluten machte, scheint das Misstrauen in den Menschen ebenso grenzenlos gewesen sein.

Ein- und Ausfälle – Der Mensch die Krone der Schöpfung?

Der Mensch hält sich für die Krone der Schöpfung. Die Frage ist allerdings, wieso er sich dessen so sicher ist. Fest steht nur, dass er es nicht wüsste, wenn andere Kreaturen von sich das gleiche dächten.

Ein- und Ausfälle – Augustinus und die Sklaverei

Ein schönes Beispiel für Rabulistik ist Augustinus‘ Rechtfertigung des Rechtes des Siegers, den Besiegten zu versklaven (in De Civitate Dei). Handele es sich auf Seiten des Siegers um einen gerechten Krieg, so meint er, sei die Versklavung die Folge der Tatsache, dass der Besiegte dann logischerweise einen ungerechten Krieg geführt habe. Dies aber sei eine Sünde und dafür werde er mit der Sklaverei bestraft. Führe der Besiegte einen gerechten Krieg, kommt er aber auch nicht besser davon. Dann nämlich sei seine Versklavung eine Folge anderer Sünden, die ja jeder irgendwann und irgendwie – und sei es in Form der Erbsünde – einmal auf sich geladen habe. Angesichts dieser Auswegslosigkeit empfielt Augustinus dem Sklaven, sein Los wenigstens zu mildern, am besten dadurch, dass er sich mit seinem Herrn gut stelle. So könne er immerhin erreichen, dass dieser von seinen Befugnissen als Sklavenhalter keinen übermäßigen Gebrauch mache. Diese Argumentation kam den wirtschaftlichen Interessen seiner Zeitgenossen natürlich entgegen. Sie zeigt, warum man Augustinus zu den Apologeten zählt.

Macht der Interpreten (Über die Funktion von Fundamentaltexten und ihrer Verwalter)

Gemeinschaftsordnende Texte, Gesetze etwa oder religiöse Grundbücher, können die Vielfalt des sozialen Lebens, das sie ordnen wollen, niemals vollständig erfassen. Sie behelfen sich daher mit Formulierungen die so eng wie möglich und weit wie nötig sind. Alte Texte sprechen dazu häufig in Bildern oder erzählen Geschichten. Um solche Texte in die Praxis umzusetzen, bedarf es der Auslegung. Diesem Geschäft, dem sich ganze Berufszweige verschrieben haben, kommt eine erhebliche Bedeutung zu. Es ist daher höchst lohnend, sich mit der Frage zu befassen, wie dieses Geschäft betrieben wird.

Auf den ersten Blick scheint es naheliegend, dass man bei der Interpretation gemeinschaftsordnender Texte versucht, den Willen des historischen Textverfassers zu ermitteln. Dahinter steckt der Gedanke, dass die Autorität eines Textes gefährdet wäre, wenn der Eindruck entstünde, dass seine Interpreten ihn willkürlich behandeln. Zu diesem Standpunkt neigen religiöse Fundamentalisten. Die Folge freilich ist, dass ihre Entscheidungen nicht immer „zeitgemäß“ sein können. Denn der Text, den sie anwenden, ist in der Regel viele hundert Jahre alt.

Auf den zweiten Blick zeigt sich, dass der historische Ansatz mehr Probleme aufwirft, als er löst. Was, so fragt man sich, ist zu tun, wenn der historische Verfasser von falschen Annahmen über tatsächliche Sachverhalte, etwa über den Beginn der Welt, ausging, wenn er gewisse Problemstellungen noch nicht gekannt oder bestimmte Fallkonstellationen übersehen hat? Was ist der Wille des Verfassers, wenn der Text, wie die Bibel oder Gesetze, nicht nur einen Verfasser hat oder im Laufe eines längeren Zeitraumes entstanden ist?

 Die Juristen als die professionellen Interpreten gemeinschaftsordnender Texte haben sich aus diesem Dilemma mit einem Trick geholfen (wobei wohl der Umstand eine Rolle spielte, dass das praktische Leben, mit dem die Juristen zu tun haben,  keine endlosen Diskussionen über den Willen des Textverfassers, sondern Entscheidungen verlangt). Der Trick: Sie lösten das Problem, indem sie den Textverfasser unsterblich machten. Die Folge ist, dass man ihn jederzeit zu seinem Willen zu befragen kann und er für immer in die Lage versetzt ist, eventuelle Gesetzeslücken zu füllen.

 Bei der Frage, wie man sich diesen unsterblichen Textverfasser vorzustellen habe, haben sich zwei Grundrichtungen gebildet. Die strengere Observanz sieht ihn in einer Institution, welche die andauernde Verfügungsgewalt über den Text besitzt – etwa im Parlament. Dementsprechend hat dieser immerwährende „Gesetzgeber“ Lücken selbst zu schließen und in gravierenden Zweifelsfragen Gesetze zu ergänzen oder zu präzisieren. Dass ein solches Verfahren umständlich ist und im Einzelfall unter Umständen zu spät kommt, liegt auf der Hand. Die pragmatischere Lösung ist daher die Annahme eines überzeitlichen – objektiven – Textsinnes, der den Willen des Gesetzgebers enthalten soll. Ihn zu ermitteln, überlassen die Anhänger dieser Auffassung den Richtern, die ihn in einer Art permanenter Diskussion von Fall zu Fall entwickeln.

 Nicht ganz so einfach ist die Situation der Theologen. Sie haben es mit einem Text zu tun, der überirdische Würde beansprucht, was naturgemäß die Anpassung durch Menschen von Fleisch und Blut erschwert. Allerdings haben sich insbesondere christliche Theologen hier flexibel gezeigt. Vom unmittelbaren Wortlaut der biblischen Geschichten ist, mit Ausnahme bei wenigen Fundamentalisten, für welche die Welt noch immer vor 6000 Jahren erschaffen wurde, häufig nicht viel übrig geblieben. Auch die meisten christlichen Interpreten suchen nach dem „Willen Gottes“ und vermuten ihn hinter den Geschichten, welche die Bibel erzählt. Vielleicht ist diese Entwicklung dadurch erleichtert worden, dass es keinen einheitlichen historischen Verfasser der biblischen Texte gibt, wodurch unterschiedliche Ansichten über den Inhalt dieser Texte vorprogrammiert waren.

Echte Probleme haben die Fundamentalisten, insbesondere solche, die davon ausgehen, es mit dem Text eines einzigen Verfassers zu tun haben. Denn das Festhalten am Willen des historischen Textverfassers führt paradoxerweise häufig gerade dort zu problematischen Ergebnissen, wo dieser sich besonders klar geäußert hat. Man denke etwa an das Abhacken der Hand, das der Koran in gewissen Fällen als Strafe für den Dieb vorsieht.   

Blickt man auf das Resultat derer, die von einem objektiven Textsinn ausgehen, so erstaunt die Weisheit ihrer Lösung. Zwanglos scheiden sie all das aus, was nur zeitbedingt ist, ohne das Bedürfnis der Menschen nach textlicher Autorität zu vernachlässigen. Der Lösung liegt allerdings auch wieder ein Trick zu Grunde. Die Vorstellung vom objektiven Sinn der Texte beruht auf einer Fiktion, der Behauptung nämlich, es gäbe so etwas wie einen überpersönlichen und überzeitlichen Inhalt eines Textes. Jeder, der mit Texten umgehen muss, weiß jedoch, dass man mit dieser Methode nur die mehr oder weniger gut fundierte Meinung der Interpreten darüber konstatieren kann, was der Sinn eines Textes sein soll.

Diese Methode arbeitet also in gewisser Weise mit einer Verschleierung der Tatsachen. Es handelt es sich allerdings um eine jener vernünftigen und offenkundigen kleinen Unwahrhaftigkeiten, die das Leben verkraften kann, ja die es geradezu zu brauchen scheint. Anders sieht es bei den Historisten aus. Auch sie bedienen sich einer Unwahrhaftigkeit, die allerdings von anderer Qualität ist. Denn wer, etwa bei modernen Sachverhalten, meint, den  -„subjektiven“- Willen des historischen Textverfassers wirklich ermitteln zu können, verdrängt die Tatsachen. Es kann keinen Zweifel darüber geben, dass auch bei der Ermittlung eines angeblich historischen Willens des Textverfassers aktuelle gemeinschaftsordnende Interessen und Vorstellungen der jeweiligen Interpreten im Spiel sind. Im Unterschied zur „objektiven“ Methode werden dies bei der historischen Methode tief verschleiert.

Die „objektive“ Interpretation von gemeinschaftsordnenden Texten setzt allerdings eine Einsicht in die Funktion solcher Texte voraus, die möglicherweise erst bei einem gewissen Stand der gesellschaftlichen Entwicklung möglich ist. Offenbar kann man erst ab einem gewissen Stand des allgemeinen Bewusstseins, ohne dass die Textautorität verlorengeht, akzeptieren, dass selbst die heiligsten Texte nicht zuletzt Ordnungsfunktionen haben und dass sich ihr Sinn jenseits aller „Wahrheit“ aus dieser Funktion erschließt.

1879 Antonin Dvroak (1841 – 1904) Violinkonzert a-moll

Am 15. November 1878 erschien in der „Berliner Nationalzeitung“ ein Artikel des bekannten Musikkritikers Louis Ehlert über Dvorak, der das Leben des Komponisten nachhaltig verändern sollte. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte Dvorak zwar schon viel komponiert, war aber so gut wie unbekannt geblieben. Ehlert lobte nun Dvorak an Hand seiner ersten „offiziellen“ Publikationen – es handelte sich um die erste Staffel der „Slawischen Tänze“ und die Gesangs-Duette „Klänge aus Mähren“ – als eines der wenigen ganzen Talente, das ihm seit langem untergekommen sei (im Gegensatz zu den vielen Viertel- und Achtelbegabungen, mit denen er es in der zeitgenössischen Musik in der Regel zu tun habe). Die wichtigeren neueren Komponisten, so meinte Ehlert, seien „furchtbar ernst“. Man müsse sie studieren, und nachdem man sie studiert habe, einen Revolver kaufen, um seine Meinung über sie zu verteidigen. Dvorak hingegen sei ein Musiker, über den man sich so wenig streiten könne wie über den Frühling. Seine Musik flute mit einer himmlischen Natürlichkeit dahin, habe Humor, Leichtigkeit und erquickende Frische und sei dazu wirkungsvoll und farbig gesetzt. Er sage zwar nicht, daß man es hier schon mit Genie zu tun habe, dafür müsse man weitere Werke abwarten, aber es handle sich um etwas Erfreuliches.

 Der Artikel löste ein mediales Interesse an Dvorak aus, wie es heute ein Auftritt in einer großen Publikumsshow des Fernsehens bewirken kann. Dvorak war mit einem Mal berühmt und erhielt zahlreiche Anfragen nach Kompositionen. Noch im Januar 1879 wurde sowohl von seinem Verleger Simrock als auch – unabhängig davon – von seinem Freund Halir aufgefordert, ein Violinkonzert zu schreiben, von Halir, der Geiger war, natürlich mit dem Wunsch, das Werk auf der Taufe heben zu dürfen. Beflügelt durch so viel Anerkennung und sicher auch unter dem Eindruck des Violinkonzertes seines Mentors Brahms, das Joseph Joachim damals gerade uraufgeführt hatte, machte sich Dvorak auch alsbald an die Arbeit. Schon im Herbst 1879 war das Violinkonzert fertiggestellt.

 Bevor das Werk in den Druck ging, sollte es aber Joseph Joachim, die größte Geigenautorität der Zeit, noch durchsehen und insbesondere die Solostimme auf Spielbarkeit überprüfen. Joachim, dem einige der wichtigsten Violinkonzerte seiner Zeit, darunter auch das von Brahms, gewidmet wurden, hatte es – vielleicht aus diesem Grunde – nicht besonders eilig. Ganze frustrierende zwei Jahre ließ er sich Zeit mit der Prüfung des Konzertes, um Dvorak am 14. August 1882 „in aller Aufrichtigkeit mitzuteilen“, dass er das „Violin-Konzert in seiner jetzigen Gestalt noch nicht reif für die Öffentlichkeit“ halte. Er bemängelte vor allen die „orchestrale dicke Begleitung“. Im September 1882 trafen sich Dvorak und Joachim schließlich in Berlin, wo sie das Konzert zwei Mal durchspielten. Joachim, so schrieb Dvorak danach an einen Freund, habe das Konzert gut gefallen „Nur im Finale muss ich noch was ändern und an manchen Stellen die Instrumentation milder machen“. Und er fügte hinzu “Mir war es sehr lieb, daß die Geschichte einmal fertig wird.“

Damit waren aber noch nicht alle Hürden genommen. Im November 1882 fand eine Probeaufführung mit dem Orchester des Berliner Konservatoriums statt, dessen Chef Joachim war. Danach bemängelte Simrocks Hausfreund Robert Keller, der erste Satz sei zu kurz ausgefallen. Außerdem könne er, da er unmittelbar in den zweiten Satz übergehe, nicht für sich abschließen. Er forderte, daß der Satz um ein Drittel verlängert werden müsse. Dagegen wehrte sich Dvorak vehement in einem Brief an Simrock, in dem er schrieb, Keller sei „diesmal doch zu weit gegangen“ sei. Trocken stellte er fest, er habe zur Verlängerung des ersten Satzes keine Lust. Zur Bekräftigung seiner Meinung, „dass die zwei ersten Sätze so bleiben können, wenn nicht müssen“, berief er sich auf keinen geringeren als Pablo Sarasate, die zweite große Geigenautorität der Zeit, dessen Meinung auch noch eingeholt worden war. Allenfalls im dritten Satz, verteidigte sich der Meister, könnten noch Kürzungen vorgenommen werden.

Die offizielle Uraufführung des Werkes fand schließlich vier Jahre nach der ersten Fassung am 14. Oktober 1883 in Prag statt. Der Solopart wurde aber weder von Halir noch von Joseph Joachim, dem auch dieses Konzert gewidmet ist, sondern von dem jungen Tschechen Frantisek Ondricek gespielt. Joseph Joachim scheint das Werk weiterhin nicht so recht gefallen zu haben. Jedenfalls hat er es trotz der Widmung nie öffentlich gespielt.

 Das Violinkonzert, das anfangs auch wirtschaftlich einige Schwierigkeiten hatte – Simrock klagte bei späteren Honorarverhandlungen, es liege „einfach fest auf Lager“ – , ist noch ganz von der (böhmischen) Seite Dvoraks bestimmt, die Ehlert so begeisterte. Das musikalische Material kommt vom heimischen Tanz und Lied und ist geprägt von jenem slawischen, Schwermut und Munterkeit auf so eigenartige Weise vermischenden Melos, das die Werke Dvoraks aus dieser Schaffensperiode generell kennzeichnet. An einigen Stellen zollt Dvorak dabei seinen großen Vorgängern Respekt, indem er die „Jahrhundertwerke“ von Beethoven, Mendelssohn und Brahms zitiert. Das „böhmische Violinkonzert“ ist sicher kein „furchtbar ernstes“ Werk, über das man mit der Pistole streitet. Es ist aber eine erfreuliche und dennoch ernst zu nehmende Komposition. Und diese Kombination geht -  insofern wissen wir, die wir weitere Werke des Meisters abwarten konnten, heute mehr als Ehlert – nur dann auf, wenn Genie im Spiel ist.

Weitere Texte zu Werken Dvoraks  und rd. 70 weiterer Komponisten siehe Komponisten- und Werkeverzeichnis

1823 Felix Mendelssohn-Bartholdy Konzert für Violine, Klavier und Orchester

Felix Mendelssohn verdankt seine glückliche Karriere als Musiker nicht zuletzt der außerordentlich effektiven Unterstützung aus seinem sozialen Umfeld. Der junge Musiker hatte ein Elternhaus, das sich jede Förderung seines großen Talentes leisten konnte. Vor allem konnte Mendelssohn schon als Lernender damit rechnen, dass die Anstrengungen, die er zur Entwicklung seines Talentes unternahm, zeitnah belohnt werden würden. Anders als der zwölf Jahre ältere Schubert, der zur gleichen Zeit seine Werke in einer kleinbürgerlichen Wohnung in Wien weitgehend für die Schublade schrieb, wusste Mendelssohn, dass seinen Kompositionen Aufmerksamkeit gesichert war. In der großbürgerlichen Berliner Residenz der Familie Mendelssohn wurden regelmäßig Konzerte veranstaltet, bei denen auch Kompositionen des jungen Felix aufgeführt wurden.

 Im Falle des Konzerts für Violine, Klavier und Orchester, das Mendelssohn im Alter von 14 Jahren schrieb, war seine Motivationslage ohne Zweifel besonders glücklich. Er konnte nicht nur sein Talent gleich in zweifacher Weise demonstrieren, da er das Konzert für sich selbst als Pianisten komponierte. Der Schüler durfte dazu einen anspruchsvollen Violinpart für seinen eigenen (Geigen)Lehrer schreiben. Außerdem konnte er davon ausgehen, dass das Werk nicht nur im häuslichen Rahmen vor geladenen Gästen, sondern auch noch bei einem öffentlichen Konzert auf der großen Bühne des Berliner Schauspielhauses aufgeführt werden würde. Diese Motivationslage spiegelt sich denn auch in dem Werk, das mit einem Selbstbewusstsein daherkommt, welches für einen Musikadepten seines Alters erstaunlich ist. Schwung und rhetorische Emphase sowie eine Dramatik fast schon Beethoven`schen Ausmaßes kennzeichnen den umfangreichen ersten Satz. In langen Solopassagen können hier die beiden Solisten ihr Stehvermögen und Können unter Beweis stellen. Es folgt ein lyrischer langsamer Satz, im dem die Solisten schwelgen dürfen. Der fast schon übermütige dritte Satz diente offenbar auch der Demonstration der kontrapunktischen Kompositionsfertigkeit des jungen Komponisten.

Selbstgewissheit spiegelt sich auch in der kurzen Zeit, die Mendelssohn für die Komposition benötigte. Die erste Fassung wurde binnen eines Monats geschrieben. Im Stil aber auch bei der Wahl der ungewöhnlichen Besetzung hat sich Mendelssohn offenbar von einem Doppelkonzert Johann Nepomuk Hummels, der zeiteilig sein Lehrer war, inspirieren lassen. Das Orchester spielt insgesamt eher eine untergeordnete Rolle. Über weite Strecken erscheint das Konzert daher wie eine Violinsonate mit Orchesterbegleitung.

Die Aufführung des Konzertes im Hause Mendelssohn fand am 25. Mai 1823 mit reiner Streicherbegleitung statt. Wahrscheinlich für die repräsentativere Aufführung im Berliner Schauspielhaus, die am 3. Juli 1823 folgte, hat Mendelssohn den Bläsersatz und die Paukenstimme dazu komponiert.

Auch dieses Jugendwerk hat der selbstkritische Meister später in der Schublade verschwinden lassen. Die (Streicher)Partitur wurde erst nach dem zweiten Weltkrieg in der Berliner Staatsbibliothek wiederentdeckt. In dieser Fassung wurde das Werk erstmals wieder im Jahre 1957 gespielt. Die getrennte Bläserpartitur fand man in den neunziger Jahren in Oxford. Die kombinierte Streicher- und Bläserfassung wurde im Jahre 1999 gedruckt und in diesem Jahr auch erstmals seit 1823 wieder gespielt.

Das Konzert ist sicher noch kein echter Mendelssohn, sondern eine beachtliche Talentprobe eines hochbegabten Schülers, die den Liebhabern des Komponisten einen weiteren eindrucksvollen Einblick in das Werden eines Genies erlaubt, ein Genie, das schon zwei Jahre später mit dem Streichoktett Op. 20 und im Jahr darauf mit der Musik zum Sommernachtstraum auf die glücklichste Weise zur vollen Reife gelangen sollte.

Weitere Texte zu Werken Mendelssohns und rd. 70 weiterer Komponisten siehe Komponisten- und Werkeverzeichnis