Monatsarchiv: September 2012

1950ff Lars-Erik Larsson (1908-1986) – Concertino für Posaune und Streichorchester

Der schwedische Komponist Lars-Erik Larsson  ist einer jener Komponisten des 20. Jh., die sich, wie so viele  Komponisten von der europäischen Peripherie, nur begrenzt von den massiv vorwärts drängenden Tendenzen mitziehen ließen, welche die Entwicklung der Kunstmusik seit dem zweiten Drittel des 20. Jh. beherrschten. Zwar hat auch er sich immer wieder mit den Neuerungen befasst, welche Arnold Schönberg und seine Nachfolger der Musikgeschichte beschert haben. Als Musikstudent reiste er Ende der zwanziger Jahre mit einem Stipendium der schwedischen Regierung sogar ins Epizentrum der Neutöner nach Wien und studierte bei Schönbergs Meisterschüler Alban Berg. In der Folge war er auch der erste schwedische Komponist, der ein Werk in der Zwölftontechnik der Wiener Schule schrieb. Sein nordisch freundliches künstlerisches Temperament führte ihn doch immer wieder zurück auf vertraute und weniger holprige Pfade. Er beschäftigte sich gerne mit vorromantischen Formen und Stilen in der Art, die als neoklassizistisch bezeichnet wird. Im Gegensatz zur musikalischen Avantgarde, die vor allem die musikalische Entwicklung und die daraus resultierenden Erkenntnismöglichkeiten vorantreiben wollte, kam es ihm darauf an, schöne und verständliche Musik zu schreiben und ein möglichst breites Publikum zu erreichen. Dies hat ihm in seinem Heimatland, wo er Zeit seines Lebens als Dirigent und Musiklehrer tätig war, eine Popularität eingebracht, die für einen modernen Komponisten nicht eben gewöhnlich ist. Viele Schweden kennen seine Werke, ohne zu wissen, dass er der Autor ist. Seinem künstlerischen Credo entsprechend suchte Larsson auch den Kontakt zu den Musikamateuren – auch dies unterscheidet ihn von den meisten Avantgardisten. In dieser Absicht komponierte er in den fünfziger Jahren zwölf Concertinos für verschiedene Soloinstrumente und Streichorchester. Diese Werke zeichnen sich durch übersichtliche Formen und eingängige Melodik aus und können von geübten Amateuren bewältigt werden. Eines dieser Stücke ist für die Posaune geschrieben. Wie die anderen Concertinos ist es inzwischen zu so etwas wie einem Referenzwerk für gemäßigte Moderne geworden und wird von den Posaunisten, deren Repertoire nicht eben umfangreich ist, gerne gespielt.

1924 George Gershwin (1898-1937) – Rhapsody in blue

Gemessen an (West)Europa trat die amerikanische (Kunst)Musik – ähnlich wie die russische – erst sehr spät in Erscheinung. Als sie im fortgeschrittenen 19. Jh. zu keimen begann, stand sie ganz unter dem Einfluss der europäischen Spätromantik, insbesondere Dvoraks und Griegs. Das zweite Klavierkonzert von Edward Macdowell etwa, das im Jahre 1890 entstand, ist ganz im monumentalen Stil der Gründerzeit gehalten. Im 20. Jh. begann man dann einen „amerikanischen“ Stil zu suchen. Ein Ansatz war dabei, auf den Sektor der Musik zurückzugreifen, auf dem sich inzwischen etwas spezifisch Amerikanisches entwickelt hatte: Unterhaltungsmusik und Jazz. Die wichtigsten Protagonisten dieser Richtung waren die beiden jüdisch-stämmigen Komponisten Aaron Copland und George Gershwin.

Die Anregung zu einem Orchesterwerk, das Klassik und Jazz im Sinne der Schöpfung eines amerikanischen Musikidioms verbindet, kam von dem Bandleader Paul Whiteman. Er plante für den 12. Dezember 1924 in New York ein Konzert zu diesem Thema und forderte Gershwin auf, hierfür eine Komposition beizutragen. Gershwin hatte noch wenig Erfahrung mit der symphonischen Schreibweise, da er bis dato fast ausschließlich für den Broadway komponiert hatte. Daher zögerte er, den Auftrag anzunehmen. Fünf Wochen vor dem geplanten Konzert machte er sich dann aber doch an die Arbeit. Nach wenigen Wochen lag eine Fassung der „Rhapsodie“ für zwei Klaviere vor. Die Instrumentation überließ Gershwin mangels einschlägiger Kenntnisse und den Gepflogenheiten der Unterhaltungsbranche entsprechend Whitemans Arrangeur Ferde Gofré. Dieser beendete sie eine Woche vor dem Konzert. Das berühmte Klarinettenglissando vom Anfang war darin zunächst nicht vorgesehen. Dies machte der Klarinettist der Uraufführung bei einer Probe, was Gershwin sofort festschrieb. Gershwin selbst übernahm bei der Uraufführung den Part des Solo-Pianisten.

Die Rhapsody in blue ist wohl das bekannteste amerikanische Werk des Musiktypus, den man in Europa, insbesondere in Deutschland, als ernste oder E-Musik bezeichnet. Den Status als E-Musik, Musik also, die im klassischen Konzertsaal erklingen „darf“, musste sie sich im alten Europa allerdings erst erarbeiten. Anfangs gab es, was die „Ernsthaftigkeit“ dieser Musik angeht, durchaus skeptische Stimmen. Tatsächlich enthält die „Rhapsody“ ja auch eine ziemlich turbulente Mischung aus U- und E-Musik. Selbst die amerikanischen Kritiker waren mit dem Werk nicht zufrieden. Die New York Times lobte nach der Uraufführung zwar das aufscheinende Talent des jungen Komponisten, bemängelte aber, dass er mit einer Form kämpfe, von deren Beherrschung er weit entfernt sei. Der Kritiker der New York Tribune fand die Melodien und Harmonien alt, schal und ausdruckslos. Heute ist das Werk hingegen allgemein akzeptiert.

Die „Rhapsody“ ist im besten Sinne amerikanische Musik – ursprünglich sollte sie auch „American Rhapsody“ heißen. Typisch amerikanisch ist sie schon deswegen, weil man auf der anderen Seite des Atlantik nicht so streng zwischen E- und U-Musik trennt und das Werk dieser Vorstellung folgt. Amerikanisch ist das Werk aber vor allem auch durch die Verwendung von Elementen des Jazz und des Blues, Musikformen, die, wenn auch aus vielen Quellen gespeist, ohne Zweifel spezifisch amerikanische Phänomene sind. Auf sehr gekonnte Weise löst Gershwin dabei das Problem, dass zum Jazz notwendig die Improvisation gehört, die „Rhapsody“, der europäischen Tradition entsprechend, aber notierte Musik ist. Der Orchesterpart ist im Wesentlichen in „symphonischer“ Weise komponiert, mit klarer Präsentation der Themen und – bei aller rhapsodischen Aneinanderreihung – einer gewissen motivisch-thematischen Verarbeitung. In den großen Solopartien des Klaviers scheint es aber auf improvisatorische Weise spontan zuzugehen. Hier sprüht es nur so von immer wieder neuen Einfällen und es finden sich plötzliche Wendungen in einer Art, die momentane Eingebung suggeriert.

1906 Charles Ives (1874-1954) – The Unanswered Question

Die musikalische Moderne begann merkwürdig gleichzeitig an verschiedenen Orten. Als sei die Zeit reif für eine gründliche Umwälzung stellten um die Wende vom 19. zum 20. Jh. Debussy in Paris, Bartok in Budapest, Janacek in Brünn, Schönberg in Wien und Ives in New York die hergebrachten Parameter der europäischen Kunstmusik ganz unabhängig voneinander in Frage. Eine besonders interessante Figur ist dabei Ives, der seinen Beitrag zur Moderne gewissermaßen im stillen Kämmerlein erbrachte.

Charles Ives war eine außerordentlich komplexe Persönlichkeit. Er war Traditionalist und Pionier, Esoteriker und Großstadtmensch, Kapitalist und Sozialromantiker, erfolgreicher Selfmade-Geschäftsmann und zurückgezogener Musiker. Als Musiker erhielt Ives eine gediegene Ausbildung in einer Zeit, als man Dvorak nach Amerika holte, um musikalisch gegenüber Europa aufzuholen. Mit einem Bein seiner künstlerischen Persönlichkeit steht daher auch Ives auf dem Fundament der europäischen Musiktradition. Schon früh regte sich bei ihm aber amerikanischer Pioniergeist und die Lust am Experimentieren. Ganz aus sich heraus befasste er sich mit Kompositionstechniken, die später typische Merkmale der musikalischen Moderne werden sollten: Polytonalität, Polyrhythmik, freie Dissonanzen, Collagen, Zufallseffekte und Raummusik.

Fast alle diese Merkmale finden sich in embryonaler Form schon in „The Unanswered Question“ aus dem Jahre 1906. Das Stück ist nicht nur die reflektierte, im vorliegenden Fall höchst philosophische Grundhaltung gekennzeichnet, die typisch für Ives ist. Er stand dem Denken des transzendentalistischen Concord-Kreises um Ralf Waldo Emerson, dem „Propheten der amerikanischen Religion“ nahe. Das Werk zeigt vor allem die Neigung Ives, etwas ganz Neues zu versuchen. Schon die Besetzung ist ungewöhnlich – in der Originalfassung eine Trompete, Streichquartett und vier Flöten; eine Orchesterfassung folgte 30 Jahre später. Noch ungewöhnlicher ist der musikalische Aufbau des Stückes. Vor dem Hintergrund von lang gezogenen choralartigen Streicherakkorden, die Ives als „Das Schweigen der Druiden“ beschrieb, „die nichts wissen, nichts hören und nichts sehen“, intoniert eine Trompete immer wieder ein fragendes Motiv, die „ewige Frage der Existenz“. Darauf antworten die vier Bläser sechsmal dissonant und zunehmend ungeduldiger und schroffer, bis die Frage am Schluss unbeantwortet stehen bleibt. Die drei Gruppen agieren nach Art einer Collage gänzlich unabhängig von einander in einem jeweils eigenen Zeitmaß und mit je eigener Rhythmik und Harmonik.

Ives künstlerische Aktivität war zu seinen Lebzeiten zunächst kaum bekannt. Das lag nicht zuletzt daran, dass er mit seiner Musik nicht sonderlich an die Öffentlichkeit drängte. Ives entschied sich nach Abschluss seines Musikstudiums auf gut amerikanische Weise, seinen Lebensunterhalt durch unternehmerische Tätigkeit zu verdienen. Er zog nach New York und gründete eine sehr erfolgreiche Versicherungsagentur. Die Musik war für ihn eine Freizeitbeschäftigung, was aber der Ernsthaftigkeit seines Bemühens keinen Abbruch tat. Erst in seinem letzten Lebensjahrzehnt begann man, ihn etwas mehr zur Kenntnis zu nehmen. Wegen seiner Experimentierfreudigkeit und der nicht immer eingängigen Harmonik bestanden gegen seine Musik zunächst aber erhebliche Vorbehalte. Inzwischen hat sich die Einschätzung der Kritik allerdings deutlich geändert. Vielen gilt er heute als der bedeutendste amerikanische Komponist überhaupt. Seine Werke, darunter sechs anspruchsvolle Symphonien, werden allerdings noch immer selten gespielt.

„The unanswered question“ ist einzige der Werke von Ives, das einen hohen Bekanntheitsgrad erlangte. Wie bei allen seinen Kompositionen wurde aber auch dieses Stück erst sehr spät zur Kenntnis genommen. Die erste Aufführung fand 40 Jahre nach seiner Entstehung in New York statt. Die Originalfassung wurde gar erst 30 Jahre nach dem Tod von Ives erstmals gespielt.