Archiv der Kategorie: Recht

Ein- und Ausfälle – Rechtsstaat und Gerechtigkeit

Der Rechtsstaat – ein Hort der Gerechtigkeit? Nein – ein Ort eines zuvor nicht bekannten Abbaus von Ungerechtigkeit.

Ein- und Ausfälle – Menschliche Schwäche und Normbefestigung

Traditionelle Gesellschaften nennen es göttliche Gebote, aufgeklärte überpositives Recht oder Naturrecht –  immer geht es darum, die grundlegenden Werte der Gesellschaft so weit wie möglich der freien Verfügung zu entziehen. Der Grund für diesen mystischen Aufwand ist der Zweifel an der Vernunft des Menschen. Man traut ihm nicht zu, dass er die Schlüsse, die zur Verbindlichkeit der Grundnormen führen müssen, problemlos nachvollzieht, sei es, dass er nicht in der Lage ist, seine Vorurteile zu beseitigen, sei es, dass er seinen Egoismus nicht zügeln will. So gesehen haben alle Gesellschaftssysteme autoritäre Grundlagen.

Macht der Interpreten (Über die Funktion von Fundamentaltexten und ihrer Verwalter)

Gemeinschaftsordnende Texte, Gesetze etwa oder religiöse Grundbücher, können die Vielfalt des sozialen Lebens, das sie ordnen wollen, niemals vollständig erfassen. Sie behelfen sich daher mit Formulierungen die so eng wie möglich und weit wie nötig sind. Alte Texte sprechen dazu häufig in Bildern oder erzählen Geschichten. Um solche Texte in die Praxis umzusetzen, bedarf es der Auslegung. Diesem Geschäft, dem sich ganze Berufszweige verschrieben haben, kommt eine erhebliche Bedeutung zu. Es ist daher höchst lohnend, sich mit der Frage zu befassen, wie dieses Geschäft betrieben wird.

Auf den ersten Blick scheint es naheliegend, dass man bei der Interpretation gemeinschaftsordnender Texte versucht, den Willen des historischen Textverfassers zu ermitteln. Dahinter steckt der Gedanke, dass die Autorität eines Textes gefährdet wäre, wenn der Eindruck entstünde, dass seine Interpreten ihn willkürlich behandeln. Zu diesem Standpunkt neigen religiöse Fundamentalisten. Die Folge freilich ist, dass ihre Entscheidungen nicht immer „zeitgemäß“ sein können. Denn der Text, den sie anwenden, ist in der Regel viele hundert Jahre alt.

Auf den zweiten Blick zeigt sich, dass der historische Ansatz mehr Probleme aufwirft, als er löst. Was, so fragt man sich, ist zu tun, wenn der historische Verfasser von falschen Annahmen über tatsächliche Sachverhalte, etwa über den Beginn der Welt, ausging, wenn er gewisse Problemstellungen noch nicht gekannt oder bestimmte Fallkonstellationen übersehen hat? Was ist der Wille des Verfassers, wenn der Text, wie die Bibel oder Gesetze, nicht nur einen Verfasser hat oder im Laufe eines längeren Zeitraumes entstanden ist?

 Die Juristen als die professionellen Interpreten gemeinschaftsordnender Texte haben sich aus diesem Dilemma mit einem Trick geholfen (wobei wohl der Umstand eine Rolle spielte, dass das praktische Leben, mit dem die Juristen zu tun haben,  keine endlosen Diskussionen über den Willen des Textverfassers, sondern Entscheidungen verlangt). Der Trick: Sie lösten das Problem, indem sie den Textverfasser unsterblich machten. Die Folge ist, dass man ihn jederzeit zu seinem Willen zu befragen kann und er für immer in die Lage versetzt ist, eventuelle Gesetzeslücken zu füllen.

 Bei der Frage, wie man sich diesen unsterblichen Textverfasser vorzustellen habe, haben sich zwei Grundrichtungen gebildet. Die strengere Observanz sieht ihn in einer Institution, welche die andauernde Verfügungsgewalt über den Text besitzt – etwa im Parlament. Dementsprechend hat dieser immerwährende „Gesetzgeber“ Lücken selbst zu schließen und in gravierenden Zweifelsfragen Gesetze zu ergänzen oder zu präzisieren. Dass ein solches Verfahren umständlich ist und im Einzelfall unter Umständen zu spät kommt, liegt auf der Hand. Die pragmatischere Lösung ist daher die Annahme eines überzeitlichen – objektiven – Textsinnes, der den Willen des Gesetzgebers enthalten soll. Ihn zu ermitteln, überlassen die Anhänger dieser Auffassung den Richtern, die ihn in einer Art permanenter Diskussion von Fall zu Fall entwickeln.

 Nicht ganz so einfach ist die Situation der Theologen. Sie haben es mit einem Text zu tun, der überirdische Würde beansprucht, was naturgemäß die Anpassung durch Menschen von Fleisch und Blut erschwert. Allerdings haben sich insbesondere christliche Theologen hier flexibel gezeigt. Vom unmittelbaren Wortlaut der biblischen Geschichten ist, mit Ausnahme bei wenigen Fundamentalisten, für welche die Welt noch immer vor 6000 Jahren erschaffen wurde, häufig nicht viel übrig geblieben. Auch die meisten christlichen Interpreten suchen nach dem „Willen Gottes“ und vermuten ihn hinter den Geschichten, welche die Bibel erzählt. Vielleicht ist diese Entwicklung dadurch erleichtert worden, dass es keinen einheitlichen historischen Verfasser der biblischen Texte gibt, wodurch unterschiedliche Ansichten über den Inhalt dieser Texte vorprogrammiert waren.

Echte Probleme haben die Fundamentalisten, insbesondere solche, die davon ausgehen, es mit dem Text eines einzigen Verfassers zu tun haben. Denn das Festhalten am Willen des historischen Textverfassers führt paradoxerweise häufig gerade dort zu problematischen Ergebnissen, wo dieser sich besonders klar geäußert hat. Man denke etwa an das Abhacken der Hand, das der Koran in gewissen Fällen als Strafe für den Dieb vorsieht.   

Blickt man auf das Resultat derer, die von einem objektiven Textsinn ausgehen, so erstaunt die Weisheit ihrer Lösung. Zwanglos scheiden sie all das aus, was nur zeitbedingt ist, ohne das Bedürfnis der Menschen nach textlicher Autorität zu vernachlässigen. Der Lösung liegt allerdings auch wieder ein Trick zu Grunde. Die Vorstellung vom objektiven Sinn der Texte beruht auf einer Fiktion, der Behauptung nämlich, es gäbe so etwas wie einen überpersönlichen und überzeitlichen Inhalt eines Textes. Jeder, der mit Texten umgehen muss, weiß jedoch, dass man mit dieser Methode nur die mehr oder weniger gut fundierte Meinung der Interpreten darüber konstatieren kann, was der Sinn eines Textes sein soll.

Diese Methode arbeitet also in gewisser Weise mit einer Verschleierung der Tatsachen. Es handelt es sich allerdings um eine jener vernünftigen und offenkundigen kleinen Unwahrhaftigkeiten, die das Leben verkraften kann, ja die es geradezu zu brauchen scheint. Anders sieht es bei den Historisten aus. Auch sie bedienen sich einer Unwahrhaftigkeit, die allerdings von anderer Qualität ist. Denn wer, etwa bei modernen Sachverhalten, meint, den  -„subjektiven“- Willen des historischen Textverfassers wirklich ermitteln zu können, verdrängt die Tatsachen. Es kann keinen Zweifel darüber geben, dass auch bei der Ermittlung eines angeblich historischen Willens des Textverfassers aktuelle gemeinschaftsordnende Interessen und Vorstellungen der jeweiligen Interpreten im Spiel sind. Im Unterschied zur „objektiven“ Methode werden dies bei der historischen Methode tief verschleiert.

Die „objektive“ Interpretation von gemeinschaftsordnenden Texten setzt allerdings eine Einsicht in die Funktion solcher Texte voraus, die möglicherweise erst bei einem gewissen Stand der gesellschaftlichen Entwicklung möglich ist. Offenbar kann man erst ab einem gewissen Stand des allgemeinen Bewusstseins, ohne dass die Textautorität verlorengeht, akzeptieren, dass selbst die heiligsten Texte nicht zuletzt Ordnungsfunktionen haben und dass sich ihr Sinn jenseits aller „Wahrheit“ aus dieser Funktion erschließt.

Ein- und Ausfälle – Kant und die Todesstrafe

 

Kants Begründung für die Notwendigkeit der Todesstrafe bei Mord ist ein Musterbeispiel dafür, wie formale Scheinargumente auch nur zu scheinbar richtigen Lösungen führen. In der „Metaphysik der Sitten“ heißt es (4 Jahre nachdem Kaiser Josef II in Österreich die Todesstrafe als erster und vorläufig einziger abgeschafft hatte): „Hat er aber gemordet, so muss er sterben. Es gibt hier kein Surrogat zur Befriedigung der Gerechtigkeit. Es ist keine Gleichartigkeit zwischen einem noch so kummervollen Leben und dem Tode, also auch keine Gleichheit des Verbrechens und der Wiedervergeltung als durch den am Täter gerichtlich vollzogenen …Tod.“ In „Wirklichkeit“ kommt  es bei der Frage, ob die Todesstrafe gerechtfertigt sein kann, nicht darauf an, formale Proportionen zwischen zwei Ereignissen, der Tat und der Strafe, herzustellen. Abgesehen davon, dass es schon generell kaum möglich ist, die beiden Aspekte in eine eindeutige formale Beziehung zueinander zu setzen (das schafft nicht einmal das Auge-um-Auge-Zahn-um-Zahn-Prinzip, weil es die individuelle Schuld, die eine flexible Reaktion bedingt, zu wenig berücksichtigt), abgesehen davon spitzt sich bei der Todesstrafe das allgemeine Problem des Richtens von Menschen über Menschen derart zu, dass der Richter in den denkbar größten moralischen Abstand zum Gesetzesbrecher gerät, eine Position, in die kein Sterblicher gebracht zu werden verdient.

Ein- und Ausfälle – Schuld und Sühnebegehren bei Sokrates

Die fehlende Bestrafung für ein begangenes Unrecht, sagt Sokrates im „Gorgias“, sei für den Täter ein so unerträgliches Übel, dass er –  ähnlich dem Kranken, der den Arzt aufsuche – eigentlich freiwillig zum Richter gehen und um Bestrafung bitten müsse. Dies soll auch für den Fall der Todesstrafe gelten. Das ist wahrlich eine philosophische Lebenseinstellung.

Ein- und Ausfälle – Warum man die Normen für eine Erfindung der großen Normgeber hält

Wenn es darum geht, Führungspositionen in der Gesellschaft zu erlangen und zu begründen, hat sich der Mensch immer als besonders kreativ erwiesen. Eine äußerst erfolgreiche Methode war und ist noch immer, sich als Nachfolger, Stellvertreter oder bevorrechtigter Interpret eines großen Normgebers darzustellen, der seinerseits die großen Regeln des Zusammenlebens in einer Art Reparaturaktivität formuliert habe, um ein aus dem Ruder gelaufenes animalisches Erbes des Menschen einzudämmen. Denn auf diese Weise kann man vom Abglanz hoch angesiedelter Vorbildfiguren profitieren. Dem entsprechend hat man bei der Zeichnung dieser Normgeberfiguren mit Superlativen nicht gegeizt. Wer seinen Führungsanspruch auf diese Weise begründet, hat natürlich wenig Interesse daran, der Frage nachzugehen, ob sich die grundlegenden Normen der menschlichen Gesellschaft möglicherweise ganz unabhängig von solchen Normgeberfiguren mit dem Menschen selbst, nämlich als das notwendige Korrelat zu den freiheitlichen Möglichkeiten des Geistes, mit anderen Worten nicht im Nachhinein als Reparatur, sondern von Anfang an entwickelt haben, dass sie also wie  die Fähigkeit, Sprache erlernen, mit der Physis des Gehirns entstanden sind. Die Frage drängt sich an sich auf, weil man sonst schwer erklären kann, wie ein (soziales) Leben und insbesondere ein Überleben der Menschen vor der Zeit der großen Normgeber möglich war, die ja alle aus neuerer, gemessen an der Entwicklung der Menschheit sogar aus allerneuester Zeit stammen. Für diejenigen, die ihre Autorität auf die großen Normgeber stützen, bedeutet eine solche Vorstellung von der Genese der grundlegenden Normen, dass ihre Rolle – ähnlich wie die der Juristen – weitgehend auf die Ausformulierung im Detail beschränkt wird, was natürlich unerwünschte  Auswirkungen auf ihre Bedeutung und damit auf ihren Macht- und Führungsanspruch hat. Daher haben die Führungsfiguren, die ihren Machtanspruch  von den großen Normgbern ableiteten, Versuche, die Normen auf andere Weise zu begründen, mit allen Mitteln zu ver- oder jedenfalls zu behindern versucht. Wie sehr sie um ihre Macht fürchteten, zeigt im Falle des Christentums etwa die Tatsache, dass sie sogar Versuche, die grundlegenden Normen aus der Vernunft abzuleiten, mit großem Argwohn begegneten und darauf bestanden, dass sie auf diese Weise allenfalls ergänzend begründet werden könnten. (alternativ hat man das Vernunftargument auch dadurch ausgehebelt, dass man die Offenbarung selbst als vernünftig dargestellt hat). Wer bei alternativen Begründungsversuchen vergaß, auf den absoluten Vorrang der großen Normgeber bei der Normbegründung hinzuweisen, hatte mitunter Übles zu gewärtigen, so Aufklärer wie Baruch Spinoza, der auf Grund solchen Mangels aus der jüdischen Gemeinde exkommuniziert oder Christian Wolff, der unter Verlust seines philosophischen Lehrstuhles in Halle aus Preußen verbannt wurde, sowie John Toland, der, nachdem seine Schrift „Christianity not mysterious“ nach einem öffentlichem Tribunal verbrannt worden war, aus seinem Heimatland Irland nach England  floh, da er für seine freidenkerischen  Überlegungen nicht auch noch persönlich zur Rechenschaft gezogen werden wollte.

Recht und Gerechtigkeit bei der Landnahme des Kolumbus in Amerika

In der Vorrede zum Bordbuch seiner ersten Amerikafahrt, das mit „Im Namen unseres Herrn Jesus“ überschrieben und an die „allerchristlichsten, allerhöchsten, erlauchtesten und mächtigsten Fürsten, den König und die Königin der spanischen Länder und der Inseln des Meeres“ gerichtet ist, stellt Christoph Kolumbus fest, er sei von den genannten Hoheiten, nachdem sie den Krieg gegen die letzten Mauren in Spanien siegreich beendet hatten, „in ihrer Eigenschaft als katholische Christen, als Freunde und Verbreiter des christlichen Glaubens und als Feinde der Sekte Mahomeds und jedes anderen Götzendienstes und Sektiererwesens“ zum Großadmiral gemacht und beauftragt worden, mit einer hinlänglich starken Armada auf dem Seeweg nach Indien zu fahren, um die dortigen „Fürsten, Völker und Orte aufzusuchen und die Möglichkeiten zu erwägen, wie man sie zu unserem heiligen Glauben bekehren könne“ (soweit in „wenigen“ Worten die Zusammenfassung des ersten Satzes des Bordbuches, welcher entsprechend der Bedeutung seines Autors, seiner Adressaten und der Ereignisse, die im Weiteren beschrieben werden, im Original fast drei Mal so lang ist).

 

Als Kolumbus am 12. Oktober 1492 in der Karibik erstmals Land sichtete – es handelte sich um eine Insel, auf der Menschen lebten, die er für Inder hielt -, wurden die Erwägungen der gewichtigen Vorrede auf folgende Weise konkretisiert:

 

Zunächst ging der Großadmiral , dem laut Vorrede auch die – vererbliche – Würde „des Vizekönig und Gouverneurs aller Inseln und des Festlandes, das er entdecken und erobern würde“, übertragen wurde, mit zwei seiner wichtigsten Leute in einem „mit Waffen versehenen Boot“ und ohne Zweifel in großartiger Uniform an Land und entfaltete die königliche Fahne. Seine beiden Begleiter schwenkten dazu je eine weitere Fahne, auf denen ein grünes Kreuz angebracht war, „welches rechts und links von den je mit einer Krone verzierten Buchstaben F und Y (für die katholischen Könige Ferdinand und Ysabella) umgeben war“. Dann versammelte er seine Führungsleute und einen eigens mitgebrachten Notar, die sicherlich ebenfalls gebührend gekleidet waren, am Strand und rief sie zu Zeugen dafür an, dass er im Namen des Königs und der Königin von der Insel Besitz ergriffen habe. Er forderte sie auf, die rechtlichen Unterlagen zu schaffen, „wie es sich aus den Urkunden ergibt, die dort schriftlich niedergelegt wurden“ (die Szene muss man sich aus der Sicht der herbeigeströmten Einheimischen vorstellen, die, so notierte der Großadmiral, nackt waren, wie Gott sie schuf,  und rechtsunkundig, wie Gott sie ebenfalls schuf, was die spanische Delegation ohne Zweifel voraussetzte).

 

Weiter stellte Kolumbus fest, dass man zur Bekehrung und Rettung der Eingeborenen augenscheinlich nicht des Schwertes bedürfe, da sie weder Waffen trügen, noch solche kennen würden. Die Liebe sei ausreichend. Dieselbe erwarb er sich im wesentlichen dadurch, dass er ihnen „rote Kappen und Halsketten aus Glas und andere Kleinigkeiten von geringem Wert“ schenkte.

 

Am 14. Oktober kristallisierten sich weitere Details der Christianisierungspläne des Großadmirals heraus. Den Gewohnheiten der christlichen Seefahrt entsprechend suchte er nach einem Platz, wo man eine Festung errichten konnte. Er fand auch eine kleine Halbinsel, auf der sechs Hütten standen und die nach seiner Einschätzung in wenigen Tagen Arbeit zu einer Insel umgestaltet werden könne. Er stellte aber fest, dass eine solche Umgestaltung angesichts der mangelnden Waffenkenntnisse der Einheimischen eigentlich gar nicht nötig sei. Davon, so meinte er, könnten sich Ihre Hoheiten bei den sieben Leuten überzeugen, die er – offenbar dort – ergreifen ließ, um sie mit nach Spanien zu nehmen (am folgenden Tag, so notierte Kolumbus, sprangen allerdings zwei dieser lieben Leute von Bord und gelangten „trotz aller unserer Bemühungen“ mit einem Kanoe, das sich den Schiffen der Armada genähert hatte, an Land, „worauf die beiden Flüchtlinge eilends davonliefen, vergeblich verfolgt von unseren Männern, die an Land gegangen waren, um auf sie Jagd zu machen“). Im Anschluss an die Überlegungen zum Bau einer Festung empfahl der Großadmiral den allerchristlichsten Königen, Folgendes zu erwägen: „Sollten Eure Hoheit den Befehl erteilen, alle Inselbewohner nach Kastilien zu schaffen, oder aber sie auf ihrer eigenen Insel als Sklaven zu halten, so wäre dieser Befehl leicht durchführbar, da man mit einigen fünfzig Mann alle anderen leicht niederhalten und zu allem zwingen könnte“ (letzterer Erwägung sind die Spanier später bekanntlich im wesentlichen gefolgt).

 

Ein paar Tage später notierte Kolumbus, die Eingeborenen hätten nicht nur keine Waffen, sondern auch keine Gesetze. Als er später von einem Stamm hörte, der Waffen trage, schloss er daraus, dass er von höherer Bildung sein müsse (vermutlich nahm er an, dass der Stamm dann auch Gesetze habe). Das Vorhandensein von Waffen, Gesetzen und höherer Bildung dürfte dann wohl der Grund dafür gewesen sein, dass bei den Erwägungen der allerchristlichsten Könige, wie man die Fürsten, Völker und Orte Amerikas bekehren könne, dann doch nicht so sehr die Liebe als das Schwert zum Zuge kam.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Eine Pizza für die Wahrheit

Eine Frage, die sich viele Menschen stellen und die sich die Menschen wahrscheinlich schon immer gestellt haben, lautet, ob die Welt so kompliziert ist, dass man Juristen braucht oder weil es Juristen gibt. Über diese Frage, zu der jeder ein paar treffende Beispiele beisteuern kann, lässt sich bekanntlich endlos streiten. Der Jurist freilich, dem man nachsagt, er könne sich über alles und jedes endlos streiten, was gerne als Grund dafür herangezogen wird, dass die Dinge so kompliziert seien, der Jurist wird sich an einer solchen Diskussion nicht beteiligen. Juristen sprechen nicht über Fragen, sondern über Fälle. Dagegen spricht nicht, dass Juristen schnell mit einer Theorie bei der Hand sind. Juristen geben Theorien nämlich auch schnell wieder auf, und zwar dann, wenn diese nichts dazu beitragen, einen Fall zu lösen.

 

Die Reihenfolge des Denkens, wonach man eine Theorie zur Lösung eines Falles bildet, lässt sich auch herumdrehen. Man kann sich auch einen Fall zu einer Theorie denken, um diese zu überprüfen. Zu den Theorien über die Kompliziertheit der Welt, die eingangs genannt wurden, denke man sich daher den folgenden Fall:

 

Zwei Freunde sitzen in einem Lokal und sprechen darüber, was sie im nächsten Urlaub machen. Der eine sagt, dass er im Sommer zum Surfen nach Südfrankreich gehe und zwar an den „Golf von Lyon“. Der andere ist verwundert. „Gibt es denn einen Golf von Lyon?“ fragt er, worauf er vom Surfer die Antwort erhält, er sei sich ganz sicher, denn er habe den Urlaub eben erst gebucht. Lyon, so gibt nun der andere zu bedenken, sei weder eine Hafenstadt noch habe sie irgend etwas mit dem Meer zu tun. Sie liege hunderte von Kilometern davon entfernt. Es sei nicht üblich, einen Meerbusen nach einer Stadt zu benennen, die keine Beziehung dazu habe. Immerhin, wendet der Surfer ein, sei die Stadt durch die Rhône mit dem Meer verbunden. Die Diskussion weitet sich aus. Tischnachbarn beteiligen sich. Jeder kennt einen Golf oder eine Wasserstraße, deren Namen von einer Landschaft oder einer Stadt abgeleitet sind, welche sich in unmittelbarer Nähe befindet. Schließlich ist sich der Zweifler sicher, dass sein Freund irrt. Wahrscheinlich, so denkt er, hat er Lyon mit Toulon verwechselt. So bietet er ihm eine Wette um eine Pizza darüber an, dass es keinen Golf von Lyon gebe. Der Freund schlägt ein, man geht zum Auto und holt sich einen Straßenatlas. Darin findet man im Umkreis der Rhônemündung einen „Golf du Lion“.

 

Was jetzt einsetzt, ist eine – endlose –  juristische Diskussion. Denn die Frage lautet: „Wer hat Recht?“ Die einen argumentieren, dass man nur von einem Golf von Ly(i)on gesprochen habe. Auf eine bestimmte Schreibweise habe man sich nicht geeinigt. Der Klang der beiden Worte sei nun aber einmal gleich. Daher habe der Surfer gewonnen. Die anderen meinen, es sei allen klar gewesen, dass man über die Frage diskutiert habe, ob der Golf seinen Namen von der Stadt Lyon habe. Dagegen wendet der Surfer ein, dass er nur gesagt habe, er gehe zum Surfen an den Golf von „Ly(i)on“. Bei der Frage, ob es einen Golf solchen Namens gebe, sei ohne Bedeutung, woher der Name stamme.

 

Im weiteren Verlauf kommt, wie so häufig in einer juristischen Diskussion, ein Sachverständiger zu Wort. Ein Französisch-Kenner wirft ein, dass Golf du Lion nicht Golf von Lion, sondern Golf des Lion, nämlich des Löwen bedeute. Ein Golf mit einem Namen, wie ihn der Surfer genannt habe, gebe es also nicht. Die Gegenseite verweist darauf, dass im Vordergrund der Diskussion nur das Wort Ly(i)on gestanden habe, nicht aber eventuelle Beiwörter. Man könne nicht bestreiten, dass es einen Golf gebe, in dessen Name das Wort „Ly(i)on“ vorkomme.

 

In diesen verwirrenden Argumenten, die ihren Grund, wie man leicht sieht, in der Schwierigkeit der Dinge und nicht in den Theorien haben, die darüber gemacht werden, ist der Laie schnell verheddert. Daher ruft er nach dem Juristen. Dieser versucht die Argumente zu gewichten. Seine Frage lautet: „Worauf kommt es an?“ Im unserem Beispiel, in dem diese Frage kaum eindeutig zu beantworten ist, wird er, um den Fall zu lösen, allerdings am besten auf eine Theorie verzichten. Er wird den Kontrahenten einen Vergleich vorschlagen, etwa dahingehend, gemeinsam eine Pizza zu essen. Schwierig werden die Dinge allerdings, wenn die Streitenden, wie so häufig in der Welt, den Vergleich ablehnen. Dann muss sich der Jurist die Gedanken machen, von denen die Menschen später behaupten werden, dass sie die Welt kompliziert gemacht hätten.

Ein- und Ausfälle (Barock 4)

In Buenos Aires, wo man es in der Belle Epoque gerne flamboyant-beweglich im Stile des französischen Barock hatte, fallen zwei Bauten aus dem ansonsten eher heiteren Rahmen der Stadtlandschaft. Es handelt sich um die Gebäude der Fakultäten für Rechts- und Ingenieurwissenschaft. Beide sind im strengsten und düstersten dorischen Stil gebaut. Ihre Fassaden bestehen aus einer Reihe von massigen Säulen und Kapitälen, auf denen ein schweres Architrav lastet, wobei die Säulen offensichtlich weit mehr Gewicht aufnehmen können, als sie tatsächlich zu tragen haben. Die Erbauer der beiden Gebäude wollten ohne Zweifel zum Ausdruck bringen, dass die Fragen, die hier verhandelt werden, von großem Gewicht sind und man für sie die solidesten Lösungen habe. Dass man das Gebäude des Rechtes gerne so fest und seriös hätte wie die Konstruktion eines Ingenieurs, entspricht sicher den Wünschen der Menschen. Ehrlicher wäre allerdings gewesen, die juristische Fakultät im flamboyanten Stil zu bauen.

Ein- und Ausfälle (China 16)

Im alten China gab es den Beruf des Juristen nicht. Offenbar war den Menschen im wesentlichen auch so klar, was man darf und soll. Juristen braucht man erst, wenn dies nicht mehr der Fall ist. Die Unklarheit beginnt, wenn man anfängt zu fragen, welche andere Möglichkeiten es gibt. Diese Frage stellen nicht zuletzt diejenigen, welche aus der Reihe tanzen wollen. (wovon es im alten China offenbar nicht so viele gab).

Ein und Ausfälle (China 7)

Man kann sich Bücher ausdenken, die ihren Ursprung im Himmel haben, wie am westlichen Ende des eurasischen Kontinents, oder Texte allgemein geachteten Weisen der Vergangenheit zuschreiben, wie am östlichen Ende des Kontinents. Sozialtechnisch ist es das gleiche Verfahren. Es geht es jeweils darum, Texte die Normen generieren sollen, im „Jenseits“ zu verankern, um dem Führungspersonal, das im Diesseits agiert, die Arbeit zu erleichtern. Das zeigt vor allem die Tatsache, dass der weitere Umgang mit diesen Texten in Ost und West sehr ähnlich ist. In beiden Kulturen sind die Grundbücher meist allgemein bis nichts sagend gehalten und lassen daher allerhand Deutungen zu. Besonders deutlich wird dies bei den Konfutius zugeschriebenen „Frühlings- und Herbstannalen“, die für die chinesische Sozialgeschichte so wichtig wurden. Sie enthalten nicht viel mehr als eine wenig aussagekräftige Aufzählung historischer Ereignisse. Die nähere Ausführung der Grundbücher ist in Ost und West jeweils nachgeordneten Werken vorbehalten, welche die Grundbücher unter Berücksichtigung der jeweiligen Zeitumstände auslegen. Im Westen nannte man diese Tätigkeit ursprünglich Theologie, im Osten Kommentierung. Auch hier ist das Verfahren bei den „Frühlings- und Herbstannalen“ besonders aufschlussreich. Die Kommentatoren ziehen aus dem Ursprungstext selbst dann noch ausgedehnte sozialpädagogische Lehren, wenn derselbe praktisch ohne Inhalt ist. Im Prinzip hat sich an dieser sozialen Steuerungstechnik bis heute nichts geändert. Nur dass wir neuere soziale Grundtexte nicht mehr heilige Bücher sondern Gesetze, das Spitzenwerk etwa Grundgesetz nennen. Auch diese Texte sind möglichst allgemein gehalten und werden von Anwendungsinstitutionen wie Gerichten und Kommentatoren konkretisiert und an den jeweiligen Bedarf angepasst, wobei nicht selten die kürzesten und allgemeinsten Paragraphen die längste Kommentierung erfahren.