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Briefe aus der Wendezeit – Teil 11

Stuttgart, 18.8.1991

 

Lieber Frank,

 

Nun haben wir auch die andere Hälfte der deutschen Hinterlassenschaft im Osten in Augenschein genommen. Wir haben das ganze alte Preußen von Stettin bis an die russische Grenze durchfahren und an allerhand geschichtsträchtigen Orten Deutsches und Nichtdeutsches aufgesucht einschließlich dem, was mal dieses und mal jenes gewesen ist.

 

Seit wir im Frühjahr die ersten Schritte in diese Richtung gemacht haben, hat die Ostflanke Deutschlands für mich eine bemerkenswerte Anziehungskraft entwickelt. Sicher war dabei das Bedürfnis im Spiel, die totale Nichtbeachtung wieder gut zumachen, die mein Verhältnis zu dieser Region bis vor Kurzem bestimmt hat. Spätestens nach den Besuchen in Auschwitz und Warschau kam auch der Wille hinzu, ein wenig zur Normalisierung des nicht eben einfachen Verhältnisses von Polen und Deutschland beizutragen. Mittlerweile hat sich jedoch eine tiefergehende Neugier entwickelt. Die Beschäftigung mit dem Osten hat offensichtlich auch sehr viel zu tun mit der jetzt allenthalben ausgebrochenen Suche nach dem merkwürdigen Phänomen, das sich Deutschland nennt (während ich dies niederschreibe, trägt man in Potsdam den alten Fritz nochmals zu Grabe; in Zittau verprügelt man rumänische Asylbewerber). Diese Suche erinnert stark an das Verhalten von adoptierten Kindern, die – allen Geheimhaltungsbemühungen von Adoptiveltern und Behörden zum Trotz – in einem bestimmten Alter von dem unwiderstehlichen Drang befallen werden, ihre Herkunft aufzuklären.

 

Auch die Westdeutschen, die von Deutschland früher eher Abstand (und Wohlstand) wollten, sind heftig auf der Suche nach dem verlorenen Vaterland. Der Pulverdampf der Schlacht um Berlin ist noch nicht verzogen, da stürzt man sich bereits in eine neue heiße Geschichtsdiskussion und ist drauf und dran, das deutsche Kind mit dem preußischen Bad auszuschütten. Die Diskussion um Friedrich den Großen, die man in den Ländern, welche nach wie vor ihren Napoleon oder Robert Clive verehren, mit Verwunderung beobachten dürfte, zeigt nur zu deutlich die Schwierigkeiten, welche die Deutschen mit ihrem(n) deutschen Land(en) haben. Die Lage wird nicht gerade erleichtert durch die Begleitmusik aus dem Osten Deutschlands, wo einige „Zeitgenossen“ das Vaterland mit eher abgestanden Methoden suchen. Immer deutlicher wird, daß – unter kräftiger Mithilfe erfolgloser westlicher Politunternehmer – ausgerechnet im antifaschistischen Osten ein lebhafter Markt für ausrangierte Politprodukte entsteht, die man doch mit Fug für unverkäuflich halten durfte[1]. Es scheint, daß man den Ostdeutschen im Augenblick jeden Ladenhüter andrehen kann. Freilich tragen die politischen Gebrauchtwarenhändler weniger zur Suche nach dem Vaterland als dazu bei, es zu spalten.

 

Die Begeisterung für das ganze Deutschland, die im Westen aus naheliegenden Gründen ohnehin verebbt, hat – so fürchte ich – ihren entscheidenden Schlag erhalten, als vor einiger Zeit die Bilder der antipolnischen Ausschreitungen an der Grenze um die Welt gingen. Die Reaktion auf diese Vorkommnisse haben wir übrigens in Polen zu spüren bekommen. Die Stimmung in der Grenzregion war äußerst frostig. So deutlich habe ich antideutsche Einstellungen noch nicht erlebt. Fairerweise muß ich aber auch sagen, daß ich selten so viel offensichtliches Bemühen um Entkrampfung gegenüber den Deutschen (allerdings mit deutlicher Differenzierung nach Ost und West), wie in den anderen Regionen Polens gefunden habe.

 

Polen – das ist ein Kapitel, daß mich noch nicht zur Ruhe kommen lässt. Wenn ich etwa in der Kathedrale von Oliwia, die, wie alle „nationalen“ Monumente, mit polnischen Schulklassen gefüllt war, die Kinder mit ihren Engelsgesichtern aufmerksam der Orgelvorführung lauschen sah, mußte ich unweigerlich an den Erlaß Himmlers denken, den wir in Auschwitz gesehen hatten. In diesem Machwerk, das zu den ungeheuerlichsten Dokumenten gehört, die Menschen jemals verfasst haben, wird angeordnet, daß die polnischen Kinder nur in den Anfangsgründen von Lesen, Schreiben und Rechnen unterrichtet werden dürfen, auf daß sie zu nichts anderem geeignet seien, als dazu, mit einfachen Tätigkeiten an den gewaltigen Kulturtaten des deutschen Volkes mitzuwirken. Ausdrücklich wird sogar der Sportunterricht verboten, so als befürchte man bereits dadurch eine gefährliche Emanzipation oder die Entwicklung eines allzu positiven Lebensgefühls. Du kannst Dir vorstellen, wir mir zu Mute ist, wenn ich jetzt die Haut- und Holzköpfe an dieser denkbar sensiblen Grenze agieren sehe. Dabei hoffe ich eigentlich, daß wir von den Polen einiges lernen. Mehr noch als Warschau hat nämlich Danzig meinen Traum von der Wiederherstellung der zerstörten Städte erfüllt. Es war fast berauschend zu sehen, daß der Verlust der historischen Dimension, der unsere großen Städte heute kennzeichnet, nicht endgültig sein muß. Könnte man etwa das Leiden an diesen ges(ch)ichtslosen Großstädten beenden? Polen könnte den Anstoß geben, Berlin den Anfang machen – mit polnischen Restaurateuren! Polnische Kulturtaten zur Beseitigung der Folgen deutscher Barbarei – das wäre die richtige Antwort auf die Himmlers und ihre kleinen Trittbrettfahrer.

 

Aber zurück zur deutschen Ostgrenze. Die Beschäftigung mit ihr ist ziemlich zwangsläufig, wenn man auf der Suche nach Deutschland ist. Mit einer gewissen Notwendigkeit stößt man auf die unklaren Konturen, die dieses „Land“ in der Vergangenheit gerade nach Osten gehabt hat. Und so bin ich mittlerweile weit in die Untiefen der wechselvollen Abgrenzungsgeschichte dieser Regionen hineingezogen worden, die, wie der Augenschein ergab, schon äußerlich wenig klare Abgrenzungsmerkmale, dafür aber umso mehr Anreiz für territoriale Begehrlichkeiten bieten (darin unterscheiden sie sich sehr von den westlichen und südlichen Regionen: man merkt sofort, wenn man nach Italien oder nach Frankreich kommt.) Mit jeder Antwort auf ein Grenzproblem bin ich auf eine tiefer liegende Frage gestoßen. Es wird Dich daher nicht verwundern, daß auch ich längst beim alten Fritz und seinen Vorgängern bis hin zu den Deutschordensrittern – wir waren natürlich auch in Marienburg – angelangt bin. Der Zufall, der mir auf der Schlesienreise die Briefe Maria Theresias zuspielte, hat sinnvollerweise dafür gesorgt, daß mir im „Preußischen“ die Werke ihres großen Gegenspielers in die Hände kamen (beides Mal in einer Form, die auch meine Sammlerinteressen befriedigt). Noch auf der Reise habe ich mich in die Geschichte der schlesischen Kriege, des siebenjährigen Krieges und des österreichischen Erbfolgekrieges vertieft, die sich ja meist im und um den Osten abspielten. Wohlvorbereitet durch Schlachtpläne, Memoranden, Instruktionen und polit-moralische Spekulationen des großen Friedrich bin ich dann in ein Deutschland zurück gekehrt, in dem die Preußendiskussion gerade heftige Wogen schlug.

 

Übrigens verdanke ich den erstaunlich ungeschminkten Überlegungen Friedrichs eine Einsicht, die mir einen merkwürdigen Zusammenhang erhellte. In der Einleitung zur „Geschichte meiner Zeit“ schreibt er: „Als Grundgesetz der Regierung des kleinsten wie des größten Staates kann man den Drang zu Vergrößerung betrachten. … Die Fürsten zügeln ihre Leidenschaft nicht eher, als bis sie ihre Kräfte erschöpft sehen… Wäre ein Staatsmann weniger auf seinen Vorteil bedacht als seine Nachbarn, so würden sie immer stärker, er zwar tugenhafter aber immer schwächer werden.“ Des Weiteren spricht er von einem „allgemeinen Wettstreit des Ehrgeizes, in dem sich so viele mit den gleichen Waffen zu vernichten und sich mit den gleichen Listen zu hintergehen suchen“. Diese Beschreibung passt erstaunlich gut auf das Verhalten unserer Wirtschaftslenker (und übrigens auch noch auf einige andere Gesellschaftsbranchen). Mir war die Irrationalität der taktischen Spiele, die in der Wirtschaft üblich sind, schon immer ein Rätsel, diese ständigen Versuche, Gegner auszumanövrieren, andere Firmen feindlich zu übernehmen, Geländegewinne auf irgendwelchen Märkten zu machen, Allianzen zu schmieden, Imperien zu gründen und zu zerstören, immer größere und immer besser ausgerüstete „Truppen“ aufzustellen, nationale oder regionale Feindbilder zu pflegen, vor- und nachzurüsten, zu beäugen und zu spionieren. Es war einer nur dem öffentlichen Wohl verpflichteten Beamtenseele wie mir nicht recht klar, was diese Menschen dazu veranlasste, sich über das ökonomisch Notwendige hinaus immer wieder in einen Kampf zu begeben, der kein Ende haben kann, sich die Psyche zu demolieren, das Weltbild zu amputieren, die Familien zu opfern und sonstige ungeahnte Strapazen auf sich zu nehmen, um eines Zieles willen, das mit jedem Schritt wächst, aber nicht näher kommt. Es sind, worauf mich die Bemerkungen des preußischen Militaristen Friederich aufmerksam machten, offenbar die gleichen Impulse, die die alten Herrscher zu ihren permanenten Kriegsspielen veranlassten, eine zivile Form der Kriegslust also, die darauf hindeutet, daß die Menschheit mehr in ihren Mitteln als in ihren Zielen fortgeschritten ist. Der Kapitalismus als die Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln, die Wirtschaftsbosse als seine Fürsten und Feldherren – manche Absonderlichkeit dieser Lebensform ließe sich damit erklären.

 

19.8.1991

 

Während ich mich im ruhigen Westen gedanklich mit den zivilen Formen des Militarismus beschäftige, sind im Osten wieder leibhaftige Panzer unterwegs. Soeben kommt die Nachricht, daß die Unverbesserlichen in Moskau wieder den Rückwärtsgang der Geschichte eingelegt haben. Dann lieber neurotische Wirtschaftkapitäne als diese Finsterlinge! Es ist, als sei man aus tiefem Schlaf unsanft aufgeweckt worden und stehe vor der Frage, ob alles nur ein Traum gewesen sein soll. Von einem auf dem anderen Tag scheint man in das welt-politische Nichts gestürzt. Ich fürchte, jetzt rächt sich, daß die westlichen Staaten Gorbatschow zuletzt wie einen Bittsteller behandelt haben[2]. Es werden wieder aufregende Wochen auf uns zukommen, hoffentlich nur am Fernseher. Und Kohl ist wiedereinmal der Nutznießer der Geschichte, weil er mit seiner Eile bei der Zusammenführung Deutschlands tatsächlich noch Recht bekommt (was nichts daran ändert, daß man das Ganze professioneller hätte machen müssen[3]).

 

 

 

 

11.9.1991

 

Inzwischen ist der Moskauer Spuk vorbei und wir haben dort eine Entwicklung erlebt, an die man selbst im Traum nicht gedacht hätte. Die Geschichte macht gelegentlich doch erstaunliche Bocksprünge. Selten ist durch einen eher kleinen politischen Fehler in so kurzer Zeit soviel vom Gegenteil dessen erreicht worden, was beabsichtigt war. Unweigerlich denkt man an jenen persischen König, der durch das Überqueren eines „Flusses“ ein großes Reich zerstörte. Dinge, die sich Jahre lang dahinschleppten, wie das Problem der baltischen Staaten, werden mit einem Male gelöst. Der Coup hätte erfunden werden müssen, wenn er nicht stattgefunden hätte. Es war wieder eine Fernsehrevolution, im doppelten Sinne. Nicht nur daß wir wieder einmal „life“ dabei waren. Die elektronische Einmischung in die inneren Angelegenheiten durch die grenzüberschreitenden Medien ist geradezu die Vorraussetzung für derartige Aufstände (ich habe es Gorbatschow schon in seiner Neujahrsansprache für 1990 gesagt, er hat es aber nicht glauben wollen). Diese Medien übernehmen bei der Emanzipation des Menschen von Seinesgleichen mehr und mehr die Funktion, die vor 500 Jahren der Buchdruck hatte. Sie machen die Geschäfte der Dunkelmänner „zusehends“ schwieriger, zumal wenn dieselben, wie die nicht eben gelungene Vorbereitung des Moskauer Coups zeigt, auch noch alt und müde geworden sind. Der größte „Fehler“ Eurer alten Herren war zweifelsohne, daß sie keine Anstrengungen zur Errichtung einer elektronischen Mauer zwischen Ost und West gemacht haben[4].

 

Gorbatschow – Gorbi nennt ihn interessanterweise niemand mehr – ist in all dem die merkwürdigste Figur. Er wirkt wie ein bloßes Werkzeug der Weltgeschichte, mehr von den Umständen getrieben, als sie bewegend. Es spricht zwar für seine Wahrhaftigkeit, daß er jetzt, wo er es könnte, nicht aufsteht und verkündet, sein ganzes Lavieren zwischen Reform und Beton sei überlegene Taktik im Dienste eines emanzipatorischen Zweckes gewesen. Aber es zeigt auch, daß er nicht so sehr eindeutige Konzepte, sondern ein ziemlich undefiniertes „Leben“ für die im wahrsten Sinne des Wortes „treibende“ Kraft der Geschichte hält. Und dem rennt er jetzt ständig hinterher, um nicht zu spät zu kommen – manchmal offenbar weniger wegen des Lebens als wegen des Überlebens. Er „war“ wohl doch mehr der (Zauber-) Lehrling als der Meister des Geschehens (was der alles überschwemmenden Wirksamkeit bekanntlich keinen Abbruch tut). Wahrscheinlich wird man von ihm einmal sagen, er habe anfangs bei den Jubelfesten der Betonköpfe mitgefeiert, später nichts dagegen getan, daß letztere ins Rollen gerieten, seinen eigenen Kopf aber dadurch gerettet, daß diejenigen, deren Köpfe er stürzte, Panzer ins Rollen brachten – that’s life. Unsere deutschen Probleme wirken daneben ja eher putzig.

 

Die Diskussion um das Verhältnis von Produktivät und Löhnen ist im vollen Gang und das gibt mir Gelegenheit auf Deinen Brief vom 24.4.1991 einzugehen. Interessant ist schon, dass die Diskussion überhaupt stattfindet. Denn wenn man über derart Grundsätzliches zu diskutieren beginnt, zeigt dies, wie wenig man auf dem gleichen Boden steht.

 

Natürlich ist auch die Arbeit eine „Ware“ und ihr Preis wird in der Marktwirtschaft durch Vereinbarung der beteiligten Parteien festgelegt. Daß es dabei wie beim levantinischen Teppichhandel zugeht und dementsprechend das Ergebnis für die Beteiligten mehr oder weniger profitabel sein kann, steht ebenfalls außer Frage. Ich weiß aber nicht, ob Deine marxistischen Zweifel an der Bereitschaft der Arbeitgeber, mit den Arbeitnehmern „gerecht“ zu teilen, bei der Beschreibung des so heftig in Frage gestellten marktwirtschaftlichen Grundgesetzes weiterhilft. Man muß wohl kein Marxist sein, um diesen Zweifel für berechtigt zuhalten. Unsere Gewerkschaften leiten geradezu ihre Berechtigung aus dem mangelnden Glauben an die arbeitgeberliche Philanthropie ab. Dennoch ändert dies, so fürchte ich, nicht an dem marktwirtschaftlichen Grundgesetz. Daß zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer eines bestimmten Betriebes nur das verteilt werden kann, was erwirtschaftet wurde, liegt auf der Hand. (Bei manchen Äußerungen aus der „DDR“ kann man allerdings den Eindruck gewinnen, daß selbst diese Binsenweisheit in Frage gestellt wird – offensichtlich wird der spendable Onkel, der Defizite ausgleicht, schon automatisch mitgedacht.) Die Beziehung zwischen Produktivität und Löhnen ist daher ziemlich deutlich bei kränkelnden Betrieben. Bei maroden Betrieben ist sie überdeutlich und wird Konkursreife genannt. Ein „Problem“ ist sie nur bei gesunden Unternehmen, weil hier unter dem Stichwort „stille Reserven“ selbst bei Publizitätspflicht einiges verschleiert werden kann; allerdings ist dies mehr ein quantitatives als ein qualitatives Problem.

 

Nun findet eine Verteilung auf dieser individuellen (Betriebs-)Ebene in unserer Spielart der Marktwirtschaft nur in begrenztem Maße statt. Vielmehr ist die Sache dadurch kompliziert, das wir es mit einer sozialen Marktwirtschaft zu tun haben und eine ihrer sozialen Komponenten der Versuch ist, trotz unterschiedlicher Produktivität der Betriebe möglichst gleichmäßige Lebensbedingungen der Arbeitnehmer herzustellen. (Das geschieht dann mittels der Tarife, unter denen Arbeit nicht zu haben sein soll.) Dies hat jedoch nicht notwendig zur Folge, daß nun auf dem niedrigsten gemeinsamen Nenner geteilt wird, wie Du angesichts Deiner besonders markanten Zweifel an der Freigiebigkeit der Arbeitgeber anzunehmen geneigt bist. Es gibt eine Reihe von Ausgleichsmechanismen, mit denen dem einzelnen Betrieb bestimmte Lasten und Risiken, die er auf Grund seiner eigenen Produktivität möglicherweise nicht tragen könnte, abgenommen und auf möglichst viele Schultern verteilt werden – so gewisse Umlagen, etwa zur Finanzierung sozialer Errungenschaften wie Mutterschafts- und Krankengeld, Subventionen, Steuervorteile (letztlich gehört auch das Sozialversicherungssystem dazu). Die Regierungen, vor allem gewisse Landesregierungen, zählen dazu sogar die Auslandswerbung (insbesondere wenn dabei noch von der Wirtschaft bezahlte Auslandsreisen herausspringen). Nicht zuletzt diese Mechanismen ermöglichen es, bei Tarifabschlüssen von einer Basis auszugehen, die deutlich über der Produktivität des schwächsten Arbeitgebers liegt. Auch darin liegt ein Teil des Geheimnisses der im Grunde erstaunlich hohen pauschalen Grundentlohnung (die i.ü. die Abschöpfung besonderer Produktivitätsspitzen im einzelnen Betrieb nicht hindert; das sind dann die sog. übertariflichen Leistungen). Das System dieser ziemlich differenzierten Lastenverteilung und Stimulanzien ist, wie Du siehst, einigermaßen kompliziert und ich wage zu bezweifeln, dass die Phantasie eines Marx ausgereicht hat, sich diesen in jahrzehntelanger Praxis herausgebildeten Variantenreichtum des Kapitalismus vorzustellen und bei seinen Annahmen über die Grundsätze kapitalistischen Teilens zu berücksichtigen.

 

Der Preis dieses hohen Gesamtniveaus darf freilich nicht vergessen werden, denn er zeigt zugleich die Grenzen dieses Systems auf. Das (Er)Mitteln der Produktivität erzeugt noch immer ein eher grobes Raster und eine ganze Reihe von Unternehmen kann die daraus resultierenden Vorgaben nicht verkraften. Ganze Branchen sind schon an Löhnen und sozialen Errungenschaften zugrundegegangen. Ob der Bogen überspannt wird, hängt daher stark von der Sensibilität der Tarifparteien ab. Sicher weiß jede Seite des Teppichhandels ihre Vorteile zu wahren. Allerdings weiß sie auch oder sollte es jedenfalls wissen, daß sie auf dem Teppich bleiben, mit anderen Worten, daß sie die andere Seite am Leben erhalten muß. Angesichts des tatsächlichen Funktionierens der Marktwirtschaft in der alten Bundesrepublik schätze ich mal, dass man im Großen und Ganzen von einer nicht völlig ungleichmäßigen Verteilung der Gewichte zwischen den Tarifvertragsparteien ausgehen kann.

 

Soweit so gut. Leider funktioniert das Ganze nur unter einigermaßen homogenen und gewachsenen wirtschaftlichen Bedingungen. Und da kommt nun die „DDR“ ins Spiel oder besser in die Quere, die im Verhältnis zur Alten Bundesrepublik nun einmal weder homogen noch sonderlich gut gewachsenen ist. Daß dort jetzt einige Arbeitgeber von der Gleichmäßigkeit der Entlohnung „über Gebühr“ profitieren liegt nahe (allerdings gehören dazu angesichts des so gut wie totalen Steuerausfalls aus dieser Region sicher nicht die öffentlichen Arbeitgeber). Eine Orientierung an der höchsten Produktivität ist naturgemäß nicht möglich. Sollte man also die Gleichmäßigkeit der (Grund-)Entlohnung und damit gleich zum Einstand ausgerechnet eine wesentliche soziale Komponente der Marktwirtschaftaufgeben? Wohl kaum. Allzu groß sind die Differenzen der Produktivität in der „DDR“ ja ohnehin kaum. Auch dort besteht eine – allerdings weniger erfreuliche – Gleichmäßigkeit, eine Art kollektive Marodheit nämlich, die eine Korrellation von Löhnen und Produktivität auf einem deutlich niedrigeren Niveau als in der alten Bundesrepublik erzwingt.

 

Nun wirst Du mich wahrscheinlich fragen, wo denn bei dieser Argumentation die deutsche Einheit bleibt. Müßte man nicht die neue Bundesrepublik als den Wirtschaftsraum zu Grunde legen, dessen Produktivität die Löhne bestimmt? Das wäre zentralistisch gedacht. Das Maß aller Dinge kann in einer marktwirtschaftlichen Wirtschaftsform nur der einzelne Betrieb sein, denn dieser muß die Löhne zahlen, nicht irgendein größeres Ganzes. Somit läuft die Forderung auf eine Lösung des Zusammenhangs von Produktivität und Löhnen auf Transferleistungen von West nach Ost hinaus. Da ist ja nun schon einiges in Gang gebracht worden. Daß aber Löhne damit nicht in westlicher Höhe und schon gar nicht auf Dauer finanziert werden können, muß sich irgendwann einmal auch in der „DDR“ herumsprechen.

 

Übrigens bin ich auch der Ansicht, daß man den Transfer über ein gewisses Maß hinaus auch deswegen nicht erweitern sollte, weil man die Wirtschaft dadurch ihres eigentlichen Antriebsaggregates beraubt. Der Motor der Leistungsgesellschaft ist nun einmal die Tatsache, daß Leistung belohnt wird. Wo die Belohnung ohne Leistung eintritt, wird am Ende auch die Leistung fehlen. Mit anderen Worten: Man kann in der gegebenen Situation mit Transferleistungen die größte Not, nicht aber den Mangel an Poduktivität beheben. Und dieser wird wohl auf absehbare Zeit die beiden Wirtschaftsgebiete noch teilen.

 

Genau hier scheint mir auch das Problem zu liegen. Die Politik (und der Wunsch der Ostdeutschen) hat die Illusion entstehen lassen, daß Deutschland jetzt in allen Bereichen eine Einheit sei. Daraus resultiert „verständlicherweise“ die Frage, warum für „gleiche Arbeit“ nicht der gleiche Lohn gezahlt wird. Aber der Wunsch ist nicht Wirklichkeit und die Illusion noch weniger. Wir haben eben keinen einheitlichen Wirtschaftsraum – wie sollten wir auch. Es ist ohnehin erstaunlich, daß der Staat schon die jetzige Schlucht – von Lücke zu reden wäre verniedlichend – zwischen Produktivität und Löhnen überbrücken kann (hoffentlich kann er es wirklich!). Die Tatsache, daß die Brücke noch nicht zusammengebrochen ist, sollte aber nicht zu der Annahme verführen, daß es keine Schlucht gebe. Wer das tut, setzt genau den allmächtigen und für alles sorgenden Staat voraus, den es, wie ihr in einem langen und leidvollen Experiment bewiesen habt, nicht gibt. Da es noch lange dauern wird, bis wir einen einheitlichen Wirtschaftsraum Bundesrepublik haben, bin ich noch immer der Meinung, daß man die beiden deutschen Wirtschaftsräume getrennt hätte führen sollen. Was wir jetzt haben ist eine verschleierte Trennung, in der sich zu den wirtschaftlichen Schwierigkeiten auch noch immense psychologische Probleme gesellen, die – frei nach Freud – aus der Verdrängung unangenehmer Tatsachen resultieren.

 

    24.9.1991

 

Mittlerweile sind unsere Mitbürger im Osten drauf und dran, sich sehr unbeliebt zu machen. Was man aus Hoyerswerda hört, bestätigt die schlimmsten Befürchtungen. Am übelsten ist dabei die Haltung der Bevölkerung, die ihrem Haß völlig ungebremst freien Lauf lässt. Man fühlt sich um 55 Jahre zurückversetzt. Zugegeben, unsere Politiker lassen uns mit der Asylproblematik im Regen stehen und das ganze Rechtstheater nimmt den Charakter einer – ziemlich teuren – Farce an. Darüber wird man sich auch aufregen dürfen. Aber daß so viele Leute drüben kein Gespür dafür haben, welch‘ unselige Zeiten ihre Haltung beschwört, zeigt daß der Rückstand in der gesellschaftlichen Entwicklung größer ist, als man es sich hier vorstellen konnte. Wir leben offensichtlich nicht nur wirtschaftlich in zwei Welten. Nicht daß es hier keine ähnlichen Tendenzen gäbe. Aber Täter und Sympatisanten halten es hier immerhin noch für nötig, verschleiert oder im Dunkeln zu agieren. Ich hoffe nur, daß es im puncto „Offenheit“ keinen Ost-West Teransfer gibt.

 

Gruß

Klaus

 

PS

Nach „Redaktionschluß“ ging hier Dein Brief vom 11.9. ein, der sich thematisch z.T. mit diesem Brief überschneidet. Ich kann ihn daher teilweise als beantwortet ansehen. Eine „kleine“ Antwort auf Deine Antwort auf meinen Brief vom 10.6.1991 will ich aber diesem Brief noch anfügen. Du hast versucht zu erklären, warum die Städte, insbesondere die alten Stadtzentren in der DDR so heruntergekommen sind. Deine Erklärung ist für mich in erster Näherung auch nachvollziehbar. Aber die Frage, die ich mir gestellt hatte, zielte eigentlich weniger in eine technologische oder ökonomische Richtung. Es lag – ebenso wie in meinen sonstigen Beschreibungen östlicher Zustände – auch kein (Wessi-)Vorwurf zwischen den Zeilen (wiewohl ich in Sachen Stadtgestaltung meine Emotionen nur wenig unter Kontrolle habe[5]). Noch weniger hatte ich etwa die Absicht, die Zustände in anderen sozialistischen Staaten auf Kosten der „DDR“ zu idealisieren[6] (übrigens auch nicht zu dramatisieren; das mit den Fellachen, bezog sich wirklich nur auf die Bewohner der Pusztabauernhöfe). Es sieht in diesen Ländern schlimm genug aus (was aber nichts daran ändert, daß in der „DDR“ die Optik noch schlimmer ist). Meine Frage betraf die Einstellung, auf Grund deren Menschen eines Kulturkreises, für den ein solcher Zustand der Unordnung untypisch ist, diese hinnehmen. Ich versuchte – erfolglos – Klarheit über die psychischen Vorgänge zu gewinnen, die dazu führten, daß man – auf Seiten der Regierenden und Regierten – aufhörte, sich gegen den Verfall zu stellen, daß man anfing, ihn für „normal“, seine Behebung für nicht besonders dringend zu halten, daß man sich darin einrichtete, mit einem Wort, daß man ihn mehr oder weniger akzeptierte. Ich habe also darüber gegrübelt, was das sozialistische System in den Köpfen der Menschen bewirkt hat, welche Wertesysteme entstanden und welche zusammengebrochen sind. Der Frage liegt natürlich die Vorstellung zu Grunde, daß sich Menschen unseres Kulturkreises normalerweise gegen die Verrottung wehren und daß es auch bei schlechten äußeren Bedingungen Mittel und Wege gibt, das, was man für wirklich wichtig hält, zu realisieren. Die Frage ist natürlich nicht nur historischer Natur und sie beschränkt sich auch nicht auf das Problem der Stadtgestaltung (wiewohl dieselbe in aller Regel auch eine ganze Menge über die Menschen und ihre Wertsysteme aussagt, weshalb dieser zugebenermaßen leicht touristische Ansatz – ein anderer ist unsereinem ohnhin kaum möglich – nicht ganz zu verachten ist). Die mir selbst gestellte Frage enthält auch die Frage nach den Menschen, mit denen wir es heute zu tun haben, danach, wieweit man sich in Ost und West voneinander entfernt hat und wie man künftig miteinander leben kann.

 

Es gab wohl selten einen Zeitpunkt, in dem man größere Aussichten hatte, auf solche Fragen eine Antwort zu finden, als jetzt. Die Vereinigung der unterschiedlichen Gesellschaftssysteme ist nicht nur, wie Du richtig feststellst, ein Wirtschaftsexperiment ohnegleichen, das Ungeheures von den Menschen verlangt[7]. Auch die Teilung wirkt wie ein riesiges Experiment zur Gewinnung von Erkenntnissen über die Entwicklung von Gesellschaften. Ich meine damit nicht die Tatsache, daß auf Euren Rücken ein Gesellschaftssystem ausprobiert wurde (und für ungeeignet befunden) wurde, sondern den Umstand der Trennung einer einheitlichen Gesellschaft und der äußerst effektiven Separierung ihrer Teile. Wir befinden uns praktisch in der Situation gesellschaftlicher Zwillingsforscher, die herausfinden wollen, was bei der Entwicklung der gleichbegabten Zwillinge auf die Begabung und was auf die Verhältnisse zurückzuführen ist. Und da ließe sich vielleicht meine – und nicht nur diese – Frage beantworten. Ich frage also nach den Bedingungen, unter denen Menschen die Liebe zu ihrer Umgebung verlieren und sich stattdessen, bewehrt mit einem Fuchsschwanz, ins Innere zurückziehen, wo sie es, wie ich zu bestätigen vermag, sehr wohl fertig bringen, ihre Umgebung zu gestalten.

 

Die Frage ist nicht nur interessant zur Vermeidung künftiger Fehler. Die Antwort darauf könnte auch neue Ansätze für eine positive Stimulierung geben. Ein allgemeines Ergebnis habe ich immerhin schon ausgemacht. Bei Gesellschaften ist, anders als bei Individuen, der Anteil der „Umstände“, des Systems also, an der Entwicklung offensichtlich wesentlich wichtiger als die „Begabung“, m.a.W. man kann mit der falschen Wahl eines Systems in sehr kurzer Zeit sehr viel kaputt, mit der richtigen wohl aber auch viel gut machen. Das muß den Experimentatoren zu denken geben. Und wie lange es dauert, eine aus der Bahn geworfene Gesellschaft wieder auf’s Gleis zu bekommen, das zeigen nicht zuletzt einige Entwicklungsländer. Das Aufholen ist, wie Du zu Recht feststellst, nicht nur per se ein Handicap. Es wird noch dadurch erschwert, daß das rasante Tempo der Gesellschaften (Wirtschaftssysteme), zu denen es aufzuschließen gilt, die Folge ihres Vorsprunges ist.

 

Ein Wort noch zum Thema Wundern und Staunen. Ich glaube, das Staunen darüber, daß nach Einführung von Demokratie und Marktwirtschaft nicht gleich Wohlstand und Wohlleben ausgebrochen sind, ist wohl mehr auf östlicher Seite. Mich wundert der mangelnde Fortschritt entgegen Deiner Vermutung keineswegs. Gewundert hat mich eigentlich immer nur die Naivität oder Unverfrorenheit derer, die immer so getan haben, als seien in überschaubarer Zeit hüben und drüben gleiche Lebensverhältnisse zu erwarten (bei bestimmten Leuten wundert mich aber auch dies nicht). Die große Enttäuschung, die jetzt offenbar bei Euch vorherrscht, beruht doch darauf, daß man sich von der Freiheit Wunderdinge erhofft hat. Daß der jetzige Zustand der „BRD“ das Ergebnis einer Jahrzehnte langen Entwicklung ist[8], hat man sich ebenso wenig klar gemacht, wie die Tatsache, daß eine freiheitliche und offene Gesellschaft notwendigerweise einige Probleme mit sich bringt, die Euch bislang nicht bekannt waren.

 

Die Enttäuschung ist wohl auch deswegen so groß, weil die meisten Menschen bei Euch erwartet haben dürften, das Leben in einer pluralistischen Gesellschaft sei leichter als in einer geschlossenen Gesellschaft. Daß diese Lebensform die denkbar komplizierteste ist und auch bei uns unzählige Menschen überfordert, hat man angesichts der von den Medien „verallgemeinerten“ Tellerwäschererfolgsstories einiger Weniger offensichtlich nicht wahrgenommen. Das sind die Fährnisse einer freiheitlichen Gesellschaft, von denen ich früher schon mehrfach gesprochen habe.

 

Übrigens wurde diese Lebensform bis vor kurzem auch hier als außerordentlich schwierig empfunden. Die neue Begeisterung des Westens für offene Gesellschaft und Marktwirtschaft ist eigentlich erst die Folge des Zusammenbruchs im Osten. So richtig gut geht es uns erst, seit es Euch schlecht geht[9]. Vorher war das Stöhnen über die problematischen Lebensverhältnisse so allgemein, daß kein Mensch mehr zur Kenntnis nahm, daß es uns zu keinem Zeitpunkt besser ging. Täglich entdeckten wir eine neue Zivilisationsgefahr und es war schlechterdings unerklärlich, daß die Lebenserwartung dennoch ständig nach oben kletterte. Jedermann war auf der schmerzensreichen Suche nach dem Sinn oder auf der Flucht vor der Frage danach. Wer nicht zum Psychiater ging, ins Glas guckte oder sich ins Vergnügen stürzte, vertiefte sich in östliche Kulturen oder versuchte sich in alternativen oder traditionellen Lebensformen.

 

Es ist noch gar nicht so lange her, da behaupteten viele junge Leute, es sei unverantwortlich, in diese Welt noch Kinder zu setzen. Was ihr jetzt durchmacht, ist die Umkehrung einer Erfahrung, die man insbesondere bei der Beobachtung traditioneller geschlossener Gesellschaften macht. Es ist eine merkwürdige Tatsache, daß die Menschen in solchen Gesellschaften (auch dort wo es denkbar ärmlich, nach unseren Maßstäben sogar katastrophal zugeht) „glücklicher“ zu sein scheinen, als in den hochentwickelten freien und wohlhabenden Gesellschaften. Offenbar entlasten diese traditionellen Kulturen den Einzelnen in so großen Maß von Fragen der Sinngebung und der psychischen Vorsorge, daß der materielle Mangel nicht entscheidend ins Gewicht fällt.

 

Ich glaube, daß das „System“ in der DDR zu einem erheblichen Teil solche Bedürfnisse abgedeckt hat. In gewisser Hinsicht trauern jetzt viele Menschen in der „DDR“ einem solchen einfachen Leben in gesellschaftlicher Geborgenheit nach, wahrscheinlich sogar die, die schon immer gegen das System gewesen sind[10]. Dieses Leben freilich dürfte Europäern in wirklich glückbringender Form kaum mehr möglich sein. Denn unter der Herrschaft eines solchen Systems fühlt man sich, wie gesehen, auch nicht wohl. Der Versuch, einfache Verhältnisse wiederherzustellen, muß sich daher des Zwangs bedienen. Er endet, da ihm der Drang zur Freiheit entgegensteht, „zwangsläufig“ im Faschismus (rechter und linker Couleur – vgl Fn 1).

 

30.9.1991

Gorbatschow ist wirklich nicht mehr der Alte. In meinem Neujahrsbrief auf das Jahr 1990 hatte ich in einem Anfall politischer Zärtlichkeit noch gemeint, die große einseitige Abrüstungsgeste könne nur von seiner Seite kommen. Daß er jetzt von Busch überholt wird, zeigt, wie sehr er die Initiative in dem Prozeß verloren hat, den er in Gang gesetzt hat.

 

3.10.1991

Tag der deutschen Einheit. Noch nie wurde über die deutsche Zweiheit soviel gesprochen wie an diesem Tag.

 

5.10.1991

Mit großem Interesse verfolge ich z. Zt. die Blockflötendiskussion. Irgendwann mußten aus diesen verstimmten Instrumenten die wahren Töne doch einmal herauskommen. Ein Musikus hört sie freilich schon etwas früher (vgl. meinen Brief vom 10.2.1990).

 

PPS

Wir hoffen, Dich bald wieder mal in natura zu sehen.


[1] So ganz verwunderlich ist es allerdings nicht, wenn man von der These der Nähe von rechtem und linkem Faschismus ausgeht, die ich bereits in meinem Brief vom 6.5.1990 aufgestellt habe.

[2] Vor allem die Japaner, die wegen ihrer läppischen Kurilen den Blick für das weltpolitisch Wesentliche aus den Augen verloren zu haben scheinen.

[3] Man hätte, um auf Deinen Brief vom 16.3. zurückzukommen, zwar nicht unbedingt ein Jahr nur beraten müssen. Aber man hätte überhaupt ein permanent tagendes Gremium aufstellen müssen, das alle Aspekte dieses ungeheuer komplexen Prozesses im Auge behält. Wann überhaupt, wenn nicht in dieser Situation, war der Zeitpunkt, ein Gremium der Besten zu schaffen, das sich ausschließlich mit dieser Frage zu beschäftigen gehabt hätte (ich denke dabei an so etwas wie das amerikanische Atombobenprojekt am Ende des 2. Weltkrieges). Die Lage mit Beamten und ein paar guten Freunden meistern zu wollen, ist eben dilletantisch , wobei dann so absurde Vorstellungen herauskommen mußten wie die, man könne die deutsche Einheit aus dem Laufenden finanzieren.

[4] Der Blick ins kommerzielle (!) italienienische Fernsehen war es ja wohl auch, der die Massen Albanien mobilisiert hat (politisch und körperlich). Und das Überleben des Kommunismus in China dürfe nicht zuletzt auf der televisionären Isolation diese Landes beruhen.

[5] Anbei ein kleiner Leserbrief über das neues Kongresszentrum in Stuttgart, den die Stuttgarter Zeitung abgedruckt hat. Du magst darauf entnehmen, dass ich mich nicht nur über den Osten errege.

[6] Das mit dem absoluten „Schlußlicht der Weltkultur“ ist eine „Schluß“folgerung von Dir, die ohne den von Dir ein paar Zeilen höher angebrachten Klammerzusatz „Bau“ der Paradefall einer unzulässigen Verallgemeinerung ist.

[7] Die von Dir geschilderten – geistigen – Umstellungsprobleme, kann ich Dir nur zu gut nachempfinden. Ich bin aber nicht sicher, ob die Ossis in allen Punkten besser dafür gewappnet sind als die Wessis. Ein nicht unerheblicher Teil dieser Probleme dürfte auch daraus resultieren, dass man Euch nicht gerade mit der Relativität der verschiedenen gesellschaftlichen Gestaltungsmöglichkeiten vertraut gemacht hat. Wer gelernt hat, wie wacklig unter Umständen gerade das ist, was sich als besonders stabil ausgibt, wird wohl beim Zusammenbruch einer „Wahrheit“ weniger überrascht dastehen, als der, der vieles für möglich gehalten hat.

[8] Bereits dies sollte deutlich machen, dass der tarifpolitische „Sprung über Jahrzehnte“ ein Ding der Unmöglichkeit ist.

[9] Bei Euch ist es eher umgekehrt. Das ganze jetzige Dilemma ist daher weniger existentieller als komparativer Natur; was nicht heißt, das es keine psychische Wirksamkeit habe. Es kann einem verdammt schlecht gehen, weil es anderen gut geht.

[10] Deine Bemerkung, das ihr die neue Zeit in Ungarn nicht vermisst habt, scheint in diese Richtung zu gehen.

Briefe aus der Wendezeit – Teil 10

Stuttgart, 10.6.1991

 

Lieber Frank,

 

die deutsch-deutschen Erkundungen der weiter gewordenen Welt gehen ihren reziproken Gang. Während ihr Euch in den lange verschlossenen Süden aufmacht, haben wir unseren Horizont kräftig nach Osten erweitert. Und wir staunen, was unseren Blicken bislang alles verborgen geblieben ist. Trotz Fernsehen, trotz einer freien Presse und Büchern, trotz der Berichte von Reisenden und Besuchern hatte man, wie mir immer stärker bewußt wird, ein wenig zutreffendes Bild von der „zweiten Welt“[1]. Der Osten war früher eine eher dumpfe und irgendwie unwirtliche Region, mit der man sich nicht unnötig befasste. Man nahm entgegen, was andere darüber berichteten, meist war es Unangenehmes und Unfreundliches. Ein mögliches Feld eigener Erlebnisse war die Region für mich kaum mehr als für Euch der Westen und der Süden. So blieb der Osten chimärenhaft und unwirklich. Ohnehin schienen alle wirklich wesentlichen Zeugnisse europäischer Kultur in unserer Hälfte der Welt zu liegen. Die Mutter der europäischen Kultur war Italien. Ein paar hübsche westliche Töchter stritten darum, wer der Mutter am ähnlichsten sei. Im Osten hingegen wohnten allenfalls ein paar späte Abkömmlinge, deren Abstammung darüber hinaus nicht richtig geklärt war. Eigentlich war es kein Wunder, daß sich der Rest des politischen und gesellschaftlichen Dunkels, welcher die erste Hälfte des Jahrhunderts kennzeichnete, im Osten halten konnte. Dieses diffuse und düstere Ostbild war so wirksam, daß selbst die Vergangenheit davon betroffen war. Natürlich wußte man, daß Kant in Ostpreußen und Kopernikus in Polen wirkte. Und doch blieb auch der geschichtliche Kulturraum merkwürdig undeutlich. Es war, als hätte man mit der unerfreulichen Gegenwart auch gleich die Vergangenheit ins östliche Abseits gedrängt. Das gilt sogar für den mitteldeutschen Kulturraum, obwohl dieser schon um die Ecke beginnt (daß er in der Mitte Deutschlands lag, ist mir erst in diesen Tagen wirklich bewußt geworden). Man wußte von Luther in Wittenberg, von Bach, Schumann und Mendelsohn in Leipzig, von Wagner in Dresden und von der ganzen klassischen Schreibzunft (einschließlich den Schwaben Wieland und Schiller) in Weimar. Aber all das gab kein zusammenhängendes Bild von diesem Raum und nicht einmal ein Interesse dafür.

 

Nun sind wir dabei, die Lücken unseres Weltbildes zu füllen. Die letzten Wochen haben mich durch vier ehemalige Ostländer geführt. Es fing an mit dem Ort, an dem „alles“ anfing, dem sympathischen Land zwischen Süd und West, das im Großen und Kleinen, so etwas wie der Katalysator der ostwestlichen Horizonterweiterung war. Ich nutzte ein Basketballturnier in Keskemet, ziemlich hinten in Ungarn, um die neueste Entwicklung der dortigen Dinge in Augenschein zu nehmen. Da außer uns noch eine polnische, eine rumänische und zwei ungarische Mannschaften mitwirkten, war es tatsächlich so etwas wie eine Informationsveranstaltung zum Thema Osten. Darüber hinaus haben wir die Probleme dieser Länder auch ziemlich hautnah erlebt. Das fing schon mit dem Freizeitverhalten der Ostmannschaften an. Sie waren bei diesem Turnier von alternden Hobbysportlern anfangs mit fast verbissenem Ernst bei der Sache, gingen abends früh ins Bett, um für die Spiele fit zu sein und hielten sich von geselligen Dingen weitgehend fern. Das ging zu wie in den ausgestorbenen abendlichen Städten im Osten, in denen sich nach Geschäftsschluss ebenfalls alles in die Betten zu begeben scheint. Erst angeregt durch unser Beispiel tauten die Ostler langsam auf und schlossen sich zunächst verwundert, dann mit wachsender Faszination den verrückten Westlern an. Die merkwürdige Ungeselligkeit hatte freilich zum Teil handfeste „wirtschaftliche“ Ursachen. Die ungarischen Veranstalter hätten entsprechend der Übung bei den vorangegangen Turnieren (u.a. in Stuttgart) an sich die gesamten Kosten ein schließlich Unterkunft und Verpflegung tragen sollen, was jedoch offensichtlich über ihre Kräfte ging. Obwohl es ihnen sichtlich peinlich war, baten sie daher, daß die Beteiligten die Kosten für die Getränke selbst tragen möchten. Die Folge war, daß die Rumänen mangels „Devisen“ (für die Rumänen ist der Forinth bereits eine harte Währung) nicht am abendlichen gemütlichen Zusammensein teilnehmen konnten. Es reichte nicht einmal für eine Flasche Bier. Da es ihnen ihr Stolz verbot, sich ohne Getränke zu beteiligen, saßen sie, während sich im Gemeinschaftsraum mit Hilfe von Akkordeon, Gitarre uns Banjo (alle von unserer Mannschaft) lautstark deutsche Gemütlichkeit ausbreitete, in ihren Zimmern und gaben vor, sich auf die Spiele vorzubereiten. Erst mit einem Trick, nämlich der Behauptung, eines unserer Mannschaftsmitglieder habe Geburtstag und lade alle Turnierteilnehmer ein, gelang es, sie aus ihren Zimmern zu locken. Aber das ging nur einmal. Eine weitere Einladung wollten sie, wiewohl sie für uns einen Klacks bedeutete, partout nicht annehmen. Stattdessen hofften sie, die erforderlichen Devisen erhandeln zu können. Und so boten sie uns eine alte Kuckucksuhr (mit Ausfuhrzertifikat des rumänischen Zoll) und eine Vorkriegskamera an, in der Annahme den meisten Westdeutschen sitze das Geld so locker, daß sie ein paar tausend Mark, die die Sachen laut einem Sammlerkatalog wert sein sollten, wohl zahlen würden.

 

Die Rumänen, mit denen ich ausführliche Gespräche hatte, berichteten, der Zustand ihres Landes unterscheide sich von dem Ungarns wie dessen Zustand von dem (West)Deutschlands. Dabei geht es den Ungarn selbst alles andere als glänzend. Das Warenangebot in den Läden der Kleinstädte ist noch genauso dürftig, wie eh und je[2]*. Die malerischen kleinen Bauernhöfe, die über die Puszta verstreut sind, erweisen sich bei näherem Hinsehen als äußert dürftige und heruntergekommene Behausungen, in denen die Menschen samt allerlei Getier auf dem Niveau von Fellachen leben, umgeben von chaotischen Sammlungen von absolut allem, was in einer Mangelwirtschaft Gegenstand des Handels und der Lebensvorsorge sein könnte. Von einer neuen Zeit ist nicht viel zu sehen. Was in den Städten aus der allgemeinem Tristesse herausragt, sind meist Gebäude aus der „guten alten Zeit“ der K.& K. Monarchie. Nach Maria Theresia und der Gründerzeit ist es städtebaulich offenbar nur noch bergab gegangen. Und heute sieht es so aus, als stimme das Bild vom Katalysator auch insoweit, als ein solcher zwar die Verbindung ziemlich heterogener Elemente bewirkt, selbst aber unberührt bleibt.

 

In den Pfingstferien ging es wieder gen Osten. Diesmal hatten wir Größeres vor. Wir haben zu nächst den Süden der ehemaligen DDR noch einmal nachgearbeitet. Der Zustand der alten Städte hat uns noch mehr als beim letzten Mal erschüttert, insbesondere nachdem sich hier, einige Einzelprojekte ausgenommen, noch immer wenig zu bewegen scheint[3]. Auch nach intensivem Grübeln ist es mir bislang nicht gelungen, herauszufinden, auf Grund welcher Einstellung es dazu kommen konnte, daß mitteleuropäische Menschen eine dermaßen verrottete Umgebung akzeptieren. Nicht weniger erstaunlich ist das Nebeneinander von moderner Billigstarchtitektur und großartigsten historischen Gebäuden[4] (Das „Ambiente“ des alten Rathauses von Gera ist dafür ein Musterbeispiel). Es gibt nur eine Hoffnung. Diese Häuser sind möglicherweise so schlecht gebaut, daß sie in absehbarer Zeit abgerissen werden müssen[5]. Hoffentlich gilt dies auch für die „monumentalen“ Bauten von Chemnitz, dessen Zentrum ein Alptraum ist. Der traurige Höhepunkt aber war für uns zweifelsohne Zwickau. Gleich hinter dem Schumannhaus am Marktplatz glaubt man im Kriegsgebiet zu sein. Eine Außenre novierung der vom Braunkohlequalm zerfressenen, prächtigen Marienkirche dürfte einem Neubau fast gleichkommen. Nicht weniger traurig sehen weite Teile der Altstadt von Bautzen aus. Dresden allerdings, daß mich vor einem Jahr noch in städtebauliche Depressionen versetzt hat, hat mich dies mal weniger hart getroffen, vielleicht, weil man dort etwas Bewegung sieht. Ein Schloß, aus dessen schwarzer Fassade heller Sandstein wächst und dessen Dach wieder gedeckt ist, lässt mich über manche „Prager Straße“ hinwegschauen. Die Entdeckung der Reise durch Thüringen und Sachsen war Görlitz. Die Stadt, von der ich bis vor kurzem nicht den Hauch einer Vorstellung hatte, hat die Chance, zu einer der schönsten deutschen Städte zu werden. Ein gütiges Schicksal hat die umfangreiche Altstadt nicht nur vor dem Krieg, sondern auch vor den Flächensanierungen à la SED geschützt, so daß in ihr Plattenbauten und sozialistischer Klotzstil fehlen. Daß die Gründerzeit so „fern“ im Osten solche Feste feierte, habe ich mir nicht träumen lassen.

 

Apropos Freizeitverhalten. Görlitz, dessen Architektur gerade des 19. Jahrhunderts wahrlich den Sinn für das Vergnügen wiederspiegelt, soll einmal 400 Gaststätten gehabt haben. Heute sind es vermutlich weniger als 10 und davon haben, wie wir uns überzeugen mußten, noch immer abends die meisten geschlossen. Vom nächtlichen Leben in dieser Prachtstadt will ich gar nicht reden. Man macht sich fast verdächtig, wenn man abends durch ihre finsteren Gassen schlendert.

 

So richtig bewußt wurde mir bei dieser Reise durch Deutschlands „Osten“, in welcher Blüte hier die Deutsche Renaissance stand. Es ist schon mehr als erstaunlich, daß einem Renaissanceenthusiasten, wie ich es bin, das Bewußtsein davon weitgehend abhanden gekommen ist. Zu einem Zeitpunkt, wo man aus schierer Verzweifelung über die abgegraste „europäische“ Kulturlandschaft zunehmend dem Exotischen zustrebte, stellt sich heraus, daß in nächster Nähe eine Menge Kulturgeschichte nachzuarbeiten ist. Der Mangel an gesamtdeutschem Kulturbewußtsein war tatsächlich ein Abhandenkommen. Ich kann mich noch gut daran erinnern, daß mir die „Ostgebiete“ und ihr kulturelles Erbe einmal wesentlich näher standen. Es gab im Bücherschrank meiner Eltern Bücher wie „Deutsche Dome“ und „Deutsche Bürgerbauten“, in denen wir als Kinder blätterten und in denen „natürlich“ auch die Bauwerke des Ostens abgebildet waren. Erst im Laufe der Zeit geriet die Vorstellung von einem einheitlichen deutschen Kulturraum in den Hintergrund. Das war es ja wohl, worauf die alten Herren bei Euch spekulierten und fast wäre es ihnen auch gelungen. Bei den Jungen hier ist von einem gesamtdeutschen Bewußtsein schon kaum mehr etwas zu spüren. Sie fühlen weder eine gemeinsame Aufgabe noch sind sie bereit, sich für den anderen Teil Deutschlands sonderlich zu engagieren (oder gar etwas zu opfern). Für die Erscheinungen, die die Folge der jahrzehntelangen Isolation des Ostens sind, haben sie überhaupt kein Verständnis. Für sie ist Deutschland das, was im Westen daraus geworden ist und sie erwarten, daß die, die dazu gehören wollen, sich entsprechend verhalten. Mit dem dumpfen alten Deutschland, das in der ehemaligen DDR leider zu einem guten Stück  überlebte, wollen sie nichts zu tun haben. So manche Übersiedlung tatkräftiger Mittvierziger in den Osten scheitert an dem massiven Widerstand seines halbwüchsigen Nachwuchses.

 

Soweit die „DDR“. Unser eigentliches Ziel war Polen. Nach allem, was wir darüber gehört hatten, war hier Übles zu erwarten. Wir waren darauf gefasst, daß die Städte noch herunter gekommener als in der „DDR“ sein würden und daß die Polen die alten deutschen Städte nach dem Krieg vollends heruntergewirtschaftet hätten. Nach einem unmittelbar vor unserer Abfahrt in der hiesigen Zeitung erschienen Artikel über die polnischen Straßenzustände haben wir sogar zum Schutze unseres altersschwachen Gefährts erwogen, das Ostprojekt abzubrechen. Es war die pure Abenteuerlust, daß wir trotz der abschreckenden Meldungen an dem Reiseplan festhielten.

 

Aber es war kein Abenteuer, jedenfalls nicht in der erwarteten Weise. Die Wirklichkeit kontrastierte auf’s Deutlichste mit den Vorurteilen. Das Land machte auf uns von Anfang an einen besseren Eindruck als die deutsche sozialistische Hinterlassenschaft. Wir fanden keine verfallenden Altstädte und auch die Straßen waren deutlich besser als in der „DDR“. Zu allem fanden wir mit Krakau zu unserem Erstaunen (wir waren abgesehen von unseren Vorurteilen vollkommen unvorbereitet) eine Stadt, die unter die ganz großen Stadtlandschaften Europas einzuordnen ist, dazu in einem Zustand, der auch nicht schlechter ist als der vieler westlicher, zumal südeuropäischer Städte. Sicher das Land ist arm und vielen Menschen sieht man an, daß sie unter Bedingungen leben und arbeiten, die bei uns als veraltet, teilweise sogar als menschenunwürdig gelten. Aber man hat nicht in gleichem Maße den Eindruck, daß die Menschen resigniert und einfach alles haben den Bach hinuntergehen lassen. Dies zeigt sich auch an dem geradezu beispiellosen privaten Bauboom. Kaum ein Haus, in dessen Garten nicht Backsteine für einen Erweiterungs- oder Neubau lägen. Und zahlreiche Häuser sind offensichtlich gerade erst fertiggestellt worden. Wenn jetzt aus rechtsradikalen Ecken der „DDR“[6] antipolnische Töne kommen, so sind sie mit der Überlegenheit der „deutschen Rasse“ weniger denn je zu begründen. Der Mythos von der geradezu genetisch bedingten deutschen Ordentlichkeit und Gründlichkeit ist, nachdem die „DDR“ so ziemlich den größten sozialistischen Sauhaufen produziert hat, endgültig gestorben. Auch die so vorbildlichen germanischen gesellschaftlichen Umstände, die „aufgeklärtere“ Nationalisten für die Basis der deutschen Tugenden halten, haben sich bei Gelegenheit des sozialistischen Experiments als nicht eben widerstandsfähig erwiesen[7]. Wenn überhaupt ein altes gesellschaftliches System überlebt hat, das den Menschen im Sozialismus noch einen gewissen Halt geben konnte, dann ist es ausgerechnet der polnische Katholizismus gewesen.

 

 A propos Katholizismus: Das religiöse Leben, das wir in Polen antrafen, lag jenseits meiner westlichen Vorstellungskraft. Man hat vom polnischen Katholizismus ja schon einiges gehört. Aber man muß die keineswegs nur alten Frauen beim gemeinsamen abendlichen Gebet im Freien vor einer Kapelle am Straßenrand gesehen haben, man muß in Tschenstochau und in den überfüllten Kirchen Krakaus gewesen sein und die endlosen Strophen melancholischer Lieder gehört haben, um zu wissen, wie Katholizismus heute in „Mitteleuropa“ noch aussehen kann. (Dagegen erscheint die religiöse Inbrunst Italiens geradezu als Theater.) Auch hier kommen völlig neue Facetten (und neue Probleme, wie ich fürchte) ins erweiterte europäische Bild.

 

Mehr denn je sind wir in Polen mit Deutschland konfrontiert worden. Die sogenannten deutschen Ostgebiete waren für mich bislang noch weniger ein Begriff als der sonstige Osten. Es muß etwas mit Verdrängung zu tun haben, wenn man von den meisten alten Städten in Schlesien nicht einmal die Namen, geschweige denn ihre Lage und Geschichte kennt. Umso merkwürdiger war es, hier auf Schritt und Tritt auf deutsche Kultur und Geschichte zu stoßen. Erst dadurch hat der Begriff Mitteldeutschland für mich Konturen erhalten. Die Folgen für die deutsche Gefühlslage sind verwirrend. Bislang war es keine Kunst, auf diese unbekannten Gebiete zu verzichten. Jetzt mußte ich den Verzicht, den ich für unvermeidbar halte, durchleben. Da ist zur Bewältigung zwiespältiger Gefühle nicht wenig Verstand gefragt. Die Situation Schlesiens ist ja überaus merkwürdig. Überlagerungen von Kulturen und politisch-soziale Überwucherungen sind aus Nah und Fern ja wohlbekannt; ein „Musterbeispiel“ liegt mit dem Elsaß vor unserer Haustür. Solche Akkulturationen sind jedoch in der Regel ein allmählicher Prozeß, zumal dabei in aller Regel die ursprüngliche Bevölkerung erhalten bleibt. Die plötzliche Auswechslung aller Menschen eines alten, dicht besiedelten Kulturgebietes hingegen hat etwas Ungeheuerliches und Künstliches. In ihrer Ungeheuerlichkeit erinnert sie überdeutlich an die Ungeheuerlichkeit der Zeit, dessen Ergebnis sie ist. Sie liegt wie ein Findling aus barbarischem Urgestein in einer durch Wind und Wetter neuerer Zeiten weicher gewordenen Landschaft. Und das dürfte die Überwindung der alten Zeit nicht gerade erleichtern. Vielleicht hilft die Vorstellung von einem einheitlichen europäischen Kulturraum, in dem die nationalen Grenzen ihre trennende Wirkung verlieren, wie sie zur Besänftigung der Gefühle jetzt entwickelt wurde. Sie hat etwas Tröstliches und Rührendes, aber, wie mir angesichts des Entwicklungsgefälles zwischen Deutschland und Polen scheint, auch etwas Beschwörendes. 

 

Ich habe mich auch der nicht geahnten Belastung eines Besuchs von Auschwitz ausgesetzt. Wenn ich von dem ungeheuren Eindruck, den dies auf mich machte, auf den Eindruck schließe, den dies bei den polnischen Schulklassen machen dürfte, die ständig durch diese Stätten des Grauens geführt werden, so weiß ich allerdings nicht so recht, wie das deutsch – polnische Verhältnis jemals unbefangen werden soll. Übrigens war ich sehr verwundert Auschwitz dort zu finden, wo es ist. Für mich lag es immer in einer nicht klar bestimmten, jedenfalls aber fernen unwirtlichen Ostregion weit jenseits jeder Zivilisation, so daß die Nazischergen ihrem grauenhaften Tun ungestört nachgehen konnten. Jetzt aber fand ich es nicht weit von ehemals deutschem Gebiet inmitten einer dicht besiedelten Region. Meine Bereitschaft zu glauben, daß keiner so recht wußte, was sich da abspielte, hat dies nicht gerade erhöht.

 

Etwas geradezu Konstruktives hatte für mich hingegen der Besuch von Warschau. Nicht nur daß ich hier eine meiner architektonischen Lieblingsideen verwirklicht sehen konnte (die unbefangene Rekonstruktion historischer Bauten nach Kriegszerstörungen, womit man sich in der alten Bundesrepublik ungeheuer schwer getan hat). Der Wiederaufbau einer mutwillig zerstörten Stadt symbolisiert irgendwie auch den Willen, die fürchterlichen geschichtlichen Entgleisungen ungeschehen und vergessen zu machen, was wie im Privaten auf längere Sicht doch die einzige Möglichkeit ist, so etwas wie „Heilung“ für das zu erreichen, was unglücklicherweise geschehen ist.

 

Wir sind auf dem Rückweg durch so ziemlich die ganze Tschechoslowakei gefahren. Auch dort haben wir viele großartige Städte angetroffen, von denen mir die meisten ebenfalls nicht einmal dem Namen nach bekannt waren[8]. Nie hatte ich etwa von einer Stadt wie Kuppenberg gehört, die zu den schönsten Kleinstädten Europas zählt und so eine Art Görlitz Böhmens ist: nicht weit von einer großen kunstsinnigen Ostmetropole, geschückt mit prächtigen Bauten aus allen Epochen und abends vollkommen tot. Die Städte zeigen, daß hier einstmals blühendes Land war[9]. Überall sieht man, daß einmal eine große Freude an der Stadtgestaltung und am Leben in der Stadt bestand. Vielleicht ist das der Unterschied zwischen Ost und West, nämlich daß im „Osten“ den Menschen diese Freude abhanden gekommen ist. So hat denn diese Reise deutlicher denn je gemacht, wie unnatürlich die klare Linie zwischen Ost und West ist, die sich in den Köpfen (und leider auch in der Lebenswirklichkeit) festgesetzt hat. Es scheint, daß wir jetzt erst einmal wieder zurück zu Maria Theresia müssen, zu deren Zeiten sich in dieser „Grenzregion“ eine einheitliche lebensfrohe Kulturlandschaft ausbreitete. Tatsächlich scheint ja das allgegenwärtige Barock zur Zeit eines der wichtigsten und unproblematischsten Bindeglieder in dieser Region zu sein. So wird womöglich die Repräsentantin eines „ausbeuterischen“ Systems zur Stammmutter einer neuen mitteleuropäischen Kultur.[10]

 

Mit der Wiederentdeckung einer untergegangenen mitteleuropäischen Kulturlandschaft verlagert sich naturgemäß der Mittelpunkt Europas nach Osten. Für einen eingefleischten Mitteleuropäer wie mich ist erst jetzt verständlich, daß die Polen den Mittelpunkt Europas in ihren Land sehen.

 

Gruß

 

Klaus

4.7.1991

 

Lieber Frank,

 

dieser Brief ist eigentlich noch nicht beendet. Ich hatte die Absicht, noch einige andere Themen anzuschneiden. Vor allem wollte ich Deine letzten beiden Briefe beantworten. Aber der nächste Urlaub steht schon wieder vor der Tür und ich will Dich nicht länger warten lassen. Also geht der Brief jetzt unvollständig ab. So ganz kurz ist er ja nicht geworden. Der Rest folgt. Jetzt geht’s ab nach Italien. .

 

 


Darmstadt, den 11.09.91

 

Lieber Klaus!

 

Vor drei Monaten hatte ich gehofft, hier in Darmstadt ausreichend Zeit und Muße für viele viele Briefe zu finden. Wie man leicht sieht, knappt es mir zZt. noch an beidem, aber ein Anfang soll nun gemacht werden.

Zunächst zu Deinem Brief vom 10.06.: Es war hochinteressant zu lesen, wie ein (Bau-)Kulturbegeisterter seine Passion soweit in den Mittelpunkt stellt, daß er schließlich leichtfüßig die Völker nach dem Zustand ihrer Fassaden beurteilt. Dies soll nicht unwidersprochen bleiben, zumal Du dabei die alte „DDR“ (man beachte die H’schen Anführungszeichen!) gleich noch zum „größten sozialistischen Sauhaufen“ und absoluten Schlußlicht der Weltkultur stempelst und verwundert fragst, „auf Grund welcher Einstellung… mitteleuropäische Menschen eine dermaßen verrottete Umgebung akzeptieren.“

 

Ich kann mich bei meiner Widerrede z.T. auf eine ähnliche Tour wie Du berufen, denn auch wir waren im Sommer in Ungarn, in Böhmen und – natürlich – im „Beitrittsgebiet“ (man beachte meine Anführungszeichen!)

 

Dabei ist zunächst festzustellen, daß Dein (oder mein?) „größter Sauhaufen“ jene Art von Sozialismus praktiziert hatte, die – seinerzeit auch vom Westen anerkannt – insgesamt noch am wenigsten schlecht funktionierte. Hinsichtlich des Baugeschehens versagte natürlich auch die DDR – wie jedes Land der Zweiten Welt auf seine Weise. Gemeinsame Ursache war fast immer der pathologische Drang zur Selbstdarstellung in Tateinheit mit ewig knappen Ressourcen.

 

Die stark zerstörte DDR begeisterte sich nach der Berliner Stalinallee, die sich bald als viel zu aufwendig erwies, für den „industriellen Wohnungsbau“ und die „Neugestaltung der Stadtzentren“, um das, was die (industriellen) „Großbauten des Sozialismus“ an Zement und Bauarbeitern noch übrigließen, zu möglichst vielen Wohn-„Einheiten“ zu machen (Der Wohnungbau kam sowieso nie über einen Anteil von 20% hinaus). Für die Erhaltung der Altsubstanz blieb so nichts mehr übrig. [11]

 

Unsere Oberen, die ohnehin arge Probleme mit dem Aufbau einer DDR-nationalen Identität hatten, (und oft auch arge Banausen waren) sahen den Verfall des „schlimmen kapitalistischen Erbes“ wohl auch nicht ungern. Wer, meinten sie in den 60er und 70er Jahren, würde noch in einem 100jährigen Bürgerhaus mit Ofen und Außenklo wohnen wollen, wenn erst genügend Silos mit „Vollkomfort“ zur Verfügung stünden, und weil sie sehr schlechte Rechner waren, unterschätzten sie außerdem Tempo und Folgen des Verfallsprozesses an der Altsubstanz so total, daß schon bald mehr einfiel als neugebaut werden konnte.

 

Im ebenfalls stark zerstörten Polen dagegen wurde von Anfang an versucht, dem Sozialismus auch eine national(istisch)e Note zu verpassen und dem alten polnischen Traum von einer nationalen Identität Rechnung zu tragen. Da liegt es denn auf der Hand, sich auf die alte polnische Kultur zu besinnen, die alle Teilungsversuche überstanden hat und entsprechende Baudenkmäler sind eben eines der augenfälligsten Mittel dies zu dokumentieren, selbst wenn sie schon vernichtet waren. Nur so ist beispielsweise zu erklären, weshalb das alte Warschauer Schloß, von dem buchstäblich kein Stein übriggeblieben war, in den 70er Jahren mit einem unverantwortlichen Aufwand wieder aufgebaut wurde, zu einem Zeitpunkt, zu dem die Wohnverhältnisse in Polen noch als verheerend beschrieben wurden. Der baupolitische Akzent wurde in Polen also auf das nationale Erbe gesetzt (Weiß der Teufel, weshalb auch die deutsche Baukultur in den neuen Gebieten ihren Teil abbekam. Vielleicht wollte man keinen „Stilbruch“ entlang der alten Grenze erzeugen.) und natürlich sieht das im Nachhinein für einen Ästheten gefälliger aus als das Stadtzentrum von Chemnitz.

 

Die (realsozialistische) Selbstdarstellung war dennoch auch hier das Hauptmotiv, aber wen interessiert schon beim Anblick der Pyramiden, daß die Leute seinerzeit in Reisighütten hausten, weil der Pharao alle Steine für sein Grab – und die begeisterte Nachwelt – in Anspruch nahm.

 

Die vom Kriege unzerstörte CSFR machte auf mich übrigens einen geradezu erschreckend verkommenen Eindruck. Die Städte im Sudetenland waren nach der Vertreibung noch nie ein schöner Anblick gewesen, aber auch im klassischen Böhmen hat der Verfall gerade in den letzten Jahren offensichtlich lawinenartig zugenommen. Auf der Strecke zwischen Budweis, Pilsen und dem Erzgebirge ist kaum ein wirklich gut erhaltenes Gebäude zu sehen.

 

Selbstverständlich sind viele Orte malerisch gelegen, die Marktplätze reizvoll angelegt usw. Aber dies alles sind nur die traurigen Reste einer längst vergangenen Blütezeit und mit dem mangelbedingten Verfall mußte sich eben die Böhmische Einwohnerschaft, zunächst genauso abfinden wie die „mitteleuropäischen Menschen“ bei uns und vor zwei Jahren haben sie ihr Grundproblem schließlich genauso gelöst wie wir. Leider haben sie unvergleichlich schlechtere Startbedingungen. Zum einen hilft ihnen kein großer Westonkel und zum anderen waren die Rudimente des Kapitalismus in der alten CSSR wesentlich gründlicher ausgemerzt als bei uns. Einen privatwirtschaftlichen Sektor, wie er in der DDR vor allem im Handel und Dienstleistungsgewerbe auch nach der Zerschlagung der mittelständischen Betriebe [12] [13] noch in großem Umfang bestand, gab es dort praktisch nicht mehr (weshalb die CSR in den 60er Jahren stolz das zweite „S“ in ihren Staatsnamen einfügte) und die Privatinitiative entwickelt sich augenscheinlich auch nach der tschechischen Wende nur sehr langsam und mühevoll, da es kaum Strukturen gibt, an die man unmittelbar anknüpfen kann. Ganz im Gegensatz dazu die von Dir inzwischen zu „Fellachen“ degradierten Ungarn, deren Gulaschkommunismus in Tateinheit mit einer schon immer glücklicheren Finanzpolitik da ein ganz anderes Vorfeld für den Sprung in die – zugegeben: arme – Marktwirtschaft bietet. Folgerichtig ist das – wieder zugegeben: im Vergleich zum inzwischen gesamtdeutschen dürftige – Angebot in Ungarn unvergleichlich besser als in der CSFR und weil es in Ungarn schon seit Jahrzehnten Steine, Zement und Badewannen frei zu kaufen gab, sind wenigstens die privaten Häuser dort insgesamt besser in Schuß.

 

Ürigens horten die Ungarn ihre „chaotische Sammlung von absolut allem“ wohl weniger wegen der „Mangelwirtschaft“ als wegen der Armut, die es (wie die Mangelwirtschaft) einfach verbietet, Dinge wegzuwerfen, die irgendwie noch zu gebrauchen sind und auch die Inflation wird kein geringes Motiv sein. Vielleicht siehst Du unter diesem Aspekt auch einmal die begeisternden „Backsteine für den Erweiterungs- oder Neubau“ in den polnischen Gärten. Im Gegensatz zum Zloty verlieren die nämlich nicht täglich an Wert, sind wetterfest und ohne LKW nur schwer zu stehlen.

 

Von einer „neuen Zeit“ im Vergleich zu 1989 haben allerdings auch wir in Ungarn tatsächlich nur wenig bemerkt (und sie auch nicht vermißt), dies ist aber m.E. mehr ein Zeichen dafür, daß im Gegensatz zum Rest des alten Ostblocks in Ungarn eine ganze Menge „neue Zeit“ schon unter der alten UVAP ausgebrochen war und die neuen Überdemokraten eben auch keine Wunder vollbringen können.

 

An sich also nichts Erstaunliches. Die (West-) Deutschen scheinen aber ulkigerweise immer größte Probleme zu haben, wenn es darum geht zu begreifen, was die eigentlichen Ursachen (zB ihres eigenen) imponierenden Wohlstandes sind. So hört man häufig, es bedürfte nur eines fleißigen Volkes und ein paar guter Ideen des „Klugen Ludwig“[14] von der Marktwirtschaft schlechthin, und alles Weitere ergäbe sich dann schon. Darüberhinaus wird gern (?) und regelmäßig vergessen, daß es etwas anderes ist, von Anfang an mit vorn dabeizusein als von ganz hinten unten aufholen zu müssen. Also staunt man denn folgerichtig immer sehr, wenn nach freien Wahlen und der Ausrufung von Demokratie und Marktwirtschaft nicht gleich überall der Wohlstand ausbricht.

 

Da Du, ein weitgereister Wirtschafts- und Rechtskundiger, der am besten weiß, daß die bürgerliche Gesellschaftsordnung (fälschlicherweise meist mit dem Begriff „Marktwirtschaft“ gleichgesetzt) genausowenig notwendig mit Wohlstand verbunden ist wie Sozialismus mit Armut, darüberhinaus bisher auch stets betont hast, was für ein kompliziertes und empfindliches Gebilde eine funktionierende Marktwirtschaft ist, wundert mich insofern Dein Wundern über das Ausbleiben einer „neuen Zeit“ (in Ungarn).

 

Zum guten Schluß (dieses Kapitels) noch ein paar Bemerkungen zum „Beitrittsgebiet“, in dem nach Deinem Eindruck das Warenangebot zwar einen „Sprung über einige Jahrzehnte“ vollführte, sich aber außer diesem „bisher noch wenig bewegt hat“.

 

Der These vom „Sprung über Jahrzehnte“ kann ich nichts abgewinnen. Bedenkt man, daß mit der Währungsunion die Finanzen Ostdeutschlands endlich und mit einem Schlag technisch (!) in Ordnung gebracht wurden (dazu etwas später noch mehr) , ein gewaltiger Nachholebedarf des Konsums bestand, und das Kapital eben stets dorthin Ware pumpt, wo sich Geschäfte machen lassen, war die Bereitstellung des hübschen Angebotes ein recht normaler Prozeß. (Nichts desto trotz genießen wir es.) Organisiert wurde dies mit deutscher Gründlichkeit und so konnte der Effekt – von einigen Querelen abgesehen, die man aber wirklich der Größe der Aufgabe zugestehen muß – kaum ausbleiben. An dem Tage, an dem man den Kubanern ihren Lohn in Dollars zahlt und die US-Großhandelsketten ins Land läßt, wird auch auf der armen Zuckerinsel ein ähnliches Angebot herrschen (vielleicht nicht ganz so schnell, wegen der fehlenden deutschen Gründlichkeit), aber die Kubaner werden damit keinen Deut reicher sein, nur glücklicher. (Wie wir.)

 

Imponierend für mich ist im Zusammenhang mit der Währungsunion weniger das entstandene Angebot als die finanztechnische Abwicklung und der politische Mut, sich auf dieses Abenteuer überhaupt einzulassen (wahrscheinlich muß man hier wieder unseren Bundeskanzler hervorheben).

 

Ein Abenteuer war es m.E. vor allem deshalb, weil kaum verläßliche Daten über die Wirtschafts- und Finanzsituation der DDR vorhanden waren, anhand derer man vorab exakte Berechnungen hätte anstellen können. Natürlich hat man deshalb versucht, das ganze soweit möglich auf der sicheren Seite anzusiedeln und so ist wohl der 2:1-Kurs entstanden. (Wenn auch viele im Westen das bis heute nicht wahrhaben wollen) Von der Finanzseite her hätte er – zumindest bei den privaten Guthaben – wahrscheinlich noch etwas zugunsten der Ossi-Konten verschoben werden können, denn es hat (im Zusammenhang mit der Währungsunion, wohlgemerkt!) kaum negativen Auswirkungen auf die DM gegeben. Die ‚zig Millionen umgestellter Privatkonten haben die Inflation jedenfalls nicht angeheizt oder sonstwie an der DM-Stabilität gekratzt.

 

Das ist insofern auch nicht verwunderlich, da es in der DDR kaum jemandem gelungen war, so etwas wie „Vermögensbildung“ im westlichen Sinne zustande zu bringen. Der im vorigen Jahr häufig zitierte Vergleich zwischen Ost- und West-Sparkonten hinkt denn auch ganz gewaltig, da er vom Bausparvertrag über Kapitalbildende Lebensversicherungen bis hin zu Aktien und Investmentanteilen alle wesentlichen West-Anlagen außer Betracht ließ, während er das Ost-„Vermögen“ fast komplett dagegensetzte, da es bei uns außer den 3,25%-Sparbüchern praktisch keinerlei Geldanlagen gab. Umgekehrt gab es außer (sehr zinsgünstigen) Krediten für Häuslebauer (die i.a. aber unter 50.000 Ost-Mark lagen) und einem (zinslosen) Kredit für einkommensschwache junge Ehen (7.000 M) auch keine privaten Verbindlichkeiten, so daß selbst von der Halbierung der „Schulden“ nur sehr wenige profitierten. Im Grunde starteten die meisten Familien bei uns am 01.07.90 mit einer Art „Einheits-Standard-Vermögen“ (ich schätze pro Kopf im Mittel deutlich unter 5000,-DM), das meist für den Kauf eines Gebrauchtwagens aufgebraucht wurde.

 

Im Verhältnis zu den jetzt laufenden Einnahmen/Ausgaben sind die damals umgestellten Privatkonten finanztechnisch jedenfalls fast ohne Bedeutung.

 

Ganz anders sieht es natürlich mit der wirtschaftlichen Gesamtmisere im Osten aus, die aber nicht wegen der Währungs-, sondern vor allem wegen der Wirtschafts- und Sozial- und natürlich der politischen Union über die Staatsverschuldung auf die DM drückt. Auch die für einige Betriebs- und andere nichtprivate Konten tatsächlich unzweckmäßige 2:1-Umstellung (hier wäre wegen der realen DDR-Devisenerlöse oft 4:1 oder gar 5:1 angebrachter gewesen) und die pauschale Halbierung der Schulden (hier hätte man wegen der starken Bevorteilung der Häuslebauer auch im privaten Bereich differenzieren müssen) wirken sich da natürlich aus.

 

Einigermaßen unverständlich ist auch das lange Zögern beim Angleich der letzten beiden heiligen Ostkühe: Mieten und Nahverkehr. Hier hätten die Kommunen bis heute viele Milliarden mehr einnehmen bzw. weniger ausgeben können. Inzwischen sind sie aber geschlachtet (die Kühe, nicht die Kommunen), die S-Bahn kostet auch im Osten endlich 1,80 DM und ab 1.10. bezahlen wir für unsere 80qm schlappe 500,-DM mehr. Damit ist die Angleichung des Angebotes tatsächlich fast vollzogen.

 

Bleibt die Angleichung der Einkommen (oder wenigstens des Lohnniveaus), unser alter Streitpunkt, der selbstverständlich an dieser Stelle nicht unerwähnt bleiben soll. Das Arbeitseinkommen liegt – wie erwartet – im Mittel noch unter 50% des Westpegels, was selbst das Handelsblatt (Ausschnitt anbei) feststellt, dem man bestimmt nicht nachsagen kann, daß es die Lohnkosten herunterspielen würde. Für einen Anhänger der Marxschen Mehrwert-Theorie nicht erstaunlich, zeigt sich praktisch überall, daß der Ossi-Traum vom 2/3-Einkommen erstmal nur ein Traum bleibt, ganz zu schweigen von 3/3. Das Kapital kommt damit erstmal nicht schlecht zurecht, denn das zweifellos erhebliche Ost/West-Produktivitätsgefälle, von dem so viel geredet wird, ist ja ein Mittelwert, der zZt. dadurch charakterisiert ist, daß die besonders unproduktiven Bereiche noch gar nicht privatisiert sind, die zur Leistung verhältnismäßig hohen Lohnkosten dort also dem Staat bzw. dem Steuerzahler am Hals hängen, während die bessergestellten – und schon oder demnächst privatisierten – Bereiche mit ihren verhältnismäßig geringen Lohnkosten dem Kapital einen schönen Extraprofit einfahren.

 

Eine gewaltige Umverteilung wie aus dem Marxschen Bilderbuch! Und irgendwo mittendrin strampelt der Ossi und traut sich nicht mehr zum Arzt. Womit wir beim „wenig bewegen“ wären.

 

Auch wenn Du primär dabei das ostdeutsche Baugeschehen im Auge hattest, war es, so denke ich, auch hier wieder für Dich Symptom einer allgemeinen Situation. Und so möchte ich an dieser Stelle einen etwas weiteren Bogen spannen und zunächst auf das verweisen, was ich schon vor einigen Monaten geschrieben habe:

 

Wer in irgendeiner Weise motiviert ist, positiv mit Gewinnaussicht oder meinetwegen auch negativ mit Angst um seinen Arbeitsplatz, der bewegt sich hier inzwischen schon ganz schön, vorausgesetzt, er hat das Gefühl, wirklich aktiv Einfluß nehmen zu können, und nicht nur Spielball zu sein. Bei diesem Problem liegt denn auch nach wie vor der Hase im Pfeffer, aber der Trend ist inzwischen doch schon recht eindeutig zu „mehr Bewegung“.

 

Natürlich verläuft dieser Prozeß oft schleppend und fast immer schmerzhaft für die Beteiligten (im Osten). Aber wer hat denn wirklich etwas anderes erwartet? Immerhin erleben wir hier – gewollt oder ungewollt – eines der größten politischen und Wirtschaftsexperimente der Weltgeschichte und wenn man bedenkt, daß per dato für den Osten Deutschlands erst 14 mal 30 Tage Währungsunion und 11 mal 30 Tage Bundesrepublik zu Buche stehen, läuft es doch gar nicht so schlecht. Ein ganzes Volk muß in neuem Wasser auf neue Art schwimmen lernen (Leider sind schon etliche abgesoffen[15]

 

(Fast) sämtliche Wertvorstellungen sind schlagartig verändert, alte Rechte (und Privilegien) verlorengegangen, neue zwar hinzugewonnen, aber oft nicht bekannt, alte Erfahrungen und Talente sind von einem Tag auf den anderen nutzlos, neue Erfahrungen werden pausenlos gemacht (viele davon unfreiwillig), neue Talente werden entdeckt (manchmal auch schon genutzt) usw.

 

Der Druck auf den Einzelnen, die Familie, die alten und neuen „Kollektive“ in allen Bereichen ist pausenlos und allgegenwärtig. Damit sind Adaptionsprozesse verbunden, die in ihrem Umfang und ihrer Komplexität praktisch beispiellos sind und ich glaube fest, wenn dies überhaupt zu bewältigen ist, dann wirklich nur durch die Ossis. Meine Erfahrungen besonders in den letzten 3 Monaten hier im Westen besagen, daß – mit Verlaub – die Masse der Altbundesbürger an einer solchen Belastung sehr schnell scheitern würde. (Seien wir alle also froh, daß nicht im Westen der Real Existierende ausgebrochen ist, sondern, daß es umgekehrt kam.)

 

Soweit meine doch recht ausgeuferte Antwort auf Deinen Brief. Zum Schluß nur noch ein kurzer Anriß des Themas SU:

 

Der gescheiterte Putsch – und besonders wie er gescheitert ist – bestätigt m.E. eindrucksvoll, daß die Karte Gorbatschow nicht mehr sticht. Mit Ausnahme der beiden Metropolen, wo einige tausend kaum als Anhänger Gorbatschows, sondern vielmehr als Anhänger ihrer (durch den Putsch ebenfalls gefährdeten, aber zu Gorbatschow in Opposition stehenden) lokalen Größen aufgetreten sind, hat niemand in dem großen Land für die – als Reform des Kommunismus – gescheiterte Perestroika einen Finger krumm gemacht, und es kann nicht deutlich genug gesagt werden: Die Menschen waren (und sind!) trotz der 6 Jahre Glasnost derzeit offenbar bereit, ein Regime altstalinistischer Prägung zu akzeptieren. Wären die Putschisten nicht derartig stümperhaft und ohne die simpelsten Regeln der Leninschen „revolutions-“ (oder besser: Putsch-) Theorie zu beachten, vorgegangen, hätten wir (ja, wirklich: wir) dieses Regime jetzt.

 

Dies bedeutet, daß im Grunde in der SU gegenwärtig die Macht auf der Straße liegt und auf den, oder besser: die, wartet, die sie aufheben. Aber da ist kaum jemand von Format, der die Gewähr dafür böte, sie vernünftig zu gebrauchen. Jelzin hat sich (endgültig?) als erfolgreicher Volkstribun und unfähiger – oder unwilliger – Diplomat gezeigt, und sein Einfluß geht offenbar auch nur soweit wie seine Stimme vom Panzer herab reicht. Weiter weg hat er – auch in seiner Republik Rußland – umsonst zum Streik aufgerufen. Als Partner kann er trotz seines unzweifelhaften Popularitätssprunges hier und zu Hause darum dem Westen kaum willkommen sein, wo man denn mehrheitlich auch weiter auf Gorbatschow setzt, der außenpolitisch immer seriös und berechenbar war. Aber ich habe mehr Zweifel denn je, ob man damit noch gut beraten ist. Die SU zerfällt in Windeseile, eine Integrationsfigur a la Gorbatschow ist eigentlich überflüssig und man wird gut daran tun, sich auf mindestens soviele Partner einzustellen wie es Republiken gibt.

 

Das Primärproblem sehe ich für die nahe Zukunft in dem entstehenden Machtvakuum. Wenn es weiterhin keinen Diktator für die SU als ganzes (unwahrscheinlich) oder in dieser oder jener Republik gibt (recht wahrscheinlich), kann man davon ausgehen, daß in den verbleibenden am Anfang noch halbwegs demokratischen Rahmen einiger Republiken kaum mehr als ein wirres Mosaik der verschiedensten politischen Farben und Schattierungen zu besichtigen sein wird: Zaristen, Kommunisten, Sozialrevolutionäre, Volksfreunde, Faschisten, Nationalisten, Anarchisten… Jeder wird versuchen, die Gunst der Stunde zu nutzen, und keinem wird es gelingen, und also kann es wieder nur teuer werden, in jedem Sinne und für alle Beteiligten und Unbeteiligten.

 

 

Das soll es für heute gewesen sein. Ich warte geduldig auf Deinen im Juni versprochenen Brief

 

Dein Frank

 

 

PS: Hinsichtlich unseres Projektes, den bisherigen Briefwechsel in eine neue Form zu gießen, bin ich leider (noch) ein Opfer des technischen Fortschritts. Alle diese schönen modernen Computer, die mir jetzt zur Verfügung stehen, (und auf denen ich zB auch diesen Brief schreibe) sind nämlich nicht in der Lage, meine alten Ost-Computer-files zu lesen. Obwohl das Problem natürlich auch einen ganzen Sack dienstlichen (Ost-) Schriftgutes betrifft, nimmt sich bisher hier niemand der Sache so richtig an. Hardware und know-how müßten zwar vorhanden sein, aber wahrscheinlich kann sich niemand vorstellen, daß aus der alten DDR-Zeit noch irgendetwas benötigt wird.

 

In Berlin gibt es aber einen Bekannten, der behauptet, ein entsprechendes Adaptierungsprogramm zu besitzen. Sobald ich im Frühjahr wieder (werktags) dort bin, starte ich einen neuen Versuch. Bis dahin mußt Du auf meine Mitarbeit bei dem Geschäft erstmal verzichten.

 

Alles was jetzt entsteht paßt ohnehin in das besprochene Schema, denn wie es aussieht wird der Takt unserer Korrespondenz so sein, daß sich keine Post mehr überschneidet.


[1] Die Tatsache, dass ich nun selbst von diesem merkwürdigen Phänomen des Uninformiertseins trotz reichlicher Information (vgl meinen Brief vom 16.1.1990 mit den entsprechenden Bemerkungen Berghofers) betroffen bin, hat mein Verständnis dafür deutlich erhöht.

[2] Wenn meine Bedürfnisse trotzdem befriedigt wurden, so liegt dies an meiner dekadenten Bescheidenheit. Schon bei unserer letztjährigen Ostreise, als es in der DDR noch Ostwaren gab, war eines meiner erfreulichsten Reisemitbringsel ein paar (mit „Behelfsettiketten“ !? versehene) Gläser Stachelbeeren. Solche Erzeugnisse östlicher Einmachkultur sind in Ungarn noch zu haben und so habe ich mir zur Freunde meiner späten Abendstunden Stachelbeeren aus Ungarn mitgebracht.

[3] Wirklich ins Auge stach allerdings das umgestellte Warenangebot. Die Veränderung dieses einen Jahres gleicht einem Sprung über einige Jahrzehnte und ist wahrhaft verblüffend.

[4] In dieser Hinsicht hat freilich auch die alte Bundesrepublik Einiges zu bieten.

[5] Leider ist bei uns die Hoffnung auf eine solche (bau)pysikalische Lösung weniger berechtigt – man hat einfach zu „gut“ gebaut.

[6] Wenn ich „DDR“ schreibe, meine ich Zustände, die noch auf die DDR zurückzuführen sind. In diesem Zusammenhang eignen sich die meisten der üblich gewordenen Umschreibungen für das „Beitrittsgebiet“ nicht. Denn sie beziehen sich auf ein Land, das nicht mehr die DDR ist, haben andererseits aber auch mit den „neuen Bundesländern“ nicht viel und mit Deutschland hoffentlich gar nichts zu tun.

[7] Überhaupt ist der neue Nationalismus aus der DDR höchst unnötig. Es werden damit wieder Gespenster frei, die man hier – einige Spinner abgezogen – eingentlich für tot gehalten hat. Es gibt hier nicht wenige Leute, die den in Jahrzehnten mühsam wiederherstellten deutschen Ruf gefährdet sehen. Man hört, erstmals seit langer Zeit müsse man sich wieder schämen, ein Deutscher zu sein.

[8] Wenn ich mal eine vom Namen her kannte, wie Königgrätz, dann war mir jedenfalls völlig unklar, dass sie sich hier befindet.

[9] Übrigens hat sich auch hier bestätigt, dass die DDR das heruntergekommste Land im näheren Umkreis ist.

[10] Ihre wahrhaft erstaunlichen Briefe, die dem linken Klischee von einem barocken Monarchen so sehr widersprechen, habe ich sinnigerweise in Krakau gekauft.

[11] Nochmal eine Bemerkung zur „Akzeptanz einer verrotteten Umgebung“: Hier spricht der Wessi aus jeder Silbe, der sich einfach nicht vorstellen kann, was es tatsächlich bedeutet (hat), etwas wirklich nicht zu bekommen, es nirgends und um keinen Preis kaufen, es nicht einmal erbetteln zu können.

Was man den Ossis kaum absprechen kann, ist ihr ungeheures Talent zur Improvisation (was ich einigen im Westen sehr wünschte). Was da aus feuchten Kiefernbrettern – ohne Black&Decker statt dessen mit dem guten alten Fuchsschwanz – gezaubert wurde (IN den Häusern), ist, denke ich, schon recht imponierend, aber beim Ziegel- und Zementbrennen, beim Balkenschneiden, bei der Herstellung von Wasserrohren und Elektrokabeln, Glasscheiben, Dachrinnen, Fensterrahmen, Treppen, Beschlägen, Gerüsten,… (ich breche hier aus Papiermangel ab) endet eben die Kunst des Heimwerkers. Auch die des polnischen oder böhmischen übrigens und selbst Deine häuslebauenden Schwaben würden beim Angebot der DDR-Baustoff“versorgung“ ganz schön alt aussehen, zumal wenn die Häusle nicht ihnen gehörten, sondern irgendeiner volkseigenen KWV (Kommunale Wohnungsverwaltung).Die einzige Lösung für das Problem war, die Regierung davonzujagen. Und das wurde denn ja auch getan und niemand soll behaupten, er hätte es eher zustande gebracht.

[12] ^Anfang der 70er sind alle größeren Privat- oder „halbstaatlichen“ (KG mit staatlicher Beteiligung) Betriebe dem Staat „zum Kauf angeboten“ worden, darunter weltbekannte Firmen wie Zeuke (Modellbahnen), viele sächsische und thüringer Textilbuden, uva. Die alten Inhaber – oder auch mal der eine oder andere Sohn – wurden i.a. als Betriebsleiter weiterbeschäftigt, waren aber mit den Konditionen unzufrieden, denn erstens fiel der Kaufpreis relativ niedrig aus, da sie oft wegen der Steuer den Buchwert der Anlagen ein wenig nach unten frisiert hatten und zweitens kam der größte Happen in der Regel auf ein Sperrkonto und stand ihnen nur in Raten zur Verfügung, damit sie nicht übermütig werden (und noch mehr an der dünnen Warendecke ziehen). – mehr nächste Seite

[13] Die 4 Blockflöten, die inzwischen komplett in der Kohl-CDU oder der FDP aufgegangen sind, und sich heute als die größten stasiverfolgten Widerstandskämpfer gebärden, haben seinerzeit übrigens eine besonders miese Rolle gespielt. Honecker und die seinen hatten es nämlich für zweckmäßig erachtet, die Initiative für die „Kaufangebote“ von den Betroffenen selbst ausgehen zu lassen und da diese meist in irgendeiner Blockpartei organisiert waren, wurden sie von ihren eigenen Parteifreunden auftragsgemäß und ohne großes Sträuben unter Druck gesetzt.

[14] Vielleicht ist es bei Euch schon bekannt: Dieser „K.L“ ist eine Zeichentrickfigur (L.Erhardt, mit Dackel), mit der im vorigen Jahr den Ossis (dem Dackel also) per TV die Grundbegriffe der Marktwirtschaft beigebracht werden sollten. Sicher gut gemeint, aber es gab Bedenken, ob diese Machart nicht sogar für uns zu primitiv sei, und so ist uns der Quatsch (?, ich kenne nur Zeitungsberichte darüber) erspart geblieben.

[15] Ich meine dies ohne jeden Zynismus: Etliche gehen nun in dieser neuen Welt unter, viele trifft es hart und unverschuldet, aber die Alternative, wenn denn wirklich noch eine bestanden hat, hätte ebenso ihre Opfer erfordert, sicher meist andere, aber kaum weniger.

Briefe aus der Wendezeit – Teil 9

Berlin angefangen am 23.01.91 und dann oft und lange unterbrochen (aber Du bist in letzter Zeit ja auch nicht mehr mit dem Schreibelan der Revolutionszeit versehen)

 

Lieber Klaus!

 

It’s Saurier-time. Der jüngste Golfkrieg ist nun eine Woche alt und macht, daß man die deutschen Probleme wieder deutlich als das erkennt, was sie sind: Harmlos – zum Glück! Bei uns geht’s nicht ans Leben, nur ein wenig ans Portemonnaie. Und ans ach so empfindliche (deutsche) Gemüt,   natürlich.

 

Die Medien bieten rund um die Uhr ein erschöpfendes Gemisch von fast allem, was sich im Zusammenhang mit diesem (nicht erklärten) Krieg sagen und zeigen läßt und so könnte ich mir eigentlich die Mühe sparen, noch originelle eigene Wertungen und Ansichten zu entwickeln. Dennoch kommt mir ein Aspekt – insbesondere in den Medien West – entschieden zu kurz, wahrscheinlich liegt es daran, daß sich die (westliche) Welt schon in erschreckendem Maße daran gewöhnt hat:

 

Was als „Sadam Hussein gegen Freiheit und Demokratie“ (oder umgekehrt) begonnen hatte, ist nun ein Fall „USA/Irak“ geworden und bringt damit eine im Grunde gerechte Sache bei den Völkern der 3. Welt unnötig in Mißkredit. Wieder einmal posieren die USA in ihrer angemaßten Rolle als Gralshüter aller Werte der Zivilisation und Europa tut so, als müßte das so sein, hat sich ein sinn- weil chancenloses Ultimatum aufschwatzen lassen und kratzt nun maulend die Groschen zusammen, um den Irrsinn zu bezahlen. Einzig ein paar tausend Pazifisten treten dagegen auf, mit untauglichen apeacement-Flausen, die noch nie einen Diktator gebremst haben – genausowenig wie Bombenteppiche.

 

Wahrscheinlich hat es sich noch nicht ausreichend herumgesprochen, daß jeder, der gegen eine Großmacht antritt, den Nymbus des Märtyrers im Tornister trägt, und gerade deshalb die Großen dieser Welt allen Grund haben, übervorsichtig zu agieren. Auch die Deutschen haben allen Grund dazu. Man nimmt uns noch immer gern übel, was dem Rest der Welt ohne weiteres erlaubt ist, und damit müssen wir wohl noch eine Weile (?) leben[1].

 

Dabei wäre alles ganz einfach: Keine Waffenexporte in die Dritte Welt, und die Kriege dort fänden mit dem Krummsäbel statt…  Aber dazu ist nun wirklich an anderer Stelle schon alles gesagt worden (mit Ausnahme der Antwort auf die Frage, womit der Norden dann sein Öl bezahlen soll. Aber die Japaner schaffen das ja auch irgendwie).

 

Immer wenn die Diktatoren dieser Welt zuschlagen, stehen die Demokraten mehr (falls) oder weniger (falls nicht) ergriffen (betroffen) dabei und staunen. Viele werden sich ihrer Ohnmacht wieder einmal so richtig bewußt und beten, andere wünschen sich sehr heftig einen eigenen Diktator (möglichst einen, den man auch wieder abwählen kann) und allen gemeinsam ist das Empfinden, vor einem Phänomen zu stehen.

 

Offenbar fällt es nach einer langen Phase der Demokratie ungeheuer schwer, sich wirklich in die Mechanismen einer Diktatur hineinzudenken. (Ich bin da ausgesprochen im Vorteil) Das gefährlichste dabei ist diese sagenhaft dumme Überzeugung, das demokratische Politsystem wäre eine Art Belohnung für kluge und fleißige Völker und die anderen wären wohl irgendwie immer auch selbst schuld an ihrer Unterdrückung. Nun ist da leider auf den ersten flüchtigen Blick oft auch etwas dran und in nullter Näherung (und über lange Zeit gesehen) hat wohl tatsächlich „jedes Volk die Regierung, die es verdient“. Nur gibt es ein ungeheuer breites Spektrum zwischen dem aktiven Installieren oder Erleiden, dem Abfinden bzw. (Er)dulden und dem Abschütteln eines Zwangsregimes. Hier scheint mir der Knackpunkt des Irrtums zu liegen, in den all jene nur allzu gern verfallen, die von vornherein davon verschont wurden.

 

(Ich habe vor einigen Jahren im Fernsehen ein Interview mit US-amerikanischen Oberschülern gesehen, die vor der Berliner Mauer standen und alle Eide schworen, in den USA würde jede Regierung selbstverständlich sofort aus dem Amt gejagt, die so etwas bauen würde… Heilige Einfalt!)

 

Eine gehörige Portion dieser Ansicht kommt besonders jetzt immer mal wieder mit ‚RÜBER. Dabei ist gerade ein geteiltes Volk das in verschiedenen Systemen lebt(e) der beste Gegenbeweis, es sei denn, man unterstellt, daß ausgerechnet die Mentalität von Thüringern und Sachsen einem autoritären System mehr Vorschub leistet als die von Bayern und Rheinländern (die im übrigen wenige Jahre zuvor ihrem Adolf auch nicht gerade verhalten zugetan waren), oder daß in Vietnam und Korea irgendein willkürlich festgelegter Breitengrad in wunderbarer Weise die Völker dort in „demokratiefähige“ und „diktaturempfängliche“ trennt.

 

Bleibt dennoch die Frage, ob es irgendetwas gibt, das die These, mit Völkern könne man eben alles machen, in Frage stellt? Ich für meinen Teil fürchte: Nein. So jammerschade es auch sein mag. Einzige Hoffnung ist vielleicht, daß die Geschichte immer wieder gezeigt hat, daß stets alle Diktaturen früher oder später irgendwie „abgewirtschaftet“ hatten bzw. am eigenen Größenwahn erstickt sind. Aber dabei ging natürlich auch immer wieder nicht nur ein System vor die Hunde, sondern Völker und Volkswirtschaften gleich mit. Dieser zwanghafte Hang, sich in kritischen Situationen unter die Fittiche einer starken Autorität zu flüchten ist jedenfalls nicht totzukriegen. Und gerechterweise muß man zugeben, daß es zum einen immer auch durchaus eine ganze Reihe Argumente dafür gibt, und daß zum anderen das diktatorische Grundprinzip die damit verbundenen Hoffnungen der Diktierten oft auch erfüllt hat. Es gibt halt immer wieder Zeiten, in denen eine straffe Hand als das kleinere Übel erscheint – gegenüber endlosem Parteienpalaver.

 

Übrigens scheint mir das autoritäre Prinzip keinesfalls scharf abgegrenzt gegenüber dem demokratischen. In den meisten Fällen wird ja auf demokratische Weise eine Art „Diktatur auf Zeit“ gewählt, auf deren konkrete Politik der eigentliche „Souverän“ dann kaum noch Einfluß hat (jedenfalls nicht, solange die nächsten Wahlen noch in weiter Ferne sind). Daher wohl auch immer wieder die (wie in Deutschland) ursprünglich sogar gewählten Diktatoren, denn längst nicht alle haben sich ja an die Macht putschen müssen.

 

Aber zurück zur „Diktatur auf Zeit“: Imponierend für mich in diesem Sinne die Briten. Sie haben in kritischer Zeit einen Winston Churchill auf den Schild gehoben, sich jahrelang seinem eisernen Willen untergeordnet – und nach dem Sieg bar irgendwelcher sentimentalen Dankbarkeitsgefühle keine Sekunde gezögert, ihn wieder in die Reihe zu stellen (und er hat sich da auch widerspruchslos wieder hinstellen lassen). Ein großes Volk, das die hohe Schule der Demokratie schon lange und souverän praktiziert!

 

In einem Präsidialsystem, in dem einem einzelnen Mann bewußt eine ungeheure Machtfülle anvertraut wird, wiederholt sich m.E. dieses Prinzip leider auch außerhalb kritischer Zeiten. Die USA sind da ein sehr anschauliches Beispiel. Was unterscheidet – bis auf die begrenzte Amtszeit natürlich – einen US-amerikanischen Präsidenten von einem europäischen Monarchen der Jahrhundertwende? Die Parallelen gehen bis zu den Lächerlichkeiten der Etikette. Wenn in Washington irgendein Lakai ausruft:

 

„Ladies and Gentlemen – the president of the United States!“, kann ich keinen rechten Unterschied zu „Meine Damen und Herren – seine Majestät, der Kaiser!“ erkennen. Die „first lady“ und der Vizepräsident sind so überflüssige Figuren wie Kaiserin und Kronprinz usw.

 

Da lobe ich mir doch die „richtigen“ Herrscherhäuser. Das Volk hat seinen Spaß und seine Tradition und hier und da rettet auch mal ein König wie Juan Carlos die Demokratie…

 

Aber zurück zu den Diktatoren. Ich fürchte sie sind integraler Bestandteil der menschlichen Zivilisation, denn sie sind ebenso alt. (Du wirst mit Deiner ordentlichen humanistischen Bildung sicher bessere Beispiele zusammenbringen, als ich mit meiner polytechnischen von Margots Gnaden. Ich versage mir deshalb an dieser Stelle den Versuch, in die Antike auszuschweifen.)

 

Offenbar gibt es etwas in unseren äffischen Verhaltensmustern, das uns nie so richtig von dem Drang nach Unterordnung unter einen Leitaffen frei werden läßt. Spätestens wenn die Bananen knapp werden, keimt in uns der Wunsch nach einem Obergorilla, der uns zu neuen Stauden führt.

 

Für mich ist diese Problematik nur wenig faßbar (trotz oder gerade wegen der eigenen unmittelbaren Erfahrung) und mir ist auch noch nichts wirklich wissenschaftliches in die Hände gekommen, das über die Beschreibung der Merkmale hinaus eine brauchbare Analyse liefert. (Vielleicht kannst Du mir etwas empfehlen?)

 

Apropos empfehlen: Ich habe jetzt die Bücher „Der Sturz“ (Honecker-Interviews ’90) und „Denk‘ ich an Deutschland“ beim Wickel. Mit dem „Sturz“ bin ich fertig und ich kann ihn nur empfehlen. Redaktionell ist das Buch zwar von einer wirklich beispiellosen Stümperhaftigkeit – ein Laie und ein Amateur interviewen da offenbar ohne klares Konzept und teilweise deutlich unter dem Niveau von Schülerzeitungsredakteuren, aber vielleicht waren sie durch diese Art journalistischer Harmlosigkeit für die Honeckers überhaupt erst akzeptabel. Wie und was der Mann (und seine Frau) da aber an Plattheiten zusammenstottern, ist schon irgendwie lesens- auf alle Fälle aber für die Enkel aufbewahrenswert.

 

Besonders pikant die Tatsache, daß sich die „wissenschaftliche Weltanschauung“ des Ehepaar Honecker offenbar in zwei, drei Floskeln aus der Sekundärliteratur erschöpft. Ich hatte schon immer das Gefühl, daß die Mehrzahl der Politbüromitglieder mit dem „Kapital“ von Marx gründlich überfordert gewesen wäre (und sich deshalb gar nicht erst damit befaßt hat).

 

Zum guten Schluß noch ein paar postspezifische und damit persönliche News. Die Bundespost ist in diesen Tagen gerade dabei, die ehemaligen Stasi-Leute fristlos zu entlassen. Nach der Auflösung des „Amtes für nationale Sicherheit“ vor einem Jahr hatte die Modrow-Regierung viele von ihnen – genau wie die Mitarbeiter aufgelöster Ministerien u.a. – im Öffentlichen Dienst untergebracht. Dort waren jahrzehntelang viele Stellen unbesetzt geblieben, Arbeit gab es in den Postämtern genug (bis heute), und es waren schließlich nicht die faulsten und dümmsten bei Mielke gewesen. Außerdem hatten sie eine hervorragende Disziplin und muckten nicht.

 

Jetzt wird also wieder Platz und ich überlege, ob es nicht sinnvoll ist, sich mit irgendeinem Posten in einem Briefverteilamt zu bescheiden, anstatt auf die „große Chance“ zu warten. Unsere Bude macht spätestens Ende ’92 zu… Allerdings bin ich nach einem halben Jahr Marktwirtschaft und trotz der Perspektive einer Arbeitslosenrate von 25% von der Wohlstandsgesellschaft doch schon so angekratzt, daß ich mich im gehobenen Dienst als zu billig verkauft empfinde[2]

 

Also habe ich mir ein Buch zugelegt („Bewerben mit Erfolg“) und daraus gelernt, daß man seine Unterlagen in Klarsichtfolien stecken muß und wie wichtig ein sympathisches Farbfoto sein kann. Mit solcherart know-how und einem neuen Anzug ausgerüstet biete ich mich auf dem Arbeitsmarkt feil, pflege ängstlich mein Selbstbewußtsein und glaube ehrlich daran, daß ich früher oder später meiner Chance begegnen werde… Ich halte Dich auf dem laufenden.

 

Schreib mal wieder, Grüße an Judy und die Kinder (auch von Paula und den Kindern)

 

Dein Frank

 


Stuttgart, 10.2.1991

 

Lieber Frank,

 

mein revolutionärer Schreibelan ist tatsächlich etwas erlahmt. Deutschland, um daß sich doch vor kurzer Zeit die Welt zu drehen schien, ist in den letzten Wochen in den Hintergrund getreten, bei mir und im allgemeinen. Erst jetzt, wo der Golfkrieg zur Routine zu werden droht, treten die immensen, wenn auch, wie Du zu Recht bemerkst, vergleichsweise bescheidenen Probleme des vereinten Landes wieder in den Vordergrund. Doch dazu später.

 

Erlahmt ist aber nicht mein Schreibelan überhaupt. Ich habe mich, einem tiefsitzendem Hang folgend, wieder einmal eher unpolitischen Dingen zugewandt. Längst hättest Du ein geschriebenes Lebenszeichen von mir bekommen, wenn ich nicht den Ehrgeiz gehabt hätte, Dir ein fertiges Manuskript zuzusenden. Aber so etwas geht – ich hätte es wissen sollen – immer länger, als geplant. Ursprünglich hatte ich mir Weihnachten als Termin gesetzt, dann aber passierte der Daten-GAU. Ich löschte versehentlich ein Drittel meines Textes in der Wunderkiste (darunter verstehe ich das Gerät, das mir jetzt so allerhand Schreibereien ermöglicht, über das ich mich aber gelegentlich nur wundern kann.) Und so kam ich terminlich vollständig ins Schleudern. Nun ist das Opus fertig und ich hoffe, daß es Dich für die lange Durststrecke etwas entschädigt.

 

Das Werkchen betrifft unsere Familienreise nach Malaysia im Jahre 1985, wenige Monate bevor ein weiser und sehr langfristig disponierender Zufall zwei Schreibenthusiasten am Plattensee zusammenführte, die sich ihre Leidenschaft nicht eingestehen wollten, wiewohl jeder sie wohl auch dem anderen zutraute. Daß ich Dir heute ein solches Reisewerk zusenden kann, hat sehr viel mit den inzwischen eingetretenen Veränderungen in Deutschland zu tun. Vor der Maueröffnung hätte ich es Dir nicht übersandt. Übrigens mußt Du dabei politisch nicht vollständig darben. Du wirst darin ein paar bekannte Problemstellungen wiederfinden, von der Ziel- und Paradiesdiskussion über den Kolonialismus bis zum Oberaffen, den Du in Deinem soeben hier eingegangenen Brief vom 23.1. erwähnst.

 

Nun aber zur Welt und Seelenlage. Wie weit sind wir heute von der Stimmung entfernt, die sich in meinem Silvesterbrief von 1989 widerspiegelt; wie weit selbst von der Stimmung, die noch zu Zeiten meines letzten Briefes herrschte. Welch‘ merkwürdige Farben hat das Bild Gorbatschows inzwischen erhalten. Die vor noch gar nicht langer Zeit verbreitet gewesene Überzeugung, unter vernünftigen Leuten lasse sich doch mehr oder weniger Alles gewaltfrei lösen – sie war eines der aufregendsten und hoffnungsvollsten „Ergebnisse“ Eurer Revolution – hat harte Prüfungen durchmachen müssen.(Ein Glück, daß ich in dem genannten Silversterbrief eine internationale Streitmacht für Hussein-Fälle vorgesehen hatte; womit ich nicht sagen will, daß ich den Zeitpunkt für ihren Einsatz gutheiße.) Geradezu aberwitzig erscheint die Tatsache, daß man ausgerechnet den Deutschen neuerdings mangelnde Kriegslust vorwirft; und daß manche unserer Politiker glauben, sich dafür schämen zu müssen und nun tausend teure Entschuldigungen dafür vorbringen, weil sie die Kriegstrommel nicht rechtzeitig geschlagen haben. Auch angesichts eines Sadam Hussein denke ich, daß es einem Volk wie dem Deutschen nicht schlecht ansteht, in Sachen Krieg „unsicher“ zu sein, selbst wenn es nicht sehr realpolitisch gedacht sein mag. (Das ändert nichts an meiner Zustimmung zu Deiner Meinung, daß die deutsche Schuld nur begrenzt vererbbar sein kann.) Es macht natürlich wenig Sinn, die mangelnde deutsche Kriegslust mit der Erfahrung von Auschwitz begründen zu wollen, wie dies jetzt gelegentlich geschieht. Denn Auschwitz hätte ohne die Bereitschaft (der damaligen Alliierten) zum Krieg kein Ende gefunden. Dennoch wäre es sehr merkwürdig, wenn die Deutschen mit dem Krieg ebenso unbefangen umgehen würden, wie diejenigen, die ihn gegen den deutschen Wahnsinn geführt (und gewonnen) haben.

 

Nach der außenpolitischen Nabelschau ist seit einigen Tagen wieder das vereinte Deutschland im Gespräch. Plötzlich und scheinbar überrascht stellt man fest, daß man beim Zusammenführen der beiden Staaten einen wahren Scherbenhaufen angerichtet hat. Dabei ist es so verwunderlich nicht. Es liegt ja nicht gerade fern, daß einer (sozialistischen) Volkswirtschaft die Luft ausgeht, wenn man ihr gleichzeitig von Osten (durch Abschneiden der Märkte) und von Westen (durch Konfrontation mit dem Weltmarkt) den Hals zudrückt. Nachdem die Ostwirtschaft jetzt bedrohlich schnauft, heißt es, die Folgen von 40 Jahren Mißwirtschaft könnten eben nicht so schnell überwunden werden. Ich fürchte aber, daß die gefährliche Atemnot zu einem erheblichen Teil die Folge einer dilettantischen Überleitungspolitik ist.

 

Man hat seinerzeit die unziemliche Eile bei der wirtschaftlichen Vereinigung (die politische steht auf einem anderen Blatt) damit begründet, nur durch schnelles Herbeiführen der doch so leistungsstarken Marktwirtschaft könne man verhindern, daß die Leute aus dem Osten weglaufen. Das Ergebnis ist, daß die Übel jetzt potenziert sind. Die Leute laufen weiterhin davon (es wird nur nicht mehr soviel gezählt) und die Ostwirtschaft kann aus eigener Kraft nicht einmal die Grundbedürfnisse befriedigen, mit der sogar die sozialistische Wirtschaftsordnung keine Probleme hatte. Die großen Lenker der Marktwirtschaft scheinen sich nicht so recht darüber im Klaren darüber gewesen zu sein, wie der Kapitalismus funktioniert. Der Niedergang des Sozialismus hat eine allgemeine Begeisterung über die Überlegenheit des Kapitalismus ausgelöst und den Glauben verbreitet, man könne das kommunistische Chaos unter Einsatz der Portokasse allein kraft der Eigendynamik der Marktwirtschaft aufräumen: Helmut als Herkules, der den DM-Strom durch den sozialistischen Saustall leitet und ihn mit einem Schlage ausmistet. Leider haben die großen Strategen dabei übersehen, daß das Funktionieren der Marktwirtschaft von einigen nicht ganz unkomplizierten Vorraussetzungen abhängt. Dazu gehören nicht nur so scheinbar banale Dinge wie Telefonverbindungen und Grundbuchämter, sondern überhaupt ein funktionierender öffentlicher Dienst. Diese Voraussetzungen sind hier so sehr zur Gewohnheit geworden, daß man nicht mehr viel darüber nachdenkt. Und so hat man nicht nur vergessen, daß sie hier erst in jahrelanger Aufbauarbeit entstanden sind, sondern auch daß sie hochentwickelt und äußerst spezialisiert sind. Und das heißt, daß sie drüben nicht einfach aus dem Boden gestampft werden können. So lange diese Vorraussetzungen aber nicht vorliegen, kann ein marktwirtschaftliches Wirtschaftsmodell bei den gegebenen Konkurrenzverhältnissen nicht arbeiten. Die Marktwirtschaft ist eben kein Naturereignis, das sich seinen Weg bricht, wenn man sie nur laufen lässt. Sie ist ein höchst artifizielles Gleichgewicht, das, wie ein Blick in die Welt zeigt, nur in besonders glücklichen Einzelfällen zufriedenstellend funktioniert.

 

So hat die überstürzte Einigungspolitik gewissermaßen die negative Quadratur des Kreises erreicht. Man hatte die Wahl zwischen einer behutsamen Rehabilitation des lungenschwachen Wirtschaftspatienten DDR (was vorrübergehend eine getrennte Führung der beiden Wirtschaftsgebiete bedeutet hätte) und einer Schocktherapie durch sofortige Einigung. Man hat die Schocktherapie gewählt, den Patienten getötet und die Zweiteilung vertieft, ohne sie zu nutzen. Deutschland ist noch lange kein einig Vaterland. Gewöhnt hat man sich an die fülligere Wetterkarte. Auch Katrin Krabbe sollte der ganzen Nation zur Verfügung stehen. Die Vorstellung, daß Lokomotive Leipzig in der Bundesliga spielt, ist schon etwas schwieriger. Die Wirtschaft aber teilt das Land, wie könnte es anders sein, in zwei klare Hälften. Hätte man die Tatsache offen akzeptiert, so wäre der Weg dafür frei geworden, den Osten kontrolliert in das neue Wirtschaftssystem zu überführen. Das hätte freilich einige Einschränkungen zur Folge gehabt, die zu fordern damals keiner den Mut hatte (meine Briefe hat ja niemand gelesen!). Wie man jetzt aus dem Schlamassel wieder herauskommt, weiß ich auch nicht. Will man den Zusammenhang von Lohnentwicklung und Produktivität erhalten, braucht man zwei Wirtschaftsgebiete. Tut man es, laufen die guten Leute in den Westen über (Beispiel: ein gewisser Postler aus Ostberlin). Andererseits kann ich mir nicht vorstellen, daß die Lösung darin liegt, die Ostlöhne alsbald auf westliches Niveau zu heben. Das hieße den Patienten an einen Tropf hängen, in dem dazu noch das falsche Medikament ist. Denn damit würde der o.g. Zusammenhang zwischen Löhnen und Produktivität, der doch eines der marktwirtschaftlichen Grundgesetze ist, aufgehoben, ganz abgesehen davon, daß ich nicht weiß, wie solche rein konsumtive Ausgaben auf Dauer finanziert werden sollen. Möglich wäre es ohnehin nur, wenn der Staat eine die Wirtschaft dominierende Rolle übernähme, die der im real existent gewesenen Sozialismus verdächtig nahe käme, mit den bekannten Folgen.

 

Dann ist da noch das Problem Berlin, das durch seine Querlage auch noch erhebliche Schmerzen im deutschen Magen erzeugt. Ich fürchte, es wird einfach ein ziemlich unsystematisches Herumkurieren geben. Wir werden wohl Gelegenheit bekommen, uns in einigen „Tugenden“ zu üben, die uns Deutschen nicht angeboren sein sollen. Sicher ist nur, daß es eine teure Angelegenheit wird.

 

Noch ein paar Worte zum Vorrang hautnaher Probleme vor hehreren Gedanken und dem daraus resultierenden Hang zur Diktatur. Den Hang der Völker hierzu will und kann ich nicht bezweifeln. Interessant erscheint mir nur die Frage, unter welchen Umständen dieser Hang zum Tragen kommt, m.a.W. was Diktaturen mehr oder weniger wahrscheinlich macht. Ohne Zweifel hängt dies nicht von Breiten- oder Längengraden ab. Der entscheidende Faktor scheint mir, ohne daß ich hemmende Institutionen verachten will, eine demokratische Tradition zu sein. Deshalb ist es für mich nicht verwunderlich, daß die Briten ihren Churchill so leicht wieder losgeworden sind. Es sind die gleichen Gründe, die es verhindert haben, daß die Schweiz niemals einen Diktator hatte. Ich fürchte, daß man an den Vereinigten Staaten als einem Hauptbeispiel für die Wichtigkeit einer solchen Tradition nicht vorbeikommt. Ich habe schon in einem früheren Brief erwähnt, in welchem Ausmaß demokratisches Gedankengut gerade die amerikanische Gesellschaft beherrscht, bis hin zu nicht gerade pragmatisch erscheinenden Regelungen wie dem demokratischen Luxus von 50 verschiedenen Rechtsordnungen. Auch die Stellung des amerikanischen Präsidenten hat nach meiner Auffassung wenig mit Diktatur zu tun. Sicher, er hat eine starke Stellung. Aber durch ein äußerst komplexes System von checks and balances ist diese Macht in das Ganze des Systems eingebunden und nach allen Seiten begrenzt. Von den tagelangen bis in die Privatsphäre gehenden Befragungen, die ein vom Präsident gewünschter Minister oder oberster Richter über sich ergehen lassen muß, können wir nur träumen. Ich verkneife mir hier, auf weitere Einzelheiten einzugehen, zumal ich nicht damit rechne, Dich brieflich überzeugen zu können. Ich mußte mich auch erst vor Ort davon überzeugen, daß Amerika nicht meinen Vorurteilen entsprach. Ich denke, Du mußt bald mal über den großen Teich, was schon deswegen zu empfehlen ist, weil Du Dir angesichts der harten DM dabei das Vergnügen leisten kannst, den Überlegenheitstraum des ehemaligen DDR-Bürgers (Dein Brief vom 13.11) gerade gegenüber dem alten Klassenfeind zu verwirklichen.

 

Gruß für heute

 

Hier noch ein paar Personalnachrichten: Vor ein paar Wochen habe auch ich meinen Job gewechselt. Mittlerweile bin ich Richter am Landgericht in Stuttgart und beschäftige mich mit Bankräubern und Rauschgiftlern, eine nicht uninteressante und nicht zuletzt weniger strapaziöse Abwechslung. Am Tag meines Amtswechsels hat sich Judi auf die andere Seite des Erdballes begeben, von wo sie, so Sadam Hussein will, in der kommenden Woche zurückkommen wird. Unter dem Vorwand, ihre Verwandtschaft in Australien zu besuchen, hat sie sich, eine alte Rechnung mit mir begleichend, u.a. eine Woche in Bali herumgetrieben (die Fortsetzung meines Malaysia-Büchleins wird sich mit meinen anschließenden Erlebnissen in Bali ohne Familie befassen, die Judi jetzt nachgeholt hat.) Und dann winkt noch die Aussicht, daß ich mich in absehbarer Zeit ein Jahr lang als Besserwissie in Sachsen betätigen könnte (entschieden ist noch nichts). Reichlich spät hat man jetzt bemerkt, daß auch die Rechtspflege dort zusammenbricht, wenn nicht alsbald Hilfe kommt. Auch das gehört in das Kapitel Überleitungsdilettantismus.

 

Das Malaysia – Manuskript bekommst Du, da ich Deinen Brötchengeber nicht unnötig mästen will, mit gesonderter Post – ein kleines Beispiel des Vorrangs der Ökonomie vor höheren Gefühlen.

 

Gruss

 

Klaus


Berlin 26.3.1991

 

Lieber Klaus!

Vielen Dank für Deinen Brief vom 10.02.91. Er hat große Freude bei mir ausgelöst, ein echtes Geburtstagsgeschenk. Ich war regelrecht euphorisch, mal wieder etwas von Dir zu hören und auch sonst irgendwie… Du kannst getrost für Dich verbuchen, daß mir Deine Briefe (und meine Antworten) inzwischen ein schier unverzichtbarer Teil meines (politmoralischen?) Seelenlebens geworden sind. Wahrscheinlich bin ich als visueller Typ für mein Wohlbefinden auf die Möglichkeit angewiesen, meine Gedanken schriftlich zu ordnen. Und zu ordnen gibt es immer noch eine Menge.

In diesem Sinne hier also gleich der nächste Brief, in ungewohntem Tempo. Mein Minister erhöht ab Ostern das Porto und redlich bemüht, ein pfiffiger Bundesbürger zu werden, lasse ich selbstverständlich die Gelegenheit, noch schnell 50 Pf zu sparen, nicht aus.

 

Seit voriger Woche drehen die Ossis nun wieder ihre Runden. Zumindest beim zweiten Mal scheint es auch im Westen ausreichenden Eindruck gemacht zu haben, denn das ZDF berichtete letzten Montag an erster Stelle darüber, und so wird es in Leipzig sicher nicht die letzte „Montags-Demo“ gewesen sein.

Der kleine Ableger in Berlin nimmt sich übrigens gegen die 80.000 Leipziger vergleichsweise harmlos aus, wenn auch die von der (alten Volks-) Polizei angegebenen Zahlen regelmäßig etwa die Hälfte der Teilnehmer unterschlagen (Wir haben von unserem Fenster aus in den letzten 18 Monaten ein recht gutes Augenmaß für so etwas entwickelt).

 

Die Tatsache, daß die PDS-Hochburg Berlin mit Leipzig nicht so recht mithalten kann, zeigt andererseits m.E. sehr deutlich, daß es bei dieser neuen Demowelle (und nicht nur im Sachsenland) den meisten vor allem um die ganz profanen Bedürfnisse und weniger um die große Politik oder gar um die Moral geht – wie schon im Herbst ’89.

 

Viel ist denn die Rede von Betrug und Enttäuschung und unser aller Bundeskanzler, der vor einem Jahr noch so heftig beklatschte und vor 3 Monaten – auch und gerade von den Ossis, wohlgemerkt – noch so heftig gewählte, muß hier nun fürchterliche Schelte einstecken, weil immer noch kein Manna vom Osthimmel regnet. Na sowas!

 

Mich hat er nicht enttäuscht, im Gegenteil. Meine Erwartungen an die Gebefreude der Bundesregierung waren ausgesprochen harmlos, denn erstens bin ich (in dieser Beziehung) kein Phantast und zweitens muß mir der neue Landesvater Kohl nicht unbedingt was schenken, denn vom alten Landesvater Honni bin ich nicht verwöhnt. Trotzdem sind wir dem Herrn Kohl wahrscheinlich dennoch in einem Punkt zu großem Dank verpflichtet und spätere Generationen werden dies vielleicht und hoffentlich auch zu schätzen wissen: Man kann zu dem Mann ja stehen wie man will, ihm Fingerspitzengefühl oder sogar den Intellekt absprechen, aber wohl kaum seinen schier übersinnlichen politischen Instinkt. Bei nüchterner Überlegung muß man ihm zugestehen, daß er mit seinem elefantenhaften Charme vielleicht das einzige schmale Zeitfenster für die Deutsche Einheit genutzt hat, das sich in diesem Jahrtausend noch für einige Monate auftat. Noch ehe die alten Alliierten eine Idee hatten, wie man der weltweiten Vereinigungseuphorie vorsichtig entgegentreten könnte, stapfte unser Bundeskanzler auf das diplomatische Parkett, schubste seinen Außenminister zur Seite, pappte den Erstarrten ein paar Milliarden an die Stirn und verschwand – mit der DDR unterm Arm. Hoch Helmut!

 

Der Vorwurf zugelassen zu haben, daß unser Einig Vaterland nun doch „zusammengewuchert“ ist, wie unser Bundespräsident vor einem Jahr befürchtet hatte, mit allen zunächst wirtschaftlichen, später sozialen und danach politischen Problemen, diesen Vorwurf kann man der Regierung Kohl natürlich machen. Aber auch Du schreibst ja, daß Du keinen konkreten Weg siehst, „wie man aus dem Schlamassel wieder herauskommt“. Ein bißchen schwanger geht eben nicht, und insofern ist der Crash-Kurs vielleicht gar nicht der schlechteste (und wir Deutschen sind vielleicht auch eines der wenigen Völker, dem man so etwas zumuten kann). Schließlich kann man nach ein paar Monaten noch keine Wunder erhoffen, wenn sich auch – wie zu erwarten – herausstellt, daß allzuviele hier solchem Glauben angehangen haben, die Armen (Idioten).

 

Sicher, das beste wäre gewesen, 200 kluge Köpfe für ein Jahr in Klausur zu schicken und dann nach einem mit deutscher Gründlichkeit perfekt ausgearbeiteten Einigungsfahrplan zu verfahren, aber es war eben keine Zeit dazu – sowohl wegen des Zeitfensters als auch wegen des Drucks der nun mal gefallenen Mauer. Es muß eben auch anderers gehen und wir sind ja eigentlich auch nicht schlecht im Improvisieren.

 

Eine Hauptursache dafür, daß dennoch mehr schief geht als nötig, sehe ich darin, daß vor etwa einem Jahr die damals sicher noch breit vorhandene (oder?) Solidarbereitschaft der Wessis durch diese (ausgerechnet von der SPD angezettelte) Finanzierungsdiskussion verspielt wurde.

 

Plötzlich rechnete alles wie blöd mit irgendwelchen Milliarden und in den Augen von 60 Millionen Westdeutschen, die noch ein Jahr zuvor wenn schon nicht ihr letztes so doch wenigstens ihr zwölftes Hemd für die Einheit gegeben hätten, wandelte sich der arme Verwandte vor der Tür in einen Eindringling, der nicht bloß ein Obdach mit Hängematte aus sozialem Netz wollte, sondern gleich Anspruch auf den Lieblingssessel in der Guten Stube erhob. In Anbetracht dieser Ängste kam dann natürlich aus Westsicht nur noch der bedingungslose Anschluß in Frage und sind offenbar die meisten der jetzt (für beide Seiten der Elbe) so lästigen Einigungskrücken entstanden, immer unter dem Motto: Im Osten wird alles, aber auch alles umgekrempelt – und im Westen bleibt möglichst alles, aber auch alles wie es ist. Damit ist das zarte Pflänzlein eines gesamtdeutschen WIR-Gefühls zertreten. Schade.

 

Bleibt die Frage, ob die Wessis unter anderen Bedingungen wirklich bereit gewesen wären, wenigstens auf die überflüssigsten Teile ihres liebgewordenen Überflusses für eine Weile zu verzichten?

 

Nun gibt es natürlich löbliche Beispiele für echte Hilfsbereitschaft und wie es aussieht hast Du vielleicht selbst auch bald die Chance, hier Deine Furche der Rechtsstaatlichkeit in den sächsischen Acker zu setzen. Ich weiß nicht, ob man Dir dazu gratulieren soll, den Sachsen sicher. Auf alle Fälle kannst Du Dich auf eine hochinteressante Phase in Deiner Laufbahn freuen, die auf ihre Art sicher von besonderem Reiz ist und in ihrer Exotik Deiner Zeit in Indien kaum nachstehen wird.[3]

 

Ich für meinen Teil würde mich freuen, denn erstens erlebtest Du gewaltigen Diskussionsstoff und zweitens hätten wir auch viel leichter die Chance, diesen Stoff vis a vis zu verarbeiten.

 

Soweit für heute. Frohe Nachostern für Dich, für Judy und die Kinder und herzliche Geburstagsgrüße an Deine Töchter.


 

Berlin angefangen 21.4.1991

 

Lieber Klaus!

 

Soeben habe ich die Lektüre Deines „Sekolah Kebangdsaan“[4].beendet und bin beeindruckt, sowohl von Euren Erlebnissen[5].als auch von Deiner Art, darüber zu schreiben.

 

Insbesondere Landschaften und alles was damit zusammenhängt sind Deine Stärke. Man hat das Gefühl, im Moment des Lesens mit dabei zu sein. Der „innere Blick“ schweift gleichsam über Bergkuppen und Urwaldriesen…

 

Schön, wenn man so was kann und schade, daß man einem solchen Talent nur trockene (?) Fachbücher und Artikel über Spitzbuben druckt.

 

Ein Witz der Literaturgeschichte, aber vielleicht auch ganz bezeichnend, daß dieses Werk in Deutschland mit der Post länger unterwegs war und dabei mehr Federn lassen mußte als der Autor im Dschungel von Malaysia. (Ich hatte beim letzten Mal vergessen, den schon ausgeschnittenen Kouvertteil mit den beweisenden Stempeln beizulegen, was ich jetzt nachhole.)

 

Tja, die Post. Mit ihrem Gebührencoup hat sie wohl der CDU heute in Rheinland-Pfalz die letzten Prozente verdorben, und vielleicht stolpert am Ende sogar der Kanzlerallerdeutschen über die 2,30 DM. In der Zeitung stand übrigens die Schlagzeile „Telefonieren im Westen teurer – im Osten billiger!“ und dazu ein Text, aus dem man beim besten Willen nicht entnehmen konnte, daß wir für unsere miesen „Doppelanschlüsse“[6] immer noch mehr bezahlen als die Altbürger für ein ungeteiltes ordentliches Telefon. Der (vor allem westliche) Journalismus (ganz typischer Vertreter ist hier die Westberliner „Morgenpost“, die doch gerade den kürzesten Weg zu den Fakten haben sollte) macht überhaupt in jüngster Zeit des öfteren durch solche „kleinen Ungenauigkeiten“ eine recht eigenartige Stimmung, die den Ossi z.T. ziemlich erbost. Vor einiger Zeit war eine Grafik zu sehen, in der ein strahlender Ostrentner neben einem riesengroßen Geldstapel und dem Kommentar „Ostrenten +15%“ auf einen traurigen Westrentner herabblickt, der sich mit einem klitzekleinen Stapel und „Westrenten +5%“ begnügen muß.

 

Auf Schritt und Tritt immer noch(?) die große Angst vorm Teilen nach dem Ende der Teilung. Dabei zeigt eigentlich die Praxis der letzten Monate, daß der aktive (!) Griff der Ossis in die Westtaschen doch eher harmloser ausfällt als befürchtet. Immerhin begnügen sich die, welche hier noch in Arbeit und Brot sind, bei längerer Arbeitszeit mit Tarifabschlüssen deutlich unterhalb des Arbeitslosengeldes ihrer Westkollegen, und unsere Arbeitslosen, denen ja die Unterstützung noch auf der Basis ihrer alten Bezüge berechnet wird, sind meist mit Summen kleiner als der Sozialhilfesatz zufrieden. Das ist doch nett, oder?

 

Und wenn demnächst hier für viele das erste Arbeitslosenjahr herum ist, wird es noch netter. Trotzdem kommt natürlich der Osten teuer, wer wollte das bestreiten. Nur eben nicht wegen Tarifabschlüssen unterhalb von 60% (*)[7]

 

Die langtrainierte Bescheidenheit der Ossis kommt aber erstmal nur den Unternehmern zugute (wenn ich einmal großzügig vom Öffentlichen Dienst absehen darf, der jedoch so arm nicht sein kann, wenn er darüber nachdenkt, den abkommandierten Westbeamten mehr zuzulegen als die Ostbeamten insgesamt erhalten). Der Staat/Steuerzahler muß dagegen für seine Aufgabenflut im Osten (u.a. genau diesen Unternehmern) den mindestens vollen Preis zahlen und somit greifen wir Euch sozusagen ohne eigenes Zutun – quasi aus Versehen – in die Tasche, einfach aufgrund unserer objektiv gegebenen Misere, genau wie Kurden, Sowjets, die US-Army und andere Bedürftige.

 

Und genau diese Bedürftigkeit bzw. das Empfinden dieser Bedürftigkeit bewirkt eine arge Passivität. Elan habe ich in den letzten Monaten nur bei einem „ausgewanderten“ Bekannten erlebt, den wir zu Ostern in Schleswig-Holstein besucht haben. Ansonsten ist die Lähmung allgemein und geht in eine seltsam fatalistische Müdigkeit über, die mir verdammt bekannt vorkommt. Der Unterschied zur seligen DDR ist nur, daß man sich seinerzeit zwar damit abzufinden hatte, daß das Politbüro Obst erst für das nächste Quartal einkaufen würde, Autos nur für sich und Mikrowellen gar nicht, andererseits aber auch zu keinem Zeitpunkt die Gefahr bestand, unverschuldet die Arbeit zu verlieren [8].aus seinem heißgeliebten Schrebergarten vertrieben zu werden, oder gar aus der Wohnung zu fliegen.

Es bahnt sich hier eine Art kollektiver Masochismus an, der bei zarten Gemütern – und deren gibt es viele – bis zur absoluten Handlungsunfähigkeit und zu einem fast zwanghaften Dauerjammer führt. (Ich kann’s nicht mehr hören!) Die Medien tuen ein übriges und füllen Berge von Papier und Sendezeit mit immer neuen Hiobsbotschaften. Und wenn wirklich einmal etwas Positives gemeldet wird, ist es meist in die Rubrik „kleine Ungenauigkeiten“ einzuordnen, siehe oben. Aber vielleicht gibt es ja tatsächlich nichts Positives, Herr Kästner.

 

Die Passivität scheint sogar den Willen zum Protest endgültig überwuchert zu haben. Ich hatte gemeint, daß zumindest die Sorge um den ganz persönlichen Kleinkram die Leute wieder kräftig auf die Straßen bringen würde – offensichtlich ein Irrtum. Bei der großgeplanten IG-Metall-Demo vorige Woche rollten die angemieteten Sonderzüge halbleer in die Reichshauptstadt und anschließend füllten die Herangekarrten nicht mal den Kundgebungsplatz, sondern die Warenhäuser der Innenstadt. Typisch (Provinz-)Ossi. Seine größte Sorge ist immer noch die Beschaffung.

 

Neben der Gefahr einer Massenpsychose mit all ihren unkontrollierbaren Begleiterscheinungen besteht auf der anderen Seite zunehmend auch die, daß sich die Leute in der Krise einrichten, genauso wie sie sich in den alten Verhältnissen bis zum Herbst ’89 eingerichtet hatten, weil es damals wie heute keine Kraft gibt, die ihnen Kraft gibt, will sagen: Es ist niemand da, der ihren Kummer in irgendwelche konstruktiven Bahnen lenkt.

 

Im übrigen scheinen auch die sonst so breit engagierten unter den Altbürgern derzeit den Blick starr und unverrückbar nur aufs eigene Geldbeutelchen zu heften und dabei geht ihnen etliches von der Nichtfinanz-Politik offenbar durch die Lappen, was sie in besseren Zeiten bestimmt zu stimmgewaltigem Protest herausgelockt hätte. (Man erinnere sich nur der Diskussion um den §218 vor einem Jahr – für etliche Wessis wohl damals DAS Schlüsselproblem der Deutschen Einheit!)

 

So gibt es denn einmalige Chancen, von hinten durch die kalte Küche mit der berühmten Salamitaktik auf bestimmten Terrains Tatsachen zu schaffen.

 

Die Bundeswehr hat auf diesem Wege nun endlich erreicht, was dem Kaiser und der Wehrmacht nicht vergönnt war – sie ist im Irak angekommen, und niemand haut dem Stoltenberg das Grundgesetz um die Ohren. Wer Augen hatte und sehen wollte, konnte in den letzten Monaten hier ein wunderschönes Lehrstück erleben, wie man dem braven Bürger in aller Ruhe die politische Prinzipienkammer ausräumt, während er um das Säckel in der Guten Stube bangt: Erst fuhren die Minensucher ein bißchen „ins östliche Mittelmeer“, um die gar schrecklich klaffende Sicherheitslücke zu schließen, die die zum Golf verlegten US-Boote dort hinterlassen hatten (bekanntlich schmeißen die Russen ja sofort die ganze See mit Minen voll, wenn nicht die soundsovielte US-Flotte tüchtig aufpaßt) – kein Protest. (Der Michel besaß offenbar keinen Atlas und hat deshalb gar nicht wissen können, daß irgendwo kurz vor dem „östlichen Mittelmeer“ Europa zu Ende ist.) Also wurde man auf der Hardthöhe etwas dreister und fuhr anschließend ein bißchen um Arabien herum, denn schließlich wollen Minensucher ja Minen suchen, und im Golf waren gerade welche im Angebot. (Die Sicherheitslücke im Mittelmeer schließen inzwischen wahrscheinlich die türkischen Fischer) Protest? Wieder nix, die Ossis stehen gerade beim Arbeitsamt an (außerdem begreifen die sowieso nicht worum es beim Thema „Bundeswehr und Europa“ eigentlich geht) und im Westen kümmert sich alles um Lohn-, Vermögens-, Mineralöl-, Kapital- und andere Steuern. Und so ist es kein Wunder, daß schließlich deutsche Luftwaffenangehörige im Iran auftauchen. Aber der friedliche Herr Stoltenberg ist natürlich auch ein besorgter Mann und meint, daß sie demnächst zwar auch in den Irak gehen würden, aber selbstverständlich „nur, wenn dort ihre Sicherheit gewährleistet ist“. Und dann schickt er noch ein paar Pioniere, ist ja klar, die haben die nötige Technik. Aber er schickt auch Fallschirmjäger. Wenn man einmal davon ausgehen darf, daß die nicht aus ihren Fallschirmen Zelte für die Kurden nähen sollen, kommen sie also wohl wegen der Sicherheit der Pioniere mit. Und schwuppdiwupp – schon ist die Rede von ein paar tausend Mann. Und die brauchen dann natürlich noch dieses und jenes und diesen und jenen, und für das ganze muß ja auch die Sicherheit gewährleistet sein. Das ist dann nicht mehr so einfach, es gibt da einschlägige amerikanische Erfahrungen, gar nicht weit vom derzeitigen Schauplatz. Wie wäre es also mit einem zusätzlichen Panzerbataillon. Oder zwei. Das ist immer noch das „sicherste“… Jetzt habe ich mich wirklich hinreißen lassen, soweit sind wir ja – noch – nicht. Aber beim nächsten Krieg sind wir dabei, nicht nur mit Geld, hurra! Dann können wir endlich der Freien Welt wieder in die Augen sehen und müssen uns nicht mehr schämen, daß wir am Golf so geizig mit dem bißchen deutschen Blut waren. It’s Saurier-time.

 

So, eine neue Seite fange ich jetzt nicht mehr an. Viele Grüße,

 

24.04.91

 

Ich habe doch noch eine neue Seite angefangen. Eben hat mich nämlich eine Zeitungsmeldung (ich lege sie bei) inspiriert, nochmal einen Blick auf Deinen Brief vom 10.02. zu werfen, und mir fiel ein, daß ich eigentlich vorhatte, auf Deine Bemerkungen zum Thema Löhne und Produktivität unbedingt etwas zu entgegnen, zumal mir dies die Chance gibt, wieder einmal so richtig schön im marxistischen Urschleim zu schwelgen.

 

Als dann:

 

Einen „Zusammenhang“, wie Du schreibst, gibt es zwischen beiden Kategorien zweifellos. Etwas präziser formuliert ist doch aber von Dir (und vielen anderen) wohl statt „Zusammenhang“ eher „Proportionalität“ gemeint, die da „eines der marktwirtschaftlichen Grundgesetze“ bilden soll. Interessanterweise war auch in der DDR schier pausenlos von notwendigen Produktivitätssteigerungen die Rede, die die unbedingte Voraussetzung für ein besseres Leben bilden würden. In bewährter Manier wurde das auch meist in schön faßliche Losungen gequetscht: „Wie wir heute arbeiten werden wir morgen leben“ aus den 50er Jahren[9] unter Honecker dann die Floskel von der „Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik“ oder auch die schon mal erwähnte leicht verunglückte Parole „Ich leiste was – ich leiste MIR was“.

 

Ganz sicher gibt es eine gewisse Proportionalität zwischen Produktivität und KONSUM einer Gesellschaft als GANZES, wobei dann aber auch bitteschön solche Teile der gesamtgesellschaftlichen Konsumtion wie z.B. die Rüstung und neue Regierungspaläste oder, um etwas Positives anzuführen, Zuschüsse im Kulturbereich genauso wie staatliche Großprojekte zur Neulandgewinnung u.ä. zu berücksichtigen sind. Insofern war „Wie wir heute arbeiten werden wir morgen leben“ auch gar nicht verkehrt. Nur interessiert den Einzelnen natürlich mehr der eigene Lohn, über den er wirklich selber verfügen kann als sein undefinierbarer Anteil an gesamtgesellschaftlichen Projekten, die ihn ohnehin in ihrer Mehrzahl nicht tangieren. Um die Leute dennoch zur Dankbarkeit anzuhalten, ohne ihre Einkommen erhöhen zu müssen, wurde unter Honecker deshalb die „2. Lohntüte“ erfunden, in der all die Herrlichkeiten gesellschaftlichen Konsums addiert und dann durch die 6 Millionen Familien geteilt wurden. Wenn ich mich recht entsinne, entfielen auf uns nach dieser Rechnung so an die 800 Mark monatlich und obwohl wir als Neubaubewohner, Theaterbesucher, Straßenbahnnutzer, Betriebsessenteilnehmer und Kindergartengänger[10] sicher tatsächlich wohl einen großen Teil dieser 2. Lohntüte auf der Haben-Seite verbuchen konnten, hätten wir doch lieber die Tüte ausgezahlt gehabt, von kinderlosen, altbaubewohnenden Autofahrern gar nicht zu reden.

 

Um nicht noch weiter in die Vergangenheit abzuschweifen: Auch die schönsten Parolen und Tricks mit virtuellen Tüten zum Vermengen des gesellschaftlichen Konsums mit dem individuellen machen jedenfalls die These von der Proportionalität zwischen Produktivität und LÖHNEN nicht glaubwürdiger. Der Marxismus (ausgerechnet!) leugnet sie überhaupt und setzt dagegen die These vom „Wert der Ware Arbeitskraft“ und dem Lohn als Ausdruck dieses Wertes, der seinerseits wiederum von einem ganzen Sack – „gesellschaftlich anerkannter“, d.h. von der Gesellschaft zur konkreten Zeit am konkreten Ort subjektiv zugestandener – Bedürfnisse der Arbeitskraft bzw. dem Preis dieser Bedürfnisse abhängt. Und da hat er Recht der Marxismus, denke ich. Wie anders wäre es zu erklären, daß einerseits die z.B. (west)deutschen Arbeit(nehm)er einer hochproduktiven Branche – und dort wiederum sowohl im modernsten wie im klapprigsten Betrieb – in etwa das gleiche verdienen wie die eines weniger produktiven Bereiches[11] und andererseits ihre Kollegen an den modernsten Anlagen Südkoreas nur ein Viertel[12]

 

Oder, in die andere Richtung geblickt: Warum zahlen nicht wenigstens die deutschen Automobilfirmen soviel wie die in den USA? Ist Ford in Köln weniger produktiv als in Detroit?

 

Aber zurück zu uns: Hier machen die Betriebe reihenweise pleite, trotz der niedrigen Löhne, und sie würden ganz gewiß auch pleite machen, wenn man die Löhne nochmal halbierte. Andererseits gibt es bereits jetzt eine ganze Reihe von Firmen im Osten, die pro Nase mindestens das gleiche Ergebnis, also die gleiche Produktivität, erreichen wie in Baden-Würtemberg. Solche Beispiele finden sich gegenwärtig erstmal natürlich vor allem im Dienstleistungsbereich. (Die meisten) Verkäuferinnen, Bankangestellten, Briefträger, Putzfrauen, Müllfahrer, Kellner, meine Frau und viele andere schaffen jedenfalls das gleiche Pensum wie ihre Kollegen im Westen. Trotzdem findet es alle Welt ganz normal, wenn diese Kräfte mit dem halben Geld nach Hause gehen – und nach dem marxistischen Ausbeutungsmodell ist es auch normal!

 

Der Wert ihrer „Ware Arbeitskraft“ ist eben im Osten viel geringer, auch und gerade wegen des im ersten Teil von mir breit behandelten allgemeinen Jammers, der somit eine hervorragende Rolle bei der Erzielung des berühmten „Extraprofites“ spielt und in diesem Sinne wahrscheinlich gar nicht so ungern gesehen wird.

 

Andererseits ist (nach diesem Modell) auch bei schlimmster Wirtschaftslage nicht damit zu rechnen, daß eine bestimmte Schwelle der Einkommen unterschritten wird, und zwar nicht wegen der Gefahr des Abwanderns – der westliche Arbeitsmarkt ist ja bei allen positiven Trends keinesfalls fähig, von den hier vorhandenen ca 9 Mio Kräften einen wirklich nennenswerten Teil aufzunehmen, der wiederum dazu führen könnte, daß bestimmte Berufsgruppen im Osten tatsächlich so KNAPP werden, daß dies auf deren Löhne durchschlagen könnte – sondern weil die Gesellschaft in den 90er Jahren des 20. Jahrhunderts für einen deutschen Arbeitnehmer eben ein bestimmtes Lebens- und damit Einkommensniveau für notwendig erachtet, selbst wenn er im Osten lebt. Einige Kilometer weiter westlich freilich würden solche Einkommen als „absolut unzumutbar“ abgelehnt werden, während sie einige Kilometer weiter östlich als der totale Wohlstandstraum empfunden würden – und zwar auch wenn alle Beteiligten die gleichen Effekte erzielten, meinetwegen hinter dem Tresen von McDonalds.

 

Damit wird doch aber sehr anschaulich, daß es sich bei dem von der Gesellschaft akzeptierten – und den Unternehmern bezahlten – Wert der Arbeitskraft keinesfalls um irgendwelche objektiven Größen handeln kann, und dieser Wert schon gar nicht von der persönlichen Produktivität abhängt, wenn man sich auch sehr bemüht, durch Akkordlöhne, Gewinnbeteiligungen u.a. diesen Eindruck zu erwecken.

 

In den Ostbundesländern wird im Prinzip der Wert der Arbeitskraft und damit das Lohnniveau deshalb solange geringer (als im Westen – aber immer höher als in Polen) sein, wie die allgemeine Misere hier noch sichtbar ist, d.h. (in einem bestimmten Maß) weit über die zwei, drei Jahre hinaus, die jetzt in den diversen Tarifabkommen als Harmonisierungszeitraum ins Auge gefaßt sind. In dieser oder jener Form werden die Einkommen also noch auf lange Sicht zu drücken sein. (Ich bin selber gespannt WIE die das machen, nicht aber OB.)

 

Das Kapital wird es sich andererseits auch durch die so oder so früher oder später relativ hohen Löhne nicht nehmen lassen, sich hier im Osten gewinnbringend zu realisieren, sofern nur die äußeren Rahmenbedingungen stimmen bzw. geschaffen werden, und dafür wird es schon sorgen, denke ich. (Wenn Kohl dazu zu dusselig ist, nehmen sie eben einen anderen.) U.a. darauf gründet sich mein unendlicher basismarxistischer Optimismus. Vielleicht habe ich es schon mal geschrieben: So viele schöne deutschsprechende Ausbeutungsobjekte mit Zehnklassenschule wie hier finden sich ja sonst nirgends auf der Welt. Also werden sie kommen, die Ausbeuter.

 

So, lieber Klaus, hoffentlich bist Du nach soviel Rotlicht immer noch mein Freund. Ich gönne Dir jetzt erstmal eine verdiente Pause. Am 12.05. fahren wir für 2 Wochen nach Tunesien, in der Hoffnung, uns dort von unseren ersten Schritten in der Marktwirtschaft mal so richtig erholen zu können. In den letzten Wochen haben Paula und ich ziemlich oft an Euch gedacht, und uns vorgenommen, Euch bei passender Gelegenheit einmal heimzusuchen, oder klappt es eher umgekehrt?

 

Wie denkt Ihr darüber?

 

Viele Grüße, auch an Judi und die Kinder

[1] Ehrlich gesagt bin ich es ein wenig leid, mich dauernd für etwas zu schämen, was ich nicht selbst angerichtet habe, wohl aber mit bezahlen mußte. Niemand sieht heute noch einen Franzosen schief an weil seine Vorfahren vor 180 Jahren die halbe Welt unterdrückt und mit Krieg überzogen haben. Die letzten Hitlerwähler von 1933 dürften bis zur Jahrtausendwende ausgestorben sein, dann ist hoffentlich Schluß…

[2] Kannst Du mir sagen, was man im Öffentlichen Dienst wirklich verdienen kann? Mir sind ein paar Tabellen (A-Gruppen, Post) in die Hände gefallen, wo ich glaube, das kann nicht ALLES sein, denn gehört habe ich immer höhere Summen…

[3] typisch Ossi: War weder in USA noch in Indien, aber schwätzt darüber! Sollte aber auch ironisch klingen. Ich weiß nur nicht immer genau wie es ankommt, weil die deutsche Schriftsprache leider noch keine Untertöne kennt.

[4] Was auch immer das sein mag. Bei der Schreibweise bist Du Dir auch ein wenig uneins. Ich habe deshalb die vom Titelblatt übernommen.

[5] Hier kommt der Alt-Ossi wieder hautnah zum Vorschein, der in seiner Eingesperrtheit und mit seiner Zehnklassigen Polytechnischen Schul­weisheit so unendlich weit davon entfernt war, daß ihm nicht nur solche Erlebnisse fehlten, sondern sogar ein Begriff davon, was man in der „Freien Welt“ wirklich erleben konnte (wenn man es denn wollte).

Was auch immer das sein mag. Bei der Schreibweise bist Du Dir auch ein wenig uneins. Ich habe deshalb die vom Titelblatt übernommen.

[6] Falls es nicht so bekannt sein sollte, dies ist eine unserer alten Errungenschaften: In der Regel teilen sich immer zwei „Teil“-nehmer eine Leitung. Solange der eine telefoniert, hat der andere Trauer. Wenn er als Bastler bewandert ist, kann er dafür aber zum Trost mit einem schmerzlosen Eingriff in seinen Apparat solange mithören, was der andere sagt…

[7] Auch so ein Beispiel für „kleine Ungenauigkeiten“ der Pressemeldungen: Den lauthals verkündeten 60%-Wert erhalten bei der IG Metall nämlich nur die alleruntersten Lohngruppen. Meine alten Ingenieur- Kollegen im EAW liegen bei ca 53% der Westtarife. (natürlich sind sie damit z.Zt besser bedient als ich bei der Post, aber ich will nicht meckern und vielleicht legt der Herr Black-penny im Sommer ja auch noch was drauf)

[8] Auch wer sie verschuldet verlor wurde woanders i.a. in Windeseile wieder eingestellt und konnte dort weitersaufen, weiterklauen und weiterfaulenzen.

[9] Böse Zungen machten später – sehr schön doppeldeutig – daraus: „Wie wir heute leben haben wir nie gearbeitet“

[10] Kleine Auswahl unserer subventionierten Errungenschaften

[11] Interessanterweise werden ja beispielsweise nach dem sogenannten Metalltarif (der außerdem – man beachte – REGIONAL, nicht etwa branchenweise, etwas unterschiedlich ausfällt) sowohl die eigentlich relativ wenig produktiven Stahlbauer als auch die superproduktiven hightechgetouchten Computerlöter bezahlt!

[12] Die Zahl wurde vom wenig weltgewandten Autor willkürlich polemisch postuliert, u.a. auch um wenigstens unter das Drittel des Ostens zu rutschen. Vielleicht hätte es aber auch genügt, nach Griechenland oder Portugal zu schauen.

 


Briefe aus der Wendezeit – Teil 8

Stuttgart, 15.9.1990

Lieber Frank,

Deutschland hat uns wieder. Unaufhaltsam ist der Rausch verflogen, in den mich Italien immer wieder versetzt. Es ist ein merkwürdiger Prozeß. Kaum bist du über die Alpen, da tauchst du in eine Welt allgegenwärtiger Ornamentik und wohl gesetzter Proportionen. In dem betörenden Spiel schöner Formen, das dich umgibt, beginnen sich bald Fragestellungen zu verflüchtigen, die zu Hause für wichtig gehalten werden, (etwa so tiefgründende Unterscheidungen, wie die zwischen Sein und Schein oder Form und Inhalt). Gewohnte Gewichte verschieben sich und erschweren das Wichtigtun (bekanntlich eine deutsche Lieblingsbeschäftigung). Deutschland liegt plötzlich irgendwo hinter den Bergen, es erscheint merkwürdig unbegabt und gehemmt und allenfalls auf eine chaotische Weise malerisch. Wenn du dich schließlich auf einer Bühne wiederfindest, von der niemand zu behaupten versucht, daß sie keine Bühne sei, weißt du, daß du Deutschland endgültig hinter dir gelassen hast. (Das „Bühnenbild“ zwingt mich, meine Behauptung über das Wichtigtun zu präzisieren: Wichtigtun ist „in Wirklichkeit“ wohl doch die Domaine der Italiener; die Deutschen neigen dazu, das, was sie tun, tatsächlich für wichtig zu halten.) Der Italienrausch ist, wie Du siehst, ein Prozeß schleichender Entdeutschung. Ich verfalle ihm unfehlbar, sobald ich den Alpenhauptkamm überquert habe.

Trotz des Katzenjammers, der mich mich regelmäßig – natürlich auch diesmal – ergreift, wenn ich auf den Boden gewichtiger deutscher Tatsachen zurückkehre, genehmige ich mir diesen Rausch möglichst ein Mal im Jahr (anstelle der hierzulande beliebten handfesteren Räusche). Man muß eben dieses seltsame Vaterland immer wieder von jenseits seiner natürlichen und geistigen Grenzen sehen, wenn man seinem nicht ungefährlichen Bann entkommen will. Diesen Rausch haben Eure alten Herren gefürchtet, weshalb sie Euch eingemauert haben.

Allerdings dieses Mal war der Rausch von etwas anderer Qualität als sonst. Es ist mehr Deutschland mitgereist. Bei unserer Frühjahrsreise durch die CSSR und die DDR war unsere Aufmerksamkeit besonders auf den miserablen Zustand der real sozialistischen Hinterlassenschaft gerichtet. Wir haben alles mit den heimatlichen Verhältnissen verglichen und unsere Empörung gepflegt. Jetzt in Italien merkten wir, daß wir mit dem Sehnsuchtsland der Deutschen bislang wesentlich schonender umgegangen sind. Wir waren noch so in Übung beim Aufspüren von „Dreckecken“, daß wir auch in Italien mehr als sonst darüber gestolpert sind. Rom etwa, (wir besuchten es nach langer Abstinenz wieder einmal), ist, wenn man es nüchtern betrachtet, was nicht ganz einfach ist, nur unwesentlich weniger verloddert als die Metropolen der Staaten, die seine cäsaropapistische Nachfolge angetreten haben. Manches Bauwerk, über das Kunsthistoriker und Reiseschriftsteller enthusiastische Elogen verfasst haben, dämmert mit düsterer und bröckelnder Fassade vor sich hin. Auch hier fehlt es offenbar an Dachziegeln oder Menschen, die gewillt sind, dieselben anzubringen, wovon manches wasserfleckige Deckenfresko zeugt. Und auf den Straßen Roms wirst du nicht weniger durchgeschüttelt, als auf der Fahrt von Dresden nach Pillnitz. Man ist geneigt, diesem Land fast alles nachzusehen. Italien das ist eben eine andere Welt und sie ist mit anderen Maßstäben zu messen, Maßstäben, die nicht zuletzt von den „malerischen“ Italienwerken der großen Enthusiasten gesetzt wurden. Und darin spielten Dreckecken allenfalls eine folkloristische oder elegische Rolle. Ein Werk, wie Hippolyte Taines Italienbuch aus den 60er Jahren des letzten Jahrhunderts, das den Dreckeckenaspekt der italienischen Wirklichkeit nicht unterschlägt, hatte z.B. bei mir kaum eine ernsthafte Chance gegen die geballte Macht der Sehnsuchtsbücher. Die Begeisterung hat eben eine enorme Verdrängungskraft – das ist Dir nicht unbekannt (übrigens trifft man auch bei Taines Schilderung der geistigen Dreckecken des päpstlichen Roms auf viel Vertrautes. U.a. berichtet er darüber, daß die Polizei es nicht duldete, wenn sich jemand mit einer Wissenschaft beschäftigte, die der Politik benachbart war; Männer, welche studierten oder viel lasen, seien überwacht worden. Die verschiedenen „päpstlichen“ Gesellschaften haben, wie man sieht, die gleichen Probleme daher auch die gleichen Lösungen.)

Last not least ist Deutschland auch literarisch mitgereist. Mailand, Genua, Lucca, Pisa, Rom – Deine Werke waren schon dort. Deutsche Urlauber – vorläufig noch einige wenige privilegierte – haben sich an den Luxusstränden Liguriens mit ihnen auseinandergesetzt. Bei „Oktoberland“ bin ich zu einer anderen Einschätzung als der Autor gekommen. Es ist natürlich weit mehr als eine bloß erste Aufbereitung der Ereignisse, wie du im Vorwort schreibst. Für mich ist es vielmehr ein, besser drei und vielleicht noch ein halber Spiegel jener turbulenten Geschehnisse. In meiner Erinnerung war schon manches verschoben, wurde überlagert, zusammengezogen und vieles war gar nicht mehr präsent. Ich habe bei der Lektüre über diese wohl aufregendste Zeit, die ich erlebt habe, noch einmal alles Tag für Tag durchgemacht. Das allein war schon eine packende Sache. Ich denke, daß es anderen Lesern auch so ergehen und daß das Interesse an diesem Werk künftig schon wegen seiner protokollarischen Qualitäten steigen wird. Daran wird sich auch nichts ändern, wenn die äußeren Ereignisse auch in anderen historischen Werken rekonstruiert sein werden. Die Gedanken und Empfindungen der Betroffenen sind nur in einem solchen Werk authentisch. Hinzu kommt die mehrfache Perspektive, die, wie ich meine, vor allem für den westlichen Leser von besonderem Interesse ist. Die „pikanten“ Zutaten verfehlen ihre Wirkung eben falls nicht. Wenn Judi am Strand so vor sich hinlachte oder gar helle Begeisterungslaute von sich gab, wußte ich, daß wieder einmal einen Pointe gesessen hatte. Mich hat neben den Bildern vor allem die „Figur“ des Vaters fasziniert (Der Sohn möge mir verzeihen, aber ich kannte ihn schon ein wenig). Ich hätte ihn gerne kennengelernt und, nachdem er das Ganze gottlob real existent überlebt hat, auch gerne gewußt, wie er die Dinge heute sieht. Aber auch hinsichtlich des Sohnes ist mir manches erst nach der Lektüre des vollständigen Werkes klar geworden. Ich hatte mit den Manuskriptteilen, die Du mir zunächst zugesandt hattest, anfangs meine Schwierigkeiten. Aus hiesiger Sicht schien es doch wie selbstverständlich, daß mit Ausnahme der Hartgesottenen, zu denen ich Dich nicht zählte, eigentlich alle DDR Bewohner vom Zusammenbruch des Systems begeistert sein müßten. So und eigentlich nur so spiegelten sich die seelischen Ereignisse auch in den Medien wieder. Wir werden lernen müssen, daß dies keine reine Selbstverständlichkeit ist, daß auch die Menschen in der DDR ihre Geschichte haben, die sich nicht einfach abstreifen lässt. „Oktoberland“ könnte hierbei Geburtshilfe leisten. Übrigens habe ich den Kreis der Privilegierten bereits erweitert. Die Reaktion war ähnlich wie Judis und meine.

Und dann haben auch noch die „Guten Genossen“ ihre Italienreise gemacht. Der Text „beantwortet“ weit gehend meine Frage, wie das System trotz seiner mageren Ergebnisse so lange überleben konnte. Die Frage setzt ja den Willen zur Veränderung voraus, den die Verhältnisse aber offenbar bereits in der Entstehung hinderten. Die schamlose Propaganda war für mich angesichts der so offensichtlich entgegenstehen Tatsachen immer ein unerklärliches Phänomen. Deine Erklärung ist unerwartet, klingt jedoch plausibel. Gegenüber „Oktoberland“ hat sich Dein Standpunkt deutlich verändert. Es fehlt das Apologetische, Bedauernde und Skeptische gegenüber der Revolution, die jetzt eher als natürliche Konsequenz erscheint. Auch glaube ich Zweifel an Dialektik und Feudalismusthese herauszuhören. Interessant wäre es, die Fassung zu lesen, die vor der Revolution entstanden ist.

Lieber Frank, wie Du siehst war unser Italienaufenthalt doch fast eine Deutschlandreise. Aber Deutschland ist im Augenblick wohl fast überall, was so, wie es jetzt der Fall ist, ohne Zweifel besser ist, als wenn es über Alles wäre.

Alle Grüße

Klaus


Stuttgart, 3.10.1990

Lieber Frank,

Der heutige neue Feiertag gibt mir in doppelter Hinsicht Gelegenheit, mich mit wieder einmal mit einem alten Hobby zu beschäftigen. Dies tue ich umso lieber, als Du ebenfalls ein Faible für das Terrain hast, auf daß ich mich begeben will und ich Dir in diesem Zusammenhang noch eine Antwort auf Deinen Brief vom 19.5.1990 schuldig bin.

Während heute also Alles über die deutsche Einheit spricht, stelle ich mir die Frage, ob wir uns dem Ende der mittleren Periode des gesellschaftlichen Mittelalters nähern. Gerade heute verstärkt sich bei mir der Verdacht, daß die Dinosaurier aussterben, jene gefräßige Großform des Lebens also, die eben jene Periode (die Erdgeschichtler nennen sie das Jura) kennzeichneten und unter deren Füße zu geraten kleineren Individuen häufig nicht zuträglich war. Es scheint, daß wir in diesen Tagen Zeugen des Endes einer weiteren Großform aus der Gattung Lineara Okzidentara werden. Ich meine damit jene spezifisch europäischen Systeme, deren Grundlage die Idee von einem bestimmten Ziel der individuellen und kollektiven Geschichte ist. Seit den Tagen, da sich in der Südostecke des Mittelmeerraumes die Vorstellung von einem „Jüngsten Tag“ entwickelte, auf den alles zulaufen soll, hat sich der Zielgedanke in den Köpfen der Europäer fest eingenistet und ist in seinen verschiedenen Lebensgrößen mal mehr und mal weniger hilfreich gewesen. Mittlerweile haben wir diesen Gedanken in die ganze Welt exportiert, wodurch manche kreisförmig angelegte traditionelle Kultur um ihr Zentrum gebracht wurde. Es lag in der Logik eines solchen Gedankens, daß man den Weg zu dem angenommenen Ziel irgendwann nicht mehr allein dem Zufall überlassen wollte und daher begann, sich aktiv darum zu bemühen. Und es war im wahrsten Sinne des Wortes konsequent, ihn begradigen und beschleunigen zu wollen. Die Suggestion eines klar vorgegebenen Zieles hat dabei ohne Zweifel bis dahin noch schlummernde Kräfte frei gemacht. Später hat man die Schritte, die man auf diesem Weg zurückzulegen glaubte, kühn pauschalierend als „Fortschritt“ bezeichnet. Eine der extremsten Ausprägungen dieser Vorstellung ist schließlich die gesellschaftliche Großform geworden, die glaubte, nach einem „revolutionären“ Bruch mit hergebrachten Lebensformen mehr oder weniger alles planend in die Hand nehmen zu können. Das setzte die Behauptung einer besonders hohen Sicherheit über den Verlauf der Geschichte voraus. Den kosmischen Nebel, der all dies „in Wirklichkeit“ umgibt, hat ihr Prophet – es ist sicher kein Zufall, daß er jener Mittelmeerecke nahe stand – mit hohen Worten wegzudiskutieren versucht. Das hieß, hohes Risiko gehen und dementsprechend spektakulär ist denn auch jetzt der Zusammenbruch dieses notwendig totalitären Gedankens geworden.

Das Problem dieser Theorie ist – trotz gelegentlich noch angestellter Stützungsversuche – ziemlich augenfällig. Was mich heute daran interessiert ist aber nicht dieser Aspekt (wiewohl als Antwort auf einen dieser Stützungsversuche dazu noch eine Menge zu sagen wäre). Es scheint nämlich, daß dieser Zusammenbruch nicht nur das Schicksal der zuletzt genannten, zweifelsohne besonders hypotrophen Form abendländischer Großsaurier ist. Der Zielgedanke, jener besondere Sinn für Richtung, der unser ganzes Denken und Empfinden – im Gegensatz etwa zu dem Asiens – bestimmt, hat in seiner Megavariante auch noch andere heftige Stöße versetzt bekommen. Auf schleichende Weise hat sich zum Beispiel in den letzten Jahrzehnten der Zielaspekt des Christentums im allgemeinen Bewußtsein verflüchtigt. Das „Letzte Gericht“ – einst „allgegenwärtig“ und gefürchtet ob seines ungewissen Ausgangs (weshalb es Gegenstand zahlreicher Bestechungsversuche war – z.B. Ablaßkauf) – dieses Ende mit Pauken und Trompeten hat heute allenfalls noch in den phantasievollen Bildern Realität, zu denen es die Künstler angeregt hat (das macht es uns besonders lieb – freilich auch teuer: denn es hatte, wie man sieht, einen hohen Preis). Auch die nicht minder verbreitet gewesene Überzeugung, die Welt könne in technischer Hinsicht immer nur im Fortschreiten begriffen sein, ist schwer angeschlagen, vermutlich schon seit dem Tage, da sich der unsinkbaren Titanic ein nicht vor(her)gesehener Eisberg in den Weg stellte und ihre Fortschritt feiernde Festgesellschaft auf den Grund des Meeres beförderte. Unaufhaltsam breitet sich seitdem die Erkenntnis aus, daß sich mit den wachsenden instrumentellen Möglichkeiten auch die Fähigkeit vergrößert, das Leben zu zerstören.

Mit dem Sozialismus fällt nun eine weitere Großbastion des naiven Glaubens an die totale Machbarkeit aller gesellschaftlichen und technischen Dinge zum Zwecke der Realisierung eines fernen Zieles. Die Großformen der Gattung Lineara Okzidentara haben sich, wie es scheint, insgesamt überlebt, wahrscheinlich weil sie am Ende mehr gefressen haben, als das Leben verkraften konnte. Es waren gewaltige, leider aber auch gewalttätige Erscheinungen. Man wird sich von den Riesensauriern befreit fühlen, aber man wird das grandiose Schauspiel, das sie boten, auch vermissen. Ich selbst allerdings denke, daß es reicht, wenn man ihre ungeheuren Knochen sammelt und sich in (natur)geschichtlichen Museen daran ergötzen kann. Das Leben wird, wie man weiß, auch ohne sie weiter gehen, in kleineren, keinesfalls jedoch uninteressanteren Formen (wozu u.a. der nicht mehr auszurottende lineare Bazillus gehört, der auch künftig für mehr oder weniger heilsame Unruhe sorgen wird). Daß damit die Sinnfrage nicht nur nicht gelöst, sondern in gewisser Hinsicht eigentlich erst gestellt ist, steht auf einem noch zu beschreibendem anderen Blatt. Vielleicht liegt aber ihre Lösung auch darin, daß sie sich in der Form, wie sie meist gestellt wird, als sinnlos herausstellt.

Was aber geschieht mit der nun ziellos gewordenen Geschichte? Man wird sie wohl, wie die Erdgeschichte, wieder nur in Altertum, Mittelalter und Neuzeit einteilen. Es wird keine alles beherrschende Zukunft mehr geben, neben der die Vergangenheit nur als Vorbereitung und die Gegenwart als Durchgangsphase erscheint. Freilich wird man sich ab und zu gezwungen sehen, an die Neuzeit eine Neueste und an diese eine noch neuere Zeit anzufügen. Dieses „Stückwerk“ ist die Folge des bescheideneren Horizontes, der allerdings dadurch auch ein offener ist. Auf diese Weise werden dann die Schichten entstehen, in denen einmal die versteinerten Reste der gesellschaftlichen Dinosaurier gefunden werden. Das sind Knochen statt Brot, wirst Du mir jetzt vielleicht antworten. Aber ich weiß nicht, ob das so wenig ist. In der kleineren Perspektive gibt es auch eine Menge zu tun. Und vielleicht lässt sich ein Teil davon tatsächlich verwirklichen.

Bis bald

Klaus

PS Wie Du siehst, habe ich mich mit diesen linearen Erwägungen wieder auf ein Gebiet begeben, das Dir aus dem „Schlussbericht“ vertraut sein dürfte. Derselbe schildert nichts anderes als die Folgen eines extremen Zielbewußtseins. Die marxistische Geschichtstheorie als ein Beispiel eines extremen Zieldenkens ist – natürlich – dort auch kurz erwähnt (unter Nr. 5.42 214 341 41).

Übrigens bist Du hiermit Zeuge eines wahren Fortschrittes. Endlich holt der Westen den Vorsprung des Ostens in Sachen Textverarbeitung auf. Zugegeben, diese Kiste, auf der ich mich künftighin zu betätigen gedenke, ist der größte Fortschritt seit der Erfindung von Bleistift und Radiergummi. Allerdings hast Du ihr auch zu verdanken, daß der nächste Brief, den Du – so der neue noch etwas launische Gott will – demnächst erhalten wirst, weit vor diesem datiert ist. Er steckt schon seit längerem unvollendet in diesem Apparat, und fand keinen Abschluß, weil er nicht mehr herauskommen wollte. So ist es halt, wenn man die „natürliche“ Ordnung der Dinge verlässt – man weiß nicht, was am Ende dabei herauskommt. Wenn es nur nicht die zermalmenden Schritte eines neuen Großsauriers sind.

Übrigens war ich mittlerweile auch in musikalischer Hinsicht an Deutsch – Deutschem beteiligt. Wir haben dieser Tage ein Opernkonzert mit den „Stars der Semperoper“ gemacht – ein wahrer Genuß für meine und, wie es scheint, auch der Zuhörer Ohren. So ist denn der innerdeutsche Austausch wenigstens in einer Hinsicht einmal in umgekehrter Richtung gelaufen.

Anbei noch Kopien Deiner Unikate.


Stuttgart, 12.11.90

Lieber Frank

anbei der angekündigte Nachkömmling, den ich Dir doch nicht vorenthalten wollte. Ich lasse ihn unter dem alten Datum laufen, weil er damals entstanden ist und auch vom Inhalt nur unter diesem Datum zu verstehen ist. Ich komme gerade aus Spanien, genauer gesagt Katalonien (das ist, wie ich jetzt gelernt habe, ein großer Unterschied) zurück, wo wir mit dem Orchester fünf Konzerte gegeben haben. Da wir in privaten Familien untergebracht waren, haben wir sehr viel von der spanischen – pardon der katalanischen – Wirklichkeit mitbekommen. Die westdeutschen Maßstäbe sind, wie auch dieses Beispiel wieder zeigte, nicht sehr weit zu übertragen. Daß wir auf einer Insel leben, war mir spätestens seit meinen Besuchen in Ländern der Dritten Welt klar. Wie klein die Insel jedoch ist, wurde mir jetzt wieder überdeutlich vor Augen geführt. Nicht nur wegen der bescheidenen Lebensverhältnisse der Vor- und Kleinstädte, die wir hautnah kenngelernt haben. Gewisse Teile der Altstadt Barcelonas erinnern an Szenen, wie sie Marx nicht eindringlicher hätte beschreiben können. Die Verelendung durch Alkohol, Drogen und Prostitution hat hier unmittelbar vor den Toren Mitteleuropas unglaubliche Dimensionen angenommen. Und natürlich gibt es „Dreckecken“, wohin das Auge blickt (von geeigneten Konzertsälen will ich ganz schweigen). Dabei ist Katalonien die reichste und aktivste Provinz Iberiens (Spaniens darf ich nicht sagen, sonst steigen mir meine katalonischen Gastgeber auf das Dach). Im Kontrast dazu steht die unglaubliche Raffinesse der Architektur eines Gaudi, für die ich mich wieder einmal vollkommen entzündet habe. Er ist zweifelsohne der Größte – vermutlich aller Zeiten.

Ich hoffe, die familiären Dinge stehen weiterhin gut. Aktuelles demnächst. Vielleicht kommt noch ein weiterer Nachkömmling.

Gruß

Klaus

 

 


Berlin, angefangen am 13.11.90

 

Lieber Klaus!

 

Vielen Dank für Deinen „Saurierbrief“ vom 3.10 und die Kopien und herzlichen Glückwunsch zum technischen Fortschritt im Hause H.!

 

Deinen Ausführungen zum (vermeintlichen) Ziel der Entwicklung kann ich nur zustimmen – mit dem Bemerken, daß ich (wie bereits ausführlich dargelegt) dabei unbedingt einen Unterschied zwischen Ziel (bzw. Sinn) und Gesetzmäßigkeit sehe. Der Sinn eines Systems läßt sich nur aus der Sicht (und den Interessen) des nächsthöheren Systems ableiten und insofern mag das Individuum einen solchen für sich noch finden, aber der Versuch, ein Ziel für die Existenz, das Handeln oder die Entwicklung der gesamten Spezies zu entdecken, führt unweigerlich zur Religion (Was für mich als Atheisten keine Lösung ist – aber das Regieren oft erheblich erleichtert. Nicht umsonst gab es bei uns den Trend zur „Verkirchlichung des Sozialismus“.)

 

Was die Saurier angeht, ist mir Dein Optimismus ein wenig überzogen. Auch ich konstatiere zwar das Aussterben einiger Arten, aber die Gattung scheint mir vom Exitus noch weit entfernt. Gerade die gewalttätigen sind offenbar nicht totzukriegen. In diesen Wochen schlüpfen wieder etliche aus dem arabischen Wüstensand, aber man (bzw konkret: ich) braucht gar nicht so weit oder in die Glotze zu schauen – auch vor meinem Fenster stehen sie und sind gar schrecklich anzuschauen. Wenn ich in dieser Minute von meinem Stuhl aufstehe, sehe ich unten vier gepanzerte Wasserwerfer vom Bundesgrenzschutz und einen fünften der Berliner Polizei, der schon ziemlich mitgenommen aussieht, dazu Mannschafts- und Krankenwagen, Planierraupen, rollende Führungspunkte… Auf dem Euch ja gut bekannten Alexanderplatz habe ich heute nachmittag insgesamt 8 Schützenpanzerwagen des BGS gezählt, malerisch zwischen die frisch aufgebauten Buden des Weihnachtsmarktes plaziert, auf daß das Fest der Liebe auch gelinge. Gegen all dies ist das Aufgebot an Bürgerkriegsgerät vom Oktober ’89 – welches ulkigerweise an der selben Stelle aufmarschiert war – geradezu lächerlich zaghaft, stümperhaft provinziell, kleinkariert gering gewesen.

 

Nun bin ich wahrlich kein Freund der Hausbesetzerszene und schon gar nicht der irgendwelcher Steineschmeißer. Im Gegenteil: Ich finde es durchaus vernünftig, daß der Gewalt irgendwelcher Chaoten mit (rechts-)staatlicher Gewalt begegnet wird (Über Ursache, Wirkung und alternative Lösungen mich auszulassen maße ich mir hier nicht an und es würde auch den Umfang unserer gesamten bisherigen Korespondenz sprengen, denke ich).

 

Schlimm ist, daß überhaupt die Gewalt – und leider nicht AUCH, sondern INSBESONDERE die physische – in unserem Leben noch oder wieder eine derart dominierende Rolle spielt und diese sogar noch auszubauen scheint. Für uns Ossis gilt dies jedenfalls unbedingt. Solche Unsicherheit auf den Straßen oder gar in der eigenen Wohnung wie sie sich in den letzten Monaten hier entwickelt hat, kannten wir bisher nur aus den Gruselberichten der Parteipresse.

 

Wo also ist Dein „Ende des gesellschaftlichen Mittelalters“?!

 

(19.11.90)

 

Sicher, in Europa hat es derzeit den Anschein, als würde dort der Schwachsinn kalkulierten Völkermordes ad acta gelegt. Gerade heute sind die wohl einschneidensten Abkommen zur Rüstungsbegrenzung unterzeichnet worden. Ein Sieg der Vernunft? Es war wohl eher ein Sieg konsequenten Totrüstens über eine stümperhafte (und unbestritten systemimmanente) Wirtschaftspolitik. Ein Sieg des hochmotivierten Siemens-Ingenieurs über seinen vom Mangel gebeutelten Kollegen in Jena.

 

Dem Paradies der Vernunft sind wir damit kaum einen Schritt näher gekommen. Sicher jedoch dem Paradies der Plusmacherei. (Einige Aufsichtsräte im Westen müssen doch vor Euphorie schon ganz blöd im Kopf sein, wenn sie ihre Umsatzsteigerungen seit unserer Revolution zusammenrechnen, seit UNSERER Revolution, wohlgemerkt.)

 

Den Sauriern sind wohl tatsächlich einige besonders schwerfällige Arten abhanden gekommen, aber die Gattung ist davon kaum beeindruckt, im Gegenteil: Futterplätze sind vakant geworden, neue Räume in herrlichen Dimensionen tun sich auf! Man muß nur die Kräfte ein wenig umgruppieren und dann kann das große Fressen weitergehen – etliche sind schon munter dabei und schmatzen völlig ungeniert, andere (die satten mit den starken Nerven) warten noch ein wenig. Sie wissen, daß ihnen der Happen noch bequemer zurechtgelegt werden soll.

 

Derweilen greinen die kleinen Tiere hier darüber, vom Nachlaß der so tapfer ausgerotteten Art nicht genügend abzubekommen. Die meisten haben noch nicht begriffen, daß sie selbst – wie immer – der Happen sind, den es zu verteilen gilt, ganz zu schweigen von dem Gedanken, den Großen vielleicht gemeinsam in den Schwanz zu beissen.

 

Irgendwann zwischen dem 4. November (’89) und der Märzwahl ist uns wohl die Solidarität abhanden gekommen, die – gepaart mit ein wenig Mut – im vorigen Herbst so viel ausgerichtet hat. Wir erleben derzeit unsere Evolution in Richtung der Beutelratte und wer sein Säckchen einigermaßen erfolgreich füllt (ohne gefressen zu werden), dem wird wohl die Zukunft gehören und es ist nichts schlechtes dabei, denn die Verhältnisse – sie sind halt so. Ergo: Mit den Sauriern wird man sich noch auf einige hunderttausend Jahre arrangieren müssen. Vielleicht klappt dies sogar, nur: Das Zeitalter der Saurier ist es eben doch! Amen.

 

(26.11.90)

 

Im übrigen – um nun endlich Dein Bild zu verlassen – keimt hier ganz ganz langsam ein klein wenig neues Selbstbewußtsein in den Köpfen. Immer mehr Kontakte mit der verklärten Marktwirtschaft und ihren Vertretern zeigen: Die Wessis kochen auch nur mit Wasser. Sie heizen allerdings mit besseren Kohlen und – sie machen dabei ein Geschrei, als ob sie sonstwas im Topf hätten. Feuer ohne Kohlen unter den Bedingungen des Holzmangels – für gelernte DDR-Bürger eine der Grundfertigkeiten – bringen sie gar nicht. (Ich habe mich darüber im Sommer schon ausgelassen.)

 

Auf der Basis dieses Selbstbewußtseins kommen nun natürlich auch die ersten Forderungen, und das ist gut so, denke ich. Im nächsten Jahr wird sich entscheiden, ob man sich im vereinten Deutschland an den Gedanken gewöhnt, daß Ossis Deutsche 3. Klasse sind (jeder polnische Übersiedler ist mit dem Fremdrentengesetz beispielsweise um den Faktor 3 besser dran als unsere Alten), oder ob klare Fahrpläne für ein echtes Zusammenwachsen aufgestellt werden. Wie es aussieht, ist niemand bereit, uns die Gleichheit zu schenken. Also wird sie erkämpft werden müssen. Seit heute nacht streiken die Eisenbahner und sie haben meine volle Sympathie. Es ist wohl nicht gerade unverschämt, nächstes Jahr wenigstens das halbe Einkommen eines Westkollegen zu verlangen, (oder?) zumal m.E. die Arbeitgeber im öffentliche Dienst – im Gegensatz zur arg gebeutelten Industrie – dazu am ehesten in der Lage sein müßten, denn dort wird wirklich die gleiche Leistung (unter wesentlich schwierigeren Bedingungen) erbracht und gleiche Preise sind dort am leichtesten durchzusetzen.

 

(Hier spricht ein wenig der Neu-Bundespostler, dessen Stuhl übrigens zZ auch mehr wackelt, als es vor 4 Wochen noch zu befürchten war. Manchmal ist es gar nicht so einfach, sich nicht verrückt machen zu lassen.)

 

Schreib‘ doch mal demnächst Deine Meinung und die Deiner Bekannten dazu, wie mich überhaupt sehr interessieren würde, welche Haltung heute in den alten Bundesländern zu den Forderungen in den neuen besteht. „Überwindung der Teilung durch teilen“ scheint mir derzeit nicht gerade populär – und ich verstehe das auch irgendwie…

 

Bis bald

 

Berlin, Nov. 17th 1990

 

Dear Judy,

 

thank you so much for your letter from Okt 24th. I was been so glad, that I’ll try to give you a short answer in my bad and simple English (without dictionary). I’m very happy having a real fan now, but – you are my only fan, I’m afraid. So you can say, you have a private writer for yourself, who has written a book especially for you. Congratulation!

 

Do you want an autogramm?

 

Nobody wanted my book and also the RIAS which at first seemed very interested in it and the „Guten Genossen“ for a radio-feature had not contacted me for months. (So I have now not even a copy for myself.)

 

The same thing was about the essay for Bertelsmann’s „Buch der Deutschen“. They wrote me, only one of each seventy they could place in their book. So I stopped all those activities since spring ’90 and the only way I’m writing are the letters to Klaus. (Do you read them too?)

 

So becoming „rich and famous“ will not be in those way, I’m afraid – but „rich only“ is even a good thing and I have ever been an optimist. I hope, Mr. Schwarz-Schilling will be so intelligent giving me a good job and enough money. If not I must go to Baden-Wuertemberg (to Stuttgart, for instance) and sell my great intelligence outside the post enterprise. Today Berlin is more a hard place than a place of hope and future. (May be it will be an other case in some years…)

 

Many greetings from Paula and all the best for you and the children

 

Love,

 

Frank

 

23. Nov 1990

 

Lieber Klaus!

 

Eben kam Dein „nachgereichter“ September-Brief. Es erfüllt einen verhinderten Schriftsteller wie mich mit einiger Genugtuung zu hören, daß der Leserkreis seines Hauptwerkes offenbar doch im Begriff ist, den einstelligen Bereich zu verlassen. Vielleicht kannst Du unauffällig auch mal einen Lektor in die Schar der „Privilegierten“ einbauen?

 

Noch eine Bemerkung zu den „Guten Genossen“: Dank der Computertechnik ist es ein Kinderspiel, Dir die „alte“ Fassung vom Sommer ’88 zugänglich zu machen.

 

Mag sein, daß es Dich erstaunt, aber: Ich habe im/am Prinzip für die „Nachwende-Fassung“ kaum etwas geändert! Lediglich Anfang und Schluß sind den aktuellen Ereignissen angepaßt worden und alle Verben des Textes wurden um eine Zeitebene nach hinten gesetzt.

 

Ich schicke Dir den Ausdruck, soweit er (bis auf die Verben) von der Dir vorliegenden „Ausgabe“ abweicht, so daß Du Dir selbst ein Bild über die – zu dieser Thematik (!) m.E. kaum vorhandenen – Änderungen in meinem Denken zwischen Sommer ’88 und Frühjahr ’90 machen kannst.


Berlin, den 30.12.90

 

Lieber Klaus!

 

Einige freie Tage und der Jahreswechsel sind Anlaß zu einem ersten Rückblick auf das verflossene Jahr 1990. Für uns Deutsche war es mit gewaltigen Veränderungen verbunden, wenn es auch so richtig hautnah derzeit wohl nur für die Deutschen im Osten spürbar ist. Auf lange Sicht werden aber auch die anderen nicht die alten bleiben können – falls sie das überhaupt wollen.

 

Für uns jedenfalls ist (fast) alles anders geworden in diesem Jahr 1990 und wie in wahrscheinlich jeder Revolution stehen alle, Beteiligte und Unbeteiligte, ein wenig staunend vor dem, was sie da angerichtet haben: Die Aktivisten des Herbstes ’89 sind mehrheitlich längst wieder in der politischen Versenkung verschwunden und versuchen damit fertig zu werden, plötzlich mitten im Kapitalismus zu sitzen, für den sie nun wahrlich nicht auf die Straße gegangen waren. Ähnlich geht es denen, die (viel zu lange auf eine Revolution von oben hoffend) jene erst auf der Straße und im Bann allein ließen, um dann als Trittbrettfahrer der Ereignisse für ein Dutzend Wochen ihrem Traum vom 3. Weg zu träumen.

 

Apropos Träume: Auch die vielen sogenannten Kleinen Leute hatten ihren Traum – den vom Goldenen Westen und der harten D-Mark – und in diesem Jahr ist er wahr geworden. „Bundesbürger sein, daß wäre was!“ hatten sie immer gedacht. Schade nur, daß der Traum gleich für alle wahr geworden ist. Und weil deshalb hier niemand mehr eine D-Mark in ein komplettes Restaurant-Essen tauscht, ist man im Osten Deutschlands erstmal nicht der große Mann geworden, zu dem man sonst immer so neidvoll aufblickte. Für die Von-oben-herab-Perspektive muß man sich schon nach Prag oder Polen bemühen. Für viele erstmal besser als nichts. Also: „Wir sind wieder wer!“ – jedenfalls östlich von Frankfurt(/Oder!). Und da träumt man denn schon mal die ersten Sequenzen des nächsten Traumes: Nicht nur Bundesbürger, sondern REICHER Bundesbürger möchte man sein. Also werden die Ellenbogen gespitzt und einige können es schon ganz gut. Soweit zu denen.

 

Und dann gibt es natürlich die vielen, die immer noch von Konterrevolution und Agentenwerk reden. Einige besinnen sich ganz fürchterlich auf die Schulbuchweisheiten vom Klassenkampf, haben gar echte Widerstandskämpfergefühle beim Plakatekleben für die PDS. (Der Gysi paßt ihnen zwar ganz und gar nicht, aber was anderes ist eben auch /noch?/ nicht zur Hand.) Man hat den Eindruck sie wissen nicht so recht, ob sie sich nun freuen sollen, wenn es weiter bergab geht („Wir haben es ja immer gesagt. Nun zeigt er sein wahres Gesicht, der Kapitalismus“), oder ob sie nicht doch noch schnell die Paris-Reise buchen, bevor die befürchtete Mieterhöhung kommt.

 

Und diese vier Typen aus den-Neuen-Bundesländern /den-Fünf-Ländern /dem-Beitrittsgebiet /der-ehemaligen-DDR- /Ostdeutschland schauen erstaunt und erschrocken auf den fünften, den eigentlichen (vorläufigen?) (hiesigen) Gewinner der Revolution:

 

Man kann in der Wirtschaft blicken wohin man will – das Sagen haben überall noch dieselben Leute (Ich habe dieses Thema bereits im Juli kurz angerissen, inzwischen sind die Konturen wesentlich klarer, weshalb ich nun nochmals darauf zurückkomme.) Lediglich ihre Gehälter sind inzwischen – durch sie selbst, niemand sonst ist witzigerweise dafür zuständig – kräftig erhöht und ihre Befugnisse erweitert worden. Da dies einerseits allgemeiner Trend ist und andererseits im Osten nichts mehr ohne westlichen Segen passiert, muß dies in Bonn (oder besser: in Frankfurt) so gewollt sein und nach kurzem Überlegen scheint es auch logisch. Hier ist nämlich der so ziemlich einzige Punkt, wo die DDR etwas einzubringen hat in unser einig Vaterland: Ausreichende Skrupellosigkeit und wohleingeschliffene Kontakte zum Comecon! Da nimmt man als Investor schon mal ein bißchen Stasi-Vergangenheit beim künftigen Partner in Kauf und die Treuhand verscherbelt das „Objekt“ natürlich auch lieber an den alten Direktor als an irgendeinen Herrn Namenlos, der schon unter Honecker/Mittag nichts werden durfte. Nur Naive wundern sich darüber. Grund zur Empörung haben allerdings -zigtausende, besonders wenn sie am eigenen Leibe die haarsträubende Personalpolitik dieser Alten Herren erleben müssen. Es gibt sie tatsächlich, die „alten Seilschaften“.

 

Insofern haben die Westmedien (die sonst immer noch viel halbgewalkten Schmarrn über den Osten bringen) hier wirklich den Nagel auf den Kopf getroffen – nur: Charakteristisch für diese Seilschaften sind weniger die gemeinsame SED- oder Stasi-Zugehörigkeit, sondern eine gemeinsame Vergangenheit schlechthin. Die kann denn auch genausogut bei den Blockflöten, im Kegelclub oder dem Handballverein gelaufen sein. (Wobei natürlich wegen der ehemals fast 100%-igen SED-Mitgliedschaft dieser Leute der SED-Effekt tatsächlich überwiegt. Aber es handelt sich auch dann keinesfalls um eine Bruderschaft im Geiste von Marx und Lenin, sondern – und zwar schon immer – um den Geist von Posten, Macht und Geld). Man macht halt einfach so weiter wie bisher, nur unter anderen Vorzeichen, was solchen Typen, die routinemäßig schon immer jede Linie problemlos mitmachten, kaum schwer fallen dürfte.

 

Soweit in (zugegeben vereinfachender) Kürze das gegenwärtige Typenspektrum Deiner neuen Landsleute. Was die Verhältnisse angeht, ist (ich muß hier trotz Rückschau-Absicht im Präsens bleiben) das Wichtigste wohl die Etablierung des Rechtsstaates. Eine feine Sache, nur ist es ungeheuer schwer hier, sein neues Recht überhaupt kennenzulernen, gar nicht zu reden davon, es zu nutzen oder gar durchzusetzen.

 

Typisches Symptom: Die Schlange – sie hat unser armes kleines Volk noch immer nicht aus ihrer Umklammerung entlassen. Zwar stehen wir jetzt nicht mehr nach Wurst und Orangen (wenn man einmal vornehm davon absieht, daß die Ossis in ihrer Konsumwut gerade vor Weihnachten wirklich ganze Landstriche leerzukaufen bereit waren), wir stehen jetzt bei Banken und Behörden, nach Ausweisen und Bescheinigungen, ja sogar bei der (KFZ-)Versicherung. Für letztere muß hier im Dezember das absolute Traumgeschäft ihrer Firmengeschichte gelaufen sein. Vor unserem Fenster haben sich schon seit vielen Wochen etwa ein Dutzend Gesellschaften per Wohnwagen oder Container etabliert. Das Geschäft muß sich bei der Flut von neuerworbenen (Gebraucht-)Wagen sowieso gelohnt haben, aber in den letzten Tagen des Jahres haben die Leute sogar Urlaub genommen, um bloß noch rechtzeitig IRGENDEINE KFZ-Haftpflicht-Versicherung abzuschließen. Keiner, der noch auf die Höhe der Tarife achtete („immer die Preise vergleichen!“ Haha, Judy), man stellte sich dort an, wo die Schlange am kürzesten schien (weniger als 20) und basta!

 

Gelobt seien die Raucher! [1]

 

Kurz: Es wird noch eine ganze Weile dauern und nicht ohne Heulen und Zähneklappern abgehen, nach der formal-staatlichen auch die real-bürokratische Einheit der Deutschen herzustellen (Was die emotionale Einheit angeht, warte ich ein wenig auf Deinen Beitrag dazu.)

 

Andererseits ist bisher wirklich erst eine verdammt kurze Zeit vergangen. Vor 6 Monaten ist gerademal die Währungsunion geschmiedet worden und mein Bundesbürgertum ist gar erst 10 Wochen alt. Millionen im Osten würden gern und sofort mit uns tauschen und wären begeistert, dürften sie sich nach KFZ-Versicherungen anstellen.

 

Womit ich mich nun dem letzten und damit außenpolitischen Teil nähere und gleichzeitig bemerke, daß der vorgesehene beschauliche Jahresrückblick ’90 gar keiner geworden ist, wofür ich um Verzeihung bitte.

 

Noch mehr als die wirklich blöde Lage am Golf bewegt mich – wie Du Dir sicher denken kannst – die Situation in der SU. Spätestens nach Schewardnadses Rücktritt scheint mir klar, daß die Frage ob Diktatur oder Demokratie nicht mehr steht. Es geht jetzt wohl nur noch darum, wann, um welchen Preis und wieviele Diktaturen errichtet werden – und nicht zuletzt: Wieweit sind wir in Deutschland davon betroffen? Wenn dem Volk die Diktatur als das kleinere Übel erscheint, kommt sie unweigerlich. Wir haben das in diesem Jahrhundert u.a. in Deutschland und in Chile erlebt und die Ausgangssituation scheint mir in der Sowjetunion sehr ähnlich: Man ist bereit für einen Schlag Suppe in den eigenen Topf über den Schlag in die Magengrube des Nachbarn hinwegzusehen, denn zur Wahl stehen scheinbar nur noch: Anarchie oder Diktatur. Die Demokratie spielt in einer solcherart verfahrenen Situation als Alternative ohnehin keine Rolle mehr, und soweit sich das von hier aus beurteilen läßt, ist das Überleben dort tatsächlich nur noch mit Mitteln der Gewalt zu sichern. Die Verteilung ist im Begriff zusammenzubrechen und wohl nur das öffentliche Erschießen von zehntausend Schiebern kann hier noch Abhilfe schaffen. Mit einer kleinen Phasenverschiebung steht anschließend das Problem der endgültig zusammenbrechenden Produktion, wieder Erschießungen usw… Am Ende hat das dankbare Volk wieder einen geliebten Tyrannen vor der Nase, den es nicht wieder los wird, und der von seiner alleinseligmachenden Superman-Rolle bald selbst so überzeugt ist, daß als nächstes die Kritiker erschossen werden… usw usw, Schwanzbiß und Ende meines Intellekts – siehe mein Septemberbrief!

 

Das einzige Stück Optimismus, das ich beim Thema SU einbringen kann, ist die Hoffnung, daß an UNS dieser Kelch einigermaßen vorübergeht und die Fetzen der anstehenden Eruptionen UNS nicht allzu dicht um die Ohren fliegen. Die Völker der SU jedenfalls können einem leid tun in ihrer Hoffnungslosigkeit und daran ändert auch nichts die Tatsache, daß ihre eigene unendliche Geduld offenbar eine der Hauptursachen für diese Hoffnungslosigkeit bildet. Wir haben deshalb vor einigen Wochen in unsere schmalen Taschen gegriffen, und wenigstens 1 Care-Paket finanziert. Auch die Kinder haben sich mit ihrer Sparbüchse beteiligt…

 

Das soll’s für heute gewesen sein. Wir wünschen Euch allen ein gesundes und erfolgreiches Jahr 1991 und hoffen, Euch in den nächsten 12 Monaten irgendwie wieder auch leibhaftig in die Arme zu schließen

 

Euer Frank


[1] private Anmerkung: Vor dem ganzen KFZ-Horror hat uns bisher erfolgreich Paulas Camel-Ford bewahrt.

Wir sind überhaupt bisher auf der Behörden-Ansteh- Strecke (neubundesdeutsch müßte es wohl „-Schiene“ heißen) sehr glimpflich davongekommen (toi, toi, toi!), beginnend mit dem November vorigen Jahres als wir nicht am Geldanlage-Run auf Kühlschränke, Waschmaschinen und Fernsehgeräte teilnahmen (zwei Tage Anstehen und – umgerechnet – mindestens 2000 D!-Mark gespart), über das Frühjahr als wir uns den staatlich genehmigten 1:5-Umtausch verkniffen haben (450 DM gespart), die Währungsunion bei der wir 4 zusätzliche Konten extra für den 1:1-Umtausch bei einer ziemlich unbekannten und also nicht überlaufenen Sparkassenzweigstelle eröffnet haben (ein Tag Anstehen gespart), bis hin zum rechtzeitigen Wechsel zur Commerzbank bereits im Juli. Bei der Ostberliner Sparkasse stehen bis heute riesige Schlangen. Jetzt geht es zwar nicht mehr um Umstellungsanträge und das Verteilen des Familienvermögens auf alle Großtanten, sondern um den Antrag für Euroschecks und -Karte, aber mindestens einen halben Tag Zeit muß man eben doch ans Bein binden und nach einer Wartezeit von 6 bis 8 Wochen dann bei der Abholung das Gleiche nochmal. (Für die meisten besonders „schlimm“ weil bei uns mit der Existenzangst auch die Arbeitsdisziplin gewachsen ist und sie nun tatsächlich dazu offiziell frei nehmen müssen.)

Briefe aus der Wendezeit – Teil 7

Stuttgart, 2.7.1990

 

Lieber Frank,

 

bevor sich der falsche Eindruck einschleicht, es gäbe einen anderen als den bereits angekündigten Grund für mein „langes“ Schweigen – hier ein kurzer Zwischenbrief. Die letzten beiden Wochen waren angefüllt mit unpolitischen Dingen, der Arbeit an der 2. Auflage unseres Rechtsbuches und der Vorbereitung unseres Hauskonzertes, das eigentlich in Eurer Anwesenheit stattfinden sollte. Am Samstag ging es über die Bühne, wir hatten volles Haus, ca. 45 Personen und das von mir wiederentdeckte Klavier – Quartett von Franz Lachner war der Star des Abends. Ich sage ihm noch eine große Karriere voraus, an der zu basteln ich mit vorgenommen habe. Eigentlich hatte ich längst vor, noch eine zusammenfassende Darstellung unserer DDR – Reise zu liefern und natürlich die Fundamentaldiskussion weiterzuführen. Ich muß dich leider noch etwas um Geduld bitten. „Oktoberland“ habe ich mit großem Interesse gelesen – dazu noch später. Am Konzerttag kamen die „Guten Genossen“, ich werde sie ab heute lesen. Gerade ging mir das Aufhebungsurteil „für“ Janka u.a. über den Schreibtisch – von den gleichen Richtern verfasst, wie das Urteil gegen Janka ? Die Politik hat mich schon fast wieder. Jetzt aber soll erst einmal dieser Brief weg. Ich hoffe Paulas Operation ging gut über die Bühne, Du hast gar nichts erwähnt.

 

Grüsse

 

Klaus

 


Berlin, den 13.07.90

 

Lieber Klaus!

 

Vielen Dank für Deinen „Kurzbrief“ vom.2.7. Bevor ich richtig in die Politik einsteige, hier auf einem Extrablatt) erst mal noch ein wenig Privates:

 

Paulas Operation ist gut verlaufen, im Vorfeld gab es allerdings noch eine (hoffentlich letzte) typische Abschiedsvorstellung unseres Gesundheitswesens: Für Blutuntersuchung, Röntgen und Ultraschall waren im Krankenhaus 3 Tage erforderlich. In der Zwischenzeit mußte sie sich für eine alte Frau als Hilfsschwester betätigen und sie laufend auf den Schieber setzen. Am Wochenende wurde Paula beurlaubt, am Montag war die Operation, Dienstag früh starb die alte Frau und Dienstag Mittag wurde Paula entlassen. 3 Tage später hat sie – noch krankgeschrieben – ihre Akten in der Dewag archiviert (einarmig, wobei ihr Vorgesetzter anderen Kollegen untersagt hatte, ihr zu helfen) und am Montag ist sie bei Reynolds angetreten und gleich in eine „Verkaufsaktion“ hineingeraten – auf dem Frankfurter Markt waren Zigaretten feilzubieten. Zwei Wochen lang kam sie nicht vor 19.00 Uhr nach Hause und da ich gleichzeitig eine Projektgruppe zur Vorbereitung der Postunion zu leiten hatte, die unter ziemlichem Zeitdruck ein möglichst hochwertiges Papier ausarbeiten sollte, waren wir in dieser Zeit total „breit“. Nur durch höchste persönliche Beherrschung kam es im Hause Geisler nicht zu Kindesmißhandlungen oder Scheidungsklagen.

 

Inzwischen aber hat sich alles hervorragend stabilisiert. Vor der Tür steht ein herrlicher gelber Ford mit einem riesigen blauen Kamel auf der Motorhaube, der den Neid unserer an alten Klein-Bonzen so reichen Nachbarschaft erregt, unsere gestreßten Kinder sind seit 3 Tagen im (wahrscheinlich letzten) Ferienlager und erholen sich dort von uns, und Paula hat seit dem 9. Juli sogar einen festen Arbeitsvertrag und kommt meist zu zivilisierten Zeiten nach Hause.

 

Sie verdient deutlich mehr als bei der Dewag, wenn auch 1000,- DM weniger als ein Anfänger im gleichen Job und mit 38,5-Stundenwoche 5 Kilometer weiter (Die Zigaretten kosten hier selbstverständlich das gleiche wie dort), aber wir halten uns in jedem Fall für ausgesprochene Glückspilze, zumal berechtigte Hoffnung auf bundes“nahe“ Tarife (bei Reynolds) für das nächste Jahr besteht und die Post noch keine Anstalten macht, mich rauszuschmeißen, so daß wir der ab Januar angekündigten Mietverdoppelung und der Verdreifachung der Energietarife ebenso gefaßt entgegensehen können, wie der Verzwölffachung der U-Bahn-Preise.

 

Die Währungsumstellung haben wir einigermaßen elegant über die Bühne gebracht, haben aber noch keine Bescheinigung über die nun gültigen Guthaben in der Hand. Auch in der 3. Woche nach der Währungsunion steht man bei unserer Bank noch mehr als 2 Stunden nach einem Kontoauszug an – was wir uns also bisher verkniffen haben. (Von Abhebungen ganz zu schweigen)

 

Soweit also der Privatkram und jetzt der „richtige“ Brief:

 

 

PS: Denkst Du bei Gelegenheit an die Kopien meiner handschriftlichen Unikate?

 

2. PS Wir wären wirklich mal scharf auf ein Hauskonzert bei Euch

 


Berlin, den 13.07.90

 

Lieber Klaus!

 

Die ersten zwei Wochen D-Mark liegen hinter uns und damit der vielzitierte „Einstieg in die Marktwirtschaft“ zumindest als Verbraucher. Am Alex war am 1. Juli um 0.00 Uhr eine Art spontane Sylvesterfete in Gang gekommen, die ganz sehenswert war: Raketen, Verkehrschaos, mit Kleingeld (Ost) werfende Ossis und das Kleingeld aufhebende Wessis, verängstigte herrenlose Hunde, glücklich lallende Besoffene und ein wenig abseits eine machtlose Polizei, die von der Idee der Deutschen Bank, bereits ab Mitternacht in ihrer Filiale am Alex die heißgeliebten Scheine auszuzahlen, offenbar völlig überrascht war – obwohl es in der Zeitung gestanden hatte.

 

Trotzdem alles noch glimpflich, nur ein paar Ohnmachtsanfälle und Quetschungen bei den Trotteln, die sich schon abends um 6 angestellt hatten, eine eingedrückte Scheibe – und ein glücklicher Arbeiter, dem die Bank als erstem Kunden ein Sparbuch mit der Wahnsinnssumme von sage und schreibe 100,- DM überreichte. (15 DM für jede Stunde anstehen, einschließlich Samstags- und Nachtzuschlag, hurra!)

 

Apropos anstehen: In den Wochen vor dem berühmten Stichtag konnte sich unser DDR-Staatsvolk in dieser Disziplin nochmal so richtig austoben (zum letzten Mal, wie wir Naivlinge damals alle dachten). Am Alex erreichte die Schlange vor unserer Bank zeitweilig Längen von mehr als 300 Metern. 3 bis 4 Stunden Wartezeit galten als normal. (Dafür warteten die Postämter umsonst auf Kunden für die Umstellung – sie hatten es nämlich nicht fertiggebracht, noch rechtzeitig Post-Sparbücher nachzudrucken.) Aber die in 57 Jahren Diktatur anerzogene Disziplin versagte auch diesmal nicht, die Leute standen trotz der allgemein gereizten Grundstimmung ausgesprochen brav und voller Vorfreude auf den großen Tag mit dem „richtigen Geld“.

 

Inzwischen leerten sich zunehmend die Geschäfte. Der Handel verramschte die letzten Ostwaren und wischte die Regale aus, die Kunden hamsterten unser graues Klopapier, Dauerwürste, Mehl, Zucker, Straßenbahnfahrscheine und andere subventionierte Errungenschaften, und der Preis für gebrauchte Trabis sank ins bodenlose. Dann kam der 30. Juni, überall Leute mit Gesichtern wie am Vorweihnachtstag, die Innenstadt war erfüllt von den Sirenen der hin- und herflitzenden gepanzerten Geldtransporter, gegen Abend füllten sich die Gaststätten mit Zechern, die ihre letzten „Ostmücken“ auf den Kopf hauen wollten, schließlich wurde es Mitternacht (siehe oben) und peng – seitdem geht es uns gut!

 

Ich meine das übrigens ohne Ironie. Uns geht es wirklich gut. Trotzdem ist überall lautes Plärren zu hören. Um bei dem Weihnachtsvergleich zu bleiben – der Gabentisch ist zwar nicht schlecht gefüllt, aber einige meinen doch, daß da etliche Geschenke fehlen, versprochene oder eingebildete, und daß wo man doch die geforderten Gedichte so brav gelernt und aufgesagt hat.

 

Natürlich gibt es wirklich einen Packen Anlaufschwierigkeiten, die aber gemessen an der Größe des bewältigten Problems ziemlich lächerlich erscheinen, leider nicht allen. Besonders im Umfeld des Handels mault und meckert nun jedermann nach Leibeskräften weil der Konsum an der Ecke nicht gleich aussieht wie die – dummerweise nun ja jedermann bekannte – Lebensmittelabteilung von Karstadt. Sicher, es gibt teilweise wirklich Grund zum Meckern, vor allem was die Preise angeht. Der Dorfkonsum im berühmten R. verlangte z.B. in der ersten Woche 1,50 DM für einen halben Liter Flaschenmilch und die war am nächsten Tag auch noch sauer. Die logische Folge ist der massenhafte Einflug der Ossis in die ohnehin schon arg strapazierten Zonenrandgebiete und nach Westberlin. Dort haben sie damit nun endgültig die Nase voll von uns, und das ist mehr als verständlich. Andererseits liegt im Einkaufstourismus aber auch die beste und schnellste Chance, unseren Alt-Monopolen HO und Konsum rasch beizubringen, wer nun der Boss auf dem Markt ist.

 

Ich denke, von Berlin und der Westgrenze aus wird sich im Laufe der nächsten Wochen ein brauchbares Angebots- und Preisniveau über die alte Noch-DDR ausbreiten, alle werden rasch dazulernen und bis zum Weihnachtseinkauf sind die Geburtswehen des marktgerechten Handels überstanden.

 

Interessanter ist die allgemein spürbare Entpolitisierung der Leute. Mit Einführung der D-Mark nehmen die popeligen Alltagssorgen – wirkliche und vermeintliche – endgültig die Hauptrolle im Denken ein. Es mag sein, daß nach 9 Monaten permanenter Höhepunkte und täglich neuer (wirklich) „historischer“ Ereignisse ohnehin eine gewisse Müdigkeit kommen muß, aber dennoch ist es beeindruckend, wie sich der Themenkreis der Gespräche auf Profanes reduziert. Politik spielt nur noch eine Rolle, wenn sie unmittelbar den eigenen Bauch tangiert und ein allgemeines Greinen hängt in der Luft, denn der Staat, der böse, nimmt sich nun nicht mehr aller Probleme an.

 

Vor allem für die über 50-jährigen sind schwere Zeiten angebrochen, denn ihre massiven Arbeitsplatzsorgen treffen unglücklich zusammen mit einer irreparablen Unfähigkeit, für sich selbst zu sorgen. Es ist eine Art Karnickel-vor-Schlange-Effekt. In abgeschwächter Form ist er auch bei den meisten Jüngeren zu beobachten. Typisches Beispiel: Man bangt um den Arbeitsplatz, kümmert sich aber nicht um Alternativen (wobei das zugegebenermaßen bereits jetzt ungeheuer schwierig ist. Wirklich unmöglich wird es aber erst in ungefähr einem Jahr sein.)

 

Im Zusammenhang mit dem 1. Juli wird oft an die 48er Währungsreform im Westen erinnert. Es gibt hier ganz sicher erhebliche Parallelen, aber eines ist doch grundsätzlich anders: Seinerzeit gab es keinen Nachbarn, der alles schon erreicht hatte. Hieraus resultiert wahrscheinlich ein gewisser Lähmungseffekt. Üppiger Wohlstand nebenan kann deprimieren. (Du erinnerst Dich vielleicht, daß ich bei unserem kurzen Abstecher in den Elsaß gesagt hatte, dort würde es zum Glück nicht so bedrückend schön aussehen wie bei den badischen Häuslebauern.) Hätte es 1948 eine gemeinsame Grenze zwischen den Westzonen und den USA oder Kanada gegeben, wäre die Bereitschaft in Westdeutschland, gemeinsam eine mehrjährige Durststrecke durchzustehen, wahrscheinlich auch arg gedämpft worden. Daß der reiche Nachbar (mit seiner hoffentlich erhalten gebliebenen Teilungsbereitschaft und seiner hoffentlich erwachenden Investitionsbereitschaft) andererseits für uns die einzige Chance ist, diesen Prozeß in vertretbaren Zeiträumen überhaupt zu bewältigen und dies für uns im Rahmen der alten Ostblockländer eine einmalig ideale Situation ist, wird hier derzeit oft vergessen. Dazu ist wohl ein Maß an Rationalität erforderlich, das den meisten von uns noch abgeht. Als unverbesserlicher Marxist meine ich aber, daß die allgemeine Lähmung von selbst abgebaut wird – in dem Maße wie reale Chancen auf ein Weiterkommen geschaffen werden, denn das Sein bestimmt das Bewußtsein und nicht umgekehrt.

 

Im engeren Bekanntenkreis (der vielleicht typisch für die Situation von Hoch- und Fachschulkadern ist, jedoch keinesfalls repräsentativ sein muß) gibt es – uns selbst eingeschlossen – zur Zeit 3 arbeitslose bzw gekündigte, 8 halbwegs sicher angestellte und 9 sehr unsichere, davon 3 hoffnungslose „Arbeitnehmer“. Es ist interessant wie deren Gemütsverfassung in der Tat von ihrem Status bestimmt wird, vom vorsichtigen Optimismus bis hin zu Verzweiflung und Panik. Allen gemeinsam aber ist das Gefühl, selbst keinen politischen Einfluß mehr (?) ausüben zu können und (wieder mal) einer unfähigen Regierung ausgeliefert zu sein, die sowieso von Bonn aus ferngesteuert wird. Auch die Mitbestimmungsansätze in den Betrieben sind vergessen. Die alten (!) Leitungen schalten und walten selbstherrlich wie eh und je und in Verbindung mit der nach wie vor unsicheren Rechtslage, dem Zerfall der Gewerkschaften und dem Rückzug der Staatspartei aus den Unternehmen gibt es auch keine kontrollierenden Strukturen mehr für sie, zumal die Treuhandanstalt für das Volkseigentum, die als einziges Organ, diese Rolle derzeit wahrnehmen könnte, noch (?) nicht funktioniert.

 

Insofern kann die Einheit eigentlich nicht schnell genug kommen, und zwar weniger wegen der gefüllten Staatskasse sondern vor allem wegen des arg vermißten festgefügten Rechtsgebäudes, das die Bundesrepublik einbringt (wenn sich in dessen Räumen auch bei uns keiner auskennt).

 

Davon unabhängig ist mir dennoch nach wie vor ein wenig unbehaglich bei dem Gedanken an die Einheit, denn mit dem Lebensgefühl, das vom Westen aus „rüberkommt“ kann ich mich immer noch nicht anfreunden, wenn ich auch überzeugt bin, daß es mir als relativ nüchternem Denker leichter als vielen anderen fallen wird, mich in der neuen Welt einigermaßen zurechzufinden. Die weiter oben schon erwähnte Rationalität zu entwickeln, wird für viele der Dreh- und Angelpunkt werden, von dem ihr Bestehen in der neuen ungewohnten Gesellschaftsordnung abhängt. Diese These ist für Euch wahrscheinlich nicht leicht nachzuvollziehen, deshalb möchte ich ein paar dürre Argumente und zwei lächerliche Beispiel nachschieben:

 

Unser bisheriges Leben war irrational, und dennoch in gewissem Sinne berechenbar. Man konnte sich in den Verhältnissen einigermaßen einrichten, wenn man die Grundlagen der realsozialistischen Religion ungefähr begriffen hatte (was nicht schwer war). Unvernünftiges Handeln wurde nicht bestraft, sondern meist sogar gefordert. Ältere Leute konnten – unter Berücksichtigung des Vorzeichens – sogar die prinzipiellen Verhaltensmuster der ebenso irrationalen Nazizeit weitergebrauchen – das, wie ich meine, eigentliche Geheimnis der blitzartigen Umerziehung am Ende der 40er Jahre (siehe meinen Aufsatz).

 

Der wirkliche Sprung in die Vernunft ist erst jetzt aktuell, zu einem Zeitpunkt da nur noch wenige Greise sich überhaupt daran erinnern können, und deshalb fällt er so vielen so schwer und ich kann für mich und meine Noch-Landsleute nur um Verständnis bitten, wenn es oft den Anschein hat, wir würden nicht einmal die Grundrechenarten beherrschen.

 

In dem berühmten Dorf R. will ein tatendurstiger junger Mann beispielsweise im September eine Gaststätte (wieder)eröffnen, obwohl er außer den 120 Seelen am Ort und weiteren 100 im Nachbardorf keinerlei Kundschaft erwarten kann. Nicht einmal eine Fernverkehrsstraße ist in der Nähe, die einzige Sehenswürdigkeit ist 15 km (und 4 weitere Kneipen) entfernt. Auf einem winzigen Zettel kann man in 2 Minuten ausrechnen, daß jede Familie monatlich bei ihm einen Wochenlohn umsetzen müßte, wenn er nicht bis Dezember pleite sein soll…

 

2. Beispiel: Eine mir gut bekannte Bäuerin erregte sich in der ersten Juli-Woche über die sauer gewordene Konsum-Milch – nicht etwa weil sie schlecht und teuer war, sondern weil sie die private Viehhaltung inzwischen abgeschafft hatte, und deshalb die 4 verdorbenen Flaschen (6,- DM, 1% ihrer Monatsrente) in den Ausguß schütten mußte, anstatt sie wie sonst den Schweinen zu geben, damit die Milch „nicht umkommt“.

 

Kurzum, Rationalität im Denken scheint mir derzeit das ostdeutsche Hauptproblem und tausende werden noch Rotz und Wasser heulen, bis sie es begriffen haben, aber dann! Erzittert, Ihr harmlosen Marktwirtschaftler, die Ihr nicht die harte Schule der Mangel- und Kommandowirtschaft durchlaufen habt, vor den Improvisationskünstlern aus dem Osten, die es gewohnt sind, auch bei abgeschaltetem Strom zu produzieren, ohne Computer zu erfinden, ohne Straßen zu transportieren und ohne richtiges Geld zu handeln. Erzittert vor jenen wunderbaren Menschen, die in der Lage sind, ohne Wohnungen und Papiertaschentücher zu leben und ihren Jahresvitaminbedarf mit einer einzigen Apfelsorte zu decken. Wir kommen! Und Ihr wäret nicht die erste Hochkultur, die dem Ansturm asketischer Barbaren erliegt. Hugh und Amen.

 

 

Mit diesem optimistischen Schluß verbleibe ich bis zum nächsten Mal,

 

Dein

 

Frank

 


Santa Margharita – Paraggi 3.8.1990

 

Lieber Frank,

 

ich sitze in einer malerischen Bucht an einer der spektakulärsten Küsten, die die Welt zu bieten hat. Grandios die steile Küstenlandschaft, grandios die Architektur, die der Landschaft erst die Krone aufsetzt. Um mich schöne Menschen, eine schöne Sprache und schönes Wetter. Die Raffinesse des Geschmacks und das Gefühl für Luxus steigern sich hier in eine Höhe, weit jenseits dessen, was dem Schwaben zugänglich ist. Du siehst also, daß ich mich wohlfühlen müßte.

 

Doch so einfach liegen die Dinge in unseren kompetitiven Gesellschaften nicht. Denn vor das Wohlfühlen haben die Götter den Markt gesetzt. Und der mutet einem bekanntlich einiges Merkwürdige zu.

 

Alle Gesellschaft beginnt damit, daß etwas rar ist. Der Markt ordnet den Mangel. In diesen felsigen Regionen herrscht Mangel an Strand. Also entsteht eine Strandgesellschaft und der Markt teilt die Gesellschaft in Strandhabende, Wenighabende und Habenichtse. Über diese Gesellschaft und ihren Markt will ich Dir schreiben.

 

Der Strand in „unserer“ Bucht ist 150 Meter lang, 15 Meter tief und weit und breit der einzige, der auch Sand zu bieten hat. Da aber die Leute – darunter auch wir – unbedingt in diese Gegend wollen, stellt sich das Verteilungsproblem. Und dies wird in der Marktwirtschaft u.a. über den Preis geregelt (mittlerweile kennt ihr das ja). Auch der Strand ist in einem Touristenland wie Italien ein Wirtschaftgut, weswegen auch er einen Preis hat. Für unsere fünfköpfige Familie kostet der Strand von Paraggi samt qualitätssteigerndem Zubehör (i.e. Liege, Sonnenschirm, Dusche Umkleidekabine) 100 DM – pro Tag versteht sich; und dies bei einer deutlichen Kinderermäßigung. Normalerweise würde bei solchen Preisen der Markt für eine Erhöhung des Angebotes sorgen. Da aber Grund und Boden und insbesondere der Strand nicht vermehrt werden können – jedenfalls nicht hier, wo die Menschen nun einmal hinwollen (welch‘ seltsame Dinge die Menschen unbedingt wollen, wisst ihr ja jetzt ebenfalls) – kann die Preisfunktion der Mengensteuerung hier nicht greifen. Damit verselbständigt sich die Verteilungsfunktion des Preises und führt zu einer problematischen Verteilung von Haben und Nichthaben. Zum Schutz der Habenichtse muß daher der nackte und harte Marktmechanismus durch eine soziale Komponente entschärft werden. Dementsprechend wird dem breiten Volk – darunter wir – ein Teil des Strandes kostenlos zur Verfügung gestellt – ohne Zubehör natürlich. (Vermutlich steht in der italienischen Verfassung irgend etwas davon, daß der freie Zugang zu den Stränden garantiert sei.) Und damit haben wir eine regelrechte soziale Marktwirtschaft – nach dem Motto: Wer was geleistet hat, kann sich etwas leisten und geschützt wird, wen das Leben oder wer auch immer benachteiligt hat.

 

Nun kann der soziale Aspekt der Marktwirtschaft sehr unterschiedlich dimensioniert sein. Sein Ausmaß kann sicher daran gemessen werden, in welchem Verhältnis die Ressourcen an die Interessenten verteilt sind. In Paraggi hat man sich dazu entschlossen, dasselbe mit 93 zu 7 anzusetzen. Von den 150 Metern Strand sind nämlich 10 (in Worten: zehn) Meter für – nun für das Volk gedacht; eine Relation, die vermutlich nicht untypisch für die italienische Spielart der sozialen Marktwirtschaft ist. Angesichts dieser Vorteilsverteilung und der dadurch bedingten Enge auf dem Volksstrand, könnte man erwarten, daß sich unter den Habenichtsen Formen solidarischen Verhaltens entwickelt hätten. Aber der Verbraucher ist – jeder Verkäufer weiß es – ein ziemlich unorganisiertes Wesen. Und so sind mangels entsprechender gesellschaftlicher Institutionen hier eher ursprüngliche soziale Gesetzlichkeiten in Kraft. Das Grundgesetz ist denkbar einfach und lautet: Wer zuerst kommt, mahlt am ersten. Das stärkt die Eigeninitiative, sagt man, und führt zu vorsorgendem Verhalten. In unserem Fall wirkt es sich zu unseren Gunsten aus. Da wir – wohnmobilshalber – gleich hinter dem Strand nächtigen, können wir unsere Claims mittels Handtüchern schon vor dem Frühstück abstecken und auch darüber wachen, daß die hierzulande ziemlich gut vertretene Spezies der Vordrängler diese nicht mißachtet.

 

So drängen sich die landlosen Massen auf Grundstücken von der Größe eines Handtuches (daher die Redewendung). Das Hauptproblem ist, soviel Platz dazwischen zu lassen, daß das verfassungsmäßige Recht auf Zugang zum Wasser auch für die hinteren Volksränge erhalten bleibt. Ein öffentliches Wegerecht, das sich aus solchen Bedürfnissen normalerweise entwickelt, gibt es allerdings noch nicht, mit anderen Worten, pausenlos tappt jemand mit seinen Sandfüßen auf unsere sorgfältig ausgeschüttelten Handtücher, wenn nicht gar auf wesentlichere Teile unseres Hab und (leiblichen) Guts. Neben uns liegen auf vergleichsweise wahren Latifundien säuberlich angeordnet die happy few. Ihr Territorium wird durch einen Mietknecht verteidigt, der Übergriffsgelüste schon im Keim erstickt und stattgefundende Grenzverletzungen alsbald zurückschlägt.

 

Aber auch das Los der Größerengrundbesitzer ist kein einfaches. Rechts und links am Eingang der Bucht stehen in majestätischer Lage zwei prächtige Villen mit eigenem Strand, dazu in einem Park von der mehrfachen Größe des Strandes der gesamten Bucht. Spielerisch reckt die eine ihren säulengetragenen Aussichtsturm aus generationenalten Pinien, während die andere mit ihren Zinnen und romanischen Fenstern wie eine genuesische Burg eher abweisend auf einem steilen Felsen ruht (der allerdings mit Hilfe einer gewaltigen Stützmauer so geräumig gemacht ist, daß er auch noch ein Süßwasserschwimmbad von der Größe des gesamten Volksstrandes aufnehmen kann). Von den Villen in der Bucht von Santa Margharita oder Rapallo will ich gar nicht weiter reden. Sie fordern durch Lage und Grandezza geradezu den Lieben Gott heraus.

 

So weit die Verhältnisse auf dem Lande. Auf dem Wasser, um das sich hier ja alles dreht, sieht es nicht viel anders aus. Die Plebs tummelt sich in Klein- und Kleinstbooten – zu letzteren gehört auch unsere mittlerweile leicht leckgeschlagene „Amazonas.“ Auf die Schlauchbootklasse folgen die diversen Außenborder. Dann kommt – gegen beachtlichen Obolus – das Mietschiff, das in Form eines riesigen weißen Kreuzfahrtschiffes mit fünf Masten – die Freiheit der Meere nutzend – den größten Teil der Bucht in Beschlag nimmt. Von der ausgeklappten Heckterrasse schwärmen pausenlos Wasserski- und scooterfahrer, sowie Segler, Surfer und Landpartien. Den Rest der Bucht belegen große Privatjachten, vergleichbar in Funktion und Ausdehnung den beiden Villen, obwohl sie ein vielfaches derselben kosten dürften. Auftrumpfend und stolz recken sie ihren spitzen Bug aus dem Wasser, so daß jedermann schon beim bloßen Anblick der Schneid abgekauft ist.

 

Und doch – auch diese Lebensform ist keine einfache. In der nächsten Bucht, im Hafen von Portofino, liegt eine solche Yacht neben der anderen, fast wie an unserem Massenstrand. Da müssen auch sie sich behaupten. Da ist etwa jener herrlich nostalgische Zweimaster von ca. 30 Meter Länge. Der alte feine Herr, der zwischen großen Blattpflanzen – Zimmerpflanzen an Bord sind der Ausweis wahrer Yachtgröße – auf einem Segeltuchsofa im Heck seines schönen Schiffes liegt, macht dennoch einen eher unglücklichen Eindruck. Er ist eingezwängt zwischen einer haushohen und bis in die reichliche Bootsbar ultramodern durchgestylten amerikanischen und einer mindestens 50 Meter langen englischen Motoryacht mit gediegenster Ausstattung, als da sind: silberne Leuchter auf dem Mahagonnytisch, antike Gemälde an den Wänden, Orientteppiche und schwere Polstermöbel (beide natürlich mit Zimmerpflanzen im Heck).

 

Aber selbst die, die andere hier im Hafen klein aussehen lassen, können ihrer Sache nicht sicher sein. Denn da sind noch die Yachten, die für einen solchen Hafen viel zu groß sind und daher weit draußen liegen – von denen, die noch kommen könnten, ganz zu schweigen. 

 

So hat denn jeder sein Päckchen zu tagen. Angesichts dieser Erkenntnis kann man sich schließlich wohlfühlen an diesem gesegneten Fleckchen Erde und sogar die Tatsache verkraften, daß wir seit unserem letztem Urlaub in der CSSR und der DDR in der Urlaubshierarchie einen wahren Sturzflug durchgemacht haben.

 

So viel vom Ferienglück am Strand von Paraggi. Man könnte noch manches über den Ferienwahn und insbesondere die Auswüchse schreiben, die er in Italien hervorbringt. Aber das hat ein anderer schon vor 250 Jahren getan. Wegen weiterer Einzelheiten – viel hat sich nämlich nicht geändert – verweise ich daher auf Goldoni’s „Trilogie der Ferienzeit“. Im übrigen hoffe ich hiermit einen Teil meiner Briefschulden abgetragen zu haben. Die politökonomischen Teile dieses Briefes kannst Du nämlich auch als Antwort auf Deine Ausführungen zur Funktion des „Marktes“ in der DDR- Wirtschaft in Deinem Wandlitzer Brief vom 15. 2. lesen, in dem Du den Mengensteuerungs- und Verteilungsaspekt des freien Marktes mangels eigener Anschauung übersehen hattest. Außerdem ist dieser Brief auch so etwas wie eine erste Etappe der in Aussicht gestellten Expedition in die Fährnisse einer freiheitlichen Gesellschaft (mein Brief vom 6.5.), die, wie Du siehst, kompensatorische Kletterkünste verlangt.

 

Bis bald

Gruß

 

Klaus

 


am 04.09.90Berlin, angefangen

 

Lieber Klaus!

 

Am Wochenende kam Dein Brief „aus Italien“ – sehr interessant und vielen Dank. Meine Fortschritte im marktwirtschaftlichen Denken haben bewirkt, daß mir die beschriebenen Mechanismen der Strandverteilung durchaus logisch und verständlich erscheinen. Den Sand vorrangig an Bestarbeiter oder Kinderreiche zu verteilen wäre jedenfalls auch keine Alternative.

 

Insofern alles klar.

 

Deine Ausführungen über den allgemeinen Grad des Luxus in dieser Gegend regten mich dagegen an, wieder einmal über den Reichtum und die Reichen dieser Welt zu sinnieren, was mir insofern jetzt noch leichtfällt, als ich voraussichtlich in den nächsten Wochen noch nicht dazugehöre.

 

Die Konfrontation mit solcher Art Chickeria-Nachrichten hinterließ bei mir schon immer einen faden Geschmack auf der Zunge. Dabei waren die Begegnungen für uns bisher glücklicherweise mehr virtuell, vor allem in Form von Nachrichten oder als Standardbeiwerk irgendwelcher Hollywood-Schinken. Dank unserer Revolution ist nun jedoch zu erwarten, daß man sich dagegen nicht mehr einfach durch Abschalten des TV wehren kann, sondern die Neu- und Altreichen sich genußvoll mit ihrem Protz ins Blickfeld des Normalverbrauchers drängen werden – für viele von uns eine völlig neue Erfahrung, denn erstens scheuten unsere alten Bonzen bei ihrem Wohlleben bekanntlich die Öffentlichkeit und zweitens waren die vielzitierten Privilegien (bei aller Berechtigung des Zorns dagegen) in aller Regel geradezu lächerlich gegenüber dem, was der Westen unter Reichtum versteht – und vorführt.

 

Gerade im „Lebensstil“ der Reichen (bzw Privilegierten) dieser Welt zeigt sich m.E. seit 5000 Jahren die Perversion unserer Spezies besonders anschaulich. Man kann tagelang über Vor- und Nachteile dieser oder jener Gesellschaftsordnung debattieren, aber wirklich moralisch war bisher keine. Immer gab es Millionen, die nicht einmal ihr nacktes Überleben sichern konnten, während sich gleichzeitig andere den Kopf darüber zerbrachen, was sie denn noch alles anstellen könnten, um wenigstens einen Teil der Ressourcen zu verbrauchen, die ihnen zur Verfügung standen – und den Hungerleidern fehlten. Dabei habe ich nicht einmal den von Dir so gern gezeichneten (und von mir als typisch immer noch ziemlich bezweifelten) Unternehmer im Auge, der getrieben von kreativer Lust und Ehrgeiz sich erfolgreich dem Markt stellt und fast nebenbei und aus Versehen zu einem überdurchschnittlichen Wohlstand gelangt. Solange Leistung und Risikobereitschaft ihren angemessenen (was auch immer das sein mag. Die Diskussion hierzu wäre allein einen Extrabrief wert) Lohn empfangen, will ich nicht dagegen polemisieren. Sollen diese Leute meinetwegen auch einen größeren Kuchen vom knappen Strand abbekommen.

 

Aber mit welchem Recht sitzen absolute Nichtstuer auf Yachten, die auch ohne Grünpflanzen schon mehr gekostet haben, als ganze Landstriche in hundert Jahren verdienen könnten? Warum bewohnen Leute, die nie in ihrem Leben gearbeitet haben (und wenn es wenigstens als Politiker wäre), Häuser von denen sie nicht einmal alle Zimmer kennen?

 

Dies ist für mich wirkliche Perversion. Keine Ordnung, die so etwas anerkennt, ist wirklich gerecht zu nennen und also sind diese Verhältnisse abzuschaffen, der uralte banale Traum – und die Losung – der (ehrlichen) Revolutionäre seit Menschengedenken. Da aber der Mensch offenbar nicht dafür eingerichtet ist, auf die eigene Erhebung über die Masse freiwillig zu verzichten, oder sich wenigstens auf irgendeinem Stande zu bescheiden, führte jede Revolution früher oder später zur Restauration eben dieses (ewigen?) Prinzips, oft sogar mit den selben Schmarotzern, und meist auch durchaus toleriert von den Massen, die sich in aller Regel zufrieden geben, wenn für sie am Ende wenigstens kleine Verbesserungen abfallen.

 

Solange sie nicht übermäßig d.h. ungeschickt ausgepreßt werden, wird von den Kleinen dieser Welt interessanterweise auch unverdienter (!) Reichtum meist allgemein akzeptiert und dabei mitzutun gilt als durchaus erstrebenswert für jeden, obwohl auf der Hand liegt, daß eben dies für JEDEN gar nicht möglich ist. (Ich nehme mich da keinesfalls aus und gebe unumwunden zu, daß mir der Gedanke, ohne Arbeit über einen Haufen Geld zu verfügen, ausgesprochen gut gefällt.)

 

Aber im Ernst, und dabei ein wenig unser altes Moralthema wiederaufgreifend: Jedes Gesellschaftskonzept muß sich heute daran messen lassen, ob es für 6 bis 10 Milliarden Menschen taugt. Und insofern versagt Ludwig Erhardts Soziale Marktwirtschaft genauso wie jedes (europäische) Sozialismusmodell. (Auch der gute alte Marx hat meines Wissens nicht allzuviel über Europa und die USA hinausphilosophiert.)

 

Wahrscheinlich sind in diesem Sinne taugliche Konzepte am ehesten von den großen Staaten der 3. Welt zu erwarten, da sie unmittelbar mit der Grundproblematik konfrontiert sind. Wenn es in China beispielsweise gelingt, (ohne Ausbeutung von Drittländern !) mehr als 1000 Millionen Menschen satt zu machen, zu kleiden, mit Wohnraum und Medizin zu versorgen und vielleicht sogar mit Fahrrad, Radio und TV, wäre dies (im Gegensatz zu dem überall so schwachsinnig angehimmelten american way of life) ein weltweit wirklich kopierfähiger Erfolg, der weitaus höher zu schätzen ist als alles was der Westen (für sich !) bisher zustande gebracht hat. Gar nicht zu reden, von den untauglichen Versuchen des Real Existiert Habenden, bürgerliche Pseudo-Bedürfnisse mit soziafeudalistischen (Produktions-)Verhältnissen zu befriedigen.

 

Den „Chinesischen Minimalstandard“ zu erreichen ist sicher auch unter den komplizierten Bedingungen der 3. Welt keinesfalls utopisch. Die Frage ist allerdings, ob dies ohne diktatorische Mechanismen möglich ist, inwieweit diese also akzeptiert werden könnten/müßten, wer oder was sie im Zaume hält, oder ob sich Diktatur und Diktatoren nicht irgendwann wie immer (?) verselbständigen, die „Errungenschaften“ dann wieder mal zu ihrem eigenen Vorteil und Machterhalt hintenan setzen usw. – die Katze beißt sich also in den Schwanz und ich gebe zu, daß mein Intellekt an dieser Stelle versagt. Daß aber die Menschheit um des Überlebens willen demnächst endlich aufhören muß, die Bedürfnisse der Nichtstuer zum Dreh- und Angelpunkt ihres Handelns zu machen, scheint mir unvermeidlich. Ich weiß nur nicht wie, denn der einzige vernünftige Ansatz in dieser Richtung – die radikale Vergesellschaftung der Ressourcen – ist ja weltweit erstmal in die Hosen gegangen.

 

Womit wir bei der DDR wären, die heute in einem Monat Geschichte ist: Hier haben alle mit sich zu tun und pfeifen erstmal auf die Ernährungsprobleme der Chinesen. Die politische Reizüberflutung der letzten Monate hat sogar zu einem gewissen Wiederaufleben der alten Langeweile geführt – der Nachrichtenhunger ist weitgehend abgeflaut, interessant sind höchstens noch Tarifverhandlungen von denen man selbst betroffen ist. 2+4-Gespräche, die erneute Besetzung des Stasi-Archivs, Personalgrenze für die gesamtdeutsche Armee – na und? Für den bundesdeutschen Abtreibungs-Hickhack gab es hier allenfalls ein Lächeln. Dieses Thema war ein schönes Beispiel dafür, wie gewaltig derzeit (?) die Unterschiede der Problemsensibilität zwischen Ost und West sind. (Fast) Niemand bei uns hatte Verständnis dafür, daß angesichts eines geradezu erdrückenden Berges für uns (!) ungelöster Fragen, im Westen ausgerechnet der § 218 zum Dreh- und Angelpunkt der Vereinigungsdiskussion wurde. Hier sind wie so oft wieder einmal die Interessen der Wähler der Profilierungssucht der Politiker – gegenüber den Wählern, witzigerweise – geopfert worden. Nun habe ich natürlich eine ganze Menge Verständnis für den K(r)ampf um die Wählergunst, aber andererseits war es doch beeindruckend, wie wenig man in Bonn offenbar bereit ist, um die Gunst der (11 Millionen) Wähler im Osten zu kämpfen. (Die ganze Diskussion hätte man sich ohnehin vollständig sparen können, da praktisch jeder Ostfrau mit Euren Maßstäben die Notlagenindikation zugesprochen würde.)

 

Alles in allem haben die letzten Wochen hier die politischen Ohnmachtsgefühle kräftig verstärkt und so freuen sich nun auch die letzten Hardliner auf den Zusammenschluß, damit bloß der leidige Schwebezustand der letzten Monate endlich ein Ende hat und wieder halbwegs geordnete Verhältnisse einziehen (ganz gleich, welche)! Man möge sich zum Verständnis vor Augen halten, daß wir seit fast einem Jahr „Regierungen“ haben, die entweder frisch ins Amt gesetzt waren (und also voll damit beschäftigt, Klo und Kantine in den einschlägigen Ministerien kennenzulernen – wobei die letzte Truppe noch dazu aus lauter Amateuren besteht, die zusätzlich die Sorge haben, sich schnell „repräsentativen Wohnraum“ zu besorgen), und/oder diese Regierungen genau wußten, daß sie nur noch wenige Wochen regieren können. Und unter diesen Vorzeichen sind dann in diesem Land so viele und so kurzlebige Gesetze und Verordnungen erlassen worden wie noch nie -uff, und hoch die Einheit!

 

Wichtiger als die große Politik sind für die meisten hier derzeit die hautnahen Details. 10 Wochen Marktwirtschafts-Training sind noch eine verdammt kurze Zeit, aber es zeichnen sich doch schon interessante Konturen ab. Wir konnten bei unserem Thüringen-Urlaub dazu einige Studien treiben, vor allem bei Handel und Gastronomie, aber auch in der Kulturszene. Sichtbar wurde etwa folgendes:

 

Besonders in der Provinz agieren viele noch wie vor der Wende, d.h. abwartend, ohne Eigeninitiative, in der Hoffnung auf Manna. Typisch (für diesen Teil und die letzten 40 Jahre) eine private (!) Schuhverkäuferin, die 10 Minuten vor Geschäftsschluß den Laden dicht macht mit den Worten: „Morchn is auch noch ä Daaach!“ oder eine Gaststätte, in der uns ein Zigeunersteak serviert wird, das aus 2/3 ungenießbaren Flexen besteht, das auf unsere Reklamation hin zwar anstandslos zurückgenommen wird, wo man aber außerstande ist, ein anderes zu bringen, „weil das ganze Fleisch so aussieht“. Nun wäre solches noch vor einem Jahr mit unserem alten Spielgeld in der Tasche ganz normal und also gar nicht der Erwähnung wert gewesen. Heute aber beeindruckt es wegen der krassen Ignoranz gegenüber den Veränderungen (und sogar gegenüber der doch sonst so hochverehrten D-Mark) – und eben solcher Ignoranz begegnet man bei uns noch auf Schritt und Tritt.

 

Daneben gibt es aber eine fast sichtbar wachsende Zahl von Kleinunternehmern (im Konsumbereich), die ihre Chance nutzen und sich bemühen, dem Konsumenten das Gefühl zu geben, vom Klops zum Kunden avanciert zu sein. Erste Ansätze von Promotion und Marketing zeigen sich, erste brauchbare Schritte auf sich aufmerksam zu machen. Auffällig die Allgegenwart der vielen bunten Accessoires der Marktwirtschaft. Sonnenschirme, Eisfahnen, „Zimmer frei“-Schilder, Wegweiser zu allen möglichen Imbißbuden, Gaststätten, Getränkemärkten oder Boutiquen… Bitte jetzt nicht lachen: Das „outfit“ in vielen thüringer Orten gemahnte uns in diesem August ein wenig an Ungarn (,das einzige Ostland, in dem bisher versucht worden war, die Funktion des Geldes zu erhalten und ein wenig Markt zu installieren, insofern also kein Wunder).

 

Der Prozeß, der sich hier so verbraucherfreundlich einzupegeln beginnt, ist allerdings auch mit einer Menge Heulen und Zähneklappern bei den Anbietern verbunden. Viele der (gar nicht wenigen) Selbständigen bei uns haben sich bis zum Juli eingebildet, die Marktwirtschaft brächte endlich die langersehnten freien (Wucher-)Preise – und ansonsten könnten sie so weitermachen wie bisher. Bis kurz vor dem 1. Juli haben viele Gewerbetreibende sogar gehofft, der 2:1-Umtausch würde um ihre Konten einen Bogen machen und waren ehrlich empört, als klar wurde, IHR Ministerpräsident hatte dies bei MEINEM Bundesbankpräsidenten nicht durchsetzen können. Von fürchterlicher Verarmung der Selbständigen war die Rede – und daß sie im Juli dann keine Löhne zahlen könnten. (Daß man die nicht vom Kapital sondern von den laufenden Einnahmen zahlt, hatte sich offenbar noch nicht herumgesprochen.) Unter Honecker konnte den Selbständigen wenig passieren. Gute oder schlechte Kaufleute – in der Mangelwirtschaft wurden sie alle fast zwangsläufig reich (natürlich nach Ostmaßstäben), aber selbstverständlich stöhnten sie trotzdem – oder gerade deswegen – besonders herzzerreißend unter der Last des Geldausgebens. (Wenn man ausreichend „flüssig“ ist, schmerzen das Reiseverbot und die 15 Jahre Wartezeit auf einen Wartburg natürlich besonders, das kann man verstehen.) Gerade die schlechten Kaufleute glaubten deshalb wohl am heftigsten, es könnte ihnen eigentlich nach einer Revolution nur besser gehen, und gerade sie sitzen jetzt in ihren vergammelten Kneipen oder schlechtbestückten Läden und wundern sich, wo die Kundschaft bleibt.

 

Aber sogar sie lernen, die Guten. Der Markt hat herrliche Erziehungseffekte: Die Gaststättenpreise sinken schon, Hotels haben freie (bezahlbare!) Zimmer, Taxifahrer betteln um Fahrgäste, sogar einige Handwerker kommen schon ohne Murren und – man höre und staune – in Windeseile, und die verwöhntesten (und reichsten) unter ihnen, unsere geliebten KFZ-Reparateure, fallen fast auf den Bauch vor Eifer. Da kommt Freude auf! (Zur Illustration: Im September ’88 wurde mir betreffs einer dringenden Kupplungsreparatur ein Termin für Juni ’89 zugeteilt – mit dem Bemerken, die nötigen Ersatzteile möge ich mir bis dahin selbst besorgen.)

 

Zwar ist die DDR im September ’90 sicher das Land, wo einem für die weltweit heißgeliebte D-Mark am wenigsten geboten wird (zehntausende der unseren kaufen jetzt in Polen), aber es ist doch zu erkennen, daß sich dieser Trend bald umkehren wird. Z.Zt. wandert etwa ein Drittel der Kaufkraft direkt von hier in den Westen. Das ohnehin knappe Geld (Finanzvermögen ca 1/5, Einkommen ca 1/3 des bundesdeutschen Durchschnitts) macht sich damit noch rarer und sorgt so für kundenfreundlichen Wettbewerb. Man bemüht sich um uns. Leider bemüht man sich nur um den Ossi als Konsumenten, nicht als Produzenten.

 

Der produzierende Bereich spürt nach dem Wurf ins kalte Wasser noch keinerlei Grund unter den Füßen, im Gegenteil. Von vornherein lebensfähig sind unter den neuen Bedingungen ja nur die Betriebe, die auch früher schon in der Lage waren, ohne staatliche Zuschüsse (!) ihre Produkte auf den Westmärkten abzusetzen. Aber außer der Porzellanmanufaktur Meißen ist mir in diesem Sinne keiner bekannt. Wenn unsere Firmen überhaupt irgendwelche Westexporte zustande brachten, dann in aller Regel auf der Basis einer „Devisenrentabilität“ von im Mittel (!) 0,25, d.h. für eine Ostmark Produktionskosten wurden beim Export 25 Pfennig West erlöst. Ein Durchschnittswert, wie gesagt. Exporte mit Rentabilitäten unter 0,1 waren keinesfalls selten und die allermeisten Betriebe produzierten Erzeugnisse, die man überhaupt nicht auf dem Weltmarkt absetzen konnte!

 

Allein wegen dieser Vorzeichen wäre die Situation schon kritisch genug. Fast übermenschliche Anstrengungen wären nötig, das für solches Wasser gar nicht konstruierte Schifflein einigermaßen auf Kurs zu bringen, aber: Es strengt sich k(aum)einer an! Warum?

 

Aus der westlichen Ferne mag es so aussehen, als trüge die hier inzwischen eingezogene „russische Schlamperei“ die Schuld, um so mehr als im Westen derzeit gern bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit (inzwischen sogar im Kanzleramt) betont wird, man hätte sich ja schließlich auch „alles erst selbst erarbeiten müssen“ und die Ossis sollten erstmal den typischen badisch-bayrisch-friesischen Fleiß entwickeln, statt so verdammt unverschämt zu sein und gleich einen Haufen Forderungen an die verarmten Bundeskassen zu stellen. (Vor drei Wochen meinte jemand ernsthaft zu mir, man müßte doch hier zu viert mit 2000 DM prima hinkommen, denn „im Osten ist doch das Brot so billig!“ Haha) Aber ich schweife ab.

 

Die Ursache für die Lähmung in den Betrieben ist jedenfalls eine ganz andere (und darin unterscheiden sie sich ganz erheblich von den Selbständigen, die bei allen Problemen dennoch weitgehend ihres eigenen Glückes Schmied sind): Niemand kann als Angestellter z.Zt. nämlich irgendeinen Einfluß darauf nehmen, ob er selbst, er ganz persönlich, weiter in Arbeit und Brot bleibt oder nicht. (ganz zu schweigen von solchen Utopien wie dem Einfluß auf die Höhe des Einkommens) Alles was sich in den Betrieben abspielt, passiert im Block, ohne irgendwelche Rücksichten auf die Fähigkeiten des Einzelnen. Faul oder fleißig, schlau oder dumm – hat er Glück und seine Abteilung oder gar die ganze Firma überlebt, ist erstmal alles O.K., wenn nicht – „isser Neese“, wie die Berliner sagen.

 

In einem gut eingeschwungenen Wirtschaftssystem wie dem bundesdeutschen selektieren die Firmen bei Einstellung und Rausschmiß ihre Leute individuell. Selbst wenn ein Betrieb komplett schließen muß, werden die Besten (natürlich könnte man schon allein zu den Kriterien noch eine Menge sagen, ich hoffe aber, Du genehmigst mir im Interesse der Beschränkung des Briefgewichtes noch ein wenig die Fortsetzung meiner simplen Betrachtungsweise!) als erste wieder eingestellt. Leistung lohnt sich dort also in jedem Fall. Bei uns war das nie so – und die holzschnittartigen Anfänge der Wirtschaftssanierung haben hier leider (hoffentlich: NOCH) keinerlei Veränderungen gebracht, eher im Gegenteil: Die Mitarbeiter der wegen ihres besonders anachronistischen Charakters zuerst geschlossenen Buden (z.B. auch der Stasi) hatten noch die besten Möglichkeiten, weil sie relativ zeitig, also in einer Phase noch harmloser Arbeitslosigkeit entlassen, in Firmen eintreten konnten, die relativ gute Überlebenschancen haben, gekennzeichnet dadurch, daß sie damals (im Frühjahr) noch keinen Einstellungsstop aussprechen mußten. Der ist jetzt aber längst nachgeholt, so daß nunmehr überall Gerechte wie Ungerechte vor der Tür bleiben, weil man andererseits auch in den hoffnungsvollen Betrieben jetzt ganz andere Sorgen hat, als die drinsitzenden Ungerechten zugunsten der draußenstehenden Gerechten zu feuern. Und hinzu kommt, daß es arg schwerfällt Talente zu zeigen, wenn die Firma keine Aufträge hat.

 

Das also ist die wesentliche Ursache der allgemeinen Lähmung in den Betrieben und sie wird wohl noch eine ganze Weile anhalten, zumindest bis spürbar investiert wird. Mittelfristig bin ich da optimistisch. Im Westen ist die Konjunktur durch die Veränderungen bei uns offenbar ganz gewaltig angekurbelt worden, die Arbeitslosenzahlen sinken in Richtung der Quasi-Vollbeschäftigung (das sind für mich ca 3 bis 4 %) und wenn uns nicht irgendwelche wildgewordenen Husseins teuren Ärger machen, wird irgendwann unweigerlich der Punkt kommen, an dem das Kapital (und sein Staat) die jungfernhafte Zurückhaltung aufgeben und im Osten investieren MUSS – einfach weil im Westen die Ausbeutungsobjekte alle sind, worauf wir uns hier alle freuen, hurra! Bleibt nur zu hoffen, daß bis dahin nicht zuviel auch seelisch-moralisches Porzellan zerschlagen ist. Im Gegensatz zu den Schreihälsen in unserer Politszene, die sich schon bei popeligen 300 000 Arbeitslosen gruseln (oder zumindest so tun), erwarte ich den Höhepunkt des Scherbenhaufens in den ostdeutschen Ländern erst für die Jahreswende 91/92, mit Arbeitslosenzahlen um die 1,5 Millionen, d.h. mehr als 15%. Aber dann! Oder?

 

Wegen des entscheidenden Effektes für die Investitions- (und Hilfs-) Bereitschaft ist wahrscheinlich die Gemütslage im Westen für uns jetzt viel wichtiger und also interessanter als das eigene Geplärr. Aber außer entsetzten Gesichtern, die dreistellige Milliardenbeträge murmeln, kommt hier nicht viel „‚rüber“ (ich übe mich schon immer mal im bundesdeutschen Slang, denn es gibt bei uns im KONTEXT der Wende einen stillschweigenden KONSENS, daß es alle hier UNHEIMLICH GUT finden, wenn man SPONTAN für einen Wessi gehalten wird). Ein mir entfallener aber wichtiger Mensch sagte sogar, man hätte es in der Bundesregierung bis vor kurzem nicht für möglich gehalten, daß es bei uns SOOO schlimm wäre.

 

Abgesehen davon, daß man unter diesem Aspekt die Gehälter der Ostabteilungen zurückfordern sollte, drängt sich sofort die Frage auf, ob sich „der Westen“ bisher eingebildet hat, unsere Revolution wäre nur wegen des Mangels an Omo oder dem Sexappeal des Bundeskanzlers ausgebrochen?

 

Aber im Ernst: SOOO schlimm war’s ja auch gar nicht. Es war ander(e)s schlimm. Aber wenn nicht bald etwas deutliches passiert, wird’s viel viel schlimmer. Und die Honecker-Ära hat dann gute Chancen, sich zur „guten alten Zeit“ zu verklären.

 

In der alten DDR wurde weiß Gott viel gejammert und noch mehr geschimpft. Mit Recht. Aber verglichen mit dem Sommer ’90 waren damals (für die meisten) geradezu fröhliche Zeiten. Der Jammer jedenfalls ist jetzt um 3 Zehnerpotenzen größer, geschimpft wird schon fast wie vor der „Wende“ und wenn nicht dieses absolute Gefühl der Ohnmacht wäre, würde alles sehr bald wieder in zornige Aktionen umschlagen, die in unserer neu vereinten Bundesheimat dann wirklich viel Geld kosten – wenn es überhaupt beim Geld bleibt. Insofern hat die politische Depression hier auch ihr Gutes, aber es ist nur eine Frage der Zeit, daß sich Scharfmacher aller Coleur die Verzweiflung der Leute zunutze machen.

 

Was hier und heute nottut ist in erster Linie gar nicht mal der große (und teure) Schub im Lebensstandard. Sicher, aus irgendwelchen (?) Gründen haben im vorigen Winter in Leipzig, Dresden und Berlin Millionen im Hinblick auf die Übersiedler, denen man es (mit DDR-Maßstäben betrachtet) „vorne und hinten reingesteckt“ hatte, gedacht, das würde auch so weitergehen, wenn wir ALLE kommen – mit der DDR unter dem Arm.

 

Aber solcherart Illusionen sind sowieso längst ad acta gelegt. Was jetzt wirklich dringend fehlt, ist Hoffnung, sind handfeste Konzepte, die diese Hoffnung wecken, ist ein möglichst konkreter, für jeden faßlicher Fahrplan, der dem Kurzarbeiter den Gedanken an die ins Haus stehende Arbeitslosigkeit ebenso erträglich macht, wie dem Rentner den Mietbescheid von der Hausverwaltung. Dazu braucht es keine Milliarden, sondern Zivilcourage, politische Intelligenz und ein Mikrofon. Es würde schon ungeheuer viel bewirken, wenn jemand den mehr und mehr verzweifelnden Ossis klar sagen würde, „wir werden im Oktober erstens, zweitens, drittens… im nächsten Frühjahr ist vorgesehen… wir erwarten die Talsohle dannunddann… spätestens neunzehnhundertpipapo hoffen wir…“ Macht aber keiner! Statt dessen bemühen sich alle zärtlich um die Gemüter der Wessis, machen ihnen ein bißchen Angst und versprechen gleichzeitig, daß sie sich keine Sorgen machen brauchen.

 

Die Situation gemahnt mich ein wenig an eine Szene am Weiher: Der kleine Michel prustet im Wasser und droht zu ersaufen, während der gute Onkel Helmut den großen Michel am Ufer tröstet, er möge sich nicht fürchten, Onkel Helmut paßt schon auf – daß der große Michel nicht naß wird. Bleibt nur zu hoffen, daß Onkel Helmut sich nach der Wahl noch rechtzeitig an seinen 2. Neffen erinnert, bevor der Kleine endgültig abgeht.

 

Damit meine blöden Vergleiche nicht falsch hängenbleiben, sage ich nochmal ausdrücklich: Wir brauchen hier natürlich auch Milliarden an Hilfe, aber viel nötiger sind endlich ein paar klare SACHKUNDIGE und EHRLICHE Worte zu einer (natürlich möglichst optimistischen) Perspektive. Daß (z.B.) Leuna eine Dreckschleuder ist, wissen wir selbst am besten, dazu braucht es keiner schlauen Kommissionen von Bayer und Hoechst. Viel interessanter ist die Frage wann, wielange und in welchem Umfang die Bude zugemacht wird und wann wo wieviele der 20 000 voraussichtlich wieder beschäftigt werden können. Punktum!

 

Mit diesen scharfen Tönen als Vorgeschmack auf die hoffentlich ausbleibende Verschärfung unserer Politszene schließe ich diesen Brief. Es ist der letzte, den Du aus der DDR erhältst, aus einem Land, über das man noch lange reden kann und wird, aus dem man aber in 4 Wochen nicht mehr schreibt. Die Erde möge ihm leicht werden, das Gras des Vergessens aber sollte nicht darüber wachsen – aus tausend Gründen!

 

Willkommen also in der 4. Republik, Mitbürger

 

Dein Frank

Briefe aus der Wendezeit – Teil 6

Berlin, 1. Mai 1990

 

Lieber Klaus!

 

Der erste erste Mai ohne verordnete Demo und Kampfgruppenparade. Eben sind wir mit den Kindern einmal die Linden hoch und runter – viel Kommerz, keinerlei Politik, fressen, kaufen, fressen – und den Restnachmittag nutze ich, den letzten Brief zu schreiben, der noch vor uns in Stuttgart eintreffen wird.

 

Der Deine vom 8.4. ist hier wohlbehalten eingetroffen und hat sowohl Paula als auch mich ein wenig erschüttert, vor allem wegen Deiner Aussagen zur wahren Ursache Deiner Schreibhemmung. Was sie aus uns gemacht haben, ist ja eigentlich schon schlimm genug, aber es stellt sich heraus, auch an Euch (im weitesten Sinne) haben unsere Verhältnisse offenbar mehr deformiert, als man hier bisher meinte.

 

Wahrscheinlich traf in diesem Falle auch auf Euch die alte Weisheit zu: Eine hautnahe und permanente Gefahr ist weniger schrecklich als die, von der man sich aus der Ferne nur diffuse Vorstellungen macht.

 

Mit dem Thema Stasi lebte man bei uns ganz einfach. Sie war da und gefährlich, aber gewohnt. Etwa so wie sich die afrikanischen Zebras daran gewöhnt haben, an der Tränke laufend von irgendwelchen Löwen umkreist zu werden. Ab und an wird eines gefressen, aber in den allermeisten Fällen trifft es einen selbst eben nicht, jedenfalls solange man die erforderliche Vorsicht walten läßt.

 

Im übrigen war das Thema zwar allgegenwärtig, aber doch in der Regel für die allermeisten längst nicht so belastend, wie man von außen (und im nachhinein) oft meinte. Es wurde bei uns niemand ins Loch gesteckt, wenn er am (vielleicht abgehörten – womit auch jeder rechnete) Telefon „Scheiß-Honecker“ gesagt hatte, nicht zur Wahl gegangen war, keine Fahne heraushängte oder an die Hitparade von RIAS 2 schrieb. Hier sind die Parallelen zur Überwachung und deren Folgen im 3. Reich (vor allem in Euren Medien) sehr übertrieben worden.

 

Die Stasi[1] unterschied nämlich sehr fein zwischen systemgefährdenden Aktivitäten und allgemeinem Gemecker. Alles was öffentlich oder – weit schlimmer! – organisiert opponierte, wurde hart in die Zange genommen. Wer nur im Kollegen- oder Freundeskreis so dahinschimpfte, wurde i.a. „nur“ registriert (wenn ein Kollege oder Freund „undicht“ war) und wunderte sich dann höchstens, daß er beruflich irgendwann nicht weiter vorankam, kein „Reisekader“ werden durfte, oder die Düsseldorfer Oma zum 90. Geburtstag nicht besuchen konnte. Das galt sinngemäß auch für das Auftreten innerhalb der Partei, wo laut Statut jeder Genosse das Recht hatte „frei und offen seine Meinung zu äußern, bis die Grundorganisation ihren Beschluß gefaßt hat“. Die Formulare für die Versammlungsprotokolle hatten eine Extra-Rubrik „Stimmungen und Meinungen“, so daß es des undichten Kollegen dort nicht bedurfte. Trotzdem haben gerade in den letzten Jahren immer mehr vor allem junge Leute das „Luftmachen“ einer nebulösen Karriereperspektive vorgezogen, so daß immer öfter überhaupt nur „Meckerer“ als Kandidaten für irgendeinen Posten infrage kamen.

 

Etwas anders lagen die Verhältnisse allerdings bei den sogenannten Kontaktverboten. Je nach Funktion, Arbeit, Arbeitsstelle etc. konnte man n einer bestimmten Geheimhaltungsstufe verpflichtet werden, die automatisch eine bestimmte Stufe der Kontaktbeschränkung nach sich zog. (Was sehr deutlich ausdrückt, daß man lieber irgendwelchen Formalismen als den Menschen selbst traute, aber das ist ein extra-Kapitel.)

 

Das ging vom absoluten Verbot (Einem Neger, der einen auf der Straße nach dem Weg zum Hotel fragte,  hatte man dann zu antworten: „Bitte wenden Sie sich mit ihrer Frage an die Presseabteilung des Ministeriums für Auswärtige Angelegenheiten“), über die Genehmigungspflicht („Nächste Woche heiratet meine Schwester. Es besteht Grund zu der Annahme, daß an der Feier auch ein Verwandter aus Wuppertal teilnehmen wird. Ich beantrage…“), und die Meldepflicht („Bei der gestrigen Hochzeit meiner Schwester traf ich auf einen Verwandten aus Wuppertal. Ich habe ihm weder die Alarmpläne der freiwilligen Feuerwehr Kleinkleckersdorf, noch die sowjetischen Raketenstellungen in meinem Garten verraten“), bis hin zur Normalität – die übrigens für die meisten galt.

 

Mit solchen Verboten waren aber keinesfalls nur Staatsdiener, Bonzen (die am wenigsten), Soldaten, Polizisten usw. belegt, sondern – beispielsweise – auch unterbezahlte zivile Ingenieure, wenn sie – beispielsweise – Geräte für die Marine entwickelten. Wer die (unterschriftlich akzeptierten) Verbote ignorierte, flog gnadenlos raus – wenn es bekannt wurde, und trotz Arbeitskräftemangel waren die weiteren Chancen dann recht mies.

 

Aber wie gesagt: Die Zebras hatten sich an ihre Löwen gewöhnt und machten längst nicht soviel Aufhebens davon wie die vom Jeep aus zusehenden Touristen, denen die bösen Katzen gar schrecklich gefährlich erschienen…

 

Jetzt sind die Zebras auf dem Weg in einen feinen Zoo, sauber getrennt von den hungrigen Löwen, mit halbwegs sicheren Futterzeiten – und müssen wohl schnell eine Menge lernen, was all die anderen glücklichen Tiere dort längst können. Wundert Euch also nicht, wenn wir eine Reihe alberner Fragen stellen (Wir haben uns sogar eine kleine Liste angelegt). Wir können inzwischen zwar ALDI von Tengelmann unterscheiden, aber vom westlichen Alltag haben wir keine Ahnung! Bereitet Euch also darauf vor, daß wir in 14 Tagen auch auf eine Art Schnellkurs für Konsumenten im Fach „West-Way-Of-Live“ hoffen. (Dein Auftritt, Judy!)

 

Leider können wir uns kaum revanchieren, denn alle unsere Ansichten habe ich inzwischen schon brieflich mitgeteilt und unsere Überlebenskünste für die freie Wildbahn des Real Existierenden Feudalsozialismus nützen nun niemandem mehr (Jedenfalls ist uns allen das zu wünschen.).

 

Ich schließe mit einer Wiederholung: Wir freuen uns auf Euch und Stuttgart und falls meine Fahrplanauszüge verschütt gegangen sein sollten: Wir kommen am Sonntag, dem 13.05. planmäßig um 8.31 früh mit dem D2852 aus Nürnberg. Bis dahin

 

Alles Gute für Euch

 

Frank

 

 

 


Stuttgart, 6.5.1990

Lieber Frank,

da Du an diesem Brief möglicherweise etwas länger zu knacken haben wirst, hoffe ich, daß es mir gelingt, ihn Dir noch vor Eurer Abfahrt nach Stuttgart zukommen zu lassen. Du könntest dann die lange Zugfahrt dazu nutzen, noch ein wenig über die unterschiedlichen Denkweisen in Ost und West zu sinnieren. Und vielleicht ist er ja auch kein schlechter Begleiter bei Deinem Weg von der einen in die andere (deutsche) Welt.

Der Brief soll die – oft genug angekündigte – Antwort auf Deinen Brief vom 15.2. sein. Freilich fällt diese anders aus, als Du vielleicht erwartet hast (ich übrigens auch). Eigentlich hatte ich die Absicht, an Hand Deines Briefes eine Höhenexpedition in die Sphäre grundsätzlicher Erwägungen zum Unterschied eines marxistisch geprägten und eines westlich liberalen Denkansatzes zu unternehmen. Zum Ausgangspunkt wollte ich Deinen – nicht ungewagten – Versuch nehmen, die jüngsten geschichtlichen Ereignisse, insbesondere die Tatsache einer „bürgerlichen“ Revolution in einem „sozialistischen“ Staat, im historischen Ablaufschema des Marxismus unterzubringen. Schon in Deinem Buchmanuskript vom 11.12.1989 hattest Du ja erkennen lassen, daß Du zur Beurteilung der neuesten Ereignisse weiterhin das historische Schema des Marxismus benutzt. Nur gingst Du (bzw. der darin zitierte Albert) davon aus, daß sich die Gesellschaft der DDR in einer viel früheren Phase dieses Modells befunden habe, als bislang gemeinhin angenommen (nämlich erst am Übergang vom Feudalismus zur bürgerlichen Gesellschaft). Diesen Umqualifizierungsversuch hatte ich, wie aus meinem Brief vom 14.2.(!) ersichtlich, zunächst als Ironie aufgefasst. Nach Deinem Wandlitzer Brief vom 15.2. wurde mir jedoch klar, daß dies so ironisch nicht gemeint war. Es wirft ein interessantes Schlaglicht auf die „Lage der Nation“, wenn ein Gedanke hüben und drüben so unterschiedliche Wirkung entfalten kann. Das regte meine Entdeckungslust an und ich beschloß, zunächst einen Erkundungsflug über das Expeditonsgebiet zu machen (und der dauerte drei Monate).

Es war klar, dass ich mich zunächst einmal auf das höchst umstrittene Gebiet der Geschichtsauffassungen zu begeben hatte. Denn der oben genannte Effekt lag offensichtlich in den sehr unterschiedlichen Auffassungen darüber begründet, welche Wege in diesem nicht eben übersichtlichen Gelände ausgemacht werden können. Hier war ohne Zweifel ein erster Zwischengipfel zu besteigen. Während Du Dich dabei auf einer bequemen Autobahn (mit ein paar neuen Kurven) zu befinden schienst, mußte ich feststellen, daß der Weg angesichts meiner Weigerung, bestimmten Personen oder Theorien einen prinzipiellen Glaubwürdigkeitsvorsprung einzuräumen, über eine abschüssige Geröllhalde führen mußte, wo mir bei jedem Schritt der Boden unter den Füßen wegrutschen würde. (Das Dilemma habe ich am Schluß meines Briefes vom 8.4. angedeutet.) Meine Arbeitshypothese habe ich schließlich wie folgt gefasst (Kurzfassung aus der Vogelperspektive): Statt gesellschaftlicher Entwicklungsgesetze gibt das Geschichtsmaterial nicht viel mehr her als ein Mittel, den jeweiligen gesellschaftlichen Standpunkt zu verdeutlichen. Die geschieht durch Nachzeichnen von Kausalitäten und durch den Vergleich mit anderen Geschichtsepochen.

Damit aber war nicht viel Boden zu gewinnen. Als nächstes galt es, die durch dogmatische Vorabfestlegungen bedingten Irrwege zu erkennen. Ich hatte mich also mit den generellen Gefahren deduktiver Denkansätze auseinander zu setzen und mit deren Risiko, an der „Wirklichkeit“ vorbeizuführen. (Eine vorab angefallene Frucht dieser Auseinandersetzung ist übrigens mein „tractatus theologico-economico“ = mein Brief von 22.4., der sich mit einigen konkreten Aspekten des Denkens von oben beschäftigt). Um zu verdeutlichen, wie sehr man sich durch die genannten Vorabfestlegungen in seinem Bewegungsspielraum einengt, hatte ich dann einen „kleinen“ Exkurs in die neuere Geschichte eingeplant, dessen Gedankengang – in der Luftlinie – wie folgt verläuft:

Der real existierende Sozialismus ist eine Spielart des Faschismus. Dieser (also auch der rechte) ist eine späte Reaktion auf den Rationalismus der europäischen Aufklärung (dies wird beim linken Faschismus allerdings dadurch verschleiert, daß er sich teilweise auf deren Tradition beruft und ihre Argumentationsmuster verwendet). Nachdem die Aufklärung die gewachsenen (tradtionellen) Gemeinschaftsbindungen weitgehend aufgelöst und insbesondere dem Christentum einen argen Stoß versetzt hatte, glaubte nun das Kleinbürgertum die entwurzelten Gesellschaften mit gewissermaßen synthetischen Gesellschaftsmodellen vor der Orientierungslosigkeit retten zu müssen. Das ging aus zwei Gründen schief. Zum einen stellte sich der Liberalismus als eine Art Immunschwäche der synthetischen Gesellschaftsmodelle heraus, gegen die kein Kraut gewachsen ist. Zum anderen verband sich die Angst des Kleinbürgers vor der Orientierungslosigkeit auf unglückliche Weise mit seiner Neigung, soziale Probleme mit dem Holzhammer zu lösen und Ordnungsgesichtspunkte überzubetonen. So erklärt sich, daß rechter und linker Faschismus im sozialen Terror endeten, wobei sie sich, trotz erbitterter Gegnerschaft, einträchtig der gleichen Methoden bedienten. Die Faschismen sind also in gewissem Sinne eine Revolution des Kleinbürgertums gegen das Bürgertum (soweit es Träger der Aufklärung ist). Es ist der von Anfang an untaugliche Versuch, eine verlorene soziale Unschuld wiederherzustellen.

Hinsichtlich der Chronologie komme ich damit zu einem ganz anderen Ergebnis als Dein Modell. Nach meiner Interpretation ist der real-existierende Sozialismus eine Folge gewisser Erscheinungen der „bürgerlichen“ Gesellschaft (wenn man so will der französischen Revolution) und nicht die Vorstufe davon. Damit erspare ich mir einige Winkelzüge (um nicht zu sagen Klimmzüge), die Du zur Rettung des marxistischen Modells veranstalten mußtest. Außerdem wird man so besser mit der Tatsache fertig, daß „bürgerliche“ Gesellschaften vor und neben dem Sozialismus existierten.

Nachdem sich anhand dieser Überlegungen verdeutlicht hatte, daß der Sozialismus eine Art Romantik des kleinen Mannes gewesen ist, sollte der nächste Schritt sein, wsein geistesgeschichtliches Urgestein zu erforschen. Es war klar, daß man hierbei bald in den Untiefen der Romantik und also im 19.Jahrhundert und bei den diversen Fortschritts- und Entwicklungstheorien von Hegel über Comte, Spencer, Marx und Darwin landen würde. Hier war auf zwei Gesteinsadern zu achten, die sich auf unselige Weise miteinander verbanden: nämlich die mechanistische Wissenschaftsvorstellung und der (damals geborene) Glaube an eherne Geschichtsgesetze (daraus resultierend die Überzeugung, Prognosen über die Entwicklung der Gesellschaft machen zu können).

Diesem kausalistisch-deterministischen Sozialbild, das dem mechanistischen Weltbild des 19. Jahrhunderts entstammt, entspricht die Vorstellung, eine Gesellschaft über einen Plan steuern zu können. Der Plan wird hierbei als ein alle Bedürfnisse kennendes und alles nach allen Seiten „gerecht“ verteilendes Instrument verstanden, eine allmächtige, alles umfassende und alleswissende, somit herrgottähnliche Sozialmaschine, die nur richtig konstruiert und eingestellt werden müsse, um einen reibungslosen Gesellschaftsverlauf zu garantieren. Dieser mechanistischen Vorstellung von der Gesellschaft sollte nun in Anlehnung an die Erkenntnisse der modernen Physik ein Modell der Gesellschaft entgegengestellt werden, das von einer mehr oder weniger chaotischen Mischung der Motive der Individuen und deren Gruppierungen ausgeht. Man könnte es als quantentheoretisches Gesellschaftsmodell bezeichnen. Ein solches Modell muß auf den Versuch einer Feinsteuerung der gesellschaftlichen Prozesse verzichten, weil es eine solche seiner Voraussetzung nach nicht für möglich hält. Es würde sich darauf beschränken, durch institutionelle Mechanismen Kraftfelder gesellschaftlicher Beziehungen aufzubauen, um nach dem Trial-and-error-Prinzip zu prüfen, ob die gewünschten Wirkungen damit erzeugt werden. Man erhält auf diese Weise gesellschaftliche Resultanten vergleichbar mit Vektoren. Diese haben zwar eine eindeutige Richtung, können aber aus ganz disparaten Kräften zusammengesetzt sein. Man kann das Modelll auch als black box sehen. Man weiß, daß die Veränderung des Inputs den Output beinflußt. Welche Prozesse dabei im Innnern der Box, also zwischen den Individuen vonstatten gehen, wissen wir nur sehr ungenau. Man kann nur davon ausgehen, daß es in der Box ziemlich sprunghaft und widersprüchlich zugeht. Deshalb macht es auch gar keinen Sinn, diese Prozesse – etwa durch ein umfassendes Überwachungssystem à la Stasi – in den Griff bekommen zu wollen.

Dieser Ansatz steuert, wie Du bereits bemerkt haben wirst, pfeilgrade auf Wege zu, die Dir bereits bekannt sein dürften. In der Tat drängte es mich dazu, meine induktive Moraltheorie zu einer allgemeinen induktiven Gesellschaftstheorie zu erweitern. Mit diesen kühnen Schritten wäre dann meine Expedition endgültig in die Region ewigen Eises vorgedrungen. Spätestens jetzt wird Dir auch klar, daß ich mir damit viel zu viel vorgenommen habe. Und so begann ich, statt an die Durchführung der Expedition zu denken, darüber zu spekulieren, wie ich aus diesem Gedankengebirge unbeschadet wieder herauskomme. Einen Ausweg wiesen mir schließlich die Reiseführer, die ich inzwischen hier und da zur Überprüfung meines geplanten Weges herangezogen hatte. Ich stellte fest, daß eine Menge kluger Leute schon eine Menge ähnlicher Gedanken zu Papier gebracht habetn. Und so habe ich mich entschlossen, auf eine nochmalige Lösung der Welträtsel zu verzichten und die Versprechungen, die ich Dir gegebenüber abgeben habe, mit diesem Brief über einen nicht geschriebenen Brief einzulösen.

Doch sollst Du nicht ungetröstet davon kommen. Ich übersende Dir hiermit zwei Aufsätze von Karl Popper, einem meiner Reiseführer, auf den ich bei Gelegenheit der Expeditionsvorbereitungen wieder gestoßen bin (das letzte Mal las ich sie vor ca. 20 Jahren). Ich vermute, daß die alten Herren bei Euch nichts unversucht gelassen haben, um zu verhindern, daß diese geistige Konterbande Euer Land erreicht, weswegen Dir dieser Autor vermutlich noch nicht näher bekannt ist. Kein Wunder, denn Popper ist einer der kompromislosesten (und klarsten!) Aufklärer und damit einer der gefährlichsten Feinde der marxistischen Doktrin. Man hätte sich einiges an kostspieligen Erfahrungen sparen können, wenn man ihn vor Beginn der sozialistischen Experimente ernsthaft gelesen hätte. Insbesondere sein Aufsatz „Prognose und Prophetie in den Sozialwissenschaften“ aus dem Jahre 1949 (!) enthält einige erstaunlich hellsichtige Voraussagen, die sich leider verwirklicht haben. Leider hat er auch damit Recht gehabt, daß die Ideen der Philosophen erst mit einem time-lag wirksam werden (S.124). Als starken Tobak wirst Du vermutlich seine Worte über das historische Ablaufschema des Marxismus im Aufsatz „Was ist Dialektik“ empfinden, wo er sich auch mit „Deinem“ Umqualifizierungsproblem befasst (S.285).

Nun wirst Du Dich nach einer solchen Expedition (besser eines Entwurfs dazu) möglicherweise nicht sehr befriedigt fühlen. Aber genau das ist typisch für die Seelenlage in unseren westlichen Gesellschaften. Es liegt auf der Hand, daß diese Lebensform weder besonders einfach ist noch Glück garantiert. Vielleicht raffe ich mich später einmal zu einer weiteren Expedition auf, die sich mit den Fährnissen einer „freiheitlichen“ Gesellschaft befasst. Dagegen dürfte die eben angedeutete Expedition ein Kinderspiel sein. Denn das habt ihr jetzt auch erlebt: Es ist relativ leicht, gegen etwas zu sein. Die Formulierung eines Zieles ist denn auch die größte Schwierigkeit in unseren freien Gesellschaften.

7.5.90

Heute kam Dein Brief vom 1.Mai. Unsere unterschiedliche Einschätzung des Phänomens Stasi zeigt, wie weit sich unsere Gesellschaften auseinander entwickelt haben. Die Vorstellung eines Mithörers, Mitwissers und unberechenbar Zuschlagenden ist hier absolut unerträglich, auch wenn alles nicht so gefährlich gewesen sein sollte, wie es hier gelegentlich dargestellt wurde. Die staatliche Tätigkeit ist hier von allen Seiten durch Schutzrechte des Bürgers eingeschränkt (wozu diverse „Geheimnisse“ gehören, die die staatlichen Behörden sogar untereinander einhalten müssen. Polizei und Staatsanwaltschaften kommen z.B. an manche in Verwaltungsbehörden vorhandene Informationen nicht heran). Was sich hier, vor allem in den letzten 20 Jahren, entwickelt hat, ist tatsächlich ein ganz neuer Gesellschaftstypus. Und deswegen stehen wir fassungslos vor der Tatsache, daß bei Euch die Zeit ganz einfach stillgestanden ist. Dein Bild von der freien Wildbahn ist ganz passend. Hier ist in der Zwischenzeit eine weitgehende Domestizierung eingetreten und die Vorstellung von der freien Wildbahn ist uns so fremd geworden, wie dem schwäbischen Hausrind der „Gedanke“ an ein Wasserloch in der afrikanischen Steppe.

Wir hatten gestern eine lange Diskussion mit einem polnischen Ehepaar, die sich mit einer anderen Facette des gleichen Themas beschäftige. Aus unserer Sicht ist die offensichtlich ernsthafte Angst der Polen vor dem vereinten Deutschland nicht recht verständlich. Auch hierfür dürfte der soziale Stillstand in den sozialistischen Ländern verantwortlich sein. Die Polen sehen uns ganz offensichtlich noch mit den Augen von vor 50 Jahren. Sie haben den ungeheuren Abstand unserer heutigen (west-)deutschen Gesellschaft von damals nicht zur Kenntnis genommen und zwar aus zwei Gründen. Zum einen, weil sie sich selbst nicht entwickelt haben und daher glauben, die Welt um sie müsse ebenfalls stillgestanden haben. Zum anderen, weil sie von den Deutschen in erster Linie den Teil gesehen haben, der sich auch nicht entwickelt hat. Und dann haben sie noch das Problem, daß sie Regierungen nichts glauben (was natürlich auch auf ihren eigenen Erfahrungen beruht). Und so tun sie, als hätte unsere Regierung nicht schon 1970 klargestellt, daß Polens Westgrenze nicht angezweifelt wird.

In die gleiche Richtung geht, was wir zur Zeit an Ängsten und Verdächtigungen aus Richtung DDR hören. Das ist alles die Terminologie der Wildbahn, die uns in so kruder Form hier nicht bekannt ist. (Daß hier der „Kampf ums Dasein“ ebenfalls geführt wird, will ich natürlich nicht bestreiten – aber er hat sublimere Formen angenommen und ist weniger existentieller Natur.)

8.5.

Da der Brief noch immer nicht weg ist, will ich noch kurz zu der heutigen Meldung etwas sagen, wonach man bei Euch jetzt die 38-Stundenwoche und hohe Lohnaufschläge (50%!) fordert. Ich kenne die genauen Hintergründe dieser Forderungen nicht. Aber es scheint, daß hier bereits das Onkel- Syndrom wirksam wird. Einige Leute wollen offenbar das Pferd vom Schwanz aufzäumen und erst einmal die Vorteile einer gesunden Wirtschaft genießen und sie erst dann schaffen. All dies kann nur gefordert werden, wenn man den Onkel im Hintergrund weiß. Und der hat jetzt sogar noch das Pech, in der Rolle des Bösen Buben zu erscheinen. Ich fürchte, das sind die Folgen eines allzu schnellen Zusammenschlusses. Man hätte der DDR erst einmal Zeit zur Ordnung ihrer Verhältnisse und zu einer Angleichung der Systeme geben müssen. Dadurch hätte man den bevorstehenden Übergangsschock vermeiden und mehr Problembewußtsein heranwachsen lassen können.

So und jetzt geht der Brief ab – wahrscheinlich zu spät.

Gruß Klaus

PS Kürzlich bekam ich dienstliche Post von der Dewag – ein erster Erfolg eines ostdeutschen Unternehmens auf dem westdeutschen Markt!


Berlin, 19.05.90

 

Lieber Klaus!

 

Es ist erst wenige Tage her, seit wir uns voneinander verabschiedet haben. Die vielen Eindrücke setzen sich langsam und ich empfinde fast schmerzlich, dass wir vor lauter Fragen, Staunen und Schauen viel zu wenig Zeit hatten, unseren brieflichen Dialog in der eigentlich besten möglichen Form – vis a vis – fortzusetzen. Zu Hause fand ich dann Deinen Brief vom 6.5. mit den Popper-Kopien, und mir wurde klar, dass allein für diese Problematik die paar Tage ohnehin nicht ausgereicht hätten.

 

Ich setze mich also hin und erkläre hiermit den scharfen Start der Philosophie-Diskussion (Die paar statements, die ich bisher dazu abgegeben habe, waren weniger als Vorgeplänkel, wahrscheinlich auch deshalb, weil ich mit meinem engen Ost-Horizont bis vor kurzem gar nicht auf den Gedanken gekommen bin, jemand könnte ernstlich z.B. die Dialektik in Zweifel ziehen usw.). Ich tue dies wiederum brieflich, obwohl ich hoffen kann, Dich bereits in 8 Tagen wiederzusehen. Aber ich denke, ich werde bis dahin mit diesem „Werk“ noch nicht zu Ende gekommen sein und vielleicht ist es auch gut so, wenn es Dich erst nach Deinem Urlaub – ausgeruht und hoffentlich voller neuer Eindrücke von den Resten des Real Existierenden usw. – erwartet.

 

Ich erlaube mir dabei, die von Dir (böserweise) postulierte „bequeme Autobahn“ weiter zu benutzen und Dich ohne schlechtes Gewissen auf Deiner „abschüssigen Geröllhalde“ sitzen zu lassen und gebe diesbezüglich unumwunden zu, dass ich nach wie vor tatsächlich Marx und seinem dialektischen und historischen Materialismus einen „Glaubwürdigkeitsvorsprung“ einräume. (Warum sollte ich nicht, solange ich dabei gut vorankomme.)

 

An dieser Stelle ist aber eines unbedingt, nachdrücklich und mit der gebotenen Schärfe „klarzustellen“ (ein beliebtes Wort unserer Hundertfünfzigprozentigen, das in diesem Falle natürlich und tatsächlich Ironie sein soll): Die philosophisch-politische Grundgemeinheit unserer Epoche besteht m.E. offenbar darin, dass Stalinisten, Kapitalisten, Faschisten, Idealisten, Monarchisten und wer weiss nicht noch alles – und selbstverständlich auch Klaus H. und Karl Popper – ohne mit der Wimper zu zucken, dem Real Existierenden Sozial(feudal)ismus die Ehre angetan haben, ihn quasi a priori als die Realisierung des Marxismus anzusehen. Die Lehre des armen Marx, der sich auf dem Highgate-Friedhof in London schon lange nicht mehr wehren kann, hat dadurch fast zwangsläufig wesentliche Wunden davontragen müssen.

 

Auch wenn Du mir an dieser Stelle sicher noch keinesfalls zustimmst, möchte ich Deine geschätzte Aufmerksamkeit dabei zunächst einmal vor allem darauf lenken, dass hier eine zumindest sehr bemerkenswerte und im übrigen fast einmalige Einigkeit von ansonsten spinnefeinden Gruppierungen zu verzeichnen ist. Mir jedenfalls ist es immer hochverdächtig gewesen, wenn irgendwo solche Art Einheit auftrat. Die Motive sind dabei nur auf den ersten Blick unterschiedlich. Bei näherer Betrachtung stellt sich nämlich sehr rasch heraus, dass sowohl die Verfechter der bürgerlichen Demokratie als auch die realsozialistischen Bonzen nichts so sehr zu fürchten hatten /?/ wie einen wirklich funktionierenden Sozialismus (Ich will Dir dabei entgegenkommen, und nicht diskutieren, ob und wann der denn überhaupt in den Bereich des Möglichen gekommen wäre. Gar zu utopisch kann er aber nicht gewesen /?/ sein, sonst hätten sie alle ihn nicht so verbissen bekämpfen müssen.)

 

Die Tatsache, dass im Namen des Marxismus so ungeheuer viel Murksismus veranstaltet wurde, kann Marx jedenfalls nicht angelastet werden, genausowenig wie Jesus für die Inquisition verantwortlich zu machen ist. In gewisser Weise gibt dies mittelbar sogar Popper zu, der in „Was ist Dialektik?“ auf Seite 286 Deiner Kopie schreibt: „Marx und Engels haben fest darauf bestanden, dass die Wissenschaft nicht als… ‚ewige Wahrheit‘ interpretiert werden dürfe… Wissenschaftliche Systeme entwickeln sich, und sie entwickeln sich – nach Marx – dialektisch. Gegen diesen Punkt lässt sich nur wenig einwenden…“ Da hat er recht, der Herr Popper, aber er bleibt sich als Antimarxist natürlich treu und fügt hinterlistig hinzu, „… dass Marx‘ fortschrittliche und antidogmatische Ansicht von der Wissenschaft von orthodoxen Marxisten… niemals angewandt worden ist.“

 

Ja wie denn? Was sollen das denn für Marxisten sein, die Marx‘ Ansicht von der Wissenschaft nicht teilen? Wir haben hier ein sehr schönes Beispiel vom Primat des Seins, auf das Marx solchen Wert legte: Egal als was sich unsere oder andere sogenannten Gesellschaftswissenschaftler ausgaben, oder wie auch immer sie von Leuten wie Popper angesehen wurden – allein schon ihre dogmatisch-scholastische Arbeitsweise machte es ihnen unmöglich, Marxisten zu sein.

 

Überhaupt Popper, einer aus der „Menge kluger Leute“, einer Deiner „Reiseführer“ bei philosophischen Expeditionen: Aus den beiden Kopien, die Du mir übersandt hast, habe ich zwar ersehen können, wogegen er sich ausspricht – vor allem gegen Marx natürlich, gegen die Dialektik usw – aber wofür er steht, was er denn wirklich dagegenzusetzen hätte, das ist mir an diesen Ausschnitten nicht so recht transparent geworden.

 

Sicher, seine „trial-and-error-Methode“ scheint ein zweifellos konstruktiver Teil des Popper´ schen Denkgebäudes, nur ist diese Methode erstens uralt und bildet zweitens den absolut untersten level jeglicher wissenschaftlichen wissenschaftlicher Methodik, ja man kann sogar sagen, einen wissenschaftlichen Anspruch kann sie überhaupt nur dann erheben, wenn sie erstens aus einer Schar möglicher Methoden bewusst ausgewählt wurde und zweitens die theoretische (!) Modellierung eines Systems benutzt. (Hier ergeben sich gerade in jüngster Zeit durch die rasante Entwicklung der Rechentechnik und ihre Fähigkeit, in Windeseile Millionen von Varianten durchzuprobieren, ungeheure Möglichkeiten für diese Methode. Voraussetzung ist aber ein ausreichend exaktes mathematisches Modell des zu untersuchenden Systems, das selbst natürlich auch nach dieser Methode optimiert werden kann usw.)

 

Trial-and-error aber einfach, sofort und unmittelbar in der Praxis angewandt, um, wie Popper sagt „das Überleben der tauglichsten Theorie“ durch „ausreichend harte“ Tests zu sichern, ist die Methode, nach der sich Regenwürmer in einem Labyrinth bewegen. In der Wissenschaft ist sie, gelinde gesagt, primitiv und in den Gesellschaftswissenschaften kann sie sogar tödlich sein – nach dieser Methode hat Günter Mittag bei uns jahrelang die Wirtschaft verschlimmbessert. „Genügend zahlreiche“ (was ist das?) Theorien aufzustellen und sich dann quasi überraschen zu lassen, mag vielleicht den Broterwerb mittelmässiger Philosophen sicherzustellen, bringt aber keinerlei brauchbare Entscheidungshilfen für die Praxis. Das ist irgendwie offenbar auch Popper klar und so geht er noch einen Schritt weiter (zurück) und behauptet, es könne gar nicht das Anliegen der Sozialwissenschaften (und damit sein eigenes) sein, Entscheidungshilfen für die Gegenwart oder gar die Zukunft zu geben. Leute, die so etwas versuchten, betrieben Prophetie und seien also miese „Historizisten“, basta. („Prognose und Prophetie in den Sozialwissenschaften“ S.113 in Deiner Kopie)

 

Was dann folgt, ist eine uralte Methode der Polemik – er polemisiert einfach gegen eine Unterstellung. Auf Seite 115 schreibt er: „Die zentrale Idee… des Marxismus scheint (!, ganz unvorsichtig ist er doch nicht) folgende zu sein: Es ist eine Tatsache, dass wir Sonnenfinsternisse (ein Beispiel, das ihm so gut gefällt, dass er es noch öfter mit Genuss anführt) mit grosser Genauigkeit (!, hierauf legt er besonderen Wert, und weiter unten wird klar, warum) und auf lange Zeit voraussagen können. Weshalb sollten wir nicht imstande sein, Revolutionen vorauszusagen? Hätte ein Sozialwissenschaftler im Jahre 1780 nur halb so viel von der Gesellschaft verstanden wie die alten babylonischen Astrologen von der Astronomie, so hätte er die Französische Revolution voraussagen können…“

 

Und da hat der Mann recht! Nur meint Popper eben – und deshalb legt er so gewaltigen Wert auf den passus von der „grossen Genauigkeit“ – dieser Sozialwissenschaftler hätte die Französische Revolution exakt für das Jahr 1789 voraussagen müssen, und das ist natürlich Quatsch, niemand weiss das besser als Popper. Aber ist dadurch die Französische (und alle weiteren bürgerlichen) Revolution(en) weniger gesetzmässig? Wäre es denkbar gewesen, dass die gesellschaftliche Entwicklung in Frankreich vor 200 Jahren – vielleicht nach der trial-and-error-Methode – den Feudalabsolutismus erst einmal durch einen Neuaufguss der Sklavenhalterordnung ersetzt hätte, diese nach einem ebenso untauglichen kommunistischen Intermezzo durch die Restauration des Feudalabsolutismus und alles zusammen dann – meinetwegen im Jahre 1810 – durch die urgesellschaftliche Barbarei und die Wiedereinführung des Matriarchats?

 

Aber halt, die Barbarei hat Popper ausschliesslich als Ergebnis einer Sozialistischen Revolution reserviert, wobei er eine Erläuterung schuldig bleibt, warum sie nicht schon zu Cromwells Zeiten oder 1789 ausgebrochen ist, denn er schreibt (auf Seite 122) sehr absolut: „Wenn man aber beginnt, die Gesellschaft zu revolutionieren und ihre Traditionen auszurotten (!, Diesen leicht zu widerlegenden Unsinn kann bzw. muss er als Antidialektiker natürlich behaupten, wenn er sich treu bleiben will. Aber gerade das dialektische Prinzip von der Negation der Negation erklärt ja sehr schön, weshalb nach einem Umschlag von quantitativer Evolution in eine neue Qualität – gegebenenfalls revolutionär – eben nicht einfach eine tabula rasa geschaffen wird, sondern das Erhaltenswerte erhalten bleibt.), so kann man diesen Prozess nicht beliebig zum Stillstand bringen.“ Das ist zweifellos richtig, aber natürlich auch sehr banal. Weiter unten aber kommt’s: Nachdem er die unsinnige These von der ausgerotteten Tradition aufgestellt hat, ist es ein Kinderspiel zu behaupten, dass „bei der Zerstörung der Tradition auch die Zivilisation untergeht,“ und „die Menschheit auf das Niveau von Adam und Eva zurückfällt“ Auweia. Aber er gibt noch eins drauf. Die (sozialistische) Revolution endet nämlich damit, dass „…die Menschen wieder zu Tieren geworden sind“ Mähhhh!

 

So schlimm kann es denen ergehen, die am non plus ultra menschlicher Entwicklung rütteln, und das ist – nach Popper – selbstverständlich und immer wieder (!) die „kapitalistische Periode“, die die blöden Marxisten – dann auch immer wieder, man beachte die hier geradezu marxistische Geschichtsbetrachtung Poppers – „zu einer gründlichen Revolution veranlasst, auf die ein weiterer Rückfall zum Tier folgt – und so weiter ohne Unterlass“.

 

Es sollte eigentlich überflüssig sein, aber ich stelle an dieser Stelle zur Abrundung dennoch die Frage: Wenn der Real Existierende Sozialismus, als Ergebnis einer sozialistischen Revolution entstand und tatsächlich Sozialismus im Marxschen Sinne ist (was ich beides leugne, Popper aber unterstellt), wo bitteschön sind dann seit 70 Jahren die Tiere oder wenigstens Adam und Eva?

 

Übrigens geht Popper auch an anderen Stellen gern mit dem Mittel der Unterstellung zur Sache. Auf der schon erwähnten Seite 115 stellt er quasi aus dem Handgelenk heraus die Behauptung auf, dass der „Historizismus“, in den er auch den Marxismus einordnet, von der Vorstellung ausginge, „dass der Menschheitsgeschichte ein Plan zugrunde liegt…“. Bei oberflächlicher Betrachtung könnte man leicht geneigt sein, den von Popper verwendeten Begriff „Plan“ und die von den Marxisten so arg strapazierte „Gesetzmässigkeit“ als Synomyme zu betrachten, aber das eben sind sie gerade nicht! „Plan“ unterstellt einen höheren Willen – oder wie Marx sagen würde: das Primat des Bewusstseins – und führt damit schnurstracks zum Idealismus, den man Marx als Erz-Materialisten nun wohl doch nicht so einfach unterstellen kann. „Gesetzmässigkeit“ begnügt sich dagegen mit dem Vorhandensein eines irgendwie determinierten Weltprinzips und setzt dabei nicht einmal voraus, dass wir dieses (immer und überall) schon (genau) kennen, gar nicht zu reden davon, dass die Marxisten hier selbstverständlich niemals den (sehr undialektischen!) mechanischen Determinismus im Auge haben.

 

Popper aber baut auf der besagten Unterstellung im Kern seinen gesamten Artikel auf. Nachdem er die These von dem angeblich einen Plan der Menschheitsgeschichte postulierenden Marxismus der verehrten Leserschaft gleich am Anfang untergejubelt hat, sich unterwegs noch ein wenig über die fundamentalen Unterschiede zwischen Sonnenfinsternissen und (ausgerechnet !) biologischen Systemen einerseits (!, S.117) und der Menschheitsgeschichte andererseits auslässt, holt er am Schluss seines Artikels zum alles vernichtenden Schlag aus und folgert ebenso messerscharf wie falsch, dass „Hegel (ein Idealist!) und Marx… „die Gottheit Natur wiederum durch die Gottheit Geschichte“ ersetzen.

 

Wie man leicht sieht: Ich halte nichts von Popper! Was mich wundert ist, dass ein so grosser Verehrer der Französischen Revolution wie Du, auf einen Mann hört, der ausdrücklich davon überzeugt (!) ist, dass „humanitäre Ziele… mit revolutionären Methoden nicht erreicht werden können… dass revolutionäre Methoden die Dinge nur verschlimmern können – dass sie unnötiges Leid vermehren, dass sie zu mehr Gewalt führen werden und die Freiheit zerstören müssen“ (S.121f).

 

Wenn es nach Popper gegangen wäre, würden wir gerade heute die Eröffnung des XII. SED-Parteitag über uns ergehen lassen, um unsere Freiheit nicht zu zerstören.

 

Aber vielleicht meint er mit Revolution gar nicht „Umwälzung“, sondern nur marxistischen Totschlag. Das wurde dann zwar erklären, weshalb er eine unblutige (um nicht friedliche zu sagen) Revolution gar nicht in Betracht zieht, wirft aber ein eigenartiges Licht auf seinen Horizont. Offenbar geht es ihm ausschliesslich um den reinen Antimarxismus. Er ist zufrieden, wenn seine Argumente dort irgendwie kleben bleiben. Sie nach der von ihm so verehrten trial-and-error-Methode „hart zu testen“ – und zwar nicht nur am Marxismus und den letzten 100 Jahren – kommt ihm nicht in den Sinn. Insofern gehören für mich seine Grundthesen in die „Ausscheidung der weniger tauglichen“ (Was ist Dialektik, S.263).

 

Ich will Dir aber die Freude machen und Popper auch an einer Stelle zustimmen – allerdings mit Einschränkungen, worauf ich gleich zurückkomme – und zwar bei seinen Ausführungen zur „Konspirationstheorie“ (Prognose. S.119f). Es gab und gibt (!) bei uns einen Haufen Leute, die tatsächlich „die einzige Erklärung dafür, dass es ihnen nicht gelingt (bzw. gelang) den (sozialistischen) Himmel zu schaffen, (in der) Bosheit des (kapitalistischen) Teufels“ sehen. Nur ist nicht ganz klar (oder vielleicht doch?) weshalb durch diese „vulgärmarxistische (!) Konspirationstheorie“, resultierend aus dem „Fallenlassen“ (!) einer Ansicht von Marx, der arme Kerl seinen „Niedergang zu Göbbels“ in Kauf nehmen muss.

 

Ich meine, jeder Philosoph hat das Recht, nach seiner (!) Philosophie beurteilt zu werden und es ist nicht einzusehen, weshalb er für eine Politik verantwortlich gemacht werden soll, die so ziemlich gegen alle seine philosophischen Lehren verstösst, nur weil sie in seinem Namen (durch Dritte falsch) gemacht wird. Was würde wohl Popper sagen, wenn „vulgärpoppersche“ Politiker unter Berufung auf seine Thesen eine blutige Revolution nach der anderen inszenierten, und dazu erklärten, dies wäre die alleinseligmachende Variante von „trial-and-error“ und die effektivste Methode, „die dringlichsten und naheliegendsten sozialen Misstände… hier und jetzt zu bekämpfen“, zumal es auf die paar Wirren nicht so ankommt, da wir ja mit dem Elend ohnehin „noch lange werden leben müssen“ ? (S.124 /Ich gebe gern zu, dass der Rest hier von mir ziemlich böse polemisiert ist)

 

Apropos blutige Revolution. Ich möchte, anstelle dem modernen Trend zu folgen und hauptsächlich in der Sekundärliteratur herumzublättern, hierzu im weiteren einen „echten“ Marxisten zu Wort kommen lassen, nämlich Engels. Er vertrat in dem Klassiker-Duo eher die Seite der praktischen Politik als Marx (,der schier permanent an seinem Hauptwerk „Das Kapital“ schrieb, das ja vor allem eine Analyse der bürgerlichen Produktions- und Gesellschaftsmechanismen ist) und hat sich daher intensiver auch mit Fragen der Revolutionstheorie befasst. Engels schreibt – nicht etwa in einem vorsichtigen Spätwerk, sondern bereits 1847 – in der Arbeit „Grundsätze des Kommunismus“, die als Frage-Antwort-Spiel aufgebaut ist:

 

„16. Frage: Wird die Aufhebung des Privateigentums auf friedlichem Wege möglich sein?

 

Antwort: Es wäre zu wünschen, dass dies geschehen könnte, und die Kommunisten wären gewiss die letzten, die sich dagegen auflehnen würden. Die Kommunisten wissen sehr gut, dass alle Verschwörungen nicht nur nutzlos, sondern sogar schädlich sind.“ Er befürchtet aber, dass durch die Unterdrückung das „Proletariat zuletzt in eine Revolution hineingejagt“ werden könnte und räumt dem eine hohe Wahrscheinlichkeit ein. Auf die

 

„18. Frage: Welchen Entwicklungsgang wird diese Revolution nehmen?

 

Antwort: Sie wird vor allen Dingen eine demokratische Staatsverfassung und damit direkt oder indirekt die politische Herrschaft des Proletariats herstellen. Direkt in England, wo die Proletarier schon die Majorität des Volkes ausmachen (!)…“ Anstelle Bahnhöfe und Telegrafenämter in bolschewistischer Manier durch „Berufsrevolutionäre“ zu besetzen, wollte Engels:

 

„1. Beschränkung des Privateigentums durch Progressivsteuern…

 

2. Allmähliche Expropriation… teils durch Konkurrenz der Staatsindustrie, teils direkt gegen Entschädigung (!)…

 

7. Vermehrung der Nationalfabriken… in dem selben Verhältnis, in welchem sich die der Nation zur Verfügung stehenden Kapitalien und Arbeiter vermehren.“

 

Zu dem letzten Punkt schreibt Engels nochmals 30 Jahre später im „Anti-Dühring“ (3. Abschnitt, II): „Das (kapitalistische) Staatseigentum an den Produktivkräften ist nicht die Lösung des Konflikts (zwischen gesamtgesellschaftlicher Produktion und privatkapitalistischer Aneignung), aber es birgt in sich das formelle Mittel, die Handhabe der Lösung. Diese Lösung kann nur darin liegen… dass die Gesellschaft offen und ohne Umwege Besitz ergreift von den jeder anderen Leitung ausser der ihrigen entwachsenen Produktivkräften“.

 

Ich möchte an dieser Stelle keine weitschweifige Diskussion über die Rolle gewaltsamer Revolutionen in der marxistischen Philosophie anzetteln, dies allein wäre ein abendfüllendes Programm. Tatsache ist aber, dass der Begriff Revolution von Marx und Engels zwar stets im Sinne grundlegender Umwälzungen gebraucht wurde, es aber schwer sein dürfte, nachzuweisen, dass sie darunter zwingend physische Gewalt verstanden haben. Allein die These von der „Weltrevolution“ spricht dagegen, es sei denn, man unterstellt ihnen, sie wären solche Phantasten gewesen, ernsthaft an die Durchführbarkeit eines kontinenteumfassenden „letzten Gefechtes“ zu glauben.

 

Einen Vorwurf muss man ihnen jedoch ganz sicher machen: Sie haben – wahrscheinlich aufgrund des uralten Philosophen-Fehlers, die eigene Epoche zu überschätzen – die Potenzen und Entwicklungsfähigkeiten der bürgerlichen Gesellschaftsordnung gewaltig unterschätzt!

 

Wahrscheinlich haben sie selbst und die von ihnen massgeblich mit angeschobene organisierte Arbeiterbewegung unfreiwillig sogar recht erheblich zur Flexibilität des Kapitalismus beigetragen, der in den letzten 100 Jahren ungeheür ungeheuer viel gelernt hat, und in den allermeisten Fällen ein ausgezeichnetes Gespür dafür entwickelt, wann und wieviel man zweckmässigerweise vom grossen Profitkuchen abgeben sollte. Auch die Verwischung des Proletarierstatus und die Verquickung von privatkapitalistischen und staatskapitalistischen Strukturen sind sehr imponierend. (Damit keine Missverständnisse entstehen: Ich habe hier keinesfalls einen heimlichen Aufguss der Konspirationstheorie im Sinn, sondern meine, dass diese Entwicklung durchaus objektiv und getreu dem dialektischen – ich kann es einfach nicht lassen – Prinzip von der Evolution durch „Einheit und Kampf der Gegensätze“ erfolgt.)

 

Nichts desto trotz gibt es für mich jedoch keinen Grund daran zu zweifeln, dass sich die gesellschaftliche Entwicklung gesetzmässig vollzieht. Inwieweit wir in der Lage sind, diese Gesetze voll (!) zu erkennen und vielleicht gar zu nutzen, steht auf einem ganz anderen Blatt und auf einem weiteren das Problem, „die Gesellschaft über einen Plan steürn steuern zu können“

 

Für Dich sind die Popperschen (mit Unterstellungen gewürzten) Argumentketten offenbar von grosser Überzeugungskraft gewesen, denn auch Du schreibst ja in Deinem Brief vom Plan als der „herrgottähnlichen Sozialmaschine“. Eine solche Rolle kann ein Plan natürlich niemals spielen und ich habe als erklärter Marxist deshalb auch überhaupt keine Probleme, Dir insofern recht zu geben, als selbstverständlich die Motive der Individuen ein mehr oder weniger „chaotisches Durcheinander“ bilden und damit jeder Versuch einer „Fein(!)steuerung“ der Gesellschaft absurd ist. Aber mit dem von Dir interessanterweise eingeräumten „Vektor“ dieses Motivchaos verhält es sich doch wohl ein wenig anders, oder? Die gesellschaftliche „black-box“ ist zwar schwer zu analysieren, aber gerade wenn man einräumt, dass sie nicht willkürlich von einem „herrgottähnlichen“ Mechanismus gesteuert werden kann, muss man davon ausgehen, dass sie bestimmten (und somit zumindest teilweise erkennbaren) inneren Gesetzen unterliegt – und genau da setzt der so gern missverstandene sozialistische Plan an!

 

Gerade wenn sich die gesellschaftliche Entwicklung gesetzmässig vollzieht, ist es eben nicht möglich, sie über einen willkürlichen Plan zu steuern, und schon gar nicht, widernatürliche – also den objektiven Gesetzmässigkeiten entgegenstehende – Prozesse „durch ein umfassendes Überwachungssystem in den Griff zu bekommen“. Es ist dann aber möglich, objektive Entwicklungen planmässig zu unterstützen – vorausgesetzt sie werden wirklich in dem erforderlichen Maße erkannt, und genau da liegt der Hase im Pfeffer, der besonders scharf immer dann ist, wenn der Wunsch der Politiker der Vater des Gedankens der Gesellschaftswissenschaftler ist (siehe DDR).

 

Es geht nicht darum, gesellschaftlichen (und ökonomischengesellschaftliche (und ökonomische) Entwicklungsgesetze willkürlich zu zeugen, sondern sie in der praktischen Politik zu berücksichtigen. Nichts anderes tun im übrigen heute auch die Bourgeois. Sie planen, und wie! Sie planen die Produktion und die Politik und sie zahlen gewaltige Summen für jede Erkenntnis über das Innenleben der black-box und die Natur der Vektoren, weil sie es sich kaum leisten könnten, nach dem trial-and-error-Prinzip ihre Firmen und ihren Staat zu führen. (In diesem Sinne muss Popper für sie wenig brauchbar gewesen sein.)

 

In diesem Zusammenhang noch ein Gedanke prinzipieller Natur: Warum eigentlich sollte sich ausgerechnet die gesellschaftliche Entwicklung nicht nach objektiven Gesetzmässigkeiten vollziehen? Immerhin gesteht doch (fast) jedermann solche Gesetzmässigkeiten auf praktisch allen anderen Gebieten leicht zu, obwohl wir genau wissen, dass unsere Kenntnisse hierüber natürlich immer nur relativ – aber für den ja ebenfalls relativen praktischen Gebrauch meist ausreichend – sind. Die Tatsache, dass es sich inzwischen herausgestellt hat, dass weder unsere alten Vorstellungen von der Mechanik noch die von Raum und Zeit präzise die Wirklichkeit wiederspiegelten, stellt doch nicht in Frage, dass diese Wirklichkeit bestimmten Gesetzmässigkeiten unterliegt und alle Maschinen, die auf der Basis der Newtonschen Gesetze (!) gebaut wurden, durchaus funktionieren und treue Dienste leisten, jedenfalls solange man sie nicht mit ungeheuren Geschwindigkeiten ins All schiesst.

 

Alle neuen Erkenntnisse, die alte Erkenntnisse in Frage stellten, haben bisher niemals die Gesetzmässigkeit an sich angezweifelt, sondern immer nur die Qualität ihrer Beschreibung. Die Gesetze der Natur (und der Gesellschaft) wirken ohnehin völlig unabhängig von unserem Kenntnisstand. Der Raum ist von Euklid genauso unabhängig wie von Einstein und er wird ebenso unabhängig von einem Herrn Meier sein, der vielleicht im Jahre 2052 in der Lage sein wird, ihn noch besser zu beschreiben. Aber nichts desto trotz bestreitet doch niemand, dass der Raum bestimmten Gesetzmässigkeiten folgt – und er tat dies auch schon, als noch niemand sich darüber Gedanken machte.

 

Dabei korreliert die Präzision der Vorhersage, auf der Popper so verbissen herumreitet, keinesfalls mit dem Vorhandensein oder Nichtvorhandensein von Gesetzmässigkeiten. Bei einem Würfel ist – im Gegensatz zur Popperschen Sonnenfinsternis – praktisch keine präzise Vorhersage möglich. Trotzdem gibt es auch hier doch eine deutliche Gesetzmässigkeit, nämlich die, dass er mit der Wahrscheinlichkeit von genau 1:6 in eine bestimmte Lage fallen wird. Auch die Tatsache, dass wir mit einer Wahrscheinlichkeit von soundsoviel Prozent erwarten können, dass er bei 600 Würfen genau 100 mal die „6“ zeigt, und mit einer höheren Wahrscheinlichkeit annehmen können, dass er dies bei 6 Millionen Würfen eine Million mal tun wird, ist zwar keine präzise Prognose, aber doch eine Gesetzmässigkeit – und genauso muss es doch zulässig sein, gesetzmässig zu nennen, wenn die Geschichte zeigt, dass eine Gesellschaftsordnung, die an die Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit gelangt ist, mit grosser Wahrscheinlichkeit durch eine neue Ordnung ersetzt wird, die den Anforderungen der Zeit (was auch immer das sein mag, siehe weiter unten) eben besser gerecht wird, und dass dies zu jenem Zeitpunkt geschehen wird, an dem sich die Widersprüche dieser alten Gesellschaft so verschärft haben, dass echter Handlungsbedarf besteht. Ist das etwa kein gesellschaftliches Entwicklungsgesetz?

 

Ein Gesellschaftswissenschaftler, der dies rechtzeitig erkannt hat, hätte in diesem Sinne tatsächlich im Jahre 1780 voraussagen können, dass mit grosser Wahrscheinlichkeit (!) Frankreich irgendwann in den nächsten Jahren (!) auf eine Revolution zusteuert, und dass diese mit grosser Sicherheit (!) dann eine bürgerliche sein wird, wobei aber natürlich nicht vorhergesagt werden kann, ob diese im ersten Anlauf dann auch zum Ziel führen wird.

 

Eine solche Aussage ist zugegebenermassen mit vielen Wenn und Aber behaftet, aber doch brauchbar – natürlich für beide Seiten, und allemal besser, als sich vom trial der Entwicklung überraschen zu lassen. Ich will noch eins draufgeben, und zum Beweis meines Vertrauens in die eigene Überzeugung mich bei dieser Gelegenheit konsequenterweise selbst auf das Glatteis der Prognose wagen – und zwar bezüglich der von uns beiden aufmerksam verfolgten Entwicklung in der Sowjetunion:

 

Leider ist mir (!) dies erst heute einigermassen möglich, nachdem ich mir nicht nur halbwegs Klarheit über den gesellschaftlichen Ist-Zustand verschafft habe – dies war mir in den letzten Jahren im Falle der DDR schon einigermassen gelungen – sondern auch bereit bin, den eigenen Erkenntnissen zu glauben und – vor allem – sie mit Konsequenz anzuwenden.

 

Da meine Überlegungen wesentlich auf der These basieren, dass es sich beim Real Existierenden Sozialismus“ um eine feudale Spielart handelt, gestatte ich uns dazu zunächst einen kleinen Argumentationsausflug:

 

Hauptanhaltspunkt sind für mich dabei die auffälligen Parallelen in den Strukturen. Adel (Bonzen), Klerus (Partei), Gott (Lenin), Bibel (seine Werke), Ständerecht, Lehen (Partei- und Staatsposten), Fron (Arbeitspflicht), Zehnten (Betriebsabgaben), Leibeigenschaft (geschlossene Grenzen) – alles ist da, Sogar der Effekt der Erblichkeit der Adelsprivilegien. Aber wir finden nicht nur Parallelen bei der strukturellen Statik, sondern auch in den gesellschaftlichen Prozesse wie beispielsweise beim zwanghaften Drang zur Zentralisierung der Macht (In allen „sozialistischen“ Ländern haben wir immer wieder den Trend zum Zarentum – in jüngster Zeit auch bei Gorbatschow, der sogar den „Majestätsbeleidigungs-Paragraphen“ neu schaffen liess, was ich ihm besonders übelnehme) und – für einen Marxisten besonders wichtig – wir haben allerorten die feudale Produktionsweise. Es dominiert praktisch die Naturalwirtschaft (übrigens auch im Austausch der RGW-Länder untereinander), das „Saatgut“ wird zugeteilt und der grösste Teil der „Ernte“ vom Fürsten kassiert. Der Bauer – pardon, der Werktätige – hat kaum materielles Interesse an seiner (Fron-)Arbeit, der er sich nicht entziehen darf. Günstigstenfalls legt er sich ins Zeug in dem von den Pfaffen anerzogenen Irrglauben, ein gottgefälliges Werk zu verrichten, in der Regel wird er aber versuchen, mit möglichst wenig Aufwand irgendwie über die Runden zu kommen, oder wie Marx wahrscheinlich sagen würde: Da er nicht leistungsgerecht, sprich: dem Wert seiner Arbeitskraft entsprechend, bezahlt wird, Qualität und Intensität seiner Arbeit also keinen Einfluss darauf haben, inwieweit ihm gestattet wird, seine Arbeitskraft ausreichend zu reproduzieren, bleibt ihm nur übrig, möglichst wenig davon zu verausgaben. Der Konsum der Fürsten andererseits wird in jedem Falle sichergestellt, so dass diese – im Gegensatz zum kapitalistischen Unternehmer – vom Niveau der Produktion nur in geringem Masze Maße abhängig sind, dementsprechend ist ihre Interessenlage. Damit ist Produktion zwar möglich, aber viel mehr als die normale Ernährung lässt sich für die Massen auf diese Weise nicht sichern – wenn zu viele ehrgeizige Ziele der Fürsten hinzukommen – wie im Falle der Sowjetunion und Rumänien – dann nicht einmal das. Soweit der Argumentationsausflug.

 

Was kann man also aus der Sicht des dialektischen und historischen Materialismus für die so als neofeudal charakterisierte Sowjetunion für eine Prognose abgeben?

 

Demnächst muss auch in Moskau das eintreten, was in den übrigen Ostländern bereits eingeleitet ist: Auf der Tagesordnung steht die bürgerlich – demokratische Revolution. Man wird politisch letzten Endes dort ansetzen müssen, wo die Februarrevolution 1917 aufgehört hat und eine bürgerliche Demokratie installieren. Dabei wird der Trend ebenfalls in Richtung des für diese Phase charakteristischen Nationalstaates gehen, dass heisst, die Sowjetunion wird mit grosser Wahrscheinlichkeit in eben solche Nationalstaaten zerfallen. Der Reformer Gorbatschow – angetreten nicht wie Honecker und andere (wie ich) lange Zeit meinten (und hofften), um die alten Herrschaftsstrukturen zu zerschlagen, sondern um sie im Gegenteil durch „Frontbegradigung“, durch Aufgabe bereits verlorener Positionen zu festigen (was ihm die eigenen Leute in ihrer Ignoranz fast unmöglich machten) wird diesen Prozess nicht aufhalten, sondern höchstens verzögern. Wenn er – freiwillig oder unfreiwillig – wie im Falle der DDR und anderer, auch zu Hause wenigstens dazu beiträgt, dass dies mit einem Minimum an Blutvergiessen geschieht, wird ihm die „Geschichte“ trotzdem danken. Dass die anstehende Revolution so blutlos wie bei uns verläuft, ist in der Sowjetunion leider nicht anzunehmen, da im Gegensatz zur DDR im Herbst ’89 dort wahrscheinlich noch hunderttausende aus der Schicht des niederen „Dienstadels“ bereit sind, für den Erhalt der alten Herrschaft einzustehen. Hinzu kommen die bekannten ethnischen und religiösen Probleme, vor allem im Süden. Dort ist es sogar möglich, dass die sozialistische Spielart des Feudalismus zunächst durch die moslemische ersetzt wird, wie überhaupt erwartet werden muss, dass der revolutionäre Prozess bei aller Gesetzmässigkeit nicht geradlienig sondern sehr sprunghaft und mit zahlreichen Rückschlägen erfolgen wird. Besonders problematisch ist die Frage der Nationalstaatenbildung, da insbesondere in den Städten, die naturgemäss den Hauptschauplatz der Auseinandersetzungen bilden werden, bereits eine gewaltige Vermischung der Völkerschaften stattgefunden hat. (In Dushanbe, der Hauptstadt Tadshikistans leben beispielsweise fast 50% Russen.)

 

Soweit also die Prognose eines alten „Historizisten“. Und nun zum Plan, der aus einer solchen Prognose folgen müsste, um der objektiv anstehenden Geburt des russischen Kapitalismus möglichst viele Wehenschmerzen zu ersparen, indem man dazu beiträgt, die ohnehin fälligen Prozesse (und nur diese) zu unterstützen:

 

Dazu ist es zunächst notwenig, den äusseren Druck zu lockern, um nicht wie schon so oft wiederum einen internen Burgfrieden in der Sowjetunion geradezu zu erzwingen. Zweitens sollten weniger die systemerhaltenden Reformer wie Gorbatschow, sondern mehr die Revolutionäre wie Jeltzin (?) unterstützt werden (Z.Zt. hat man eher den Eindruck, der Westen hat hier nur sportlich-voyeuristische Interessen) – keinesfalls aber wie bisher Strömungen, die zwar die alten Sowjetherrschaftsstrukturen erschüttern, jedoch ihrem Charakter nach noch reaktionärer sind als diese – ich denke da vor allem an die Mudjaheddin und ähnliches. Drittens sollten nicht die nationalistischen Alleingänge vor der Revolution beklatscht werden. Viertens muss man alles vermeiden, was beim ohnehin schon arg gebeutelten Volk das Gefühl erzeugen kann, gemeinsam mit den der alten Ordnung untergehen zu müssen, d.h. man muss der SU die Chance geben, sich mit Anstand von bestimmten Prestigepyramiden zurückzuziehen, die ihre Möglichkeiten – die frühkapitalistischen genauso wie ihre spätfeudalen – übersteigen. Dies betrifft insbesondere die Rüstung und die Raumfahrt. In diesem Sinne ist das Geschrei vom vereinigten Deutschland in der NATO ausgesprochen tödlich, weil es genau diesen „Rückzug mit Anstand“ verhindert, und den einfachen Mann an der Wolga durch das neu aufkommende Gefühl vom erzwungenen (!) Rückzug und nationaler Demütigung wieder zwangsläufig mit seinen Marschällen verbindet.

 

Soweit – in der gebotenen Kürze – Prognose und daraus abgeleitet ein sinnvoller Plan zur Problematik SU.

 

Apropos Kürze: Dieser Brief ist nun fast zwangsläufig ein elend langer geworden und ich versuche nun zum Schluss zu kommen, damit Du mir nicht am Ende der zehnten Seite einnickst. Ich möchte aber als letztes wie auf Seite 7 unten versprochen noch eine Bemerkung zu den dort erwähnten „Anforderungen der Zeit“ machen.

 

Marx ging stets von der Produktivität als entscheidendem Kriterium für die Qualität der Gesellschaftsordnung („Produktionsverhältnisse“) aus, und dies scheint auch bis heute so zu sein. (Ich verweise dazu auf mein Gedankenexperiment aus einem der vorhergehenden Briefe „Was wäre mit der DDR geschehen, wäre dort – bei gleichzeitiger Unterdrückung der Freiheiten – das Lebensniveau der Bundesrepublik erzielt worden, und umgekehrt?“)

 

Praktisch alles spricht dafür, dass der Real Existierende Sozialismus seinen Untergang dem miesen Produktionsniveau verdankt.

 

Dennoch kann ich mir vorstellen, dass auf einer bestimmten Stufe der weiteren Entwicklung die „Anforderungen der Zeit“ nicht mehr in diese Richtung zielen. Der Kapitalismus ist bereits heute kein reales Gesellschaftsmodell für die gesamte Menschheit. Er hat die offenbar systemimmanente Tendenz zu saurierhaftem Wachstum (worum ihn der Real Existierende immer beneidet hat) und basiert nach wie vor wesentlich auf der Ausbeutung, wenn dies auch für den Bürger der Industriestaaten nicht mehr unbedingt transparent ist, da er selbst kräftig an der Ausbeutung der restlichen Welt beteiligt wird. Die globalen Probleme sind mit einer weiteren Steigerung der Produktion jedenfalls nicht zu lösen. Insofern glaube ich, dass das Kriterium der Gesellschaftsqualität sich wesentlich verlagern wird. Nicht mehr der zunehmende Verbrauch, sondern die sinnvolle Selbstbeschränkung sind die Gebote der Zeit. Und genau deshalb wird dann wahrscheinlich der zwingend auf Wachstum ausgerichtete Kapitalismus abtreten müssen.

 

In diesem Sinne scheint mir die Bewegung der Grünen eine echte Keimzelle neuer Gesellschaftsordnung. Amen.

 

Dein Frank

 

 

PS: Ich werde demnächst versuchen auf die polnischen Ängste und die Parallelen zwischen Faschismus und Sozialismus einzugehen.


[1] Am Artikel erkennnt man übrigens bis dato, ob ein Deutscher/Ost oder ein Deutscher/West von der (!) Stasi spricht. Bei Euch sagen alle stets DER Stasi, und meinen wohl einen StaatssicherheitsDIENST, den es hier aber nie gegenen hat (im Gegensatz zum BundesnachrichtenDIENST). Bei uns gab es ein „Ministerium für (DIE) Staatssicherheit“, daher DIE Stasi. Im Rahmen der Angleichung Ost an West wird sich aber wohl mittelfristig auch hier die West-Variante durchsetzen.

Amen

Briefe aus der Wendezeit – Teil 5

 

Berlin, 22.03.90

 

Lieber Klaus!

 

Nun haben wir es also fast geschafft. Es ist wie im Westen. Zum 3-fachen Westpreis gibt es in unseren Läden Apfelsinen, Kiwis, Weintrauben, Ananas und Erdbeeren, Coca Cola, Fanta, Pizza, herrlich anzusehenden Schinken, und auch der Kohl ist derselbe wie bei Euch – Helmut!

 

Er ist nun wirklich der Kanzler aller Deutschen, bestellt die neue ostdeutsche Regierungspartei nach Bonn zum Befehlsempfang, und diese Marionetten tun so, als müßte das so sein. Vielleicht ist diese Hemmungslosigkeit aber auch ganz normal. Schließlich haben die Leute ja wirklich eher Kohl als den Steinbeißer de Maiziere gewählt.

 

Genauer gesagt, sie haben die versprochene schnelle D-Mark gewählt, denn was ist ein Ostmarkgehalt gegen eine D-Mark-Arbeitslosenunterstützung. So konnte denn auch die von mir erwartete handfeste Drohung aus Bonn für den Fall eines SPD-Sieges ausbleiben – unser gebildetes Volk wußte auch so, was sich gehört. (Bei der Kommunalwahl wird es allerdings anders aussehen. Da werden die Leute wohl mehr den sozialen Schlenker bevorzugen, damit sich ihre Mieten nicht vervielfachen usw.)

 

Wenn mir auch die Schwarzen nicht passen, sehe ich doch ohne Bitterkeit auf das Wahlergebnis, denn das Wichtigste ist wohl doch, daß überhaupt eine handlungsfähige und legitimierte Regierung entstehen wird.

 

Bei aller auch von mir im Prinzip geteilten allgemeinen Achtung vor Modrow, der das Schifflein immerhin ohne Tote und Totalverlust über die Klippen holpern ließ – ein kräftiger Happen Anarchie herrscht bei uns doch und es gibt eine gewisse Sehnsucht nach „Ruhe und Ordnung“. Man kann nur hoffen, daß sich nicht so viele Abgeordnete als Stasi-Mitarbeiter herausstellen, daß eine Neuwahl fällig wird.

 

Wer erschrocken ist, daß so etwas vorkommt, sollte sich vor Augen halten, daß jeder 50. Erwachsene so oder so bei der „Firma“ angestellt war und so müßten denn etwa 8 Stasi-Leute in der neuen Volkskammer sitzen, wenn diese – was natürlich Quatsch ist – ein getreues Abbild des Bevölkerungsdurchschnittes lieferte.

 

Da aber die Abgeordneten in der Regel auch schon vor ihrer neuen (?) Politkarriere immer mehr als (Sch)nur Durchschnittsmenschen waren…

 

Na, wir werden ja sehen. Eines sollte man aber vielleicht den Bundesbürgern erklären: Wer in unserem System das Privileg genoß, als Anwalt arbeiten zu dürfen, der mußte selbstverständlich (mindestens am Anfang seiner Karriere) als ausgesprochen systemkonform gelten, und durfte auch später nur in erlaubtem Umfang aus der Reihe tanzen.

 

Der Fall Schnur ist daher so verwunderlich nicht und wird wohl auch nicht der letzte gewesen sein.

 

Insgesamt ist die allgemeine Stimmung am besten mit „müde“ zu umreißen. Man wartet voll Hoffnung oder auch verbissen, aber in jedem Fall ergeben, auf das, was uns der dicke Helmut da so bescheren wird. Mit der deutschen Einheit scheint er es nicht mehr so eilig zu haben wie noch vor drei Tagen. Ich auch nicht, insofern ist es mir recht.

 

Freuen wir uns also auf die D-Mark. Auch hier gibt es inzwischen relativierende Aussagen, aber ich denke doch, die wenigstens wird ja wohl kommen, damit der Herr Lafontaine nicht ganz so schnell recht erhält.

 

Paula wird ab 1. Juli sowieso arbeitslos (Stand per gestern) und ich sitze bei der Post noch einigermaßen sicher, also schreckt uns auch die Wirtschaftsunion nicht, und bei der Sozialunion können wir uns nur kräftig verbessern.

 

Insgesamt glaube ich aber, daß der produzierende Bereich in viel stärkerem Maße als alle glauben, erst einmal in die Knie gehen wird – es sei denn, wir werden alle Porzellanmaler in Meißen und bei Euch gibt es genug Leute, die mit einem 5000-DM-Service frühstücken wollen.

 

Immerhin ist ja zu bedenken, daß unsere Industrie zuletzt schlechter als 4:1 verkauft hat, und selbst wenn die Löhne sich zunächst auf etwa halbem West-Niveau einpegeln (Dies entspräche übrigens der BRD-Arbeitslosenhilfe und ist insofern erstmal eine natürliche Untergrenze und auch die nur zu halten, wenn die Leute tatsächlich den Enthusiasmus aufbringen, für das gleiche Geld zur Arbeit zu gehen, das sie ein paar Kilometer weiter erhalten könnten, ohne einen Finger krumm zu machen) bleibt immer noch das Effektivitätsgefälle durch schlechte Organisation, Energieverschwendung, Konstruktionsmängeln usw. Gar nicht zu reden von veralteten Anlagen. Andererseits könnte man über den Steuerhebel einiges kompensieren und irgendwelche Kuponschneider müssen bei uns ja auch (noch) nicht mit ernährt werden.

 

Man darf also erwarten, daß es einige Zeit ziemlich wild zugehen wird, bis die Radikalkur anschlägt. Immerhin steht ja auch die Bundesrepublik mit dem Tropf bereit, falls der Patient Anstalten macht, seinen Geist aufzugeben, denn eine so große Leiche kann schließlich auch keiner verkraften.

 

Immer noch interessante Zeiten, wenn auch der Dampf so ziemlich raus ist. Vielleicht ist das ganz gut so. Die Leute besinnen sich dadurch ein wenig und die Verbissenheit läßt nach.

 

 

Dear Judy!

I’m so sorry, reading about your experiences at your first visit in our wild country. Please, come to Berlin, and all will be better! By the way: Altenberg is a GDR-famous small town in Erzgebirge, southly of Dresden, near by the Czech border. The people like it to go to Altenberg for wintersports.

 

(Ich weiß, daß mein Englisch schaurig ist, aber ich wollte wenigstens meinen guten Willen demonstrieren – wenn schon keiner mehr demonstriert hier)

 

Offenbar ist Euch der erste Kontakt mit dem real existiert habenden Sozialismus doch ein wenig in die Glieder gefahren, entnehme ich Deinem letzten Brief. Wie einem Bundi zumute ist, wenn er zu uns kommt, kann man (durch Inversion) ein wenig aus den Gesichtern unserer Leute ableiten, wenn sie aus der BRD kommen. Alle sagen, auch Westberlin sei nichts dagegen und dazu machen sie meist dieses Ach-bei-uns-ist-ja-doch-alles-Scheiße- Gesicht.

 

Na, wir sind gespannt, und zwar auf die Alltäglichkeiten wohl am meisten. Ich habe bisher zum Beispiel noch nie eine echte Westwohnung gesehen usw. Auch einige soziale Sachen interessieren uns, es gibt da furchtbar widersprüchliche und vor allem unvollständige Aussagen. Was verdienen die Leute wirklich, muß man vom Sozialhilfesatz die Miete bezahlen, wie ist das mit der Krankschreibung u.v.a.m.

 

Das Interesse ist vor allem deshalb so hoch, weil man sich einbilden kann, hier die einmalige Chance zu haben, einen „Blick in die Zukunft“ zu tun, und außerdem merkt man erst so richtig, wie wenig man über das andere System weiß, seit man es selbst besichtigen kann. Ich denke, es geht Euch ähnlich.

 

Soweit für heute, herzliche Grüße an die ganze Familie (auch von meiner Fast-Hausfrau)

 

 

PS: Wir haben uns inzwischen für Mai einen Zug ausgeguckt und die Platzkarten bestellt. Wenn es Euch recht ist, würden wir am Sonntag, dem 13.5. um 8.31 Uhr früh in Stuttgart eintreffen (mit dem Zug aus Nürnberg). Es wäre schön, wenn uns dann jemand abholen könnte. Falls ihr uns so lange aushaltet, würden wir dann am Mittwoch Abend (21.41 Uhr) wieder abrücken. Schreibt bitte, ob es bei Euch klappt.


Berlin, 02.04.90

 

Lieber Klaus!

 

Gleich zu Beginn die „technischen“ Fragen zu Deiner Post: Nach Deinem Anruf habe ich die Gelegenheit genutzt und unseren Briefwechsel erst einmal geordnet abgeheftet. Er hat inzwischen einen sehr beeindruckenden Umfang angenommen. Unser gesamtdeutsches Gemeinschaftswerk umfaßt z.Z. mehr als 100 Blatt! Ich bin stolz auf uns. Zu Deinen letzten Briefen kann ich berichten: Alle sind da! Die Briefe vom 30. Jan, 5, 10., und 20. Febr, auch einer vom 14. Febr, den Du am Telefon nicht erwähnt hattest. Aber das war’s dann auch. Im Februar jede Woche ein Brief von Dir und im März gar keiner.

 

Am Sonnabend allerdings kam er dann, Dein Brief aus Bad H. vom 8.3. – abgestempelt am 2.3.! Wenn Du die Post 2 Wochen in der Tasche trägst, brauchen wir uns ja nicht zu wundern, daß sie nicht ankommt. (Hoffentlich habe ich jetzt nicht Judy in die Pfanne gehauen.)

 

Nunmehr soll Dir also rasch auch Antwort zuteil werden.

 

Ich kann mir vorstellen, wie interessant es für Dich gewesen sein muß, einmal mit einem östlichen Amtsbruder zu sprechen, und ich meine, Du hast auch sofort den Finger auf den richtigen Punkt gelegt, denn dieser Amtsbruder ist eben nur dem Namen nach einer (gewesen) und er wird wie alle seine Kollegen hier arg daran knabbern, nunmehr auch einer der Sache nach zu werden. Unsere betroffenen Bürger werden es nicht minder schwer haben dabei. Unser „Rechtssystem“ ist ein schönes Beispiel echter Klassenjustiz. Man stößt allenthalbend darauf, wenn man sich damit befaßt – und da es kaum vernünftige anwaltliche Unterstützung bei uns gab, mußte man dies notgedrungen. Wie viele andere habe auch ich mich so unfreiwillig zum Amateur-Juristen mausern müssen, vor allem auf den Terrains des Zivil-, Arbeits-, und Patentrechts.

 

Wenn man sich eingehender mit unseren Gesetzen beschäftigt, stößt man sehr schnell darauf, daß praktisch jeder Paragraph irgendeine Klausel enthält, die der Willkür des Staates alle Möglichkeiten einräumt. Sollte diese Klausel fehlen, findet man sie ganz sicher in einem der folgenden Paragraphen. Hinzu kommen noch etliche Ungereimtheiten, bei denen überhaupt nicht klar ist, welchen Zweck sie erfüllen könnten. (Unser neues Patentrecht kennt z.B. keinen Patentinhaber, unser Zivilrecht kennt kein Pachtverhältnis usw, es ist ein einziges Wischiwaschi.)

 

So herrschte bei uns also schon immer ein „regelrechtes“ Rechtschaos, das – so komisch es auch klingt – nur dadurch überhaupt handhabbar wurde, daß im Zweifelsfalle eben immer der Grundsatz „zu Gunsten des Staates“ galt. Wenn dieser nun wegfällt – ohgottogott! Nach Übernahme des bundesdeutschen Rechtes werden sich hier für eine lange Zeit wirklich Rechtskundigen ungeheure Möglichkeiten ergeben, dieses Recht für sich zu nutzen. Stinkreich ist das mindeste, was ein einigermaßen skrupelloser „Rechts“-Pfiffikus demnächst hier werden kann.

 

Womit wir wieder mal bei der Moral wären, die sich ja wie ein roter Faden durch fast alle Deine Briefe zieht. Unsere bisherige Moral war für praktisch jedermann – ob er das nun wahrhaben wollte oder nicht – auf unserer Ideologie gegründet. Es galt als moralisch, sich unter totaler Hintanstellung persönlicher Bedürfnisse für die Gesellschaft als Ganzes einzusetzen, und es war unmoralisch, an sich zu denken. Daß das gesellschaftliche Entwicklungsziel immer nebulöser wurde und die Nomenklatura ihre Interessen schließlich für die gesamtgesellschaftlichen ausgab, ist dabei so ziemlich zweitrangig gewesen. Mehr oder weniger stark hat jeder dieses Grundprinzip akzeptiert. Es war eine spezielle Art der Gottgefälligkeit, das Gemeinwohl. Kaum jemand war beispielsweise bei uns bereit zuzugeben, er hätte irgendwie irgendwo irgendwann auf Kosten anderer gelebt. Keiner, der nicht betonte, wie fleißig er in seinem (volkseigenen) Betrieb sei, keiner, der gern zugab, einfach nur „Glück“ gehabt zu haben oder protegiert worden zu sein. Keiner, der offen irgendwelche „gesellschaftlich notwendigen“ Tätigkeiten verweigerte – und nicht nur aus Angst um das berufliche Fortkommen, denn dem berühmten „einfachen Arbeiter“ konnte bei uns in dieser Hinsicht kaum etwas passieren, aber auch der dachte sich lieber irgendwelche Ausflüchte aus, statt einfach „Nein!“ zu sagen. (Vielleicht stammen daher einerseits die vielen individuellen DDR-Nischen und andererseits die absolute Unfähigkeit der alten Führung, die reale Situation in der Bevölkerung richtig einzuschätzen.)

 

Es war (und ist) für uns deshalb auch fast unmöglich, sich eine Gesellschaftsordnung, die das Individuum in den Mittelpunkt stellt, überhaupt als „moralisch“ vorzustellen. Vielleicht erinnerst Du Dich, daß ich damals nicht so recht glauben wollte, daß breite Bevölkerungsschichten bei Euch bereit sind, zu Gunsten karitativer Zwecke persönlich zu verzichten. Ich vermutete bei (größeren) Spendenaktionen im Westen immer irgendwelche religiösen Motive, oder den Versuch, irgendwie Steuern zu sparen. Dahinter steckt, daß wahrscheinlich fast jede Moralauffassung sich selbst immer gern als die alleinseligmachende sieht.

 

Nun aber stehen wir da. Immer wieder drängt sich der Vergleich mit den feudalen Strukturen vergangener Jahrhunderte auf, und so auch hier: Was machen die Mönchlein, nachdem sie nun endlich erkannt haben, daß es gar keinen Gott gibt? Sie erschießen sich, oder beginnen nachzuholen, was sie bisher vermeintlich versäumt haben.

 

Man darf es ihnen nicht allzu übel nehmen. Unsere alte Moral ist im Eimer und für eine neue sind wir nicht reich genug. Die Leute wollen D-Mark und Urlaub in Mallorca, Umweltschutz nur wenn er nichts kostet, und Ausländer höchstens im Zirkus. Wie Brecht sagt: „Erst kommt das Fressen und dann die Moral.“ Gesund zu leben ist wahrscheinlich erst nach der „Freßwelle“ aktuell – und die haben wir eben noch vor uns. (Ich meine das ziemlich ernst. Unser Sohn hat sich zu seinem 9. Geburtstag am 01.04. eine Ananas gewünscht, die es dank unserer herrlichen Revolution neben anderen unbezahlbaren Obstsorten jetzt hier zu kaufen gibt – und er hat sie bekommen. Es war in seinen Augen ein durchaus gleichberechtigtes Geschenk neben der neuen Schulmappe, einer Angel, Zündplätzchen usw.)

 

Übrigens: Auch die Moral im Westen scheint derzeit ja nicht gerade auf Verzicht zu Gunsten der Brüder und Schwestern zu zielen. Man mag ja Kohl nachsagen was man will, aber er hat stets einen Instinkt dafür, was seine Schäfchen gerade hören wollen, und wenn er jetzt Anstalten macht, durch Verkauf ausschließlich der ostdeutschen Felle (die er uns gerade über die Ohren zieht), die Einheit zu finanzieren, ist das für mich ein deutliches Zeichen für die gegenwärtige allgemeine Stimmung bei Euch.

 

Nun will der kleine Bruder natürlich nicht undankbar sein. Aber Fakt ist, daß – abgesehen von dem freundlicherweise gezahlten Begrüßungsgeld – 5 Monate nach der Revolution materiell hier noch keiner besser lebt, aber viele schon schlechter, und im Westen ja wohl noch niemand auch nur eine Mark weniger im Beutel hat, oder?

 

Das heißt nicht, daß sich für uns nicht schon einiges verbessert hätte. Neben der Reisefreiheit haben wir immerhin jetzt samstags schulfrei, den Trabant gibt es ohne Anmeldung, die ersten Westwaren liegen in den Geschäften, und es ist kein Problem mehr, eine Fernsehzeitung zu abonieren. Aber das war’s dann auch schon. Alles andere ist eben nur Hoffnung. Und da bin ich dann auch bei der Übersiedlerproblematik (Du siehst, ich arbeite systematisch Deine letzten Briefe ab):

 

Die Grenzen wie Du schreibst „partiell zu schließen“ ist m.E. erstens sowieso nicht möglich und zweitens auch kein sinnvoller Weg. Es gibt nur eine Lösung: Das Kapital muß zu den Menschen und mit ihm der Wohlstand, sonst läuft es eben umgekehrt. Das gilt im übrigen natürlich nicht nur für Deutschland, sondern für die gesamte Welt – und nicht erst seit der Grenzöffnung. Diejenigen, die früher unter Einsatz ihres Lebens in den Westen flüchteten, sind in ihrer überwiegenden Mehrheit auch damals schon nicht in Richtung Freiheit, sondern in Richtung Wohlstand getürmt.

 

Nur hat der seinerzeit notwendige persönliche Einsatz die Menschen bei Euch stets so beeindruckt, daß sie nur zu leicht den hinter der Grenze abgegebenen statements geglaubt haben. (Wer hört schon gern, der arme Verwandte sei nicht wegen der netten Tante Erna, sondern nur wegen des kalten Buffets gekommen)

 

Ich habe früher hierzu gern ein Gedankenexperiment unternommen und mich gefragt: Wer wäre wohl durch die Elbe geschwommen, hätte Ballons genäht und Tunnel gegraben, wenn trotz unserer traurigen politischen Verhältnisse bei uns das bundesdeutsche Bruttosozialprodukt erzielt worden wäre, und im Westen – mit allen herrlichen Freiheiten – das unsere?

 

Was also tun? Praktikabel ist sicher zweierlei: Zum einen – und hier gehe ich in gewissem Sinne mit Deiner Grenzschließungsthese mit – muß man dafür sorgen, daß unsere Leute im Westen nicht als Lohndrücker auftreten können. Hier sollte doch der DGB Manns genug sein, dies ab einer bestimmten Größenordnung zu verhindern. Den Rest erledigt dann der begrenzte Arbeitsmarkt von selbst. Ebenso darf man natürlich nicht diese – schon immer – unsinnigen „Eingliederungshilfen“ gewähren. Bei uns hat niemand dafür Verständnis und im Hinblick auf das weiter oben gesagte, bin ich im übrigen schon immer der Auffassung gewesen, daß es sich hier ausschließlich um gezielte Maßnahmen zur Schwächung der DDR gehandelt hat, die nunmehr endgültig absurd sind. Sie wären auch früher schon nur bei den (nach meiner Schätzung) 4 bis 5% wirklich Verfolgten gerechtfertigt gewesen. (Wer im Gefängnis war weil er in den Westen wollte ist in diesem Sinne für mich kein Verfolgter, wenn er dies vorhatte, um seine Lebensbedingungen zu verbessern).

 

Und zweitens wird der Bundesrepublik nichts anderes übrigbleiben, als endlich spürbare Verbesserungen IN der DDR einzuleiten. Die Leute hier wollen ja nicht unbedingt gleich auf das Niveau bundesdeutscher Einkommen springen, aber sie müssen natürlich spüren, daß es endlich auch mit ihrem Lebensniveau vorangeht, und zwar stetig und unaufhaltsam. Wenn die Bundesregierung den headtrick schaffen sollte, dies ohne Griff in Eure Taschen zu tun, freut mich das natürlich für Euch. Aber ich glaube nicht daran.

 

Noch eine letzte Bemerkung zu „Kapital zu den Menschen“: Natürlich ist das Quatsch mit den 49%. Aber es ist auch ein wenig verständlich, wenn man bedenkt, daß „Kapital“ bei uns 40 Jahre lang als Synonym für Bosheit schlechthin galt. Das Problem erledigt sich demnächst sicher von selbst. Es ist z.Z. für niemanden hier zu begreifen, wo denn bei höheren Beteiligungen der Haken liegen sollte. Unsere (alten) Betriebsleiter – einmal losgelassen – agieren wie die schlimmsten Frühkapitalisten und insofern sehe ich einer höheren Westbeteiligung sehr gelassen entgegen und lediglich die Gefahr, daß die alten Herren ihre/unsere (!) Betriebe zu billig verramschen, um selbst möglichst ungeschoren davonzukommen. Aber das Thema Moral hatten wir ja schon.

 

So, daß soll es für diesmal gewesen sein. Ich lege noch ein „Werk“ bei, daß ich für die Aktion von Bertelsmann geschrieben habe. Du siehst, ich kann es nicht lassen, meinen „schriftstellerischen Durchbruch“ zu erzwingen. Es ist ein wenig geschwollen und hier und da konfus, drückt aber, wie ich meine, gerade auch deshalb so ungefähr mein derzeit reichlich verwirrtes Innenleben aus.

 

Viele Grüße an Judy und die Kinder

 

Dein Frank

 

PS: Wie war ich am Telefon? Ging’s? Seid nicht böse, falls nicht.

 

 


Stuttgart, 8.4.90

Lieber Frank,

das (zur Zeit) Beindruckendste an Eurer Revolution ist die Tatsache, daß die Lieferfrist des Trabbi binnen weniger Monate von 15 Jahren auf Null gefallen ist. Da kannst Du einmal sehen, wie „leistungsfähig“ der Kapitalismus ist – oder eigentlich: wie weit sich der Sozialismus (der DDR) von der (wirtschaftlichen) Wirklichkeit entfernt hatte. Die ganze Verdrehtheit dieses Systems zeigt sich darin, daß es in ihm gelingen konnte, eine Antiware wie diesen Trabbi zu einem der begehrtesten Wirtschaftsgüter hoch zu stilisieren. Schon die Hartnäckigkeit, mit der er seine äußere Form gegen alle Gepflogenheiten eines Marktes (zugegeben der Eitelkeiten) verteidigte (von der Technik ganz zu schweigen), macht ihn zu einem Unikum der Wirtschaftsgeschichte (eine vergleichbare Traditionspflege gibt es, Extreme berühren sich, nur noch in der Modellpolitik von Rolls-Royce; aber der Vergleich hinkt „ein wenig“).

Dieses hartnäckige Festhalten an unhaltbaren Ergebnissen ist für mich überhaupt das wirklich Eindrucksvolle (= Bedenkliche) am Sozialismus (der DDR). Über politische und ökonomische Theorien kann man trefflich streiten – über Ergebnisse nur noch in begrenztem Maße. Man könnte bereits darüber ins Grübeln kommen, daß das Ergebnis – normalerweise Notregler des kybernetischen Systems Gesellschaft – hier nicht korrigierend wirksam wurde, insbesondere nachdem dem diese Sicherung zuvor schon einmal durchgebrannt war. (Das fällt mir im Augenblick ein, wenn ich an Deutschland denke: die Frage, wie es um die politische Normalität der Deutschen bestellt ist.). Wirklich bedenklich wird es aber, wenn misslungene Ergebnisse nicht nur er(ge)duldet, sondern auch noch mit einem aberwitzigen Aufwand verteidigt werden (ich denke da vor allem an die Innenverteidigung à la Stasi), ein Aufwand, dessen Umfang für sich allein schon ein Indiz für die Schwäche des verteidigten Ergebnisses hätte sein müssen, ganz davon abgesehen, daß es durch diese Verteidigung, die alle Merkmale einer Belagerung trug, noch kräftig verschlechtert wurde – nicht nur ökonomisch, weil sie reichlich teuer war, sondern vor allem durch die Vergiftung der gesellschaftlichen Beziehungen, womit eben das untergraben wurde, was es eigentlich zu verteidigen galt. Gegen diesen gesellschaftlichen Murks ist der Trabbi geradezu ein Produkt politökonomischer Vernunft. Immerhin wurde man nicht bestraft, wenn man ihn nicht kaufte.

Aber zurück zum Beindruckendsten an Eurer Revolution. Nachdem Du mich unter dieser Überschrift bereits zwei Mal auf das Erwachen meiner Schreibwut angesprochen hast, will ich mich nun doch über mein Schweigen vor dieser Revolution äußern. Wenn Wut die Folge eines inneren Staus ist, dann trifft Dein Wort von der Schreibwut den Sachverhalt nicht schlecht. Vor Eurer Revolution litt ich am inneren Schreibstau und zwar aus zwei Gründen. Zum einen war da die bereits erwähnte Vergiftung der gesellschaftlichen Beziehungen durch die Stasi – sie wirkte auch zwischen den Gesellschaften. Zwar wußte ich früher noch nichts von dem absurden Umfang ihrer Aktivitäten. Aber irgendwie hatte ich immer die Befürchtung, eine Korrespondenz könnte Weiterungen nach sich ziehen, sei es, daß man Euch unter Druck setzen würde, uns anzuzapfen, sei es, daß man durch die Überwachung des Briefverkehrs auf uns aufmerksam würde und uns auf andere Weise anginge. Nach Allem, was man jetzt über das Gesellschaftsmonster erfahren hat, lag ich mit meinen Ahnungen gar nicht so falsch und womöglich habe ich durch meine Ungeselligkeit auch Euch einige Probleme erspart. Und dann wußte man – trotz entgegenstehenden Gefühls – nicht einmal, ob man Eurer Person sicher sein konnte. Man hatte immer wieder davon gehört, daß der Stasi bei Bedarf auch Gefühle nutzte. Und so beginnt man, seine spontanen Eindrücke in Zweifel zu ziehen – das eben ist ja die Vergiftung, die solche Institutionen erzeugen. Es ist wie in jenem Agentenfilm, den ich kürzlich gesehen habe: Ein Ostagent verliebt sich ihm Rahmen eines Auftrages in eine Westagentin. Er beschwört die Reinheit seiner Gefühle und legt tausend Proben seiner Lauterkeit ab. Sein ganzes Wesen strahlt Wahrhaftigkeit aus, aber der Zuschauer glaubt ihm kein Wort. All dies könnte das besonders gekonnte Handwerk eines Agenten sein! Tatsächlich ist er aber wirklich ehrlich der Film zieht seine ganze Spannung daraus, dass man die Zweifel gegen die Handlung bis zum happy end behält; ein geübter Filmkonsument hätte freilich den Braten riechen können – der Ostagent wurde nämlich von Omar Sharif gespielt, und dessen Liebesschwüre sind immer echt, aber – Vertrackheit – der Regisseur könnte mit diesen Erwartungen gerechnet haben) . Das sind die Abwege der Phantasie in einer Stasigesellschaft und man kann sich nur fragen, welch‘ merkwürdige Phantasie diejenigen hatten, die sich diesen gesellschaftlichen Unsinn ausgedacht haben.

Trotz dieser Befürchtungen habe ich mich doch ein paar Mal hingesetzt und Briefe an Euch angefangen – kräftig angetrieben durch Judi, die mich durch deren wiederholte Ankündigungen anlässlich der Übersendung von Paketen in Zugzwang versetzte. Aber dabei stellte sich eine weitere Schwierigkeit ein. Wenn ich von dem schrieb, was hier so alles passiert ist – meist berichtet man ja über irgendwelche herausragende Ereignisse, wie Urlaube, besondere Aktivitäten etc. – erschien mir dies bei nochmaligem Durchlesen ziemlich unpassend. Die Gespräche, die wir in Ungarn geführt hatten, hatten uns nur zu deutlich gemacht, welche Diskrepanz im Lebensstil zwischen Ost und West herrschte und daß ihr Euch dessen gar nicht so recht bewusst ward. Ich hatte das Gefühl, daß ich mit allem, was ich in der Nachfolge einer solchen Urlaubsbekanntschaft mitteilte, immer wieder diese Diskrepanz herausstellte. Schon in Ungarn gab es eine Bemerkung, die uns ziemlich unter die Haut ging. Bei der Besichtigung unseres Wohnmobils sagtest Du, daß so etwas für Euch erst im nächsten Leben möglich sein werde (ein Glück, es hat schon jetzt angefangen). Das gleiche Problem bestand auch beim politischen Gedankenaustausch. Abgesehen davon, daß es nicht ungefährlich war, sah ich kaum einen Sinn darin, Probleme zu artikulieren, für die es keine Lösung zu geben schien. Also blieben die Briefe in der Schublade und ich schob die Sache mit einem permanenten schlechten Gewissen vor mich her – bis zu eben jenem 4. November, an dem die „Wut“ durchbrach. Es ist kein Zufall, daß unsere Korrespondenz an diesem Tag beginnt. An diesem Tag endet bei Euch und bei mir die Sprachlosigkeit.

So und jetzt kannst Du zwischen einem sofort abgeschickten Brief ohne die schon lange angekündigte Antwort auf Deinen Grundsatzbrief vom 15.2. und eben jener Antwort plus einem weiteren Herumtragen des Briefes „in meiner Tasche“ wählen. Nicht dass Du etwa meinst, ich sei angesichts Deiner Anhänglichkeit an Marx’sche Begriffsschemata wieder in Sprachlosigkeit verfallen. Ich brauche auch keine Wut für einen Durchbruch, sondern schlicht und einfach ein wenig Zeit, um auf große Gedanken eine kleine Antwort zu formulieren. Immerhin habe ich keine so praktisch vorgefertigte Begriffsreihe wie Du, in die ich alles so geschickt einbetten kann.

Also Du siehst, daß ich die Entscheidung für Dich bereits getroffen habe: ich schicke den Brief sofort ab.

Anbei noch ein Aufsatz von Prof. Zöllner, einem meiner juristischen Lehrer über den Stand des Arbeitsrechtes in der Bundesrepublik, für den Hobbyjuristen.

Gruß

Klaus


Rübehorst Sa. 14.4.90

 

Lieber Klaus

 

herzliche Ostergrüße aus Rübenhorst. Wir sind über die Feiertage auf die Ranch der Schwiegereltern gefahren und hören uns ein wenig um, wie denn so die Stimmung auf dem Lande ist. Rübehorst ist ein Dorf mit 150 Seelen, Poststelle, Kosum-Verkaufsstelle (stundenweise geöffnet, Brot Milch, und Wurst nur auf Bestellung), Kneipe (häufig geöffnet) Kriegerdenkmal, Wartehäuschen für den Schulbus, eine gepflasterte Strasse (Kopfsteine – wie romantisch, aber immerhin 4 Straßenlaternen) – und Schluß. Außer dem morgentlichen Schulbus gibt es keinen public traffic, die nächste Bahnstation ist 3 km entfernt. Von dort kann man mit der „Brandenburgischen Städtebahn“ in die Kreisstadt Rathenow. Dort gibt es sogar eine (!) Ampelkreuzung – ein Muß für alle Fahrschüler in 20 km Umkreis. Die Gegend ist erst von vom alten Alten Fritzen besiedelt worden und war bis nach dem Krieg sehr sumpfig. Das sog. R ?Rhinluch gehört zum Rückstandsgebiet der Havel. Früher standen hier im Frühjahr die Wiesen bis an die Dorfränder regelmäßig unter Wasser. Inzwischen hat die Melioriation viel verbessert. Ein umfangreiches System von Gräben und Pumpwerken sorgt für einen vernünftigen Wasserhaushalt, so dass viele Wiesen in ein ertragreiches Ackerland umgewandelt werden konnten. Die Leute leben hier praktisch alle von der Landwirtschaft. Die Arbeit bei der LPG brachte ein erträgliches Einkommen, wer außerdem noch privat Vieh hielt, konnte reich werden. Die aufgekauften Schweine wurden subventioniert, man fütterte sie mit subventioniertem Brot und Kartoffeln und brauchte sich um die Effektivität damit keine Gedanken zu machen, es bleib blieb fast zwangsläufig ein Gewinn.

 

Da es andererseits wenig Möglichkeiten gibt, sein Geld auszugeben, (meine Schwiegereltern haben z.B. noch nie (!) eine gemeinsame Urlaubsreise in ihrer 40-jährigen Ehe unternommen – nicht mal innerhalb der DDR) haben die Bäuerlein hier fast alle dicke Konten, jedenfalls die, welche ihr Geld nicht versaufen (die Kneipe in diesem winzigen Kaff ist nicht umsonst rentablel). Kein Wunder also, dass auf dem Lande praktisch alles Kohl und die D-Mark gewählt hat. Etlichen scheint es allerdings wieder leid zu tun. Die Bauern- Demos vorige Woche sind in gewissem Sinne symptomatisch. Man ist hier jahrzehntelang gewöhnt, als vom Staat gehätschelte Monopolerzeuger zu arbeiten, die Probleme der miesen Effektivität sind riesig und so liegt es nahe, lieber wieder nach dem Staat zu schreien, als sich selbst aus dem Sumpf zu ziehen.

 

Der Katzenjammer ist ziemlich groß. Die diesjährige Ernte wird wohl in jedem Fall schon für D-Mark verkauft werden und damit ist klar, dass sich die Getreidepreise mindestens halbieren werden, egal zu welchem Kurs die formale Umstellung erfolgt. Völlig neu ist das Gefühl, keinen gesicherten Absatz mehr zu haben. Seit Milch, Eier und Fleisch von G. Mittag nicht mehr für ein Butterbrot Richtung Westen verramscht werden, haben wir plötzlich einen Eier- und Butterberg , natürlich (?) ohne dass der Handel daran dächte, die Preise herunter zu setzen, oder unserer Milch endlich Mal mehr als die vor 10 Jahren festsetzten festgesetzten 2,2 % Fett zu gönnen. (Bei der Butter ist es ähnlich. Es gibt Sorten, die sind weiß, wie dieses Blatt. Ein alter Witz besagt, das neue „Delikat“-Butter in den Handel kommen soll, mit einem Plastehahn als Zubehör, um das Wasser abzulassen.)

 

Also, die Pferdekur für unsere Wirtschaft ist der schnellste, aber auf dem Lande ein recht harter Weg. Etwa die Hälfte der Beschäftigten wird aus der Landwirtschaft heraus müssen, um die verfügbaren Flächen effektiv zu bewirtschaften (In Gegenden mit extrem leichten Böden, wie in der Uckermark – nichts als Sand !- wird überhaupt keine Landwirtschaft mehr möglich sein) Damit verbunden kippen auch andere Branchen. Paulas Schwester und ihr Mann, die hier leben, werden ebenfalls zum Jahresende entlassen. Sie sind beide Veterinäringenieure (den Beruf gibt es im Westen nicht, eine Art Tierarzt – Assistent) und durch die abzubauenden Tierbestände sind gerade ausreichend Jobs für die Tierärzte selbst übrig.

 

Notwendig wäre also, neue Firmen hierher zu ziehen, aber die unfähigen Verwaltungen stellen sich dabei geradezu herzzereißend dämlich an. In der Nähe gibt es z.B. eine relativ moderne Lagerhalle. Statt sie als Grundstück für einen möglichst personalintensiven Investor anzubieten, wird sie als reines Lager vermietet und bringt Arbeit und Brot nur für einen Gabelstaplerfahrer und zwei Pförtner…

 

Man kann also insgesamt nur hoffen, dass man bei uns in wunderbarerweise Weise und in Windeseile lernt, zu wirtschaften und dass das berühmte soziale Netz zu einem recht frühen Zeitpunkt geknüpft wird und einigermaßen hält, sonst würde ich mich nicht wundern, wenn die CDU-Wähler des 18. März am 7. Oktober ihren „alten Kaiser wiederhaben“ wollen.

 

Interessant ist, wie auch bei uns die allgemeinen Gesetzmäßigkeiten jeder Revolution immer wieder durchbrechen: Angeschoben von einigen Intellektuellen, zu deren Entsetzen von den Massen weitergetragen, und ausgenutzt schließlich von den Anfang anfangs Unbeteiligen. Wie im Bilderbuch!

 

Dennoch: Gut, dass das Alte hinweggefegt wurde. Die Illusion aller Beteiligten besteht aber wohl gerade darin, zu glauben, man könnte sich nur genau der alten Systemteile entledigen, die einen selbst bedrückt haben, und jene erhalten, die nur andere bedrückten.

 

Unsere Künstler wollten die künstlerische Freiheit, aber natürlich auch die alten Privilegien, unsere Arbeiter wollten die Löhne der Marktwirtschaft, aber Honeckers Arbeitsmarkt, unsere Käufer wollten das Angebot des KaDeWe, aber die Preise des Konsum, die Partei wollte den Sturz Honeckers, aber nicht den des Sozialismus, und und und.

 

Alle habe so oder so – und Gott sei Dank – am alten gesägt und sehen nun erschrocken, dass auch andere an anderer Stelle mittaten und so nicht die erhoffte gezielte Demontage, sondern der lärmende Zusammenbruch erreicht ist.

 

Zwar nicht aktiv, aber dennoch als mittelbar Beteiligte scheinen auch die Leute im Westen recht erschrocken. „Mauer weg“ und „Deutschland, einig Vaterland“ – au fein! Aber Trabbimief und Lastenausgleich – um Gottes Willen!. Deutsche Einheit, am besten gleich mit Schlesien – aber bitte zum Nulltarif. Bei uns stand in der Zeitung, eine Meinungsumfrage hätte ergeben, mehr als 2/3 der Bundesbürger lehnen eine 1:1 Währungsunion ab, jeder vierte von denen meint sogar, 7:1 würde für uns genügen. Ich denke dass können nur die Rechenunfähigen und Vollidioten sein. Also meint jemand ernsthaft, 200 bis 300 DM pro Familie wäre für uns doofe Zonis gut genug. „Wir sind ein Volk!“, na ich danke. Dann schon lieber eine Föderation mit Tscheschen und Ungarn als mit Bayern und Niedersachsen. Aber ich will sachlich bleiben.

 

Viele Viel wird in der Zukunft davon abhängen, ob die DDR tatsächlich in das Neue Deutschland „etwas einbringen“ kann. Was das sein könnte, ist eine geradezu ängstliche Frage unserer zahlreichen Reporter bei allen möglichen Anlässen. Die Antworten sind meist recht hilflos oder onkelhaft westlich. Wie es scheint sind die Tugenden des Verzichts und die Solidarität der Ärmlichen nicht so recht brauchbar für unsere rosige Zukunft. Das Kernproblem ist wohl dabei, dass unsere tatsächlich vorhandenen sozialistischen Ansätze bei der „Umkehr in die Zukunft“ nicht so recht brauchbar [1] sind, bzw. stören. Die strapazierte Frage, was die DDR denn außer 15 Millionen Menschen und Rübehorster Kopfsteinpflaster in die 4. Republik einbringen wird, ist aus heutiger Sicht mit einem klaren: Nichts ! zu beantworten – es sei denn, die Vereinigung bewirkte einen gesamtdeutschen Linksrutsch. Dafür stehen die Zeichen hier inzwischen (oder zwischenzeitlich?) gar nicht mehr so schlecht. Ich glaube, die Kommunalwahl in 3 Wochen wird dies deutlich machen. Es ist eben doch etwas anderes als Übersiedler mit dem entsprechenden Wind aus der Bundeskasse neu zu starten, oder mit dem ganzen Land in die BRD zu türmen. Unsere „so-wahr-mit-Gott-helfe“ Minister werden es schwer haben, die nötige Aufbruchstimmung unter der Fahne der Eigeninitiative zu erzeugen. Die Leute sind 60 Jahre lang an der Hand geführt worden und sollen nun aus eigener Kraft plötzlich das Richtige tun, sich in einer neuen Welt zurechtfinden – und dabei viel mehr allein gelassen als das berühmte Drittel bei Euch? . Wie soll das gehen? Der Vertrauensvorschuß auf den CDU-Geldsack ist jedenfalls aufgebraucht. Der Souverän sitzt zu Hause, schmollt und plärrt. Eine weitere Krise der Revolution kündigt sich an. Das Volk hat den König verjagt und will jetzt das billige Brot sehen. Wer es ihm zeigt, dem wird des folgen. Die Schwarzen haben den Bogen offensichtlich überspannt. Man wollte die Konkursmasse so billig wie möglich übernehmen und da kam Angst und Verunsicherung bei den Massen gerade recht. Nun will hier keiner begreifen, weshalb er jetzt schlechter leben soll als unter der verjagten Bonzokratie?.- Kohl sitzt jetzt in dem Dilemma, einen schönen Happen Großdeutschland dazu gekauft zu haben – was ihm viel Beifall eingebracht hat – aber er traut sich nicht der Verwandtschaft den Preis zu nennen (Vielleicht hat er deshalb bisher nicht danach gefragt), geschweige denn, ihn zu bezahlen. Und ein Kauf war es allemal. Auch die Völker sind käuflich. Warum sollte unseres da besser sein. Bevor er im Dezember alles meschugge gemacht hat mit seinen Parolen vom „bundesdeutschen Lebensniveau in Fünf fünf Jahren“ lief bei uns ja noch alles „planmäßig und (halbwegs) proportional“ – soweit das in einer Revolution eben möglich ist. Nun sind 10% der 5 Jahre um und zur Bundestagswahl werden es 20 % sein und selbstverständlich soll der Wähler bis dahin noch nicht zur Kasse gebeten sein. Schade, dass wir noch nicht mitwählen…

 

Die Intellektuellen sind auch jetzt ihrer Zeit wieder mal voraus – sie haben mehrheitlich die Nase bereits voll von der gegenwärtigen Entwicklung. Nicht zuletzt auch deshalb, weil sie als erste bluten müssen. Sie stellen das Gros der ersten Arbeitslosen. Die Bauern werden folgen und damit fallen die ersten CDU-Hochburgen erst einmal wieder zusammen. Nun waren sie pfiffig genug, sie die SPD mit in die Verantwortung einzubinden (in die war dumm genug, zuzugreifen). Ein besseres Geschenk hätte man unter diesen Bedingungen der linken Opposition (mit der altneuen PDS) gar nicht machen können. Die brauchen jetzt nur noch schön laut auf die alten „Errungenschaften“ zu verweisen und wenn es ihnen dann noch gelingt, die alten Stalinisten weiter im Hintergrund zu halten, ist ihnen der Zulauf fast gewiß. Was wir dann in unser gemeinsames Deutschland einbringen, wird eine starke – bundesweite – PDS sein, die nur einen Schönheitsfehler hat, nämlich den, nicht durch eine saubere Spaltung aus der alten SED hervorgegangen zu sein, sondern dieses Erneuerungswischiwaschi zur Rettung der „Einheit der Arbeiterklasse“ und der Parteikasse. Für die 5% -Hürde einer 91-er Bundestagswahl ist sie jedenfalls allemal profiliert genug, und so sehen ich dann höchstinteressante Mehrheitsverhältnisse am Horizont des Reichstages und auch andere werden sie sehen. Kohl überlegt wahrscheinlich derzeit fieberhaft, wie er uns etwas zustecken kann, ohne Euch etwas wegzunehmen. Ich wünsche ihm viel Erfolg dabei, aber trotz der traditionell guten Kontakte der CDU nach OBEN werden sich Wunderdinge wohl nicht so leicht bewerkstelligen lassen. Einige reale Möglichkeiten gibt es dennoch: Rüstung, Übersiedlungshilfe, Mehreinnahmen durch die Konjunktur, vorsichtiger Abbau der öffentlichen Investitionen, höhere Neuverschuldung. Vielleicht reicht es für die „Anschub – Finanzierung“. Das wäre dann schön für unsere Kasse und schlecht für den Linksruck. Scheiß- Geld.

 

Wie man leicht sieht, ist das mein Denkgebäude noch immer nicht wieder klar und geschlossen, aber ich denke, Du verstehst das ein wenig. Viele Grüsse an Judi und die Kinder (wir freuen uns schon auf den Mai). Bis bald

 

Dein Frank


Stuttgart, 22.4.90

Lieber Frank,

während ich noch immer über der Antwort auf Deinen Brief vom 15.2. brüte, kommt Dein „Landschaftsgemälde“ aus Rübehorst. Ich will daher aus der „Höhe“ fundamenaler Erwägungen, in die ich mich z.Zt. verstiegen habe, doch erst einmal wieder zu den Tagesereignissen zurückkehren, damit ich den Anschluss an Deine diversen Briefe nicht vollständig verliere. Sie kommt noch, die grundsätzliche Auseinandersetzung. Aber da man sich in den Höhen, in denen sie stattfindet, ohnehin im Zeitlosen (wahrscheinlich auch im Nutzlosen) befindet, kommt es auf ein paar weitere „Tage“ nun auch nicht mehr an. Daher zunächst einmal wieder zum lieben Geld.

Die „Unbefangenheit“, mit der bei Euch jetzt der Umtausch von 1:1 gefordert wird, ist für mich in mehrfacher Hinsicht erstaunlich. Ich habe bislang wenig dazu gehört, wie man die negativen Aspekte eines solchen Umtauschkurses verarbeiten will. Schließlich werden bei 1:1 auch die Schulden in diesem „günstigen“ Verhältnis umgestellt. Flott haben einige Hobbyökonomen denn gleich gefordert, man solle doch im Zuge des allgemeinen Aufwaschs gleich auch die Schulden erlassen. Denn viele Betriebe könnten diese ohnehin nicht in DM bezahlen. Schön gedacht und wahrhaft christlich (oder sozialistisch?). Ungeschickterweise sind die Schulden (der Betriebe) zugleich die Guthaben der Sparer (bei der ausleihenden Bank). Und unter dieser Bezeichnung sollen eben dieselben christlicherweise (oder soll ich sagen sozialistischerweise?) natürlich wieder erhalten werden. Das Ganze läuft also auf die Quadratur des Kreises hinaus – es sei denn die Rechnung wird mit einem ziemlich reichen Onkel gemacht, der den Sparern ihre Guthaben garantiert. Aber das mit den Onkeln hat so seine Tücken. Meist sind sie nicht so reich, wie man sich das vorstellt. Oder es stellt sich, wenn es ums Zahlen geht, heraus, daß es sich bei dem Onkel um einen doch eher entfernten Verwandten handelt. Und dann hat der auch noch eigene Kinder, denen er in der Vergangenheit immer vorgejammert hat, wie arm er sei und die sich jetzt natürlich wundern würden, wenn plötzlich so viel Geld für die Verwandtschaft da sein soll. Überhaupt weiß ich nicht, ob das mit den Onkeln so sinnvoll ist. Man kann sich an solche Onkel ganz schön gewöhnen und das ist weder für die Psyche noch für die Leistungsbereitschaft sehr gesund. Es kann daher m.E. nur darum gehen, Strukturen zu schaffen, die einen reichen Onkel möglichst schnell überflüssig machen (wozu sicher eine gewisse Anschubfinanzierung gehört). Nach dem, was man von Ökonomen so hört, ist dies bei einem Umtauschkurs von 1:1 nicht gewährleistet, weil damit die Wettbewerbsfähigkeit der DDR-Wirtschaft zweifelhaft ist. (Wenn Oskar Lafontaine diesen Kurs jetzt einfordert, ist das eine ziemliche Demagogie. Sein Verhalten erinnert mich an jenen Ehemann, der seine Frau in flagranti erwischt hat, den Revolver zieht und den Ertappten befiehlt: weitermachen!). Der Umstellungskurs hat, folgt man wiederum jenen Ökonomen, offenbar auf ganz andere Weise mit den Löhnen zu tun, als man bei Euch annimmt, insbesondere kann nicht davon die Rede sein, die Löhne zu halbieren oder gar auf „200 – 300“ DM zu reduzieren. In dieser Befürchtung steckt mir sowieso reichlich viel Klassenkampf und Konspirationstheorie. Sie beruht im übrigen auf einer Einschätzung der Rolle der Gewerkschaften als bloßem Reisebüro, wie sie bei Euch existierte. Hier reden sie ein gewichtiges Wörtchen mit bei der Lohnbemessung. Wenn es auch zu glauben schwer fällt: Im „Kapitalismus“ denkt man tatsächlich auch an die Menschen und nicht nur ans Geld – übrigens, falls Dir der von mir postulierte (induktive) Moralüberschuß eine zu schwache Garantie hierfür sein sollte, auch aus „guten“ Gründen, nämlich einem gesunden Eigennutz; bei den Politikern, weil sie wieder gewählt werden wollen und bei den Ökonomen, weil sie stabile Verhältnisse brauchen. Der wegen seines scheinbar harten Gutachtens so arg gescholtene Bundesbankpräsident Pöhl, immerhin ein Sozialdemokrat, hat m.E. die ökonomischen Zusammenhänge ziemlich plausibel gemacht. Ich weiß nicht, ob Eure Pfarrer, von Haus aus ja nicht gerade Spezialisten fürs Greifbare, dem folgen können (oder wollen). Ost-SPD- fraktionsvorsitzender Pfarrer Schröder machte jedenfalls bei einer kürzlichen Fernsehdiskussion mit dem brillanten Bundesbankpräsidenten einen eher unbeholfenen Eindruck. Er brachte immer etwas von Volkspsychologie hervor (das ist sein Metier), was jedoch eine etwas schmale Basis für ökonomische Grundentscheidungen ist. Es liegt ja nahe, daß die Pfarrer, alter Gewohnheit folgend, den Segen lieber von oben erflehen, als auf die Schaffung wirtschaftlicher Werte auf der niederen Ebene der Wirtschaftssubjekte zu warten. Da aber liegt der Knackpunkt. Die wirtschaftlichen Werte müssen selbst geschaffen und können nicht herbeiadministriert werden. In der Marktwirtschaft aber sind sie dazu noch eine ziemlich relative Angelegenheit. Sie sind praktisch nur durch ihre Bewährung auf dem Markt existent. Der Ruf nach dem Onkel oder der Bundesregierung nützt daher nur wenig. Regierungen können in diesem Geschäft nur Rahmenbedingungen, nicht aber die wirtschaftlichen Werte schaffen.

Überhaupt Eure Pfarrer! Sie sind ein merkwürdiges Ergebnis Eurer bürgerlichen Revolution. Die französische Revolution hat sie weggefegt, bei Euch werden sie hochgespült. Theologen als Erben des Atheismus! Hoffentlich liegt darin nicht die oben genannte Logik des gemeinsamen Glaubens an den Segen von oben. Aber die Pfarrer sind nicht zuletzt auch für die wohltuenden neuen Töne in der Politik verantwortlich, die man aus Euren Landen hört und die letztere geradezu sympathisch machen könnte. Es fehlt an jener auftrumpfenden Arroganz und Besitzerattitude, die hier üblich geworden ist, dieser Wichtigtuerei und Anmaßung, bei der man geradezu ein schlechtes Gewissen bekommt (wohl auch bekommen soll), wenn man die Herrscher daran erinnert, daß sie Beauftragte des Volkes sind (wie Du siehst, habe ich entschieden etwas gegen Dauerberufspolitiker, die im Laufe der Zeit ihre eigenen Interessen und ihren Auftrag durcheinanderbringen dazu mehr in dem beiliegen Aufsatz von Holzer). Ob die z.T. so sympathische Erscheinungsform Eurer Politiker so bleiben wird, ist zu bezweifeln. Vermutlich ist es nur der Mangel an Professionalität, der sie so menschlich macht.

Und da ist natürlich ein Pfarrer, der mir besonders zusagt. Ein Pfarrer als Verteidigungsminister ist allein schon eine glänzende Kombination (jedenfalls seit die waffensegnenden Popen in unseren Breiten am Aussterben sind). Noch besser gefällt mir, dass er Wehrdienstverweigerer ist. Das ist Zukunftsmusik.

Ein besonders beeindruckendes Beispiel des neuen Revolutionstypus ist für mich übrigens Vaclav Havel. Er ist schon auf Grund seiner Biographie und seines Werkes eine Rarität an der Spitze eines Staates. Seine noble und im ganz praktischen Sinne „vernünftige“ Einstellung zu Deutschland und seiner Vergangenheit hat die Krämerseelen einiger sich in unseren Angelegenheiten sehr wichtig vorkommender „Staatsmänner“ (einschließlich eines solchen weiblichen Geschlechts) sehr plastisch werden lassen. Die Herren Mitterand und Masowiecki sehen da mit ihrer trotzigen Achsenbildung aus der politischen Mottenkiste ziemlich kleinkariert aus, von der Lady jenseits des Ärmelkanals mit „ihren“ Atomraketen in Deutschland ganz zu schweigen (ausnehmen muß ich ausdrücklich den „Indianerhäuptling“, der eine Friedenspfeife – jedenfalls mit uns – zu rauchen weiß.). Nur eines kann ich dem ansonsten so erfrischend unkonventionellen Havel nicht verzeihen, dass es ihm nicht gelungen ist, das unsägliche militärische Zeremoniell bei Staatsempfängen abzuschaffen (offenbar wollte er es abschaffen). Selbst den Papst hat er diese Tage damit „konfrontiert“. Wenn es einem derart eingefleischten Zivilisten nicht gelingt, klarzumachen, dass dieses Brimborium für einen zivilen Staat unpassend ist, wem sollte es dann gelingen. Oder sollte es doch passen?

24.4. Mittlerweile liegt das Umtauschangebot aus Bonn vor. Onkel Kohl hat die Spendierhosen angezogen und es allen recht gemacht. Hoffentlich hat er auch alle Rechnungen gemacht und ist nicht nur seinem Hang zum Populismus erlegen. Die hiesigen Befürchtungen, er könne sich übernommen haben, werden aber immerhin gemildert durch die Erleichterung darüber, daß Eure Anwälte und Pfarrer die Annahme dieses „größte Geschenks der Wirtschaftsgeschichte“ wohlwollend prüfen wollen, obwohl es für Pfarrer Schröder nur ein „Happen“ ist (die Kirche hatte schon immer einen etwas größeren Magen). Ich habe gegen ein „Übernehmen“ gar nicht so viel einzuwenden. Da die Steuern nicht erhöht werden sollen, wird man sparen müssen und ernsthaft Luft ist eigentlich nur im Militärhaushalt. So könnte die Vereinigung unserer Länder zum Motor der Abrüstung werden.

Gruss

Klaus

Briefe aus der Wendezeit – Teil 4

Stuttgart, 21.2.90

Lieber Frank,

während alles über die deutsche Einheit redet, lohnt es sich vielleicht noch einmal, auf die Zweistaatlichkeitsdiskussion und ihre Ableger zurück zu kommen – Deutschland schwierig Vaterland!

Die noch vor Kurzem ziemlich dezidiert vorgetragene Meinung, es gelt das politische Gebilde der DDR mit seiner „in vierzig Jahren gewachsenen eigenen Identität“ zu erhalten, vor allem um die „Errungenschaften des Sozialismus“ zu retten, ist erstaunlich schnell gealtert und wirkt jetzt wie der Schnee von gestern. Durch die Konfrontation mit den „westlichen Lebensverhältnissen“ ist ihr gewissermaßen die innere Substanz davongelaufen. Interessant an der Diskussion um den Dritten Weg ist fast nur noch die Schnelligkeit, mit der sie zusammengebrochen ist. Denn mehr alles andere verweist dies auf den Druck, unter dem sich die Bevölkerung der DDR befunden hat. Historiker und Soziologen werden das Schicksal dieser Diskussion einmal als besonders beeindruckendes Beispiel dafür heranziehen, wie  Ideen von den Tatsachen ganz einfach überrollt werden können. Sie ist in der Tat ein ungewöhnliches Schauspiel, diese Revolution ohne geistige Führer und Vordenker. Immerhin hat sie sich gegen Konzepte durchgesetzt, die jahrzehntelang (eigentlich sogar ein Jahrhundert lang) mit einem Aufwand propagiert wurden, der in der Geschichte ziemlich beispiellos ist (dabei sehe einmal von einer schon mehrfach angesprochenen anderen Doktrin ab). Marx hat wieder einmal recht: Das Sein bestimmt das Bewußtsein; was ja wohl auch heißt, das man die Köpfe der Menschen über ein gewisses Maß hinaus nicht manipulieren kann. Hinzu kamen die mehr als unklaren Zukunftsaussichten eines Dritten Weges. Was wäre er anderes gewesen als ein weiteres Experiment auf dem Rücken eines Volkes, das bereits zwei Mal tragisch in die Irre geführt worden ist? Wer hätte hierfür die Verantwortung nicht nur zu übernehmen (wie dies Honecker jetzt „billigerweise“ mit Worten getan hat), sondern auch wirklich tragen können? Nicht gerade passend war es zudem, wenn derartige Experimente von unserer Seite propagiert wurden. Man wurde dabei das Gefühl nicht los, als hingen einige Intellektuelle damit ihren Träumen über das Schicksal anderer nach, wobei sie deren Verwirklichung vermutlich lieber in der kapitalistischen Hälfte der Welt abwarten wollten. Angesichts der gegebenen Tatsachen sind Rufe nach neuen Experimenten auch so gut wie verstummt (was keine unbedeutende Angelegenheit ist – immerhin scheint damit eine Denkepoche zu Ende zu gehen). Vielleicht wird die Bedeutung der Revolutionen des letzten Jahres einmal darin gesehen werden, dass das Volk mit Tatsachen die ziemlich freihändigen Behauptungen über seien Willen widerlegt hat, die seine selbsternannten Interpreten pausenlos im Mund führten.

Inzwischen ziehen sich die Verfechter der Zweistaatlichkeit auf eine neue Verteidigungslinie zurück, auf die Behauptung nämlich, dass Deutschland als Ganzes eine Gefahr sei. Eine Variation dieser Behauptung ist die von allen möglichen Seiten erhobene Forderung nach irgendwelchen Garantien, wobei keiner so recht sagt, was darunter eigentlich zu verstehen ist. Und damit einher geht die Rückverwandlung unserer Verbündeten (und der Sowjetunion) in Siegermächte. Ich muß gestehen, daß ich diese Diskussion mit einem unguten Gefühl verfolge und sie selbst als Gefahr betrachte. Schon eine andauernde Selbstzerfleischung eines Volkes kann nur zu politischen Neurosen führen (einige haben wir schon – u.a. den neuen Rechtsradikalismus). Noch weniger kann es gut gehen, wenn andere Regierungen Deutschland, weil es unter ganz anderen Bedingungen versagt hat, auf Dauer wie einen Unzurechnungsfähigen behandeln wollen. Im Politischen muß es wie im Persönlichen so etwas wie Verjährung geben, ein Institut, das dem Rechtsfrieden, im Völkerrecht also dem Frieden unter den Völkern dient. Und diese Verjährung sollte doch spätestens eintreten, wenn die Generation abgetreten ist, die für früheres Unglück unmittelbar verantwortlich ist. Auch wenn unmittelbar Betroffene vielleicht noch Probleme mit dem Frieden haben, wofür man Verständnis haben kann, so wäre doch von den Regierungen mehr nach vorne gerichtetes Denken und damit Vernunft zu erwarten.

Es war vielleicht eine der größten politischen Leistungen der letzten 40 Jahre, dass es gelungen ist, aus höchst belasteten Nachbarschaftsbeziehungen (wie denen zu Frankreich) das Freund – Feind Denken herauszubekommen. Tatsächlich hatte die Verständigung zwischen den Menschen bereits eine Normalität erreicht, dass man sich zu fragen anfing, wie die Verbissenheit vergangener Zeiten überhaupt möglich war. Diese Errungenschaft gilt es zu bewahren und nicht durch Rühren in alten Wunden zu gefährden. Ich kann nur hoffen, dass durch die unguten Diskussionen dieser Tage nicht zu viel des – offensichtlich sehr dünnen – Porzellans zerschlagen wurde.

Und nichts gegen die Verteidigungsinteressen der Sowjetunion. Aber im Augenblick klingt es so, als seien die „Garantien“ nur erforderlich gegen einen deutschen Gesamtstaat, der durch eine Vergrößerung um 16 Millionen Menschen gerade auf ein Viertel der Bevölkerung der Sowjetunion angewachsen wäre (von der Größe des Territoriums und deren Waffenarsenalen mal ganz abgesehen. Komisch, wenn von übermäßiger Größe und den daraus resultierenden Ungleichgewichten die Rede ist, fällt mir immer zuerst die Sowjetunion ein. (Davon, dass sie die Gefahren übermäßiger Größe gerade erst exemplarisch verwirklicht und eine ganze Reihe von Ländern in den Ruin getrieben hat, – insoweit besteht denn doch ein wesentlicher Unterschied zur westlichen Führungsmacht – will ich gar nicht weiter reden).

Aber ich will nicht aufrechnen. Eigentlich meine ich, dass das Denken in Konfrontationskategorien insgesamt höchst überflüssig ist und dass man die europäischen Probleme nur in partnerschaftlicher Diskussion in den Griff bekommen kann – wobei sich, wenn keiner Hegemonialansprüche stellt, schon bald herausstellen wird, dass der ganze militärische Quatsch überflüssig ist.

Womit wir wieder bei meiner Lieblingsidee sind. Daß alles Quatsch war, zeigt am besten der augenblickliche Zustand der NVA. Einstmals hatte sie das bestgezimmerte Feindbild aller Armeen. Jetzt wo man es ihnen genommen hat, wollen die Burschen nicht mehr. Und nun diskutiert man gar über ein Zusammenlegen dieser Männerspielzeuge, was im Verhältnis zueinander ihrer Aufhebung gleich kommt (ein altes mathematisches Gesetz -1 + 0 = 0; man hat bloß noch nicht gemerkt, dass es sich um ein universelles Gesetz handelt und dass seine umgangssprachliche Version lautet: zum Streiten gehören immer zwei – oder anders formuliert: Löse Deine Armeen auf und die „gegnerischen“ Soldaten fragen sich, warum sie durch den Dreck robben sollen. Irgendwann, wenn auch spät, kapieren das auch die Generäle, spätestens wenn niemand mehr im Dreck liegt,  und ganz am Ende auch unsere Verteidigungsminister.). Ich bin mal gespannt, wer von uns beiden Recht behält mit der Zieldimension, innerhalb deren die Militärspielereien aufhören – oder, ich bin ja kompromisbereit, auf ein Minimum reduziert werden. Allerdings werden wir es nur erfahren, wenn ich Recht habe.

Ein paar Worte noch zur deutschen Einheit. Was mich zur Zeit am meisten interessiert, ist, wie die Übergangsregelungen lauten werden. Renten, Sparguthaben und Währung nicht in Griff zu bekommen, können sich unsere Stürmer und Dränger nicht leisten, wiewohl es vermutlich „ein bisschen“ teurer kommen wird, als sie es zuzugeben wagen.

Aber bislang habe ich zu folgenden Fragen wenig  Überzeugendes gehört:

Wo liegen – vorläufig – die Grenzen des Vermögenserwerbs durch die Kapitalisten in der DDR? Man wird ja die ungleichen Vermögensmassen kaum ungeschützt aufeinander loslassen können – und doch will man Kapital in der DDR.

Wie sollen die Löhne der DDR – Bewohner alsbald auf unser Niveau gehoben werden? Ohne vergleichbare Produktivität kann dies ja nicht möglich sein. Schließlich kann man Wohlstand nicht ausschließlich durch administrative Maßnahmen herbeizaubern.

Wie sollen die Verzerrungen innerhalb der Wirtschaft der DDR ausgeglichen werden, die mit dem Einmarsch westlichen Kapitals unausweichlich auftreten werden? Es liegt auf der Hand, dass man nicht von heute auf morgen eine gesamte Volkswirtschaft modernisieren kann. Die Entwicklung wird von Inseln der Produktivität in Gang gesetzt werden, die im Laufe der Zeit ausstrahlen werden. Dazwischen wird es erhebliche Untiefen geben. Manche Inselwirtschaften sind ziemlich zählebig (vgl. das duale System in den meisten Entwicklungsländern).

Wie kann in Kürze der erforderliche administrative Apparat geschaffen werden? Auch die kapitalistische Wirtschaft lebt ja nicht nur von Ingenieuren, Arbeitern und Maschinen. Und das administrative „Know How“ setzt nicht nur entsprechende Gesetze, sondern vor allem geschulte und erfahrene (!) Anwender und das heißt Interpolatoren voraus (Beamte, Manager, Steuer- und Betriebsberater, Anwälte – bei Euch gibt es 600 Anwälte, bei uns 40.000 – , etc).

Ich weiß nicht, wie man diese Fragen unter dem Zeitdruck vernünftig lösen will, unter den uns einige Leute hier setzen wollen. Schließlich gibt es kein Modell für die Überleitung zweier so unterschiedlicher Systeme. Eine untunliche Eile würde zu ungeheueren Improvisationsverlusten führen. Deshalb sehe ich im Augenblick keine andere Lösung als mit ziemlich geräumigen  Übergangsphasen zu rechnen. Und für diese Zeit sind Eure Interessen vermutlich am besten von einer Regierung der DDR zu wahren – daher so bald keine Vereinigung der beiden Staaten.

Zur Zeit wird reichlich viel aus der Hüfte geschossen, wobei sich niemand so recht darüber im Klaren zu sein scheint, wer davon getroffen wird. Fast rührend ist dabei die Hilflosigkeit Euer Pfarrer- Anwalts- und Jungpolitiker. In manchem erinnern sie mich an Medizinmänner, die die Wirklichkeit durch magische Rituale und Formeln zu bannen versuchen (bloß dass das Volk rationalistischer als seine Führer ist). Und manche klingen sie wie Papageien, die nachplappern, was sie nicht verstehen (können). Es gibt ja Leute die behaupten, in einem kapitalistischen Wirtschaftssystem setze sich die ökonomische Rationalität auch gegen den mangelnden Sachverstand der Eliten durch. Vielleicht haben sie ja Recht – wenigstens für die Übergangphase.

So viel für heute.

Grüsse

Klaus


Stuttgart, 1.3.1990

Lieber Frank,

es ist wieder einmal Historisches passiert – im Kleinen. Nach soviel Theorie war nun endlich Praxis von Nöten. So hielt es uns nicht länger bei Briefen, Diskussionen, Zeitungen und Fernseher. Samstag, 24.2., fuhren wir kurzentschlossenen nach Franken, wo mein Bruder nicht weit von der Grenze wohnt. Wir konnten es nicht erwarten. Noch am gleichen Tag, gegen 17 Uhr begaben wir uns zum Grenzübergang Hellingen – voller Erwartungen und erregter Gefühle. Eine frisch angelegte Straße führte vom Grenzort unvermittelt in einen Wald, mitten darin auf einer Lichtung fanden sich einige Container, in denen Grenzbeamte saßen. Ja und dann war schon Endstation. Judi durfte nicht einreisen. Sie brauchte ein Visum wegen ihres australischen Passes und das war – Ordnung muß auch inmitten einer Revolution sein – nur im 130 Kilometer entfernten Hirschberg zu haben. Da standen wir mit unseren aufgewühlten Politgefühlen als zwei von der Bürokratie begossene Pudel – mitten in einem fränkischen Wald. Theorie und Praxis sind eben doch zwei Paar Schuhe. Vermutlich ist die Erfahrung nicht ganz untypisch für die deutsch-deutsche Annäherung. Der Teufel der Vereinigung steckt am Ende im Detail und so manche hochgesteckte Erwartung wird wohl noch enttäuscht werden.

Nun – Judi hatte ein Einsehen mit meinen verwirrten „vaterländischen“ Gefühlen. Sie war bereit, in der einzigen Kneipe des gottverlassenen Grenzdorfes abzuwarten, bis mein erster Drang nach Osten befriedigt war und so fuhr ich denn alleine über die Grenze. Die neue Straße ging noch bis zum ersten DDR-Ort (Hellingen), dann endeten die glatten Straßenränder und es galt auf Schlaglöcher zu achten.

Mit wie weit geöffneten Augen und welcher Erregung man ein Land betrachtet, das einem so lange und unter so gewalttätigen Umständen verschlossen war, brauche ich Dir nicht weiter zu schildern, Du hast es gerade hinter Dir. Allerdings sind unsere Reisen wohl in zwei verschiedene Richtungen, bloß dass meine Reise in die Vergangenheit zu führen schien. Fasziniert streifte ich durch die holprigen, z.T. noch ungepflasterten Straßen von Heldburg, einem größeren Dorf mit einer stattlichen gotischen Kirche, die Innen recht gepflegt aussah. Ich weiß nicht, ob Du es dekadent findest, aber ich spürte so etwas wie Freude darüber, daß die großen Modernisierer, die Vereinfacher und Begradiger hier noch nicht am Werk waren. überall fielen mir Details auf, die bei uns längst wegsaniert wären, verwitterte Türen, steinerne Regenfänger, Beschläge, Schnitzereien. Auffallend, dass einige Fachwerkhäuser gut, manche sogar (verdächtig?) prächtig herausgeputzt waren. Vieles freilich harrt noch der Renovierung. Hoffentlich sucht man dabei nicht Zuflucht bei „pflegeleichten“ Kunststoffassaden, wie so häufig bei uns. Ich fürchte, daß ihr demnächst von einer höllischen Spezies dienstbarer Geister überfallen werdet, die nicht nur im Vermögen geschäftsungewandter Hausbesitzer, sondern auch in den Stadtbildern eine teuflische Spur zu hinterlassen pflegt. Wir nennen sie Fassadenhaie -und Ihr solltet an jeder Straßenecke eine Warnung gegen sie anbringen.

Natürlich sah ich auch verfallende Häuser, eingestürzte Dächer, zugige Fenster und ungepflegte Betriebe. Aber in manchem Haus wurde auch eifrig gewerkelt (beim ein oder anderen stand ein Fahrzeug mit westdeutschem Kennzeichen davor, im Kofferraum der Werkzeugkasten; jetzt ist die Zeit, sich einen Landsitz zuzulegen!).

In der beginnenden Dämmerung machte ich noch eine kleine Rundfahrt durch die umliegenden Ortschaften und fuhr dabei einige Kilometer am Grenzzaun entlang. Die Fertigung von Metallgitterzäunen muß bei Euch ein ganzer Wirtschaftszweig gewesen sein – (er wird, obgleich konkurrenzlos, wohl nicht zu halten sein). Dann wurde es dunkel und ich befreite Judi aus ihrer Dorfkneipe.

Natürlich ließen wir uns von den Bürokraten nicht so leicht abschütteln. Gemessen an den Jahrzehnten, die wir bislang gewartet hatten, waren zwei Stunden Umweg ein Klacks. Am Tag darauf, Sonntag, fuhren wir also (mit Bruder und unserer Ältesten) nach Hirschberg, wo uns neue Abenteuer erwarteten. An der Grenze angekommen, fanden wir am Schalter des „Reisebüros der DDR“ nur einen zugezogenen Vorhang. Es fehlte jeder Hinweis darauf, was daraus zu schließen sei. Mehrere Ausländer warteten offenbar schon seit einiger Zeit. Vor ein paar Jahren stand ich im gleichen schäbigen Raum, damals um für mich eine jener absurden „Identitätsbescheinigungen“ für die Fahrt nach Berlin (West) abzuholen, die bei fehlendem Reisepaß auf der Grundlage unseres Personalausweises (!) ausgestellt wurden – gegen einen kräftigen Obolus für Schalk-Goladkowskis Devisenkasse versteht sich. Seinerzeit herrschte gedrückte Stimmung im Raum. Man schluckte seinen Ärger über die demütigende Behandlung durch die Grenzbeamten notdürftig herunter und fluchte allenfalls leise vor sich hin – vor lauter Angst, daß einem die Durchfahrt durch das Arbeiter- und Bauernparadies verwehrt werden könnte. Ohnehin war man durch das ungeheure Brimborium dieser Grenze eingeschüchtert, den mehrfachen Sperren und allgegenwärtigen Zäunen, Sicherheitsstreifen, Wachhunden, Maschinenpistolen und Wachtürmen. Jetzt herrschte in diesem Raum geradezu eine revolutionäre Stimmung. Man beschwerte sich lautstark wegen der mangelnden Information über den Fortgang des Verfahrens und ließ seinem Sarkasmus über den dürftigen Fortschritt in der Menschenbehandlung freien Lauf. Die angegriffenen Beamten, verteidigen sich nur noch mit Resten der früheren Selbstherrlichkeit. Schließlich erschien die Dame, die an einem der meistbefahrenen Grenzübergänge Europas allein für die Abfertigung der Ausländer zuständig war – sie war beim Mittag gewesen. Sie erklärte, daß Judi für die Einreise in die DDR eine „touristische Leistung“ buchen müsse – am preisgünstigsten sei ein Campingaufenthalt, Kostenpunkt 25 Mark (West versteht sich) plus 3 DM Buchungsgebühr. Tatsächlich wurde uns ein Buchungsbeleg in dem üblichen Format der Tourismusbranche ausgestellt für einen Campingplatz namens „Kleiner Galgenteich“ in 8424 Altenberg, von dem man uns nicht einmal sagte, wo er sich befindet, ganz abgesehen davon, daß Judi nicht gewünscht hatte, die touristische Leistung gerade auf diesem in Anspruch zu nehmen. (Vielleicht kannst Du uns mitteilen, wo der ohne Zweifel idyllische Ort liegt, denn unser monumentaler „Deutscher Generalatlas mit Ortregister spart diesen Eueren Teil unseres Vaterlandes kurzsichtigerweise aus.) Es scheint, daß man von sich der Gewohnheit noch nicht ganz hat trennen können, die Dinge beim falschen Namen zu nennen (oder sie bei Bedarf geradezu in ihr Gegenteil umzudefinieren, wie z.B. beim „antifaschistischen Schutzwall). Nun Modrow hat zur Zeit wahrscheinlich Wichtigeres zu tun, als sich mit der Terminologie des Zwangsumtauschs zu beschäftigen und so haben wir das Ganze als Kuriosität der Revolution abgebucht.

Aber mit dieser Zahlung hatte es nicht sein Bewenden. All dies war erst die Vorraussetzung für ein Visum. Der Beamte am Schlagbaum, der nun wieder hierfür zuständig war – er war gottlob nicht beim Essen – erlaubte sich zunächst einmal den (allerdings eher unwirsch vorgetragenen) Scherz, das Visum sei bei der Botschaft zu beantragen. Gegen eine Gebühr von 15 DM, die wir gegenüber dieser Drohung geradezu als Wohltat empfinden mußten (vermutlich auch sollten), gewährte er uns dann doch den ersehnten Stempel. Nach diesem stattlichen Eintrittsgeld von 43 DM, (plus einem beachtlichen Hindernislauf) konnte nun auch Judi das noch immer leicht kratzbürstige Land betreten.

Wir fuhren entlang der südlichen Grenze der DDR und kamen dabei auch durch einige mittelgroße Städte wie Saalfeld und Rudolstadt (von denen ich vorher noch nie gehört hatte). Das war dann keine fränkische Idylle mehr. In den Dörfern scheint ja eine gewisse erhalten gebliebene Eigeninitiative dem Verfall Grenzen zu setzen. Jetzt fielen die heruntergekommenen Industrieanlagen auf, die zerfallenden Altstadtbezirke und die trostlosen Neubaugebiete in der berüchtigten Plattenbauweise (letztere scheint zum äußeren – und vermutlich ziemlich langlebigen – Markenzeichen der DDR bestimmt zu sein); all das eingenebelt in den wahrlich umwerfenden Braunkohlequalm. Irgendwo stand eine alte Fabrikantenvilla im prächtigsten französischen Neorenaissancestil. Durch den ungepflegten Garten, in dem noch allerhand Statuen und Brunnen beziehungslos umherstanden, liefen dicke Industrierohre, die zu einer häßlichen Chemiefabrik im Hinterhof führten – sozialistische Romantik. Die Bevölkerung nahm unsere Anwesenheit anscheinend nicht weiter zur Kenntnis. Man könnte von einem kühlen oder Nicht – Empfang sprechen und über dessen Gründe spekulieren – ja wer zu spät kommt, den …

Angesichts der langen Reise war unser Programm ziemlich gedrängt. Wir beschlossen daher, keine Zeit für eine Einkehr zu vergeuden, solange es hell war. Als es dann aber dunkel war, wurde uns, d.h. vor allem unserem Magen klar, daß die Restaurants in der DDR nicht gerade dicht gesät sind. Und so verließen wir das Land nach einer kurvigen Fahrt durch den Thüringerwald – kräftig verfahren haben wir uns auch noch – mit leerem Magen aber von der touristischen Leistung „gefülltem“ Geldbeutel.

Ich war auch noch an den folgenden beiden Tagen in der DDR. Darüber werde ich Dir im nächsten Brief berichten. Inzwischen ist auch Dein historisch-dialektischer Brief hier angekommen – auch hierüber im nächsten Brief.

Ich füge Dir noch einen Aufsatz des Chefs der baden-württembergischen Zentralbank, Kloten, aus der Stuttgarter Zeitung bei, der ein mögliches Szenario für die Wirtschaftsangleichung unserer beiden Länder enthält. Danach werden die künftigen Löhne in der DDR ihren Ausgangspunkt im jetzigen Lohnniveau haben. Ich weiß nicht, ob dies insbesondere aber die Konsequenzen hieraus, all denen klar sind, die es jetzt mit der Vereinigung so eilig haben. Bei einem jährlichen Zuwachs von 10% (entsprechend der Steigerung der Produktivität, die Kloten annimmt) würde dies bedeuten, daß die Löhne noch auf viele Jahre deutlich niedriger als in der Bundesrepublik wären. Dies kann aber nur bedeuten, daß viele Waren, die im Westen produziert werden, auf längere Sicht kaum zu bezahlen sein werden, zumal deutlich größere Anteile Eures Einkommens künftig für Wohnung und Grundnahrungsmittel benötigt werden. Dies würde heißen, daß Waren für Euren Markt weitgehend bei Euch oder in einem anderen „Billigland“ produziert werden müssen. Wie dieses Nebeneinander zweier Märkte in einem Land funktionieren soll, ist mir schleierhaft. Wird der Abfluß in den „goldenen Westen“ nicht immer weiter gehen? Sollen etwa Beamte „Hüben“ und „Drüben“ unterschiedlich bezahlt werden – in West Berlin anders als in Ost Berlin?

So viel für heute

Grüße

Klaus


Berlin 2.3.1990

Lieber Klaus!

Ich bleibe dabei: Das Beeindruckendste in dieser Revolution ist Deine erwachte Schreibwut – und damit erstmal herzlichen Dank für Deinen Brief vom 14.02.90. Da ich nicht mehr ohnehin Geschriebenes einfach nochmals ausdrucken und Dich damit bombardieren kann, sind mir Deine Briefe zur Zeit einziger Ansporn, etwas zu Papier zu bringen. Von allein würde ich es derzeit wahrscheinlich nicht tun.

Ringsumher warten alle mehr oder weniger apathisch auf irgendwas – und die Nervenzusammenbrüche häufen sich. Bei Paula vorgestern Abend. Angstzustände, Weinkrampf. Nachts, auf dem Weg von der Toilette fiel sie dann buchstäblich um – Ohnmacht, Erbrechen. Naja. Der Notarzt kam nach einer dreiviertel Stunde, hat den Blutdruck gemessen und gesagt, wir sollten dann am nächsten Morgen in die Poliklinik gehen. Da sie allein noch nicht den Weg zum Arzt machen konnte, bin ich gestern nicht zur Arbeit und habe sie begleitet. Die „Ausbeute“ war ein Beruhigungsmittel, Salbe für die Blutergüsse (sie ist bei der Ohnmacht gegen die Türkante geschlagen) und ein Krankenschein für die nächsten 8 Tage. Es wird einem schon was geboten hier für 10% Sozialversicherungsbeitrag.

(Letzter) Auslöser war hwsl., daß sie immer noch nicht weiß, ob sie im Betrieb bleiben kann, aber am Vortag erfahren hatte, ihre Abteilung würde erstmal „umstrukturiert“ (für Paula mit kräftigem Einkommensverlust) – und zwar ab 1. März. Als wir zu Hause abends gemeinsam einen entsprechenden Protest formulieren wollten, konnte sie plötzlich den Stift nicht mehr halten, weinte, hatte Schwindelgefühle und Atemnot und weiter siehe oben.

Das Verhalten ihres Betriebes (Dewag, Werbebranche, ein ehemaliger Parteibetrieb, der sich viel und vorrangig mit „Stadtgestaltung“, Umzügen, Volksfesten, Demonstrationen etc. befaßt hat) ist in gewissem Sinne typisch. Die Gewerkschaften sind praktisch tot (falls sie überhaupt je gelebt haben) und unsere „Wirtschaftskapitäne“ führen sich derzeit auf wie die schlimmsten Urkapitalisten (oder das, was sie dafür halten). Der Knalleffekt dabei ist, daß es im wesentlichen noch dieselben Leute sind, die vor einem halben Jahr mit Parteiabzeichen am Revers und langem Zeigefinger die „Zweidrittelgesellschaft“ verteufelt haben. Allein die Drohung, es würde demnächst nach Aspekten der Effektivität verfahren, macht sie zu reißenden Sozialtigern. Der Verdacht drängt sich auf, daß etliche eine ausgesprochene Ätsch-Haltung einnehmen und ein prickelndes Gefühl dabei empfinden dem dummen Volk nun einmal vorzuführen, was es sich mit seiner unbegründeten Revolution alles so eingehandelt hat.

Folgerichtig verstärken sich die Zukunftsängste und mit ihnen der Wunsch nach einem „Ende mit Schrecken“ statt eines „Schrecken ohne Ende“. Alles läuft zunehmend in Richtung eines bedingungslosen Anschlusses nach dem berühmten Artikel 23 GG. Leider tut auch die Bundesregierung nichts, was den Leuten hier irgendwelche Hoffnungen macht, und so geht der Trend in Richtung Zusammenbruch der Wirtschaft, obwohl es einen sachlichen Grund dafür eigentlich gar nicht gibt. Sicher, wir hatten ein mieses Wirtschaftssystem. Aber daß es innerhalb von wenigen Wochen nun nicht mal mehr dazu taugen soll, Land und Leute auf dem erreichten Niveau zu halten, ist natürlich Quatsch.

Sich in der ziemlich verworrenen Lage bei uns zurecht zu finden, ist praktisch nur noch möglich, wenn man sehr scharf die Frage stellt, wem (von denen, die überhaupt entscheiden können) die einzelnen Entwicklungen und Entscheidungen nützen. Insofern kommt man sehr schnell darauf, daß die unsichere Situation und die Ängste der Menschen eigentlich zwei Gruppen in die Hände arbeiten: Unseren alten Führern, die sich damit im nachhinein bestätigt fühlen können, und den Machthabern bei Euch, die unseren Laden um so billiger bekommen, je trostloser es hier aussieht.

Die meisten von denen, die einst diese Revolution ausgelöst und/oder begrüßt haben, stehen ergriffen vor dem, was daraus geworden ist. Das beste Beispiel dafür sind wohl unsere Künstler, die im Herbst eine hervorragende Rolle spielten, und sich nun (und ich sage das ohne jeden Vorwurf) vor allem um ihre persönliche Zukunft sorgen (und kümmern). Praktisch wird auch nach der Wahl niemand da sein, der mit der Bundesregierung noch irgendwelche ernsten Verhandlungen führen kann. Auch der ersten (und letzten) unserer demokratisch gewählten Regierungen wird nichts anderes übrigbleiben, als ergeben die Beschlüsse von Herrn Kohl zur Kenntnis zu nehmen.

Der nimmt derweil eiskalt in Kauf, daß auch bei Euch die Zukunftsängste zunehmen und der Ärger auf die übersiedelnden Zonis wächst. Über letzteres bin ich gar nicht mal so böse, denn wenn überhaupt haben wir in den zukünftigen östlichen Bundesländern nur dann eine Chance, wenn sich hier alle darüber im klaren sind, daß sie stetig, allmählich und vor allem nur gemeinsam vorankommen. Solange das Geld des Bundeshaushaltes für die Übersiedler ausgegeben wird, statt es in die „Zurückgebliebenen“ zu investieren, und es für jedermann lukrativer ist, im Westen arbeitslos zu sein statt im Osten zu ackern, wird daraus jedoch nichts. Jeder wird dann auch weiterhin sein Problem einfach dadurch lösen, daß er rübergeht.

Trotzdem bin ich ein wenig optimistisch, auch aufgrund der Interessenlage von Herrn Kohl. Kurz vor der Wahl wird er sicher ein paar Bonbons versprechen für den Fall, daß seine Freunde hier ans Ruder kommen, und ich rechne auch mit ein paar handfesten Drohungen für den Fall, daß nicht. Im Hinblick auf eine vielleicht schon gemeinsame Bundestagswahl im Dezember kann es sich auch niemand leisten, 12 Millionen neue Wähler hier zu verärgern.

Die Bonbons können natürlich um so kleiner sein, je verunsicherter hier die Leute sind usw. Ich denke also, es wird (mit schrecklichen Überschwingern nach allen Seiten aber) irgendwie doch in die richtige Richtung laufen – vorausgesetzt, es gelingt der Bundesrepublik sich zu beherrschen, den glänzenden Sieg des Kapitalismus bis zur Neige auskosten zu wollen. Falls nicht, hätte ich doch arge Bedenken, nicht zuletzt auch was die Sozialstaatlichkeit angeht. Nicht umsonst fordern schon die ersten Unternehmerverbände die Wiedereinführung der 40-Stundenwoche (für mich allerdings würde das bedeuten, daß ich täglich eine Dreiviertelstunde eher nach Hause könnte) und es wird nicht der letzte Angriff auf Eure (und künftig unsere) „Errungenschaften“ sein.

Außenpolitisch sieht es noch trauriger aus. Auf das herrliche Gefühl, Polen und vor allem Russen ein wenig zappeln zu lassen, will der Herr Bundeskanzler offenbar nicht verzichten. Vielleicht sollte ihm mal jemand sagen, daß in seinen neuen Bundesländern etwa 300 000 Mann Sowjetarmee stehen, die (wie schon mal) zwar nicht die besten aber die meisten Panzer haben, besetzt mit Männern, die auch ohne eisgekühlte Coca kämpfen, und von Offizieren kommandiert werden, die auch nicht von Pappe sind, zumal sie seit fünf Jahren nicht mehr so viel saufen.

Es ist beeindruckend, mit welcher Unverfrorenheit jemand die Grenzfrage einer Gesamtdeutschen Regierung zuschiebt (daß er da formal im Recht ist, weiß ich als Hobby-Deutschlandpolitiker natürlich), die Frage der NATO-Mitgliedschaft aber wie selbstverständlich sofort und allein entscheidet. Hier hoffe ich auf „Genschman“, den ich mir gut auch als gesamtdeutschen Außenminister vorstellen kann. (Vor einem gesamtdeutschen Bundeskanzler Kohl, Waigel oder gar Rühe bewahre uns Gott!)

Apropos Politiker: Sicher ist Euch nicht entgangen, daß das Gros unserer gegenwärtigen Politszene einem Kasperle – Theater gleicht, das sich bemüht, ein Stück mit dem Titel „Bundesrepublik“ aufzuführen. Es ist peinlich, zumal unsere Marionetten auch noch mit ihren Puppenführern gemeinsam auftreten müssen, damit man erkennt, was sie spielen wollen/sollen. Farblos sind sie alle und damit ist auch klar, warum derzeit bei uns 2/3 Modrow für den sympathischsten Politiker halten, aber nur 15 % seine Partei wählen.

Genug für heute. Viele Grüße an Judy und die Kinder

Dein Frank


Bad Honnef 8.3.1990

Lieber Frank,

sicher wunderst Du Dich über den ungewohnten Absendeort, aber ich bin zur Zeit für eine Woche auf einer Tagung der Bundesfinanzakademie in unmittelbarer Nähe unseres Bundesdorfes. Rhöndorf, Adenauers Wohnsitz, liegt gleich um die Ecke. Idyllisch ist es ja bisweilen hier. Die Gegend ist klimatisch begünstigt. Architektonisch fühlt man sich wegen der vielen Villen fast an Italien erinnert. Aber hierhin eine Hauptstadt zu verlegen, war doch wohl mehr eine Idee des alternden Adenauers, dessen Wünsche hinsichtlich des Ambiente offen sichtlich schon von Ruhestandsbedürfnissen geprägt waren (darüber welche Auswirkungen dies auf seine Deutschlandpolitik hatte, will ich lieber nicht spekulieren).

Drüben in Bonn rauchen jetzt die Köpfe und der Rauch zieht über den Rhein bis zu uns herüber, wo natürlich, auch mit unseren Referenten aus der Ministerialbürokratie, eifrig über die „Lage der Nation“ diskutiert wird. Allenthalben ist Ratlosigkeit darüber zu verspüren, wie die Dinge in der Eile vernünftig weitergehen sollen. Wir Juristen sehen naturgemäß die praktischen Probleme, zumal wir in unserer Funktion als Sozialfeuerwehr die Feuer zu löschen haben, die die Politiker legen und dabei möglichst revolutionäre Flächenbrände mit der Ausrüstung für juristische Friedenszeiten eindämmen sollen. Nach einer Woche Bilanzsteuerrecht weiß ich, dass Ihr gerade dabei seid, Euch aus dem Paradies des Steuerrechts zu vertreiben. Hier sind als Folge des steuerlichen Sündenfalls mindestens 100 000 Steuerberater, Wirtschaftsprüfer, Bilanzbuchhalter u.a. zur (wohlbezahlten) Arbeit im Schweiße ihres Angesichts verdammt. Im Paradies soll es dagegen ganze 100 Steuerberater geben. Und dann gibt es hier noch die Wirtschaftsstaatsanwälte, wie ich, die dafür zu sorgen haben, dass es sich die genannten 100 000 und Millionen andere Paradiesflüchtlinge nicht zu gut gehen lassen (das entspricht etwa der Rolle, welche die Unterteufel mit ihren Dreizacks auf den alten Höllenbildern haben). Ob ihr Euch nicht nach dem Paradies zurücksehnen werdet? Manche tun es ja wohl schon, wenn man die steigenden Wahlaussichten der PDS in Betracht zieht.

Auch hier an der Akademie ist die Hektik schon ausgebrochen. In zwei Wochen erwartet man die ersten Spitzenbeamten Eurer Finanzverwaltung, die man in einem Schnellkurs auf den wilden Westen und seinen Steuerdschungel vorbereiten will. Auch sonst herrscht ziemliche Unruhe hier. Mancher Ministerialer muss um den Verlust seines sauer ersparten Vermögens bangen, nachdem die Bonner Grundstückspreise in den Keller fallen. Adenauers Grille macht(e) halt noch keine Hauptstadt.

Aber ich wollte Dir noch über meine restlichen Erlebnisse in der DDR berichten. Montag, 26.2., fuhr ich mit 3 Kindern – rein deutsche Mannschaft, Judi war der Spass zu teuer – wieder über die Grenze, diesmal ohne Probleme. Wir kamen über einige malerische Städtchen (z.B. Römhild mit einem großen Schloss, indem man einfach so wohnen kann, allerdings tatsächlich einfach) nach Meiningen. Das war etwas für mein Gemüt nicht nur, weil hier einige große Musiker am Werk waren (Reger, Richard Strauss, Hans v. Bülow). Meiningen, das ist ein elegisches Gedicht von einer Residenzstadt in einem vergilbten Bilderbuch aus der guten alten Zeit. Kirche, Schloss und Theater beherrschen die Szene, – ganz wie es sich gehört(e). Noch deutlicher als in den vergangenen Tagen wurde mir hier, dass Eure mangelnde Fähigkeit oder Bereitschaft zur städtebaulichen „Innovation“ in manchen Fällen geradezu zum Glücksfall werden könnte. Wo gibt es bei uns noch so unberührte Stadtzentren wie in Meiningen. Restauriert wäre die Stadt ein nostalgisches Schmuckstück – allerdings wird es teuer, vielleicht zu teuer werden. Die Zeit, da man glaubte, Altes erst einmal gründlich „modernisieren“ zu müssen, ist ja Gott sei Dank weitgehend vorbei. Ihr habt sie gewissermaßen verschlafen, was in diesem Fall tatsächlich einmal zu begrüßen ist. So besteht die auf Chance, das, was noch erhalten werden kann, ohne moderne Verkrampfungen zu retten. Hoffentlich wird sie genutzt. Bremsen muss man vor allem die Kreissparkassen, die sich gern durch Betonmonumente in historischer Umgebung verewigen (die Euren sind ja zur Zeit noch geradezu putzig). übrigens „beneide“ ich Euch in diesem Zusammenhang um Eure Ruinen; bei uns sind auch die erhalten gebliebenen längst „weggeputzt“.

Wegen des dauerhaften Regens verzogen wir uns zu nächst einmal in die bemerkenswert gut eingerichtete Stadtbibliothek. In den Regalen lagen jetzt eine ganze Reihe westdeutscher Zeitungen. Ich bekam bekam erstmals den „Sputnik“ in die Hände (wirkt eher dürftig heute); und eine DDR – Rechtszeitschrift, in der allerhand Unbeholfenes über Grundrechte stand, verpackt in einen Sprachwulst à la Marx und Hegel, der bei uns ziemlich seltsam wirken würde. In einer Bäckerei aßen wir etwas Kuchen und als Sebastian den seinen auf den Boden fallen ließ, brachte ihm die Verkäuferin sofort ein neues Stück, das sie aber nicht bezahlt haben wollte. Das hat unsere kapitalistischen Kinder, die gewohnt sind, solche Risiken selbst zu tragen, mehr als alles andere in der DDR beeindruckt.

Der Zufall wollte, dass wir auf unserem Weg durch die Stadt an einem prächtigen neobarocken Gebäude vorbeikamen (solche Gebäude ziehen mich allemal an). Es stellte sich heraus, dass darin die lokalen Justizbehörden beheimatet waren (früher gehörte es der Dresdener Bank), Grund genug, um einen Blick hineinzuwerfen. Die Pförtnerin meinte auf meine Frage, ob man an einer Sitzung teilnehmen könne, Zutritt sei nur am Anfang der Sitzung möglich, da man sonst stören würde – eine äußerst vorsorgliche Dame. Daraufhin ritt mich der Teufel und ich fragte, ob ich mit einem Staatsanwalt sprechen könne. Man führte mich gleich zum Chef der Bezirksstaatsanwaltschaft, für den ein deutsch – deutscher Kontakt ebenfalls eine Premiere war. Die Revolution mache ja nun so manches möglich, was noch vor Kurzem undenkbar gewesen sei, staunte er und unterhielt sich mit mir 1 1/2 Stunden ziemlich freimütig über Gestriges und Heutiges und die nicht eben bequeme Lage, die ein Staatsanwalt der DDR zwischen Beidem einnimmt. Staatsanwälte und Revolutionäre sind ja nicht gerade füreinander gemacht, da sie den Gesichtspunkt der (bestehenden) Ordnung naturgemäß unterschiedlich gewichten. Aber bei Euch scheinen die Revolutionäre die Staatsanwälte gegen eben jenen Staat angerufen zu haben, deren Anwalt sie sind, was für einige Staatsanwälte wohl nicht ohne – zeitlich gestreckte – Schizophrenie zu bewältigen sein dürfte. (Vielleicht braucht ihr dafür demnächst einige Leute ohne übermäßige Deformation der Hals- und Lendenwirbelsäule – ein gutes Angebot müsste ich mir glatt überlegen).

Zu allem Überfluss ist die Staatsanwaltschaft unversehens auch noch zum Hüter der Prinzipien der Revolution geworden, was sich ausgerechnet zum Vorteil der gestürzten Staatsusurpatoren auswirkt (so etwas nennt man dann Revolutionswirren). Das aufgebrachte Volk, so berichtete mir der Bezirksstaatsanwalt, verlange die schnelle Bestrafung der „Schuldigen“, aber diese haben, wen wundert es, in vielen Fällen kein Strafgesetz geschaffen, das auf sie angewandt werden könnte. So wäre eine Nachgeben gegenüber den – verständlichen – Forderungen nach Vergeltung nur möglich, wenn fundamentale demokratische Grundsätze außer Acht gelassen würden, etwa der Grundsatz, dass Strafe vor Beginn der Tat in einem Gesetz bestimmt sein muß. Eine schnelle Bestrafung wird bei der Komplexität der Handlungsgeflechte, die bei politischen und wirtschaftlichen Sachverhalten in der Regel zu beurteilen sind, meist nur durch einen „revolutionären“ Verstoß gegen diesem Grundsatz möglich sein. Das gilt um so mehr als die Betroffenen, so „mein“ Bezirksstaatsanwalt, nicht gerade ausagefreundlich (und ggfs wahrheitsliebend) sind und die „Zeugen“ meist auch nicht die wünschenswerte Distanz zum Tatgeschehen haben (Die Verfahrensweise der französischen Revolutionsgerichte, insbesondere des Pariser Gerichtes mit Revolutionstaatsanwalt Fouqier – Tinville, wo alles sehr schnell ging, ist wohl besser nicht als Maßstab heranzuziehen, ganz abgesehen davon, dass sie den eilfertigen Chefankläger am Ende selbst den Kopf kostete.)

Daß ausgerechnet eine Staatsanwaltschaft, die nicht zuletzt wegen der exzessiven Anwendung von Gummi- und Auffangparagraphen („staatsfeindliche Verbindungen“ oder so ähnlich), nicht gerade als Garant der Rechtsstaatlichkeit ausgewiesen ist, nun durch Beharren auf den genannten Grundsätzen den revolutionären Elan bremsen muß (und hiebei offenbar nicht immer auf Verständnis stößt), ist eine merkwürdige Paradoxie der sanften Revolution. Geradezu absurde Ergebnisse kann die juristische Behandlung von öffentlichen Behauptungen über die verhaßte „nebenamtliche“ Stasitätigkeit von „unbescholtenen“ Bürgern zeitigen. Da die Stasiarchive aus humanitären Gründen nicht zur Einsicht freigegeben werden (ein Beschluß der Revolutionäre), können sich Personen, die Stasimitarbeiter offen legen, selbst dann nicht gegen die von der Staatsanwaltschaft erhobene Anklage wegen Verleumdung verteidigen, wenn ihre Behauptung stimmt (Hier ist nämlich der einzige anerkannte Fall, wo es im Strafprozeß eine Beweislastumkehr gibt, also der Satz „Im Zweifel für den Angeklagten“ nicht gilt. Die Stasileute profitieren also unter Umständen von diesem Grundsatz und seiner Ausnahme).

Als Praktiker interessierte mich natürlich, wie sich eine Behörde in der Not hilft, daß alte Gesetze, wiewohl noch in Kraft, nicht mehr angewandt werden (können) und neue noch nicht vorhanden sind – man wartet ab, wie ich hörte. Oder, wie man mit der Fülle der Anzeigen fertig wird, die jetzt gegen die ehemaligen Machthaber und deren Helfer erstattet werden – man sucht Rückendeckung für die mangelnde Bearbeitung bei dem Kirchen. Auch sonst erfuhr ich viele interessante Details aus diesen Tagen, etwa über die Angst der Bevölkerung vor der Vereinahmung durch den Westen, konkret geworden etwa für alteingesessene Meininger Ladenbesitzer, die befürchten müssen, von den allenthalben umherschweifenden kapitalistischen Konkurrenten aus ihren Ladenlokalen gedrängt zu werden, weil diese ein mehrfaches der bisher üblichen Miete bieten. Oder über die Eigentumsprobleme, die sich daraus ergeben, dass sich die alte Herrschaft – offenbar in der Erwartung einer längeren Dauer ihres Imperiums (solche Erwartungen und wie man sich täuschen kann, sind uns ja nicht unbekannt) – nicht die Mühe gemacht hatten, die alten Grundbücher zu berichtigen; selbst vor dem Gerichtsgebäude seien kürzlich acht nadelgestreifte Herren gestanden, die sich auffällig für das Prachthaus interessiert hätten (Kundschafter der Dresdener Bank, wie vermutet wird). Des weiteren über die Probleme der Rechtsangleichung (Rechtsanwalt in der DDR sollte man jetzt werden; es gibt Arbeit auf Jahrzehnte und vorläufig keine Konkurrenz). Am Schluß meinte er auf meine Frage nach der Öffentlichkeit der Sitzungen, es sei natürlich nicht so, wie es die Dame unten an der Pforte gesagt habe (letztere kümmerte sich übrigens vorbildlich um die Kinder, trocknete ihnen die n nassen Haare und beschäftigte sie, die „langsam“ unruhig wurde, mit Kreuzworträtseln). Aber es sei eben typisch für das ganze und – noch immer wirksame? – System gewesen, dass alle die Diskrepanz zwischen hehren Prinzipien und einer damit kaum zu vereinbarenden Praxis getragen hätten. Auch Rechtsanwälte wie Schnur oder de Maiziere hätten bei Gericht nicht etwa die jetzt für untragbar oder verfassungswidrig gehaltenen Gesetze in Frage gestellt, sondern hätten häufig auf schuldig plädiert und nur versucht, im konkreten Fall so viel wie möglich für ihren Mandanten herauszuholen.

(A propos Schnur – heute 8.3. – kam die Nachricht von den Stasikontakten dieses Herrn und den promten Solidaritätsbekundungen der politischen Freunde in Ost – und natürlich West. Man sieht, dass das Erlernen parteipolitischer Verhaltensmuster bei Euch große Fortschritte gemacht hat. Dazu gehört allemal, vor näherer Kenntnis der relevanten Tatsachen, insbesondere vorhandener Akten, eine eindeutige Beurteilung derselben abzugeben – entsprechend der momentanen Interessenlage versteht sich (das haben wir etwa in unserer Parteispendenaffaire zu Hauf erlebt – von Barschel ganz zu schweigen).

Übrigens gelang es uns nach einer zauberhaft pittoresken Fahrt durch das Tal der Werra in Hildburghausen sogar noch Judis touristische Leistung zu verfuttern – kurz vor Schließung (20 Uhr!?) des offenbar einzigen Restaurants der Stadt am schön renovierten aber vollkommen ausgestorbenen historischen Marktplatz. Allerdings hatte meine Schwägerin mit diesem Erfolg nicht gerechnet (und wir nicht mit ihrem Zweifel), und hatte ein extrem opulentes Mahl vorbereitet. Höflichkeitshalber mußte ich daher noch ein zweites Mal essen und litt diesmal an überfülltem Magen.

Am nächsten Tag war ich mit meinem Bruder nochmals Drüben. Wir fuhren über Schleusingen (wieder ein prächtiges Schloss) nach der Bezirkshauptstadt Suhl, dessen brutale Mischung von moderner Klotzarchitektur und historischer Stadt mich an Übles bei uns erinnerte. Es fehlte nicht viel und wir hätten uns, angesteckt durch die allgemeine Aufbruchstimmung, auch auf den Pfad jener kapitalistischen Glücksritter begeben, die Euer Land z.Zt. nach allen wirtschaftlichen Richtungen durchstreifen. Wir Kapitalisten jagen, wie Du mittlerweile bemerkt haben wirst, ständig dem Traum des Schlossbesitzens nach. Da wir Kleinen denselben jedoch allenfalls in einem sozialistischen (gewesenen) Land verwirklichen können, haben wir tatsächlich die „Gelegenheit“ beim Schopf ergriffen und Erkundigungen über ein Objekt von einigermaßen bürgerlichen Dimensionen in Hellingen unweit der Grenze eingezogen. Das alte Gemäuer, das auf sozialistische Weise allein von einer alten und offensichtlich nicht sehr begüterten Frau bewohnt wurde, strebte aber bereits so malerisch dem Verfall zu, dass unsere Träume allenfalls bei Erhalt der augenblicklichen Lohn- und Währungsrelationen zu verwirklichen gewesen wären. Aber diese „traumhafte Lage“ sind wir gerade dabei, uns zu vermasseln. So haben wir unsere Besitzwünsche, wie meist, auf die „geistigen Werte“ reduziert, mit anderen Worten, statt des Schlosses haben wir am Ende ein paar Bücher gekauft. Das eine trägt den Titel „Ewiger Frieden“ und enthält eine umfangreiche Sammlung deutscher Stimmen zu diesem Thema aus der Zeit um 1800. Ein weiteres ähnliches Buch wird man vermutlich nach weiteren 200 Jahren, wenn nach Deinem Zeitplan die Männer erwachsen geworden sind, über die Friedensdiskussion um das Jahr 2000 herausgeben. Darin werden natürlich, wenn das Werk beachtlich sein soll, Teile unseres Briefwechsels erscheinen müssen. Das heißt wir müssen dafür sorgen, dass er sich bis dahin erhält. (A propos Erhaltung: Ich bin, wie ich jetzt festgestellt habe, schon an der Erhaltung der Grundlagen des eben erworbenen Vorläuferbandes beteiligt. Darin abgedruckt ist eine „Neue vermehrte Auflage“ der Kant´schen Schrift „Zum ewigen Frieden“ von 1796. Und ebendiese befindet sich – original – in meinem Besitz. Der Begleittext – S 516 – bezeichnet sie als den geistigen Kulminationspunkt der Friedensdiskussion – kein Wunder, denn eine These darin lautet „Stehende Heere (miles perpetuus) sollen mit der Zeit ganz aufhören – S- 84 -. Du siehst, ich bin in guter Gesellschaft.

Das zweite Buch ist Klaus v.Dohnanyi’s „Brief an die Deutschen Demokratischen Revolutionäre“ Seine Ausführungen zur offenen Gesellschaft und der daraus resultierenden Wirtschaftsordnung sowie seine Argumente für die deutsche Einheit kann ich Dir empfehlen. Die Schilderungen unserer Verhältnisse geraten allerdings gelegentlich etwas zu idyllisch. Die Deutschen Demokratischen Revolutionäre freilich, die er mit dem Buch ansprechen und beraten will, haben bei Euch mittlerweile nicht mehr viel zu sagen. Heute müsste er den Brief an die Bonner Parteizentralen schreiben. Auch Eure Revolution frisst ihre Kinder. Aber da es eine sanfte Revolution ist, werden ihre Kinder auch auf sanfte Weise verspeist, d.h. sie werden nicht mehr zur Kenntnis genommen.

Grüsse

Klaus

PS  Eigentlich wollte ich noch auf Deinen letzten beiden Briefe antworten (auch der vom 2.3. ist inzwischen hier) Aber dieser – ohnehin schon zu lange – Brief muss jetzt erst einmal weg. Ich würde gerne wissen, ob Du alle meine Briefe erhalten hast. In Deinen beiden Briefen erwähnst Du nur meine Briefe vom 30.1. und 14.2.. Dazwischen liegen noch 2 Briefe vom 5.und 10.2. Vor allem der vom 5.2. war wichtig, weil er die (positive) Antwort auf die Frage enthielt, ob unsere Einladung noch steht. Ihr kommt doch im Mai?

Ich hoffe Paula ist wieder auf den Beinen und hat wieder Mut gefasst. Ich denke, dass er nicht ganz ungerechtfertigt ist. Denn trotz aller Probleme, es kann nur aufwärts gehen, das haben meine Besuche in der DDR gezeigt.

Grüsse

Klaus

 

Briefe aus der Wendezeit – Teil 3

Stuttgart, 30.1.90

Lieber Frank,

ich glaube, daß das Thema Zweistaatlichkeit spätestens ab heute begraben ist. Es wäre nicht das erste Mal, daß Gorbatschow mit wenigen fast beiläufigen und gewissermaßen außerhalb des Protokolls gesagten Worten eine Lawine lostritt. So wie er mit den wenigen Sätzen über die Verspäteten, die das Leben bestrafe, Eure Revolution erst richtig im Gang gesetzt hat, wird es nach seinen heutigen Worten über die Vereinigung der Deutschen wohl kein Halten mehr geben. Damit dürfte der Bann gebrochen sein, eventuelle westliche Störversuche können kaum mehr anderes als Rhetorik sein.

Aber zunächst einmal Dank für Deinen Brief und für Buch- und Mauerteile. Jetzt weht der Hauch der Geschichte auch in unserer Hütte. Die neuen Manuskriptteile haben mir gut gefallen. Auf Grund Ihres Detailreichtums geben sie insbesondere dem westlichen Leser einen interessanten Einblick ins Getriebe der Revolution. Wir wissen hier nicht sehr viel über das, was bei Euch alles „real existierte“ und daher von den Veränderungen betroffen ist. Deshalb können die Details gar nicht zu viel sein. Weiter so! Was macht übrigens der „Bruder“? Hast Du schon eine Konzeption?

Deine politische Depression ist in der Tat eine paradoxe Sache. Ich denke aber, daß nur die besonders wendigen Hälse davon verschont bleiben und das dürften die sein, die auch mit den „alten“ Gedanken nicht viel am Hut hatten. Du sprichst vom demokratischen Sozialismus (im Gegensatz zum Sozialdemokratismus). Offen gesagt, mir ist nicht ganz klar, was für Inhalte Du mit diesem Begriff verbindest. Was bleibt für Dich übrig, wenn Du alles abstreichst, was bislang schief gegangen ist? Das läuft, meine ich, auf die Frage hinaus, ob der real existent gewesene Sozialismus eine notwendige Konsequenz sozialistischer Prämissen oder nur ein Betriebsunfall eines an sich guten Gedankens war. Für die Wirtschaft, die sich bislang als sozialistisch bezeichnete, ist die Frage wohl entschieden. Man mag über den „Kapitalismus“ denken was man will, die Planwirtschaft ist offensichtlich keine Alternative. Ihre Mängel sind systembedingt. Wie ist es aber mit Totalitarismus, Privilegienwirtschaft, Nepotismus und Bürokratismus? Hier kommt es sicher darauf an, was man unter Marxismus versteht. Dabei ist für mich ein großes Problem das Antagonismus – Denken, welches dem historischen Materialismus zu Grunde liegt. Die Aufteilung einer Gesellschaft in „Klassen“, die sich mehr oder weniger getrennt gegenüberstehen, erscheint mir schon ein viel zu einfaches Modell für eine moderne Gesellschaft. Dem entsprechend ist es auch viel zu einfach zu glauben, mit der bloßen Umkehrung der Machtverhältnisse zwischen solchen Klassen könnten die „Widersprüche“ einer Gesellschaft beseitigt werden. Ein solches Konfrontationsmodell ist aber auch generell eine mehr als problematische Angelegenheit und kann allenfalls in extremen Situationen, wie sie z.B. in Entwicklungsländern gegeben sein können, praktikabel sein. Druck erzeugt Gegendruck und führt mit einer gewissen Notwendigkeit zur Verschärfung von Konflikten und damit tendenziell zur Unterdrückung von Widerstand wie wir es bei Euch gesehen haben. In gewisser Hinsicht ist der Marxismus jetzt sogar das Opfer seiner eigenen Voraussetzungen geworden. Die Überbetonung eines Standpunktes führt zur Unterdrückung anderer Standpunkte (und jetzt wieder des einen Standpunktes). Die Frage ist also, ob der Marxismus für ein Kooperationsmodell geeignet ist. Wäre er dann noch Marxismus? Müßte er dann nicht den Absolutheits- und angeblichen Wissenschaftlichkeitsanspruch aufgeben? Damit verlöre er seinen quasi – religiösen Charakter mit all den Begleiterscheinungen, welche Bewegungen dieser Art in unseren Breiten zu haben pflegen: übersteigerter Autoritätswille, Unterdrückung Andersdenkender, Inquisition, Glaubenskriege; dann mangels einer die Hohepriester zügelnden Opposition: Selbstbeweihräucherung, Gefühl der eigenen Unentbehrlichkeit, Abschirmung, Privilegien, Realitätsverlust; schließlich Selbstzweifel, deren Überkompensation durch weitere Entfernung von den Ausgangspunkten, Verkehrungen geradezu ins Gegenteil; am Ende Zynismus angesichts der wachsenden Erkenntnis, alles falsch gemacht zu haben, und Machterhalt, um die eigene Haut zu retten. Dies Muster hätten wir nicht zum ersten Mal gehabt. Und spricht nicht die Gleichartigkeit der Entwicklung in den kommunistischen Ländern (und die geschichtlichen Beispiele – z.B. das alte Spanien) dafür, daß hier eine gewisse Gesetzmäßigkeit besteht?

Ziehen wir also die Ursachen dieser Entwicklung auch noch ab, so stellt sich die Frage, ob das, was verbleibt, noch Marxismus ist oder schon eine Spielart der Sozialdemokratie.

Beim Nachdenken über die Unterschiede dieser beiden politischen Denkmodelle bin ich auf folgenden merkwürdigen Gedanken gekommen. Der Unterschied scheint mir in einer verschiedenen Rolle der Moral zu bestehen. Der Marxismus hat eine radikale Moral. Sie erscheint auf den ersten Blick überzeugend und wer überhaupt Moral für sich in Anspruch nimmt, kann sich ihr kaum entziehen. Was will man schon gegen eine radikale Gleichheit sagen oder dagegen, daß jeder nur von seiner eigenen Arbeit leben soll. Soweit: so gut – im Prinzipiellen (ob das praktikabel ist, ist eine andere Frage). Es scheint aber ein fatales Gesetz zu geben wonach – jedenfalls in einer modernen Zivilisation – eine Gesellschaft mit einer definitiven inhaltlichen Moral tendenziell diese ihre Grundvoraussetzung auflöst. Offenbar wird die Moral dort, wo sie von Anfang an als gegeben vorausgesetzt wird, in der Praxis zu wenig eingefordert. Sie wird gewissermaßen zu wenig gepflegt und verkommt daher. Dazu bei trägt sicher auch der Umstand, daß diejenigen, die sich im Besitz einer höheren Moral fühlen, umso leichter glauben, zeitweilig auf dieselbe verzichten zu können, wenn es darum geht, einem „höheren Ziel“ zum Durchbruch zu verhelfen, mit der regelmäßigen Folge, daß die „Durchbruchsphase“- und damit die Suspendierung der Moral verewigt wird (wie oben dargestellt).

Im Gegensatz zu einer solchen oben angesiedelten, gewissermaßen also deduktiven Moral gibt es offenbar auch eine induktive Moral, die merkwürdigerweise aus unmoralischen Voraussetzungen resultiert. Der Marktmechanismus als Grundlage eines westlich liberalen, also kompetitiven Gesellschaftssystems, ist ohne Zweifel im Prinzip unmoralisch. Er beruht vom Grundsatz auf dem Ausnutzen von Mangel oder Überfluß und ist ein ständiges, mehr oder weniger stilvolles Lauern auf‘ die Schwächen des Geschäfts“partners“. Tendenziell scheint auf dieser unmoralischen Basis im Ergebnis mehr Moral erzeugt zu werden als in Systemen mit absoluten Moralprämissen. Es scheint, daß die Moral hier so etwas wie eine Gegenströmung gegen die Unmoral der Voraussetzungen des Systems ist, wobei man darüber streiten mag, inwieweit hier die ökonomische Vernunft oder gar das schlechte Gewissen ursächlich sind. Man könnte also sagen, daß die kapitalistische Moral eine resultative Moral ist. Trotz trüber Quellen führt sie im Ergebnis zu einem gewissen Quantum an Moral. Nun mag es wohl sein, daß dies kein universelles Gesetz ist und es nur dort gilt, wo die Marktbeteiligte schon moralisch vorgeprägt sind (in Indien etwa hätte ich da schon meine Zweifel). Aber es ist eine Tatsache, daß in den entwickelten Ländern des Westens die Verelendung der Massen, die Marx voraussagte, nicht eingetreten ist. Marx hat den Gegenströmungseffekt und damit den immanenten Zug des Kapitalismus zur sozialen Markwirtschaft übersehen.

Nicht daß Du nun meinst, ich glaubte, bei uns sei nun die gesellschaftliche Moral schon begrüßenswert weit fortgeschritten. Ich hatte gerade unseren Camping-Bus in der Werkstatt und habe dabei die Unmoral des Marktes wieder einmal richtig zu spüren bekommen. Wenn ich meinen beruflichen Bereich betrachte, drängt sich mir nicht selten der Eindruck auf, als seien wir teilweise sogar im Rückwärtsgang. Ich spreche von Tendenzen, die insgesamt signifikante Ergebnisse zu zeitigen scheinen und immer wieder trotz ungünstiger Ausgangspositionen zu erstaunlich brauchbaren Lösungen führen. Es ist doch immerhin bemerkenswert, daß ein solches System, wenn auch sehr langsam, einen immer stärkeren Schutz des Verbrauchers, der Umwelt und des Bürgers entwickelt und daß selbst solche politischen Kräfte dazu beitragen, die man in diesen Dingen eher in der Bremserrolle erwarten würde. Es ist eine eigentümliche Weisheit des Systems der „checks and balances“, der politischen Form des Marktmechanismus, daß es die egoistischen Grundtriebe umzubiegen in der Lage ist. Natürlich, höhere und radikalere Träume lassen sich damit nicht befriedigen. Ist es möglicherweise diese Erkenntnis, die bei Dir zu „politischen Depressionen“ führt? Abschied von einer absoluten Moral? Das wären politische Entzugserscheinungen von einer Droge namens Marxismus – womit wir wieder bei der Parallele zur Religion wären, die sich an vielen Stellen aufdrängt (vgl. oben). Marx wird sich im Grabe herumdrehen: seine Lehre als Opium fürs Volk – oder .jedenfalls für Intellektuelle? Bei Voltaire habe ich einen Satz gefunden, der die Parallele auch merkwürdig deutlich macht: „Es beginnt mit Schwärmerei und endet mit Betrug. Mit der Religion ist es wie mit dem Spiel: Anfangs ist man der Geprellte, am Ende ist man der Spitzbube“. Natürlich brauche ich nicht besonders zu betonen, daß ich Dich nicht mehr im Stadium der Schwärmerei und noch nicht „am Ende“ sehe – letzteres trifft auf Eure alten Herren und deren Anhang zu. Übrigens habe ich das Zitat aus einem Buch, das bei Euch erschienen ist: „Voltaire für unsere Zeit“, Aufbau – Verlag 1989!, gedruckt im Karl-Marx Werk!

Ich lege Dir hier noch ein Blatt bei, das aus der „Feder“ meines Sohnes (11 Jahre) stammt. Es ist tatsächlich eine spontane Eigenarbeit und spiegelt daher die Stimmung. die bei dieser Altersgruppe rübergekommen ist.

Für heute sei‘s genug.

Gruß

Klaus

EUROPA SAMSTAG 20 JANUAR 1990

BERLIN UND DIE MAUERSPRECHTE

IN BERLIN GEHT´S RUND. MAUERSPECHTE AUS ALLER WELT SIND GEKOMMEN;; UM SICH EIN S0UVENIER AUS DER MAUER ZU BRECHEN, DABEI SINGEN SIE LIEDER DIE GEGEN DIE 40 JÄHRIGE UNTERDRÜCKUNG SPRECHEN: IN VIELEN DIESER LIEDER WERDEN HONECKER, KRENZ UND DIE GANZE SED UND STASIEMITGLIEDER IN DIE HÖLLE GEWÜNSCHT.

DA SO VIELE MAUERSPECHTE INTERESSE AN DER MAUER ZEIGTEN WURDE DIE MAUER HEUTE FUR 8 MILLIARDEN DM VEIRKAUFT. DABEI HABEN BEIDE SEITEN BERLINS EIN GROßES GESCHÄFT GEMACHT.

IN DEN LETZTEN 2+2 – MOANTEN IST SICH DAS VEREINTE DEUTSCHLAND EINEN GROSSEN SCHRITT NÄHER GEKOMMEN. BES0NDERS AUS DEM KALENDER HERAUSSTECHEND IST DER 9.NOVEMBER. DER 9. NOVEMBER WAR ZU 100% DER HISTORISCHSTE TAG DER DDR REVOLUTION.

IM GRUNDE GENOMMEN HAT ALLES MIT DER FLÜCHTLINGSWELLE BEGONNEN. WIR DENKEN. ALLE AN DIE HISTORISCHEN TAGE IN DER TOTAL ÜBERFÜLLTEN PRAGER BOTSCHAFT. IN DER PRAGER BOTSCHAFT HERRSCHTE AUFREGUNG UND SPANNUNG. BIS EINES ABENDS HANS-DIETRICH GENSCHER DIE AUSREISE VERKÜNDETE. NACH DER BEKANNTGEBUNG GAB ES ZUERST IN PRAG, DANN IN GANZ EUROPA GRENZENLOSE FREUIDE, TRIÄNNEN UND GEJUBLE.

ALS DIE MAUER GEÖFFNET WURDE GAB ES KONFLIKTE ZWISCHEN BETRUNKENEN; DIE ZU ZAHLREICHEN VERLETZTEN UND EINEM TODESOPFER FÜHRTEN.

Berlin 29.1.1990

Liebe Judy, Lieber Klaus!

Ich schäme mich ein bißchen, Euch so lange ohne Antwort auf Eure „Neujahrsbotschaft“ gelassen zu haben, und das noch dazu wo Klaus wirklich gewaltige Mühe in seine Schrift gelegt zu haben scheint. Sehr schön lesbar!

Nunmehr soll Dir jedoch Trost und Kurzweil das harte Krankenlager versüßen und in diesem Sinne erstmal vielen Dank für Dein gewaltiges Werk.

Auch sei an dieser Stelle sogleich angemerkt, daß ich SCHON IMMER – und sehr zum Leidwesen meiner liebreizenden Frau – ein herausragender Telefonmuffel gewesen bin. Nehmt es also bitte nicht so tragisch. Wann immer Ihr anrufen werdet: Entweder Ihr habt Glück und Paula ist dran – oder ich werde wieder so muffelig sein. Sorry.

Was Deine pazifistischen Träume angeht, freue ich mich eingedenk unserer Paddelschlauchbootdispute zur Friedensfähigkeit Gorbatschows darüber, daß Du sie IHM inzwischen wohl voll zutraust. Dies aber nun gleich auf die ganze Welt auszudehnen, halte ich allerdings für um zwei Jahrhunderte verfrüht. (Es wird noch solange hin sein wie die französische Revolution her ist, um im Bilde Deines vorletzten Briefes zu bleiben.)

Ein sehr anschauliches Argument für diese These lieferten gerade die USA in Panama. Wer bitte schön sollte denn DIE dazu bringen, ihren Weltherrschaftsanspruch freiwillig aufzugeben und von dem hundertfach erprobten Schema abzuweichen, das da lautet:

1. Unsere Interessen sind überall dort, wo US-Bürger sind.

2. Überall sind US-Bürger.

3. Wenn US-Bürger bedroht sind, müssen sie durch US-Soldaten geschützt werden.

4. Auch US-Soldaten sind US-Bürger – und die sind natürlich immer bedroht.

(Ich mag die Amis nicht sonderlich, wie Ihr vielleicht merkt.. Die Idee mit der internationalen Friedenstruppe ist auch ganz gut, aber mit Vorsicht zu genießen und nicht ganz neu. Wenn ich mich recht entsinne ist sie bisher zum Glück nur einmal im aktiven scharfen Schuß erprobt worden: In Korea. Übrigens auch in US- Uniformen.

Nein, lieber Klaus. Bei aller Weltfriedenseuphorie: Die Welt ist groß und schlecht und das wird noch lange so bleiben. Optimismus ist trotzdem angebracht, denn zum ersten Mal in diesem Jahrhundert sieht es immerhin danach aus, als würden zumindest die großen Blöcke nicht mehr so hart gegeneinander Front machen. (Parole: „Gewehr ab – aber gaaanz vorsichtig!“) Die eine Seite weil sie pleite ist und ihr die Soldaten weglaufen, die andere weil sie den kalten Krieg – fast aus Versehen aber nichts desto trotz offensichtlich – gewonnen hat oder besser gesagt: Die Festung Osteuropa hat sich ergeben, und zwar dem selbstverschuldeten Hunger, nicht den tapferen Belagerern.

Die deutsche Besatzung gibt dabei ein besonders ulkiges Bild ab. Sie springen extraflink über die Zinnen, werfen sich draußen schluchzend dem großen Bruder an den Hals, und hoffen, daß er rasch vergessen wird, wo sie vor 5 Minuten noch gestanden haben.

Aber jedes Volk hat bekanntlich die Regierung, die es verdient, jedenfalls wenn sich diese Regierung 40 Jahre lang halten kann. Hier wiederholt sich auf peinliche Weise die bekannte Nummer von ’45:

Damals plötzlich alles Antifaschisten, heute alles große Demokraten. Mit Honecker und seiner Partei hatten sie noch nie was im Sinn. Was das für Demokraten sind, merkt man besonders bei den gegenwärtigen Demonstrationen wo der Plebs immer radikaler (das ginge noch), verbissener (schon schlimm), aggressiver (eklig) und offensichtlich insgesamt immer dümmer agiert. In Berlin kommt hinzu, daß ganz offensichtlich etliche vom Westen herüberkommen, die nur auf Randale aus sind oder ganz einfach mal Lust auf eine andere Polizei haben.

Die Freiheit der Andersdenkenden – es gibt sie noch immer nicht. Alles ist zulässig, nur keine andere Meinung als die der Masse. Stasi hin, VP her – wer bei Honeckers Mai – Demo „Deutschland, einig Vaterland“ gerufen hätte, wäre wenigstens von den Demonstranten nicht verkloppt worden.

So fröhlich und unverdrossen diese Revolution begonnen hat, so verbissen läuft sie zur Zeit. Natürlich sind jetzt andere auf der Straße als im Oktober. Jetzt kommen die hervorgekrochen, die gerne treten wenn’s nichts kostet. Ihre Brüder von der anderen Fraktion sind allerdings längst untergetaucht und weit davon entfernt für ihre bis gestern noch ach so feste (und gut bezahlte) „Überzeugung“ einzustehen. Wieder einmal werden die falschen getreten.

Die ganze Revolution ist an dem toten Punkt angelangt, der wohl für jeden derartigen Umschwung unvermeidlich ist: Niemand hat konstruktive Alternativen anzubieten. Es besteht lediglich ein breiter Konsens (eins der blöden Standardworte dieser Tage) darüber, was alles schlecht war und somit – möglichst Knall und Fall – abzuschaffen ist. Zuerst und vor allem natürlich die eigene Unterbezahlung, heißa!

Schlecht war eine ganze Menge. Aber wenn man die Leute jetzt so reden hört, war erstens alles Mist, haben sie es zweitens schon immer gesagt und trifft es sie drittens ganz persönlich und schon immer ganz besonders hart und deshalb reklamiert jeder für sich das Recht, als erster auf den Scheiteln der anderen aus dem Sumpf zu balancieren.

Ganz offensichtlich besteht unser Volk nur noch aus jenen 5 Prozent, die sich bei den Wahlen wirklich GEGEN den „Wahlvorschlag der Nationalen Front“ ausgesprochen hatten (Denn Wahlbetrug oder nicht – mehr waren es wirklich nicht). 19 von 20 waren in diesem Lande Opportunisten oder sowieso dafür – und 18 von diesen 19 wollen es heute nicht mehr wahrhaben.

Damit keine Mißverständnisse aufkommen: Natürlich muß der alte Dreck möglichst schnell weg. Nur ist zur Zeit niemand so recht bereit zur Schaufel zu greifen. Die ganze „Opposition“ stolziert naserümpfend drumherum und palavert darüber, wie schön sie es uns allen machen werden – wenn der Haufen erst mal weg ist, und die SED liegt mit der Nase drin und bekommt sowieso keine Luft mehr.

Apropos: jetzt ist sie endgültig zur Affenpartei geworden und fällt folgerichtig so schnell auseinander, daß die Restgenossen kaum mit dem Zählen der abgegebenen Parteibücher nachkommen. Gysis Hickhack ist nun allen über, den Stalinisten genauso wie den demokratischen Linken. Sie treten jetzt beide aus, und die künftigen Ministerpräsidenten unserer neuen Länder vorneweg. Herzlichen Glückwunsch, Herr Gysi.

Interessant ist in diesem Zusammenhang, daß die Parteibasis wieder einmal nicht an den Entscheidungen beteiligt ist. Honecker hat sie nicht gefragt – und Gysi auch nicht. (Wahrscheinlich überflüssig zu erwähnen, daß ich selbst inzwischen auch die politische Heimatlosigkeit dem Affenkäfig vorgezogen habe, nachdem vor 8 Tagen die Alleingänge der 3 demokratischen „Plattformen“ innerhalb der SED-PDS- Führung abgewehrt wurden, und sich somit meine letzten Hoffnungen auf Spaltung endgültig zerschlagen hatten.)

Für die nächste Zeit kann man nur hoffen, daß die Opposition vor lauter Profilierungssucht nicht endgültig das Land vergißt. Daß sie in die Regierung eintreten wollen ist zu begrüßen. Leider haben sie kaum Fachkompetenz einzubringen. Es ist nun einmal die logische Folge eines Einparteiensystems (die ehemaligen „Blockflöten“ werden so realistisch sein, diesen Begriff mitzutragen, denke ich), daß sich neben viel Dummheit und Karrierismus natürlich auch die gesamte Kompetenz eines Landes in dieser Partei gesammelt hat. Für mich ist beispielsweise undenkbar, daß ein Schwätzer vom Demokratischen Aufbruch in der Lage sein sollte, in diesen Zeiten das Wirtschaftsministerium auch nur annähernd so zu führen wie das unsere „iron lady“ Christa Luft (leider SED-PDS) angeht. Eine knallharte Frau voller Sachverstand und ohne Sentiments, die das Richtige will und es zielstrebig und in der richtigen Reihenfolge anpackt.

Kurz: Solche Leute, die kompromißlos nach vorn schauen, können wir gar nicht genug haben. Aber es ist kaum jemand da. Die Advokaten (Der Herr Staatsanwalt möge mir da verzeihen) sind jedenfalls nicht die neuen Männer, die DIESES Land HEUTE braucht. Und das revolutionäre linke Potential ist durch den Bindestrich-Quatsch mindestens noch bis zur Wahl lahmgelegt.

Aber: Die Hoffnung stirbt bekanntlich zuletzt und vielleicht ist ja doch noch irgendwie die nötige Aufbruchstimmung zu erzeugen. Ein Trost: Entwicklung läuft bekanntlich immer wellenförmig. Also kein Grund zur Panik, wenn man im Tal ist. Interessant sind die Zeiten hier jedenfalls allemal, insofern also volles Verständnis für Judys Wunsch, die Silvesterparty an der Mauer mitzumachen.

Als Trost sei ihr gesagt: Wir wohnen 3 Kilometer vom Brandenburger Tor entfernt und waren auch nicht da. Für richtige Erwachsene wie uns wäre es sicher auch nicht die blanke Sahne gewesen. Nachts halb zwei (auf dem Heimweg von Freunden) prügelten sich Männer in der S-Bahn wegen der deutschen Einheit und auch auf dem Alex (den wir überqueren mußten) ging es recht kulturlos zu. Noch am Neujahrsnachmittag habe ich mir Unter den Linden die Schuhe auf dem Scherbenteppich zerschnitten. Der Übergang von der Edelfete zum Vandalismus muß nahtlos gewesen sein.

Nun kann ich mir denken, daß meine recht profanen Gedanken nicht ganz zu Eurer deutschrevolutionären Begeisterung passen wollen und ich möchte daher abschließend noch einige Bemerkungen zur Rolle der Bedeutung machen:

Wir sind hier mittendrin und uns des Besonderen und der (oft mißbraucht diese Floskel, aber hier durchaus mal angebracht:) HISTORISCHEN BEDEUTUNG der Situation durchaus bewußt. Nur: Wir sind nicht nur beteiligt, sondern auch betroffen und deshalb begeistert uns wie Euch natürlich die Bewegung an sich, nur können wir die Richtung nicht ganz so entspannt betrachten wie das aus Hamburg oder Stuttgart möglich ist. Für uns sind die Dinge nämlich immer sehr konkret.

„Nieder mit der Stasi!“ ist eine feine Losung, und von außen ist alles klar. Für uns sind das aber nicht nur namenlose Verbrecher, sondern beispielsweise auch die Frau meines Freundes, die als medizinisch-technische Assistentin in der Sportmedizin zur Stasi gehörte, als Fachschulkader sogar den Rang eines Leutnants hatte, natürlich jahrelang überbezahlt war – aber jetzt eben erstmal auf der Straße sitzt.

„Nieder mit der SED!“ genauso richtig, aber… (Hier verschone ich Euch mit weiteren Auslassungen, weil ich hierzu schon weiß Gott genug gesagt habe)

„Hoch die Marktwirtschaft!“ mag angesichts des klaren Scheiterns der administrativen Mißwirtschaft für viele eine logische Alternative sein (zumal wenn sie sich in dieser Markt-Gesellschaft seit langem und gut zurechtfinden, worüber ich jedoch als Nachwievorsozialismusbefürworter noch einen streitbaren abendfüllenden Vortrag halten könnte), heißt aber konkret auch, ein Wirtschaftssystem, das bisher auf dem Prinzip der Leibeigenschaft basierte, ohne annähernde materielle Voraussetzungen von einem Tag zum anderen auf Effektivität umzustellen, heißt für uns nun die nie gekannte Gefahr der Arbeitslosigkeit (und zwar unter den Bedingungen eines sozialen Null-Netzes hierfür), heißt, daß wir unsere Wohnung im Zentrum vielleicht bald schon nicht mehr halten können, daß die Versorgung der Alten auf uns zukommen könnte usw usw…

Und nun haltet Euch bitte außerdem vor Augen, daß zwar ungeheuer viel geschwätzt wird, aber letzten Endes mehr als diese 3 Losungen bisher noch von keiner der neuen Bewegungen verkündet worden sind, daß sich die Mehrzahl der Bevölkerung bei uns inzwischen einbildet, die 60 Millionen bei Euch könnten (und wollten) die 15 Millionen bei uns so mit durchfüttern wie sie das mit den 300 000 Übersiedlern gemacht haben – und Ihr werdet eine Ahnung erhalten, wie es hier heute Leuten zumute sind, die nachdenken und rechnen…

Das soll Euch aber keineswegs abhalten, sondern im Gegenteil: Kommt, wann immer Ihr könnt und Klaus wieder gehfähig ist. (Was wollen die Kinder demnächst in Australien erzählen, wenn Ihr in diesen tollen Zeiten nicht mal den Katzensprung nach Berlin gewagt habt.) Wir werden Klaus gern ein wenig unterfassen, wenn er an der Mauer entlanghinkt. Und – ich wiederhole mich – auch wenn gerade mal keine Demo sein sollte, interessant ist es hier allemal, also her zu uns!

Apropos: Gilt EURE Einladung noch? Um gleich mit der Tür ins Haus zu fallen – aufgrund unserer persönlichen „Devisenlage“ in Tateinheit mit dem z.Z. herrschenden „freien“ Umtauschkurs (ca 1:9, d.h. ein Tag gutbezahlte Ost-Arbeit für 6,70 DM) müßtet Ihr nicht nur für zwei Luftmatratzen, sondern auch für unsere Ernährung sorgen. (Aber keine Bange: Paula ißt nicht viel weil sie mäklig ist und ich habe ohnehin Übergewicht).

Ein günstiges Zeitfenster wäre für uns Mitte Mai. Die Kinder haben ab 14.5. eine Woche Frühlingsferien und würden dann zu den Schwiegereltern fahren. Also schreibt mal oder ruft an (Beim Telefonieren aber Vorsicht, siehe oben!) wie Ihr die Sache seht. Wir sind auch kein bißchen sauer, wenn Ihr absagt.

Nun Schluß. Ich lege noch ein paar Bilder bei, damit wir uns in Berlin oder Stuttgart auch wiedererkennen: 3 vom Balaton im August ’89 als wir darüber nachdachten, ob wir nun durch’s Maisfeld krabbeln sollen oder nicht, daher unsere durchgeistigten Gesichter – vielleicht erkennt Ihr den Strand wieder – und 2 von der Mauer am Brandenburger am 12. November ’89 bei unserer ersten „Westreise“. (beide Fotos handmade, aber Ihr braucht nicht lange suchen, da sind wir nicht drauf)

Bleibt also oder werdet gesund,

Viele Grüße auch an Eure Kinder

Euer Frank

(und Paula usw)

Anhang

(Tagebuch von Gerhard H.)

Donnerstag, 21. Dezember

Unser Sozialismus ist erledigt. Die gierigen Alten haben ihn verspielt, wir erben die Spielschulden – und es trifft wieder einmal die falschen.

Mit wieviel Elan sind wir angetreten. Wir waren hochpolitisiert, engagiert, voller Hoffnungen. Und heute? Die 3. Deutsche Generation in Folge, die verarscht wurde. Immer nach dem selben Rezept: Verzichtet ein Weilchen Kinder, es geht um Höheres, um nicht weniger als das Himmelreich auf Erden! Erst muß die Schimmernde Wehr auf die Ozeane / Kanonen statt Butter / Mein Arbeitsplatz – mein Kampfplatz für den Frieden.

Und nun stehen wir da mit unserem Hang zum Höheren. Wieder mal. Gelebt haben inzwischen immer die anderen. Was bleibt für uns, wenn die Träume vorbei sind, wenn im fahlen Morgenlicht die Hoffnungen zerfließen und das Reale, Greifbare Kontur erhält:

Abitur, „Fahne“, Studium, 15 Jahre Arbeit, immer fleißig, immer ordentlich. Was haben Sie erreicht, Herr Diplom-Ingenieur, jetzt wo mindestens Ihr halbes Leben rum ist?

„Neubauwohnung“ (25 Jahre alt, eng, aber immerhin Fernheizung, 68 Quadratmeter zum Leben und 300 Quadratmeter zum Tapezieren), angefüllt mit diversem Hausrat (Versicherungswert 60 000 Mark) einschließlich 2000 Bücher, die Hälfte paperback (was beweist, daß sie wirklich zum Lesen gekauft wurden), einschließlich Kühlschrank und Waschmaschine (beides Hochzeitsgeschenke) einschließlich eines dunklen Anzugs („Exquisit“, Neuwert 800 Mark), einschließlich einer Stereo-„Anlage“ (eine der preiswerten, nur 2 Monatsgehälter), vor der Tür ein Trabant (8 Jahre alt, second-hand, oft kaputt), und – man höre und staune! – ein Farbfernsehgerät, neuwertig, und ein Sparbuch mit 6300 Mark – Ost, natürlich. Alles.

Alles? Aber nicht doch! Neben den profanen Werten befinden sich im Haushalt weiterhin:

Ein Sohn, eine Tochter, 2 Diplome, 9 eigene Patentschriften, ein Telefon (Eigentum der Deutschen Post und Gegenstand nachbarschaftlichen Neides), 2 Aktivistennadeln, 23 Abzeichen „Kollektiv der Sozialistischen Arbeit“, zwei Pionierausweise, sowie bis gestern ein rotes Parteibuch.

Die reale Freizeitmenge beträgt pro Woche etwa 20 Stunden (von 168) und wird zur Hälfte vor dem Fernsehgerät verbracht. Höhepunkt des Jahres sind die 13 Tage gemeinsamer FDGB-Urlaub, in der Regel in einem Betriebsbungalow mit Selbstverpflegung. Wir waren insgesamt 5 Mal auch im Ausland, zweimal sogar mit den Kindern, und neuerdings dürfen wir alle ins „NSW“.

Und noch etwas: Wir sind schrecklich dankbar dafür. Für alles.

Stuttgart, 5.2.90

Lieber Frank !

Ich befinde mich gerade in einem leeren Sitzungssaal des Amtsgerichts in Waiblingen, wohin ich mich zu einer Stunde begeben habe, zu den ich üblicherweise noch Friedens- und anderen Träumen nachzuhängen pflege. Dafür mußte ich mitten durch das Gewühl meiner arbeitswütigen Landsleute, die mit einer an Wahnsinn grenzenden Konsequenz alle zum gleichen Zeitpunkt jene Tätigkeit beginnen, von der sie glauben, daß sie ihnen irgendwann einmal das große Glück bringe und für die sie keinen Aufwand an Gestank und Benzin scheuen. Mit anderen Worten ich saß im Stau. Ja, auch hier gibt es Warteschlangen, vor Ampeln im Morgengrauen, wenn die Hatz nach dem Geld beginnt. Nun hätte sich eigentlich einer jener Mammonsjünger hier dafür verantworten sollen, daß er Privatvermögen und Gesellschaftskapital nicht genügend auseinandergehalten hat. Hier gibt es nämlich die vor allem von manchen Einmanngesellschaftern als störend angesehene Verpflichtung, private Interessen an einer Kapitalgesellschaft zu Gunsten der Gläubiger derselben zurückzustellen, was nicht selten mit den persönlichen Erwartungen hinsichtlich der Leistungsfähigkeit, einer solchen Institution kollidiert, und unsereinen auf den Plan ruft. Der ungetreue Kapitalist hat es jedoch vorgezogen, sich den Attacken eines Staatsanwalts gegen übertriebenen Eigennutz vorläufig zu entziehen. So habe ich bis zum nächsten übermäßigen Nutzer der Gewerbefreiheit, der es mit der Bezahlung von Lieferungen für sein Baugeschäft nicht so genau nahm, noch einige Zeit, um auf Deinen umfangreichen Brief vom 29.1. zu antworten.

Dieses Waiblingen ist übrigens ein Symbol für den ersten namhaften deutschen Widerstand gegen die Anmaßungen einer ziemlich platzgreifenden, gewissermaßen totalitären Doktrin. Von hier kommt der Name der antipäbstlichen (allerdings auch prokaiserlichen) Ghibellinen, an deren Spitze immerhin ein Mann wie Friedrich II. stand, der seiner Zeit im puncto (geistiger) Freiheit um ebenso viele Jahre voraus ging, wie Luther dem Voltaire.

Dein Brief scheint mir anzudeuten, daß Deine politische Depression teilweise behoben ist. Sprachlich bist Du unverkennbar dabei, an vorrevolutionäre Zeiten anzuknüpfen, was hier übrigens, nicht zuletzt von Judi, ziemlich geschätzt wurde (und wird). Sicher hat Dir Dein Schritt, die Sozialistische Einmeinungspartei zu verlassen, geholfen, die Depression zu überwinden. Im freien Wettbewerb wirst Du zwar heimatliche Gefühle nicht so leicht entwickeln können. Und vielleicht geht es Dir wie mir, der sich nie hat entschließen können, um einer Heimat willen auf einen Teil seiner Meinung zu verzichten. Aber vielleicht tröstet Dich die Aussicht auf eine „resultative Heimat“ (Du weißt, daß ich damit das brauchbare Ergebnis ziemlich mieser Voraussetzungen meine). Und in einem Alter, wie wir es haben, noch einmal die große Auswahl beschert zu bekommen, ist vielleicht auch nicht die übelste Lage. (Politische) midlife – crisis – das ist nicht notwendig nur das Begraben alter Hoffnungen. Vielleicht ist es die Chance für einen produktiven Neuanfang.

Möglicherweise wird sich Deine Einschätzung der Amerikaner bei dieser Gelegenheit doch noch ein wenig in die Richtung entwickeln wie meine Meinung über Gorbatschow. Allerdings hat er es mir seit unseren ost – westlichen Seegesprächen eher leicht gemacht (was man aber, so meine ich, damals noch nicht so absehen konnte). Es ist daher kein Zufall, daß ich die Neujahrsbotschaft diesem erstaunlichen Herrn in den Mund gelegt habe. Immerhin sind aber die Amerikaner (+ Anhang) inzwischen auch nicht über den geschwächten „Gegner“ hergefallen, wiewohl sich dieser doch gerade gegen solche Eventualitäten mit „tödlichem“ Aufwand glaubte wappnen zu müssen (was zeigt, dass alles für die Katz‘ war). Statt dessen gab es Malta und trotz Gorbi‘s nicht gerade demokratischer Legitimation eine amerikanische Zurückhaltung, die nicht nur aus der Ruhe dessen zu erklären ist, der die reife Frucht demnächst ohnehin in seinen Schoß fallen sieht.

Unsere Diskussionen an Bord der „Amazonas, so heißt meine Privatjacht, wenn Du Dich daran noch erinnerst, erweisen sich jetzt als so etwas wie eine Vorstufe zu den Gesprächen auf der Maxim Gorki, Schlauchbootklasse statt Luxusliner und zu meiner pazifistischen Freude unbrauchbaren Kriegsschiffen! Wenn das nicht der Wind der Geschichte war!

Übrigens war ich nach unserem Plattenseegipfel in Amerika, wogegen ich mich lange gesträubt hatte. Man kann über den american way of life und darüber, in welchem Umfang Cowboywesen und Showbusiness die Basis einer Kultur abgeben können, so wie auch sonst über die Ami‘s einiges sagen. Aber im punkto politischer Kultur haben wir noch einiges von ihnen zu lernen. Nicht nur, daß sie nicht die schlechteste politische Tradition haben, die politische Freiheit vor den Franzosen hatten, einen Krieg gegen die Sklaverei (wer hätte das sonst!) und gegen die Nazis geführt haben. Zuletzt haben sie sogar ihre Neigung, aus einer leicht neurotischen Angst vor sozialismus-verdächtigem Gedankengut, Politgangster zu stützen, eingeschränkt (Marcos, Duvallier – auch Noriega). Öffentlichkeit und Machtkontrolle dürften wohl nirgends so stark ausgebildet sein, wie in diesem Land, so sehr, daß mir unsere Geheimniskrämerei dort erst richtig deutlich geworden ist (von Eurer bisherigen ganz zu schweigen). Ein unverblümter Weltherrschaftsanspruch läßt sich bei diesem System nicht durchsetzen (was nicht heißt, daß durch die Blume nicht manches möglich ist).

Aber zurück zum Aktuellen. Mit der „deutsch revolutionären Begeisterung“ ist es mittlerweile auch hier nicht mehr so weit her. Ich darf an das Ende meiner „Neujahrsbotschaft“ erinnern, in der ich die Begeisterung bereits auf das letzte Jahr begrenzt hatte. Hier spricht man jetzt mehr über Steuererhöhung, Inflation und Wohnungsnot. Die Klagen über die Folgen des Übersiedlerstromes nahmen unüberhörbar zu. Auch hier sind viele, insbesondere Wohnungs- und Arbeitsuchende, ja sogar Arbeithabende schon „Betroffene“ geworden (ganz am Rande sogar ich – gestern wurde mir mitgeteilt, daß mein nächstes Badminton Punktspiel in einer anderen Stadt ausgetragen werden muß, weil die ursprünglich vorgesehene Turnhalle von Übersiedlern belegt ist. – Du verzeihst die Banalität. aber sie wirft dennoch ein Schlaglicht auf die Situation).

Ich fürchte, daß sich unsere Politiker in einer Sackgasse verfangen haben. Wie ein Kaninchen starren sie auf die immer länger werdende Schlange aus dem Osten und machen sich durch ständiges Wiederholen von immer gleichen Formulierungen (es erinnert fatal an Gebetsmühlen und ist genauso unnütz) selbst Hoffnung, daß sie einmal aufhören werde. Mit Nichten!

Ich bin ja so etwas wie ein Spezialist für Wanderungsbewegungen (damit muß ich mich beruflich am meisten beschäftigen). Daher weiß ich einiges über die Möglichkeiten, solche Migrationen steuern oder eben nicht steuern zu Und deswegen behaupte ich, daß keine der bislang diskutierten Maßnahmen einschließlich Währungsunion und Vereinigung der beiden Staaten die Schlange in den Griff bekommen wird. Da ich davon ausgehe, daß Du Dein „persönliches Devisenkonto“ noch nicht mit dem Kauf des „Wirtschaftsstrafrechts“ belastet hast und in Verkennung der richtigen Prioritäten auch sonst niemand bei Euch dieses bedeutende Werk gekauft hat, darf ich zum „wissenschaftlichen“ Nachweis dieser Behauptung mich selbst zitieren. Der Einleitungssatz zum § 30 „Illegale Beschäftigung“ lautet: „Die unterschiedliche Entwicklung der Volkswirtschaften vor allem in Europa und in deren Folge die Attraktivität des deutschen Arbeitsmarktes für ausländische Arbeitnehmer haben in der Bundesrepublik seit Beginn der 60 – er Jahre zur Entstehung eines ständig wachsenden grauen und schwarzen Arbeitsmarktes geführt“. Diese unterschiedliche Entwicklung ist ein Faktum, das sich kurzfristig nicht beseitigen lässt. Und wenn wir schon den Strom der Jugoslawen, Türken, Polen, Asylanten etc. nicht in den Griff bekommen, obwohl wir hier rechtliche Möglichkeiten haben, umso weniger den Strom aus der DDR, den wir mit allen möglichen Zutaten auch noch verstärken. Die Behandlung der Deutschen aus der DDR (und möglichst auch noch aller anderen Personen jeglicher Provenienz, die irgendwann einmal eine deutsche Großmutter hatten) wie Deutsche, die hier gelebt und gearbeitet haben, mag zur Zeit politischer Not im Osten gerechtfertigt gewesen sein. Bei offenen Grenzen wird dies absurd. Wir sind auf dem besten Wege, ein zweites Mal mit Pangermanismus (und den dazugehörigen Ahnenforschungen) Unsinn zu treiben. Mancher kann bereits erfolgreich auf den Stammbaum zurückgreifen, der vor 50 Jahren unter anderen Vorzeichen gepflanzt wurde. Das Aufrechterhalten einer einheitlichen Staatsbürgerschaft etc. einschließlich aller Rechte (z.B. Renten), war ja nicht zuletzt auch ein Kampf – und Propagandainstrument des Kalten Krieges. Jeder Flüchtling wurde als Beweis für die Unterlegenheit Eures Systems begrüßt. Und – ich will nicht ungerecht sein – das Instrument hat zuletzt seine Wirkung nicht verfehlt (wiewohl es anderseits in Ungarn und Polen auch ohne dieses ging). Aber wer hatte je daran gedacht, daß dem Kampfinstrument ein voller Erfolg beschieden sein würde, wer hatte für diesen Fall vorgesorgt? Man könnte fast sagen, die Erfinder dieses Systems, waren davon überzeugt, daß die Mauer nie fallen und Polen und Russen die „Deutschen“ ewig festhalten würden. Jetzt tanzen die Besen und wo ist der Meister, der die Geister bannt, die wir riefen?

Um es kurz zu machen: ich sehe keine andere Lösung als die, Grenzen für den Zeitraum einer Übergangsregelung wieder partiell zu schließen. Man kann zwei Wirtschaftssysteme von so unterschiedlichem Stand nicht von heute auf morgen aufeinanderprallen lassen. Die Systeme müssen nach einem wohlüberlegten Stufenplan schrittweise aneinander angeglichen werden. Und für die Zwischenzeit – ich denke 5 bis 10 Jahre – wird man das Recht der Freizügigkeit (nicht des Reisens) einschränken müssen. Das klingt hart nach all den Kämpfen, die man dafür geführt hat und ich fürchte, daß unsere Politiker nicht rechtzeitig in der Lage sein werden, diesen Standpunkt öffentlich zu vertreten. Aber es sollte doch möglich sein, diese Notwendigkeit, gepaart mit Soforthilfemaßnahmen, zu vermitteln. Übrigens müßte zu den Sofortmaßnahmen die Abschaffung der 49 % Regelung für ausländische Kapitalbeteilungen gehören. Nichts gegen die Eiserne Christa, aber diese Regelung zeigt wenig Einsicht in die Gesetzmäßigkeiten des Kapitalverkehrs. Das müßten schon ziemlich verschlafene Kapitalistenhunde sein, die sich damit hinter dem marktwirtschaftlichen Ofen hervorlocken ließen. Schließlich haben die 51 % bislang so viel Übung im effizienten Wirtschaften nicht gezeigt. Es wäre übrigens auch einmalig in der entwickelten Welt – ähnliche Regelungen gibt es nur in Entwicklungsländern.

Ja, lieber Frank. Du siehst, daß ich eine lange Sitzungspause hatte – der zweite Wirtschaftsübeltäter ist auch nicht erschienen – und so hatte ich mal richtig Zeit zum Fabulieren. Ich will aber nicht die von Dir angesprochenen „technicalities“ vergessen, obwohl sie eigentlich keiner Erwähnung bedurften. Wir sind zwar im Kapitalismus und hier herrschen die harten Gesetze des Marktes. Aber unseren Gästen stellen wir nur ganz ausnahmsweise eine Rechnung aus. Außerdem erwarten wir, daß sie weder mäkelig sind noch ihre Abmagerungskur hierher verlegen- m.a.W ihr seid zum genannten Zeitpunkt hier herzlich willkommen – übrigens auch mit Kindern. Allerdings haben unsere Kinder in dieser Woche keine Ferien und ich werde wohl auch werktätig sein müssen. Das macht aber nichts. Übrigens werde ich in der Woche nach Pfingsten vermutlich auf Konzertreise in der DDR sein und in der Woche davor wird möglicherweise toute la famille einen Ausflug mit Campingbus nach Drüben machen.

Schluß und Gruß

Klaus

Stuttgart, 10. 2. 1990

Lieber Frank,

kürzlich bekam ich eine Ohrfeige – oder war‘s die Schamröte? Jedenfalls hatte ich rote Backen.

Ich stand gerade mit meinem Bus vor dem Bahnhof, wohin ich mich nach der Arbeit begeben hatte, um meinen Brief vom 5.2. beim Spätschalter abzugeben, da begann im Radio ein Bericht darüber, daß der amerikanische Oberhäuptling vor Manövertruppen irgendwo draußen in der Prärie reichlich auf den Busch geklopft habe. Man werde die Angriffsfähigkeit der amerikanischen Truppen nicht nur erhalten, soll er gesagt haben, sondern sogar noch steigern. Erstaunlich war vor allem die Begründung: Während NVA – Soldaten schon um Brot bei der Bundeswehr anklopfen, sieht der Herr des Weißen Hauses in aller Unschuld – wahrscheinlich weil sein Haus weiß ist – eine unverminderte Gefahr, gegen die man sich wappnen müsse. Oh Amerika – noch habe ich den Schlegel in der Hand, mit dem ich die Werbetrommel für Dich gerührt habe, da fällst Du mir meuchlings in den Rücken. Indianerspielen mitten in diesen Umwälzungen!?

Ich habe den Brief dennoch eingeworfen und er ist, wenn ihn die Reste der Stasi nicht für zu gefährlich für den Staatsrest angesehen haben, der bei Euch noch existiert, wohl mittlerweile bei Dir angekommen. Denn, so meine Hoffnung, die Gefahr bestand vielleicht doch nur in der Wüste von Neumexiko und der Oberbefehlshaber war mit seiner Rede möglicherweise im (diplomatischen) Manöver, wo man ja generell Nichtvorhandenes als Gegebenes ansehen muß.

Inzwischen ist die Röte in meinem Gesicht wieder etwas gewichen. Ich hörte Ausschnitte aus einer Debatte im US – Congress. Du wirst es vielleicht nicht glauben, aber da fragten weißhaarige US-Senatoren sarkastisch, wo denn der Feind sei, gegen den man all die Soldaten in Europa benötige. Vielleicht hat Dich meine bisherige Antwort auf die Frage, wer die Amerikaner dazu bringen könne, ihren Weltherrschaftsanspruch aufzugeben, nicht befriedigt. Die richtige Antwort lautet: die Opposition. Denn ein Gesetz gilt in unseren Parteidemokratien mehr als jedes andere: Wichtiger als alle Macht eines Landes ist die Macht im Land.

Bald werdet ihr ja Erfahrungen mit mehreren Parteien sammeln können. Allerdings scheint es, daß man Euch eigene Erfahrungen weitgehend ersparen (oder besser: erst gar nicht ermöglichen) will, nachdem unsere Parteien dabei sind, die Dinge bei Euch in den Griff zu nehmen, wobei sie auf den „Blockflöten“ für meinen Geschmack ziemlich unreine Töne erzeugen. Ich hoffe, daß das Wahlecho ebenso schmuddelig ist. Es zeugt nicht gerade von viel Gespür für die „revolutionäre Lage“ in der DDR, wenn unsere Parteien auf diese Pfeifen setzten – nur wegen der vorhandenen Parteiorganisation und den gleichen Namen. Was hat die Ost-CDU mit der hiesigen CDU und was die LDPD mit der FDP zu tun gehabt? Ich wüßte, wem die Schamröte ins Gesicht steigen müßte! Da hast Du gleich eine Kostprobe von der Art, wie hier Politik gemacht wird. Hoffentlich kippt ihr das politische Kind nicht mit dem sozialistischen Bad aus und erhaltet Euch etwas von dem (neuerworbenen) Elan, mit dem ihr Euren Bonzen auf die Finger geklopft habt. Denn davon könnt ihr, wie es aussieht, auch in der Zukunft noch einiges gebrauchen.

Im übrigen hatte ich immer die Hoffnung, daß davon ein wenig auch zu uns herüberschwappt. Unsere Verhältnisse, die ja möglicherweise bald die Eurigen sind, kommen auf der Folie Eures Konkurses zur Zeit etwas zu gut weg. So wie sie früher zu schlecht weg kamen. Berghofer hat hier gegenüber einer Zeitung erklärt, Zweifel am Sozialismus seien ihm erstmals 1986 gekommen. Damals habe er seine erste Westreise nach Essen gemacht, was wie ein Schock auf ihn gewirkt habe. Offenbar hatte er zerlumpte Proletarier und heruntergekommene Städte erwartet. Er fand eine blühende Stadt – weiß Gott nicht die schönste. Kann es wirklich sein, daß man bei euch trotz Westfernsehen so wenig von der Wirklichkeit wahrgenommen hat? Kann Propaganda so den Blick verstellen? Da kann einem geradezu das Fürchten kommen. Was nehmen wir alles nicht wahr?

Schluß für heute

Gruss

Klaus

Stuttgart, 14.2.1990

Lieber Frank,

während Konkursverwalter Modrow in Bonn 10 bis 15 Milliarden einfordert, so als hätte Bonn (eine) Masse( – )Schulden gegenüber dem Konkursifex (irgendwie passt das nicht ins Konkursrecht), habe ich heute 400 km rheinaufwärts in Freiburg (also gewissermaßen an der Basis des deutschen Flusses) vier Stunden vor Polizeibeamten über Probleme des illegalen Arbeitsmarktes gesprochen. U.a. ging es auch darum, welche Probleme wegen der Umwälzungen im Osten auf uns zukommen – es kommt einiges! Es sind ja nicht nur die Übersiedler. Auch die, die nicht „rübermachen“, werden versuchen, hier „etwas“ dazu zu verdienen. Die Absurdität der Situation hat z.B. bei den Polen dazu geführt, daß sie wie die Stare zur Weinernte eingefallen sind, um sich in drei Wochen ein Jahresgehalt zu verdienen. Lehrer, Ingenieure und Doktoren waren dabei, die wochenlang im Polski-Fiat übernachteten und statt zu essen eine Traubenkur machten. Und da gibt es natürlich hier genügend Leute, die ihren illegalen Nutzen daraus ziehen. Die Folge: „revolutionäre“, d.h. (chaotische Verhältnisse auf unserem Arbeitsmarkt, der aus sozialpolitischen Erwägungen eigentlich nur in sehr begrenztem Umfang dem freien Spiel der Kräfte unterliegen sollte.)

Nach dem Vortrag hatte ich Zeit, meinen Leidenschaften nachzugehen. Ich setzte also meine Nachforschungen über den deutsch – deutschen Musikschriftstellerstreit, den ich in meinem Brief vom 16.1. erwähnte, fort (das Buch, das ich suchte, gibt es in der ganzen Bundesrepublik nur hier – wie passend!). Und jetzt sitze ich, nachdem ich noch zwei nach dem Zufallsprinzip ausgewählte Vorlesungen an der Uni gehört habe, im Lesesaal der Uni- Bibliothek (es gehört zu meinen Leidenschaften, in Lesesälen von Bibliotheken zu sitzen). Vor mir liegt das alte Kollegiengebäude aus dem Anfang dieses Jahrhunderts, auf dessen Fassade in riesigen goldenen Lettern steht: „Die Wahrheit wird Euch freimachen“ (auch nicht unpassend); im Hintergrund der Schwarzwald in düsteren Wolken, Sturm und Regen gehen darüber hinweg und doch ist es unwinterlich mild – ein deutsches Wetter in diesem Tagen.

Ich habe vorhin eine juristische Vorlesung über Notwehr, Nothilfe und Notstand gehört, also darüber, unter welchen Voraussetzungen bestehende Rechte gebrochen werden dürfen, gewissermaßen also über die „individuellen Revolutionsrechte“. Der Professor sprach dauernd von einem Unhold, der mit einem Mastino politano in der Gegend umherläuft und damit junge Damen bedroht, die nur einen Regenschirm mit sich tragen – auch passend.

Die andere, philosophische Vorlesung befasste sich mit Francis Bacon und der Geburtsstunde des Kapitalismus – sehr passend. Ich habe dazugelernt, daß in seiner Zeit das Patentwesen in England eingeführt wurde. Die ursprüngliche Absicht war, den Unternehmungsgeist des Volkes zu stimulieren. Daraus geworden ist der Unternehmergeist und sein Drang, Monopole zu erlangen. Der puritanische Wirtschaftsgeist (durch Schaffen im Schweiße deines Angesichtes kannst du einen Teil des verlorenen Paradieses wieder wettmachen) tat ein übriges, um den Kapitalismus zu begründen. Und zur gleichen Zeit ist – offensichtlich kein Zufall – nach einer Revolution auch noch die parlamentarische Demokratie entstanden. Kommt Dir das nicht irgendwie bekannt vor? Ihr holt gerade die Entwicklung des englischen 17. Jahrhunderts nach! (das bestätigt Deine ironische These, daß ihr gerade beim Übergang vom Feudalstaat zur bürgerlichen Revolution seid!).

Da ist natürlich die Frage zu stellen, ob Du Deine Chancen schon ausreichend geprüft hast, Dich vom „Leibeigenen“ zum Unternehmer zu verwandeln. Die Zeit ist jetzt reif dafür, vor uns, besser Euch, liegen Goldgräber- und Gründerzeiten. Schließlich sind Deine Voraussetzungen nicht schlecht. Ich weiß zwar nicht, was Du genau machst beruflich (war ja bis jetzt alles geheim). Aber zumindest historisch liegst Du voll im Trend. Wie gesagt: erst kommen die Patente, dann das Unternehmertum (du hast doch Patente, wie ich Deinem Manuskript entnehme, das dem letzten Brief beigelegt war). Und bürgerliche Revolution sowie parlamentarische Demokratie bekommst Du noch dazugeliefert.

Übrigens – Spaß beiseite – ich würde das tatsächlich einmal prüfen. Geld scheint es ja demnächst fast auf der Straße zu geben, was nicht so bleiben dürfte.

Allerdings solltest Du es nicht so weit treiben, wie ein Landsmann von Dir, den ich vorgestern, wieder in Waiblingen, zu verarzten hatte (wie passend – ich komme sonst höchstens alle halbe Jahre dorthin). Der hat es mit der Befreiung der „Leibeignen“ etwas übertrieben und hat kurzerhand alle seine Arbeitnehmer zu selbständigen Unternehmern gemacht, mit der praktischen Folge, daß man dann keine Lohnsteuern und Sozialabgaben für sie abzuführen und auch sonst keine Arbeitgeberpflichten einzuhalten braucht. Und um das Arbeitgeberparadies vollständig zu machen, hat er seine Leute auch noch an die Großindustrie verliehen und dadurch die Investitionen gespart. Das ist die Quadratur des kapitalistischen Kreises: Arbeitgeber sein, ohne Pflichten, ohne Risiko und ohne Betrieb. Ich habe dafür einen Begriff geprägt, auf den ich das „Patentrecht“‘ habe: „Beschäftigungsdreieck“. Bloß, daß ich damit nichts verdienen kann.

Wir Staatsanwälte sind halt im Kapitalismus allemal die Verlierer. Mein Kollege Bacon – er war Generalstaatsanwalt von England – unterlag den Verlockungen des Kapitals. Offenbar hat ihn seine Beteiligung an der Erzeugung des großen Geldes – er war auch Vorsitzender der Patentkommission – schwach gemacht. Jedenfalls ließ er sich bestechen und verlor seinen Job (allerdings hatte er dadurch die Zeit, gute Bücher u.a. über die induktive Denkmethode zu schreiben). Bist Du unbestechlich, wie ich, verdienst Du nichts. Du hast keine Zeit, gute Bücher zu schreiben und kannst induktive Moraltheorien allenfalls in Briefen entwickeln. Und schließlich kannst Du auch nicht auf eine Angleichung Deines Lohnes an die allgemeine kapitalistische Entwicklung hoffen, weil Dein Arbeitgeber das Geld zum Aufbau des Kapitalismus in der DDR braucht.

Passend?

Grüsse an Alle

Klaus

Wandlitz 15.2.90

Lieber Klaus!

Vielen Dank für Deinen Brief vom 30.1.. Wir sind hier für eine Woche Kurzurlauber in einem kleinen Ferienheim der Dewag (Paulas Betrieb) – 250 Mark Vollpension für uns vier – eine der typischen Errungenschaften und in diesem Falle eine der „positiven“. Leider wird des das letzte Mal sein, denn in Zukunft soll alles hier „kostendeckend“ und damit für uns unbezahlbar werden (Man spricht ganz offiziell vom 8-10-fachen). Die Kosten sind vor allen deshalb so hoch, weil das volkseigene und damit praktisch herrenlose Betriebsgeld bisher hier wie überall mit vollen Händen ausgegeben wurde und niemand daran dachte, die Mittel etwa „effektiv“ auszugeben. So kommt es, dass für dieses (wirklich schöne) Heim mit etwa 40 Betten allein 3 Reihenhäuser für das Personal errichtet wurden und in unserem Arbeitskräftemangelstaat sich hier die Angestellten fast tottreten – einer ist allein für die Kellersauna zuständig, die zwei- bis dreimal pro Woche für ein paar Stunden genutzt wird.

Dass für den Dewag – Direktor hier immer ein Appartement freigehalten wurde, muß wohl kaum extra erwähnt werden (Seit der Wende ist es angeblich zur freien Verfügung des Feriendienstes, aber – Oh Wunder – bis jetzt steht es als einziges Zimmer leer.)

Die berühmte „Waldsiedlung“ befindet sich nur zwei Kilometer von hier. Leider sind wir für die offiziellen Führungen um 10 Tage zu spät gekommen und sind ein wenig traurig darüber, denn wenn auch keinerlei Sensationen dort drinnen (jetzt) zu erwarten sind, hätten wir doch gern den Enkeln darüber berichtet.

Nun zu Deinem Brief: Zu meinem Werk ist zu sagen, dass das Manuskript abgeschlossen ist und auch der „Bruder“ Klaus darin einigemale zu Wort kommt und zwar als der Briefe – ohne – Antwort -Schreiber. Deine Gedanken haben mir da sehr geholfen (die Passagen zur französischen Revolution habe ich fast wörtlich übernommen, in dem guten Glauben an Dein Einverständnis) und sollte das ganze jemals gedruckt werden, gebe ich einen aus. (Nächste Woche soll ich beim 1. Verlag zurückfragen.)

Du gehst sehr ausführlich in Deinem Brief auf die Sozialismus – Kapitalismus – Problematik ein und ich will Dir gern darauf antworten, zumal es hier einen sehr engen Zusammenhang zur gegenwärtig dominanten Deutschen Frage gibt, um die ich mich – trotz anderer Ankündigung – bisher herumgedrückt habe. (Sie wird auch im Buch, das in der Weihnachtswoche abschließt, praktisch nicht diskutiert.)

Inzwischen ist es möglich, wieder einigermaßen nüchtern zu analysieren, was uns denn in den letzten Monaten wirklich „passiert“ ist und ich habe auch noch rotes Selbstvertrauen genug, diese Analyse frech auf der Basis des dialektischen und historischen (Marx´schen) Materialismus zu versuchen:

Dabei will ich es mir einfach machen und jetzt nicht darüber richten, welche konkreten Mechanismen dazu geführt haben, dass es möglich war, in allen „sozialistischen“ Ländern Millionen wirklich gutwilliger Genossen jahrzehntlang zu verarschen und erfolgreich zu missbrauchen. Es sei an dieser Stelle nur angedeutet, dass die meisten dieser Länder vor dem Real Existierenden Sozialismus faschistisch (wie Ost-Deutschland, Polen, Bulgarien) oder feudalistisch (wie Russland und die asiatischen sozialistischen Länder) geprägt waren. Leute, die in der DDR leben, sind weit über 70 Jahre alt, wenn sie Demokratie noch bewusst erlebt haben. Alle anderen kennen die Nicht-Diktatur nur aus dem Fernsehen und haben darüber ebenso nebulösen Vorstellungen wie über die Waschkraft des Weißen Riesen. Aber, wie gesagt, dies sollte mein Thema auch gar nicht sein.

Für unsereinen war es bisher ungeheuer schwer, Klarheit über die Rolle unserer Gesellschaft zu gewinnen, da praktisch keinerlei oppositionelle Literatur verfügbar war (und die oberflächlichen TV- Statements der Westkanäle keine fundierten Zeitungskommentare oder gar politwissenschaftliche Literatur ersetzen können.). Deshalb beispielsweise der Heißhunger des Herbstes ´88 nach dem schließlich verbotenen „Sputnik“. Nach der Wiederzulassung vor acht Wochen hat er heute kaum irgendwelche Brisanz für uns und ist das wer eigentlich schon immer war: Ein recht hübscher Digest der sowjetischen Presse, mit einigen interessanten Beiträgen zu Politik und Geschichte. Vor der Wende aber war er das einzige Presseerzeugnis, das ab und an einen Beitrag brachte, der mittelbar auch unsere Verhältnisse kritisierte.

Kurz: Analyse der eigenen Gegenwart ist für Autodidakten schon schwierig genug. Bei uns aber fehlte gar das „Lehrmaterial“. Man musste sich seine Kenntnisse sogar noch selbst (zu) erarbeiten (versuchen). Jedes halbwegs brauchbare Papier war da hochwillkommen. Für mich hatte das Buch von Prof. Woslenski über die „Nomenklatura“ eine immense Bedeutung, das ich vor einigen Jahren in die Finger bekam. Ich fand hier (geschrieben aus der mir vertrauten Sicht der Marx´chen Dialektik) einen Gedankenrahmen, in den alle meine selbst erarbeiteten Erkenntnisse wunderbar hineinpassten. Bis zu unserer Revolution war ich allerdings immer noch in der Rolle eines Atheisten befangen, der bis zuletzt hofft, Gott möge sich ihm doch noch offenbaren. Der Abschied von den eigenen Illusionen ist doch einer der schwersten.

Heute kann ich mich als von Lenin verarschten Marxisten bezeichnen. Das Problem des Real Existierenden Sozialismus bestand offenbar wirklich darin, dass er eine Mischung feudaler Machtstrukturen mit sozialistischer Ideologie bildete. Wenn man bereit ist, zuzugeben, dass die Oktoberrevolution Lenins im Grunde nichts anderes als der Putsch einer Kaste von „Berufsrevolutionären“ war und im Sinne des dialektischen und historischen Materialismus also das konterrevolutionäre Element in der Russischen (bürgerlich-demokratischen) Februarrevolution bildete – die als einziges damals wirklich aufgrund der Entwicklung der Produktivkräfte auf der Tagesordnung stand – wird alles weitere so ziemlich transparent: Dies seitdem installierten neofeudalen Strukturen mussten nach der Marx´schen Logik irgendwann die endgültige Grenze der Produktivkraftentwicklung erreichen und sich der kapitalistischen Produktionsweise als unterlegen erweisen. Die Folge ist eine bürgerlich – demokratischen Revolution (bzw. ihr 2. Anlauf) mit dem Ziel die bürgerlichen Freiheiten und die Marktwirtschaft einzuführen. Und genau das erleben wir nun auf unseren Strassen. Speziell für Deutschland kommt noch hinzu, dass zwei bürgerliche Staaten eines Volkes hinderlich wären, und so ist der Ruf nach Einheit (zumindest bei uns) vollkommen logisch.

Es wird also unweigerlich zu einem einzigen Deutschland nach dem Muster der Bundesrepublik kommen müssen, und im weiteren dann zu einem vereinigten kapitalistischen (!) Europa. Und den Marxisten wird nichts anders übrig bleiben, als diese Entwicklung zu begrüßen.

Es bleibt die Frage nach der roten Perspektive. Nach Marx weitergefolgert wird es so lange keinen Sozialismus geben, bis der Kapitalismus seine immensen Potenzen wirklich ausgereizt hat und das wird sicher noch eine ganze Weile dauern. Aber dann…. Wahrscheinlich kommt die sozialistische „Revolution“ ganz allmählich daherspaziert, indem der sozialstaatliche Charakter sukzessive zunimmt und auch die Vergesellschaftung der Produktion, so dass die Ausbeutungsrate abnimmt (bis jetzt steigt sie ja immer noch).

Es gibt allerdings ein entscheidendes Problem. Das bürgerliche Gesellschaftsmodell mag für Europa, Japan, die USA und noch einige Staaten gut funktionieren – für 6, 8 oder gar 10 Milliarden Menschen ist es untauglich, ja es funktioniert offenbar sowieso nur deshalb so gut, weil der größte Teil der Welt – aus vielschichtigen Gründen / hier habe ich übrigens damals bei Dir eine Reihe interessanten Aspekte kennen gelernt, insbesondere zum Ausbeutungsmechanismus in der 3. Welt und der Rolle der einheimischen Führung / übrigens (wahrscheinlich wegen der gemeinsamen feudalen Grundstrukturen) nicht selten kaum von der Rolle unserer „Arbeiterführer“ abweichend – daran nicht teil hat und die (nach Marx) ausgebeuteten Klassen der kapitalistischen Industrieländer ihrerseits kräftig an der Ausbeutung der „Klassenbrüder“ in der 3. Welt teilhaben (in den Industrieländern verwischen sich damit natürlich die Klassenkonturen). Nicht umsonst sind bei Euch die Bananen billiger als einheimische Äpfel.

De facto gilt dies auch bezüglich Osteuropa und der DDR. Selbstverständlich liegt es an unserem unfähigem Wirtschaften, wenn der DRR- Außenhandel im Mittel (!) für 4 Mark Aufwand 1 D- Mark einspielte. Aber wenn der Bundesbürger für den Arbeitslohn einer Arbeitstunde ein im Osten hergestelltes Produkt erwirbt, das man beim besten Willen nur in 6 oder 8 Stunden herstellen kann, hat er ja wohl an der Ausbeutung kräftig teil, oder ?. Der Schnitt verläuft also heute weniger zwischen den „Klassen“ eines Landes als vielmehr zwischen ausgebeuteten und ausbeutenden Völkern, wobei die Führung der ausgebeuteten Völker die mieseste Rolle spielt.

Vielleicht ist hier wirklich der Punkt wo (im nächsten Jahrhundert) die von Dir zitierte Moral einsetzen muß, den ich kann mir wohl 10 Milliarden glückliche und satte Menschen vorstellen, aber nicht 5 Milliarden private PKW, 5 Milliarden „Häuschen mit Garten“ usw.

Das kommunistische Prinzip „jedem nach seinen Bedürfnissen“ kann – wenn überhaupt – nur dann funktionieren, wenn die Menschen von ihren bescheuerten bürgerlichen „Denver – und Dallas – Bedürfnissen herunterkommen. Freie Bahn also der (kommunistischen ??) Moral!

Ich glaube, dass der Sozialismus (und seine Arbeits- und Lebensprinzipien) nicht tot, sondern noch gar nicht geboren ist. Seine Ideologie war und ist jedoch schon weit verbreitet (nicht zuletzt, weil die menschlichen Gesellschaftsideale seit Jahrtausenden immer ungefähr gleich sind). Das bringt den Vorteil, durch eine starke linke Bewegung auch in der bürgerlichen Gesellschaft immer schon mal ein starkes sozialistisches Element einzubringen, birgt aber gleichzeitig die Gefahr, dass jede antikapitalistische Bewegung gleich als „sozialistisch“ verkauft werden kann (und feudale Gesellschaften sind nun mal leider auch antikapitalistisch).

Der Kapitalismus wird jedenfalls irgendwann an seine Grenzen stoßen und dann von der Masse der Menschen nicht mehr akzeptiert werden. Wie sich dieser Übergang zum Sozialismus dann vollziehen wird, sei dahingestellt. Ganz sicher jedoch nicht, indem irgendwelche rote Garden in Lenin´scher Manier die Bahnhöfe und Telegrafenämter besetzen. Es wird ganz sicher auch ein Kontinente umfassender Prozess sein, denn solange noch Nationalstaaten alter Prägung existieren, hat der Kapitalismus seine Potenzen noch lange nicht ausgereizt. In diesem Sinne erfüllt sich dann auch die Marx´sche Prognose von der Weltrevolution (eine These, mit der sich die Bolschewiki in Russland sehr schwer taten. Lenin musste extra eine neue Revolutionstheorie erfinden, um diesen Widerspruch zu lösen).

In diesem Zusammenhang noch einige Sätze zur Planwirtschaft: Ich entnehme Deinen Briefen, dass auch Du – fast ohne Nachdenken / und ich meine dies nicht als Vorwurf – die These von dem Gegensatz von Marktwirtschaft und Planwirtschaft (selbstverständlich mit dem Nachsatz, das erste System hätte seine Überlegenheit, das zweite seine Untauglichkeit bewiesen) übernommen hast. Ich möchte aber ausdrücklich darauf hinweisen, dass hier ein Wirtschaftsprinzip ebenso wie eine ganze Gesellschaftsordnung durch ein System in Misskredit gebracht wurde, das den Namen unberechtigt ursurpiert hatte.

Wir hatten in den sozialistischen Ländern Marktwirtschaft ! (und haben sie noch). Bei uns wurden Waren produziert, die auf einem Markt realisiert werden mussten. Es erfolgte ein Austausch von Werten, es gab und gibt Ware-Geld Beziehungen usw.

Die Tatsache, dass in den (meisten) sozialistischen Ländern die primitivsten finanztechnischen Regeln verletzt wurden, um durch die damit entstehende Mangelwirtschaft die Ausbeutung zu erhöhen, dass willkürlich Monopol (!) Preise festgelegt wurde, dass unfähig Leute in Chefetagen aufsteigen konnten, dass ständig in die Betriebe aus politischem Schwachsinn hineinadministriert wurde, dass …, dies alles führt zwar zu Misswirtschaft, macht doch aber bitte schön noch keine Planwirtschaft aus.

Sicher es gab eine staatliche Plankommission, es wurden für Betriebe Jahres- und sogar Fünfjahrespläne aufgestellt. Aber wenn man bedenkt, dass praktisch die ganze Wirtschaft der DDR einen einzigen großen Konzern bildete (mit G. Mittag als Direktor und dem Politbüro als Aufsichtsrat), ist dies mehr als logisch. Nichts anderes – nur besser – machen westliche Unternehmen. Bei uns trug es aber immer den Charakter der Mängelverwaltung und die aufgestellten Pläne wurde ohnehin nicht eingehalten. In der Regel stimmten nicht mal die Bilanzen am Jahresanfang – vom Dezember ganz zu schweigen. Kurz: Unserer sogenannte Planwirtschaft war ein (schlecht organisiertes) Kartensystem wie es andere Gesellschaftssysteme in Krisen – d.h. Kriegszeiten auch manchmal anwenden. Mit sozialistischer Planwirtschaft, die als Hauptaufgabe ja die Verhinderung von Überproduktionskrisen hat (und daher später auch einmal unverzichtbar wird), hat unser Quatsch wirklich nur den Namen gemein. De facto gab es hier eine schlechte sozialistische Marktwirtschaft (mit einem bedauernswerten Markt).

Nun ist es natürlich bitter, eine jahrzehntelange Entwicklung – für die sich viele gerade auch unter Hintanstellung persönlicher Interessen eingesetzt haben – als im Grunde reaktionär zu erkennen. Es bleibt aber Trost und Hoffnung für die Zukunft, denn erstens sind tatsächlich einige vorsozialistische Errungenschaften bei uns erreicht worden (und haben kräftig auch auf den Westen ausgestrahlt) und zweitens hat auch der Real Existierende Sozialismus als Buhmann zumindest den westlichen Einigungsprozeß unfreiwillig aber kräftig unterstützt.

Nur haben leider die Falschen das Menü bezahlt. Dabei haben wir in der DDR noch die größere Chance, dass wir uns an das Ende des gedeckten Tisches noch mit ransetzen dürfen (ich hoffe der Herr Bundeskanzler wird im Blick auf eine gesamtdeutsche Wahl im Dezember seinen Geiz vom 14. Februar noch überwinden und für uns ein paar Teller aufdecken lassen). Die Polen, die Ungarn, Rumänen usw. und vor allem die Sowjets haben da eine unvergleichlich traurigere Zukunft vor sich.

Mit diesem optimistischen Schluss verabschiede ich mich für heute.

Grüße an Judy und die Kinder

Dein Frank

PS Nach Redaktionsschluß fand ich noch einen Artikel von Helga Königsdorf, der alles viel besser ausdrückt als ich es selbst formulieren könnte. Ich lege ihn bei.

Briefe aus der Wendezeit – Teil 2

 

Stuttgart, 16.1.1990

 Lieber Frank, 

die Diskussionen. die z.Zt. bei Euch und über Euch stattfinden sind wirklich aufregend. So will ich Dir denn spontan noch über meine Eindrücke schreiben von einer Diskussion, die ich bis eben gerade (1.15 Uhr) im Fernsehen mitverfolgt habe. Sie fand in Potsdam mit den meisten Leuten Eurer neuen Politprominenz statt. Wie anders sieht eine solche Diskussion als bei unseren Politikern aus. Man hat bei unseren Diskussionen meist den Eindruck, daß sie nach vorgestanzten Schablonen verlaufen. Politprofis geben in glatten Formeln ihre Statements ab, die schon duzende Male durchgekaut sind. Sie variieren nur die Grundmuster, je nach dem Gegenstand, um den es geht. Die Diskussion bewegt sich nicht und sie bewegt nichts. Sie dient hauptsächlich dazu, sich zu präsentieren, gut auszusehen und längst beschlossene immer gleiche Positionen fest- und dem Publikum einzuhämmern. Seine Meinung zu ändern, eine gegnerische Position anzuerkennen, zuzugeben, daß man etwas dazugelernt hat, gilt als Unsicherheit, die man fürchten muß, wie den politischen Teufel. Um Himmels willen aber darf eine politische Gruppierung nicht uneinig erscheinen (Ausnahme: Die Grünen). Und so herrscht der aberwitzige Drang, sich anzupassen, seine Eigenständigkeit zu verleugnen und sich stromlinienförmig zu machen. Ich frage mich immer, welch seltsames Bild diese Leute von denen haben müssen, denen sie sich nur als eine einige Gruppe glauben präsentieren zu können. Und welches Bild haben sie von sich selbst, wenn sie sich in einer solchen Rolle wohlfühlen, womit ich nichts gegen den pragmatischen Vorteil einer abgeschlossenen Diskussion sagen will. Vielleicht kommt Dir diese Beschreibung unseres Politikerverhaltens bekannt vor. Die extremste Form davon, habt ihr .ja gerade hinter Euch.

Ganz anders die Diskussion, die ich eben verfolgt habe. Die Diskutanten sind zum erheblichen Teil noch ungeübt. Sie ringen mit den Worten und Gedanken, sie geben auch Positionen zu, die eine andere Gruppierung hat, modifizieren ihre Position, stellen Fragen, allerdings auch wenig sinnvolle, zeigen Ratlosigkeit. Als Zuhörer hat man das Gefühl, man könne an einer solchen Diskussion selbst teilnahmen, könne etwas bewegen und das bewegt einen selbst (bei hiesigen Diskussionen schaltet man bald ab). Das Ganze erinnert mich sehr an die tastenden Versuche der französischen Revolution, neue Gesellschafts- und Verfassungsmodelle zu entwerfen. Es ist eine faszinierende Situation, alles noch einmal neu durchdenken zu können. Allerdings ist es in Eurem Fall auch nicht ganz unproblematisch. Nicht nur, weil man in der Gefahr steht, eine Reihe von Fehlversuchen zu machen und – vielleicht zu viel – Lehrgeld zu bezahlen, wie die Franzosen. Euch laufen die Zeit und die Menschen davon. Da ist es ein ziemlicher Luxus, sich zahlreiche politische Debütanten leisten zu müssen. In der Tat sind manche Positionen der allzu vielen neuen politischen Gruppen noch einigermaßen naiv und man kann nur hoffen, daß sie sich die Fähigkeit zur Weiterentwicklung auf dem offenbar noch langen Weg zu praktikablen Vorstellungen offen halten. Denn vieles klingt noch sehr theoretisch und ein wenig wie in einem universitären Oberseminar. Immer wieder sind es die Vorstellungen über die Funktionsweise der Wirtschaft, insbesondere der unsrigen, die sehr unklar sind und bezeichnenderweise verläuft man sich sehr bald in Allgemeinheiten und abenteuerlichen Vermutungen über unsere soziale Wirklichkeit. Es ist für mich immer wieder erstaunlich, wie wenig gerade Eure Leute von ihrem Marx gelernt haben, der doch immerhin klargestellt hat daß die Wirtschaft die Seele der meisten gesellschaftlichen Bereiche ist. Man redet jetzt viel auch von Umweltschutz bei Euch. Wenn man sich ein wenig in der Welt umschaut, so zeigt sich sehr schnell, daß er eine Funktion des Wohlstandes ist. Dort wo der Lebensstandard niedrig ist, liegt auch der Umweltschutz im Argen. Und wo es gar um das nackte Überleben geht, wie in den Entwicklungsländern, ist die Vokabel nicht nur unbekannt, sondern wird geradezu als absurd empfunden. Ähnliches gilt für viele soziale Schutzrechte. Manche Eurer Neulinge scheinen aber am liebsten das Fell verteilen zu wollen, bevor dessen Träger geboren ist, womit ich natürlich nichts gegen Umweltschutz und starke soziale Rechte gesagt haben will. 

Es ist natürlich ein vertrackte Sache mit der Wirtschaft. Ein sozialistisch gebildetes Gemüt hat vermutlich seine Schwierigkeiten mit der Vorstellung, daß man Betriebe kaputtmachen muß, um die Wirtschaft effizienter zu machen (Konkurspflicht – so was gibt es hier!); oder daß die Möglichkeit von u.U. schnellen Personalentlassungen die Voraussetzung für Arbeitsplatzsicherheit ist. (wenn nur so die Rentabilität eines Betriebes gesichert werden kann – womit ich nichts für hire and fire gesagt haben will; es gibt viele denkbare Zwischenlösungen). 

Es gab auch Realisten und zu denen muß man wohl – wiewohl SED-Mitglied – den Herrn Berghofer rechnen. Sein Satz, mit der Öffnung der Grenzen habe man sich an ein sehr starkes Wirtschaftssystem angekoppelt, woraus sich eine ganze Reihe rein tatsächlicher Konsequenzen ergäben, enthält ein ganzes Programm. Auch sein Satz, durch die Berührung mit dem Westen seien völlig neue Qualitätsbedürfnisse entstanden, kann in seinen praktischen Auswirkungen kaum unterschätzt werden. Es ist merkwürdig – man kann mit mehr oder weniger Wohlstand zufrieden sein und weiß Gott, man braucht eigentlich nicht viel. Aber die wenigsten sind mit wenig zufrieden, wenn die Nachbarn viel haben. Frei fühlt man sich erst, wenn man das Wenige selbst gewählt hat und das setzt voraus, daß man die – vielleicht nur abstrakte – Möglichkeit zu mehr hat. Das sind wohl psychologische Tatsachen und bei so engen Nachbarn, wie wir es sind, kann man das nur schwer überkompensieren. 

Ja das sind so meine Gedanken bei diesen aufregenden Diskussionen. lch wünschte, ich könnte dabei sein. Denn obwohl wir hier täglich mit den Problemen konfrontiert werden, die sich aus den Umwälzungen von Drüben ergeben, letztlich sind wir doch nur Zaungäste bei diesen erstaunlichen Ereignissen. 

Übrigens habe ich in der letzten Zeit auf einem ganz anderen Sektor deutsch – deutsche Studien getrieben. Robert Schumann hatte von Leipzig aus, einen hoch interessanten Streit mit einem Stuttgarter Musikschriftsteller und Wirtschafts- kriminellen. Ich werde einen Aufsatz darüber schreiben. Ich schicke ihn Dir, wenn er fertig ist (wird). 

Gruß

Klaus 

 

Berlin, 11. 01. 90

 Lieber Klaus! 

Du bist wirklich ein Fleißiger! Ich schicke Dir hier noch ein paar „alte“ Ansichten, die halbwegs druckreif sind. Viel kommt in dieser Machart nicht mehr, weil die Tagebuch-story mit dem Jahreswechsel zu einem (blutigen) Ende geführt wird – irgendwann muß ich mich schließlich um den Feinschliff und dann vielleicht auch um einen Verlag kümmern. 

Für mich wird es damit zwar mühsamer an Dich zu schreiben (es fällt halt nicht mehr einfach mit ab), aber Du hast dann den Vorteil, daß es sich nunmehr um wirklich authentische Geislersche Ansichten handelt, ohne schriftstellerische Kompromisse. Insofern ist dieser Brief schon ein Vorgeschmack. 

Zur Zweistaatlichkeit kommt demnächst (in alter Manier) noch einiges nach (halbwegs meine Ansicht „damals“ – sofern dieser Begriff für verflossene 4 Wochen angebracht ist). 

Am meisten beschäftigt mich zur Zeit die Rolle der demokratischen Linken in diesem noch bestehenden Land (zu denen ich mich bisher und immer noch zurechne). 

Ich bin inzwischen zunehmend pessimistischer und politisch depressiv. Man kommt sich immer stärker vor wie das kleine Häuflein rückzugdeckender Fanatiker, die bis zuletzt alles einsetzen – nur um den Bonzen und ihren Koffern die Flucht zu erleichtern. Wir Deutschen haben da ja Erfahrung. 

Ich hatte sehr gehofft, daß sich auf dem Sonderparteitag vor Weihnachten die SED spaltet und sich damit dann endlich die marxistische Linke an der Revolution beteiligt. Alles andere war und ist Quatsch, auch der faule Kompromiß mit dem Doppelnamen. Aber nomen est omen. Diese Bindestrich-Partei vereint nach wie vor die Sozialistischen Demokraten und die Betonköpfe. Schnitzler und Geisler im selben Verein! Zum Kotzen!   

Der Anteil der Stalinisten steigt sogar zwangsläufig, denn die Karrieristen – ehemals mindestens eine Million – laufen in Scharen davon (Wozu soll man auch 50 Mark Beitrag zahlen – im Monat/bei 1000 Mark netto – wenn man auch ohne Parteiabzeichen seinen Posten behalten kann, vielleicht sogar sicherer, denn wer traut sich heute jemanden abzusetzen, der gerade aus der Partei ausgetreten ist. So ändern sich die Zeiten) und viele ehrliche Leute haben die SED schon aus Enttäuschung verlassen, aber nur ganz wenige Stalinisten. Diese brauchen um’s Verrecken eine politische Heimat, und wenn es im Untergrund ist, aber ohne (irgendeine) Partei sind sie tot. (Fairerweise sollte man ihnen die auch zugestehen) Deshalb hätte auch eine Auflösung mit anschließender Neugründung, wie einige Naivlinge gefordert haben, überhaupt keinen Sinn. Es ist reine inkonsequente Kinderei, darüber nachzudenken. 

Auch der Hickhack „rein in die Betriebe oder raus aus die Betriebe“ geht in diese Richtung. Etliche fürchten sich ganz einfach vor dem rauhen politischen Leben „draußen“, wo sie keiner kennt, und wollen deshalb in ihren vertrauten, wenn auch inzwischen halbierten, Betriebsparteiorganisationen überwintern. Die Beschlüsse in den Wohngebieten fassen dann die Alten/Rentner (80% Stalinisten), die Mitarbeiter der aufgelösten Stasi und geschleifter Ministerien (90% Stalinisten) und ein paar Weiber im Mütterjahr. 

Das wird ein schöner Wahlkampf werden. Apropos: „Wenn am nächsten Sonntag Wahl wäre“ – ich würde zuhause bleiben. Nicht mal meine (noch!) eigene Partei bekäme meine Stimme. Ein tolles Gefühl. 

Die sogenannte Regierung Modrow macht alles mögliche, aber kaum noch irgendetwas was meinen Beifall findet. Nagelprobe ist die Frage der Bezahlung für die abgesägten Apparatschiks. Die Revolution ist ja wohl kaum gemacht worden, damit solche Leute wie bisher auch in Zukunft das doppelte Geld „verdienen“. Vollkommen logisch, daß gestreikt wird, sobald sich die Einzelheiten herumgesprochen haben. Damit ist aber wahrscheinlich eine Hemmschwelle endgültig überschritten und ich will nicht spekulieren, was sich daraus nun entwickeln kann. Die Gewerkschaft ist mausetot – sie hatte ohnehin nur Ferienplätze zu verteilen und Soligelder zu kassieren – und so läuft alles was läuft außerdem auch noch anarchisch. 

(Scheinbar) zweiter Streitpunkt sind Verfassungsschutz und Abwehr. Von nahem betrachtet geht es aber um das selbe wie bei der Apparatschikbezahlung: Restauration der Verhältnisse – das allein ist schon schlimm genug aber – es soll auch möglichst keinem der alten Kaste wehtun. Also eine Art Maximalprogramm der Konterrevolution. 

Das Gespenst des Faschismus kommt da gerade recht. „Jetzt geht es erst einmal um die Einheit aller demokratischen Kräfte, für Demokratie ist immer noch Zeit“. Ich bin nicht zur Demo „gegen rechts“ am Treptower Ehrenmal marschiert. Ich hatte von Anfang an ein beschissenes Gefühl.  Die Fernseh-Übertragung erinnerte denn auch beklemmend an die gute alte Zeit und Freunde, die dort waren, haben das bestätigt. Und was das Schlimmste ist: Mir bekannte Stalinisten, die bis vor vier Wochen kurz vor dem Selbstmord standen, fühlen sich zunehmend wohler… Ein ziemlich mieses Gefühl, in einer Revolution, die man lange herbeigesehnt hat, auf Seiten der Reaktion zu stehen. Ich weiß nicht, ob Du aus der Ferne verstehen kannst, daß ich bis heute aus dieser Partei noch nicht ausgetreten bin. Aber auch mir fehlte dann ganz einfach die politische Heimat, denn eine Partei des Demokratischen Sozialismus (nicht des Sozialdemokratismus) gibt es eben bis dato noch nicht in diesem Lande und alle in meinem Sinne Gleichgesinnten sind nun einmal noch oder waren bis vor kurzem in dieser nunmehr endgültig hoffnungslosen SED. Kurz: Alles wenig hoffnungsvoll für die Linke. Zunehmend Oberwasser für die Gesamtdeutschen. Mit ziemlichem – und hoffentlich nur zeitweiligem – Pessimismus grüßt Dich und die Deinen ganz herzlich  

Dein Frank

 PS: Das beiliegende „Steinchen“ ist garantiert echt. Eigene Handarbeit – vom Checkpoint Charlie  

Anhang (Tagebuch von Gerhard H.)

Freitag, 24. November 

Ein wunderbares Gefühl: Leben mitten in einer Revolution! Zwar ist da noch immer die Angst vor Mord und Totschlag, aber was um uns passiert, was mit uns passiert, ist einfach wunderbar. 

Die volle Tragweite des Geschehens ist bestimmt erst aus zeitlicher Distanz zu erfassen, aber das Empfinden, eine große Zeit zu durchmessen, Dinge zu erleben, die einmalig und ungeheuer sind, wächst und füllt uns fast aus. Alles private, die kleinen Alltagssorgen, der Abwasch, die ausstehende Renovierung und die Hausaufgaben der Kinder werden ungeheuer nebensächlich. Der Informationshunger beherrscht die Menschen. Lange Schlangen vor den Zeitungskiosken. Man kauft nicht eine Tageszeitung wie früher, sondern zwei, drei, alle, die noch zu haben sind. Die Presse der „Block“parteien ist plötzlich nicht mehr der verzögerte Abklatsch der SED-„Organe“. Es lohnt, sie AUCH zu lesen. Überall stehen andere Meinungen und kontroverse Kommentare, noch vor 6 Wochen eine wahnwitzige Vorstellung. Vor 6 Wochen! 

Die „Aktuelle Kamera“ jahrzehntelang degeneriert zum Hofberichterstatter, ein Tiefpunkt der ohnehin schon miesen Einschaltquoten, sie wird zur gefragtesten Sendung. Man erwägt die Einspeisung in bundesdeutsche Kabelnetze. 

Dazu: Westnachrichten, Sondersendungen, Spätausgaben, Diskussionsrunden, der Rundfunk… irgendwann ist der Punkt erreicht, wo man sich nicht mehr in der Lage fühlt, die dargebotenen Informationen auch abzuziehen und zu verdauen. Viele verzichten schon auf die WESTnachrichten, das ist vielleicht das Allerverrückteste. 

Ungeheuer beeindruckend, wie alltäglich wird, was vor einem Monat noch Sensation war: In der „Berliner“ Tips des Westberliner Polizeipräsidenten für den Besucherverkehr, das „ND“ druckt die Westprogramme und warnt vor Analverkehr, Reporter rücken der „Waldsiedlung Wandlitz“ auf den Pelz. Der Sprecher der „Aktuellen Kamera“ spart kostbare Sendezeit: „Das vollständige Interview mit Egon Krenz sendet die ARD um zwanzig Uhr fünfzehn.“. Günter Mittag aus der Partei ausgeschlossen, gegen Honecker ein Verfahren eröffnet, Kreissekretäre erschießen sich. Das Neue Forum und „Demokratie Jetzt“ rufen in der Zeitung zum Kampf gegen den Ostmarkschmuggel auf, UNSERE Sozialdemokraten sprechen vor der Sozialistischen Internationale. Alle reden von Verfassungsänderungen, freien Wahlen… Die Alltäglichkeit der Sensationen – Merkmal der Revolution. 

Richtig faßbar aber wird das Unfaßbare allein auf dem Ku’Damm. Vielleicht ziehen vor allem deshalb die Millionen jede Woche gen Westen.Vielleicht geht es gar nicht um die 100 D-Mark, Bananen und Kassettenrecorder. Vielleicht ist sie nur im Westen so richtig zu greifen, die neue Freiheit, UNSERE Freiheit, goldene Frucht der Revolution – und bisher auch so ziemlich die einzige. Alles andere könnte ein Trick sein: Sonntagsgespräche, abgebaute Stasi, abgelöste Funktionäre, offene Presse, versprochene Wahlen… Die Freiheit des Reisens jedoch, die ist greifbar, erlebbar, die ist wirklich, heute schon, jetzt, unumkehrbar. Was tut es da schon, daß wir als arme Jacken über den Ku’Damm bummeln, daß uns nicht alles gefällt, Berührungsängste hochkommen. Wir haben sie, DIESE Freiheit. Und drängelnd zwischen KaDeWe und Gedächtniskirche scheint es einfach undenkbar, sie könnte uns wieder genommen werden. Schwer vorstellbar, der Stalinismus könnte wieder erblühen in einem Land frei reisender Bürger. Wohl deshalb haben die einen so eifrig ihre Grenze befestigt, und die anderen so verbissen versucht, sie zu überwinden. Nun ist sie überwunden und nur die Aufhebung der Leibeigenschaft mag in den Menschen ähnliche Gefühle erzeugt haben. Und siehe da: Die vielbeschworene Katastrophe blieb aus. Die Anarchie herrschte nur eine Nacht lang, hunderttausende schwänzten die Arbeit – einen Tag lang. Einen weiteren schwätzten sie noch darüber und am dritten werkelte alles fast braver als zuvor. Ein Schaden sicher, aber kaum größer als ihn zwei, drei Jubelfeiern anrichten. Ein Gefühl, als hätten Eingeborene einen Tabustrich überschritten: Kein Blitz, kein donnerndes Strafgericht, keine Heuschreckenplage und kein blutiger Regen. Nur eine verstörte Priesterschar, die das Geschehen selbst nicht mehr begreift. 

Auch ein Charakteristikum der Revolution: Die totale Umberwertung der Wichtigkeiten. Wieviel zittrige Unterschriften ängstlicher Beamter brauchte es noch im Sommer, wollte ein einziger Betrieb einen einzigen Mitarbeiter für eine einzige Sekunde einen einzigen Schritt hinter den Eisernen Vorhang entsenden. Wieviele Beurteilungen mußten eingeholt, wieviele Nachbarn befragt, Führungszeugnisse gelesen, Vorschriften beachtet, Lehrgänge besucht, Unterweisungen durchgeführt, dokumentiert, paraphiert werden. Und wehe ihnen allen, wenn sich herausstellte, die verleugnete Tante aus Wuppertal hatte doch eine Osterkarte geschickt. 

Wen interessiert das heute noch, 6 Wochen später?  

Wieviel zittrige Unterschriften ängstlicher Beamter brauchte es noch Anfang Oktober, wollte ein ausländischer Sender in Limbach-Oberfrohna einen Fußgänger befragen. Wie schlechthin unvermeidlich war der Samstag-Unterricht. Wie unverzichtbar waren unsere Sperrgebiete, unsere Grenzzonen, Truppenübungsplätze. Wie kostbar war uns jeder einzelne Soldat. Ohne IHN hätten wir ihn niemals aufgehalten, den Ansturm der Bundeswehr durch das Brandenburger Tor. Wie hätte uns der Gegner fertiggemacht, hätte man nicht wachsam jedes Paket kontrolliert, jeden Brief überwacht, jedes Westtelefonat aufgezeichnet. Wie blaß hätte die Wirtschaft ausgesehen ohne Verschlußsachen, Wettbewerbe, Selbstverpflichtungen, Max- und Moritz-Messen, Jugendobjekte, und Traditionsecken, ohne „Schulen der sozialistischen Arbeit“, ohne Frauentagsfeiern, Aktivistennadeln, Wandzeitungen. Wie wären wir zusammengebrochen, hätte jeder Plebs auf der Straße seine Transparente aufstellen können. 

Keine 2 Monate ist das her. Wen aber interessiert das heute noch? Heute ist alles anders. Neue Wichtigkeiten, neue Verhältnisse, ein neues Land, neue Menschen. Neue Menschen?

 

Briefe aus der Wendezeit – Teil 1

Klaus Heitmann

und

Frank Geisler

DoppeltDeutsche

Wende-Briefe

Expeditionen über

die Reste der Mauer

1989 – 1999

Vorwort

Der vorliegende Original-Briefwechsel ist eine Folge des Falls der unseligen Mauer, welche Deutschland einst in zwei Teile zerriß. Seine Protagonisten lernten sich im Jahre 1985 während eines Familienurlaubs in Ungarn kennen, wo Deutsche aus Ost und West seinerzeit am ehesten Kontakt zueiander fanden. Aufgewachsen im jeweils anderen Teil des Landes und ohne Beziehungen über die Grenze stellten wir schon damals ein außerordentliches Bedürfnis nach Information und Meinungsaustausch fest, das wir in tagelangen Diskussionen am Strand des Plattensees zu befriedigen versuchten. Nach dem Urlaub trennte uns die Mauer wieder und – bedingt durch den jeweiligen Beruf – hielten wir den Kontakt in den folgenden vier Jahren nur lose und auf verdeckten Wegen aufrecht. Nachdem der Damm, der unsere Welten schied, gebrochen war, ergoß sich unser hoch aufgestautes Mitteilungsbedürfnis dann aber in Form einer wahren Briefflut über die unsägliche Demarkationslinie. Das Ziel, dieselbe endgültig wegzuspülen, war allerdings nicht so leicht zu erreichen, wie wir und andere anfangs gemeint hatten.

Stuttgart, 4.11.1989

Liebe Marianne, lieber Frank,

am Abend dieses „historischen Tages“ greife ich zur Feder und frage Euch wie Ihr die „Ereignisse“ seht, die uns (und Euch) nun täglich überschwemmen. Der Fernseher, insbesondere wenn er direkt an das DDR-Fernsehen angeschlossen ist, ist zur Zeit das Aufregendste, was man sich vorstellen kann. Wer hätte das gedacht, daß wir uns einmal darüber ärgern würden, Eure Kanäle nicht direkt empfangen zu können. Wir fühlen uns fast wie in Dresden. Nachdem ja nun jeder DDR-Bürger den „Westen“ wird besuchen können, hoffen wir doch sehr, Euch in nicht allzu weiter Ferne hier empfangen zu können. Es wird doch hoffentlich keine Einschränkungen der bisher praktizierten Art geben – von wegen Beruf etc?

Was in unseren Köpfen vorgeht angesichts der täglich sich überschlagenden Nachrichten, kann ich hier nur andeuten. Neben der Faszination über eine möglicherweise erfolgreiche deutsche Revolution, tun sich täglich neue Fragen auf, die uns zunehmend mehr aus der Rolle des Betrachters in die des direkt Betroffenen führen. Auch unser „Weltbild“ verschiebt sich, verdrängt bisherige Positionen und Probleme und lässt neue auftauchen, die z.T. die abgelegten alten sind. Fast könnte einen schwindelig werden.

Wir hoffen, bald von Euch zu hören – oder Euch zu sehen!

Alles Gute!

Klaus

 

 

Stuttgart, 4.11.1989

Lieber Frank,

nachdem ich soeben den Brief an Euch beide fertiggestellt habe, überfällt mich eine Idee, die ich Dir schnell mitteilen will, bevor mich wieder unabsehbare Trägheit daniederstreckt. Wir werden z.Zt. Zeugen unerhörter historischer Ereignisse. Aber wie so vieles wird auch dies an uns vorbeigehen und schon nach kurzer Zeit werden wir uns fragen, wie und was eigentlich alles geschehen ist, vor allem aber, was dabei in uns vorgegangen ist. Erfahrungsgemäß sind solche Rekonstruktionen mühsam und kaum mehr authentisch. Vieles wird miteinander vermischt und man neigt dazu, die Dinge vom Ergebnis her zu beurteilen. Jetzt aber sind wir noch mitten in den Ereignissen. Ich überlege mir daher, ob man nicht ihre Widerspiegelung in unseren Gedanken und Erlebnissen festhalten könnte. Natürlich könnte man ein Tagebuch schreiben. Aber ich stelle mir vor, daß ein deutsch – deutscher Briefwechsel aus der Nahperspektive noch viel interessanter wäre. Ich trete daher mit dem angesichts meiner bisherigen Schreibfaulheit sicherlich erstaunlichen Vorschlag an Dich heran, unsere (d.h. natürlich insbesondere meine) Schreibfrequenz erheblich zu dem genannten Zweck zu erhöhen. Natürlich muß man die Dinge nicht gleich übertreiben; eine „vollständige“ Erfassung der Ereignisse kann nicht das Ziel sein, eher ein Plaudern aus dem Nähkästchen. Anfangen könnte man z.B. mit den Reaktionen innerhalb der Familie. Wie erleben z.B. Deine Kinder das, was sich zur Zeit in Berlin oder im Fernsehen bei Euch abspielt? Was sagen sie dazu, daß möglicherweise auch Kinder aus ihrem Umkreis das Land verlassen? Unsere Kinder verfolgen die Dinge nicht zuletzt deswegen mit großen Interesse, weil sie durch Euch einen Kristallisationspunkt haben, an dem sie vieles, was sonst für sie abstrakt bliebe, festmachen können. Ich versuche Ihnen das Unerhörte der Situation klarzumachen, womit ich das politische Phänomen einer Revolution ohne Gewalt meine, die riesige Entfernungen in lauter kleinen Schritten zurücklegt.

Aber ich will .jetzt noch nicht allzu sehr loslegen und ohnehin soll das ja nicht in Arbeit ausarten.

Eine erhebliche Erleichterung wäre es natürlich, wenn man mit Dir direkt korrespondieren könnte. Ist die Wende schon so weit, daß dies möglich ist?

Für heute soll es genügen – bis bald.

Berlin 19.11.1989

Liebe Judy, lieber Klaus!

Das bisher beeindruckendste an unserer Revolution ist die erwachende Schreibwut von Klaus. Hoffentlich weiß er, worauf er sich eingelassen hat. Mit dem deutsch – deutschen Briefwechsel kommt ihr mir nämlich gerade recht und ich bin in der glücklichen Lage, Euch ohne großen Aufwand sofort eine Menge Gedanken zuwerfen zu können.

Weil: Ich schreibe ein Buch über diese wilde Zeit (Allerdings habe ich arge Bedenken, ob die Auflage jemals über ein Exemplar hinauskommen wird). Der Titel ungefähr (nagelt mich bitte nicht fest darauf), er ist sowieso noch zu lang): „Vater – Sohn – Oktoberland /2 Tagebücher, die Zeitung und ein langer Brief“.

Der Vater verkörpert die altstalinistische Linie, der Sohn den Reformflügel, dazu Auszüge aus den Zeitungsmeldungen und: – quasi als gesamtdeutsches Element – ein geflüchteter Bruder, der sich in Briefen aus dem Westen zu Wort meldet.

Allerdings wusste ich bisher noch nicht, wie ich diesen Bruder simulieren sollte. In einen Altstalinisten kann ich mich zwar recht ordentlich hineinversetzen (ich verschone Euch allerdings mit seinen Sentenzen). Über die westdeutsche Betrachtungs- und Denkweise bin ich mir dagegen so recht nicht im Klaren, und während ich noch überlege, wie ich das anstellen soll, kommt Euer Brief.

Lieber Klaus! Schreibe also bald und möglichst ausführlich. Wenn Du gestattest verwende ich Deine Passagen (allerdings umgeschrieben und mit den fürs Buch notwendigen „familien-internen“ Ergänzungen – schließlich bist Du ja mein Bruder (im Buch!).

Damit ist sicher klar, dass der linke Reformer maßgebliche Züge von mir selbst hat. Deshalb bin ich ja auch in der Lage, schon einige fertige Passagen, quasi als Vorabdruck zu übersenden.

(Die neue Technik hat auch in unsere Betriebe inzwischen Einzug gehalten, leider noch nicht in unsere Haushalte. Ich schreibe deshalb auf „meinem“ Computer auf der Arbeit nach Feierabend immer noch ein bisschen das auf, was ich am Abend zuvor als Manuskript verbrochen habe. Daher ist es einfach, es für Euch noch zusätzlich zu drucken).

Noch eine Bemerkung – oder zwei:

Wegen der angestrebten Buchform ist nicht alles ganz authentisch, was mich persönlich betrifft, aber doch so weit, dass es meine Ansichten im Prinzip entspricht: Namen sind ausgetauscht (meine Frau heißt übrigens nicht Marianne, sondern weniger französisch Marietta (im Buch Claudia). Alle sagen aber Paula zu ihr.

Zweitens: Es ist erst die Rohfassung, noch etwas arm an poetischer Substanz (muß irgendwann noch mal gründlich überarbeitet werden und ist deshalb drittens auch in Rechtschreibung und Umbruch noch falsch und primitiv. Vielleicht aber trotzdem schon recht interessant für Euch.

Im übrigen danken wir herzlich für Eure Einladung. Wir werden sie sicher irgendwann einmal annehmen, aber: vielleicht kommt ihr doch erst einmal zu uns. Erstens ist es hier z.Zt. sicher interessanter und zweitens sind wir immer noch Fußgänger.

Wir sind übrigens tatsächlich umgezogen und wohnen nicht mehr in R. , sondern am Alexanderplatz (eine Skizze lege ich bei – bitte Pfeil beachten). Die exakte Adresse ist: XXX

Viele Grüsse. Bis bald /Eure Geislers

P.S. Eben kam Euer Paket. Heißen Dank. Ihr habt Euch in Unkosten gestürzt und wir haben zum ersten Mal in unserem Leben eine Kokosnuß gegessen.

Anhang (Tagebuch von Gerhard H.)

Freitag, 1. September

Flughafen Budapest- Ferihegy. Urlaubsende, Rückflug. Der abschließende Höhepunkt eines herrlichen Urlaubs hatte es werden sollen. Dafür haben wir tief in die schlechtgefüllte Tasche gegriffen. Zweifellos ist es auch ein kleiner Höhepunkt. Vor allem für die Kinder. Ihr erster Flug. Sie sind fürchterlich aufgeregt, begeistert von den verstellbaren Sitzen, den Gurten, dem Asiettenessen, dem Blick aus dem Fenster. Natürlich „müssen“ sie unbedingt auch auf´s Klo…

Es ist schön, sie zu beobachten und die welterfahrenen Eltern zu mimen. (Dabei haben wir ihnen gerade mal 4 Flüge voraus – zusammen.) Eine glückliche Familie auf dem Heimweg aus südlicher Sonne. Eiapopeia.

Von wegen! Wir zwei Alten haben ein sehr flaues Gefühl. Vielleicht ist dies für viele Jahre der letzte Flug überhaupt. Wohin würden sie unsereinen noch fliegen lassen, wenn es demnächst kein Land mehr gab, das noch bereit war, DDR-Touristen zu bewachen?

Und wie verrückt sind wir eigentlich, die Hälfte unserer mageren Ersparnisse auszugeben, um möglichst komfortabel in diesen Käfig zurückzukehren?

Es war schwer, sich nicht verrückt machen zu lassen. Praktisch gab es am Balaton zwei Wochen lang nur ein Thema, DAS THEMA dieses Sommers. Kaum vorstellbar, daß von den Ungarn-Urlaubern des Jahrgangs ’89 jemand nicht DARÜBER nachgedacht hätte. Tausende sind bereits weg. Gerade von Ungarn aus soll es inzwischen fast ein Kinderspiel sein. Oder besser: Ein Spiel für Erwachsene: „Kriegst Du mich, oder schnall‘ ich Dich.“

Täglich wird es leichter. Der Stacheldraht ist abgebaut, die Grenze nach Österreich wird nur noch locker bewacht und das schönste: Die Ungarn weisen inzwischen keinen mehr aus, den sie erwischen. Es gibt nicht mal mehr eine Eintragung in den Ausweis, und selbst wenn:

Wer fürchtet sich schon vor einem Stempelchen, da sind wir doch ganz andere Kaliber gewöhnt, Kaliber sieben-zwoundsechzig, Kalaschnikow. Und selbst wenn sie einen ausweisen: Auf dem Weg nach Hause kommt man an mindestens zwei bundesdeutschen Vertretungen vorbei. Was sollte uns also abhalten, durch die Maisfelder zu krabbeln? Wer ganz sicher gehen will, kann sich einen ungarischen Führer mieten – die sind ja sooo nett hier, die Leute! 5000 DM Schulden sind ein Klacks, wenn man als Studierter drüben einigermaßen Fuß faßt. (Und wer daran nicht glaubt, bleibt sowieso doheeme.)

Seit kurzem ist es nun ganz einfach: Sie richten Lager ein, sogar am Balaton. Man setzt sich hinein, wartet in der warmen Herbstsonne ein paar Wochen, und hoppla – ab in den goldenen Westen. Denken sie jedenfalls.

Und wenn nicht? Niemand weiß, wie sich die Verhältnisse zu Hause entwickeln. Alles ist so stur geworden, so ungeheuer erstarrt. Gerade in diesem Jahr spürte man förmlich, wie der ideologische Beton endgültig hart wurde. Die Greise kämpfen bis zum letzten Atemzug um ihre verdammten Sessel. Längst haben sie abgewirtschaftet.

Fünf vor zwölf. Vergleiche drängen sich auf, die den alten Kommunisten sehr wehtun würden… Ja, es sind ja wirklich meist alte Kommunisten, KZ-Häftlinge, Spanienkämpfer, die berühmten „Aktivisten der ersten Stunde“. Aber jetzt sind sie dabei, in kurzer Zeit alles einzureißen, was sie selbst in den vielen Jahren aufgebaut haben.

Sie haben sich so ungeheuer von ihrem Volk gelöst, es ist fast nicht zu glauben.

Wahrscheinlich verachten sie dieses Volk ganz einfach – und umgekehrt. „Sozialistische Demokratie“ – ein edles Ziel, verkommen zur hohlen Phrase. Unsere Bonzen sind längst nicht mehr demokratiefähig, vielleicht sind sie es nie gewesen.

Und dabei sind wir alle irgendwann einmal mit viel Elan angetreten, um eine Gesellschaft zu schaffen, in der Gerechtigkeit und die Wohlfahrt des ganzen Volkes…

Was haben wir statt dessen? Irgendeine Spielart des Feudalismus. Adel, Klerus – der Hohe selbstverständlich, aber auch die Bettelmönche -, Gott, die Heilige Schrift, Leibeigenschaft, Zölibat – alles ist da, heißt nur ein wenig anders: Die führenden Genossen, Partei, Lenin, seine gesammelten Werke, Mauer, Parteidisziplin…

Das System ist in dieser Form seit mindestens 20 Jahren überlebt. Jetzt werden die Produktivkräfte ein Machtwort sprechen, sollte man denken. Noch aber scheint es längst nicht so weit. Die Hauptproduktivkraft türmt durch die Maisfelder, der Rest verrottet in den Fabriken. Schade um unseren Sozialismus.

Die Ungarn jedenfalls haben ihn abgemeldet. Es fällt heute schwer, für dieses Volk noch die alten Sympathien zu hegen. Vorbei die Zeit des Gulaschkommunismus, die Hoffnung auf die Verbindung von Freiheit und sozialer Gerechtigkeit. Die Partei zerfällt, dem großen roten Stern auf dem Budapester Parlamentsgebäude haben sie den Strom abgedreht, das Staatswappen mit seinem kleinen roten Stern ist gleich komplett heraus aus der Fahne – in allen Formen und Größen wird das alte Königswappen feilgeboten, die Soldaten sprechen sich mit „Kamerad“ an, an den Schulen soll der Religionsunterricht eingeführt werden, das Befreiungsdenkmal für die Sowjetarmee auf dem Gellertberg braucht Polizeischutz…

Alles wenig begeisternd, aber beeindruckend in seinem Tempo. Sie scheinen sich gleichsam zu überschlagen, um dem Westen auf den Schoß zu springen. Hoppla, da sind wir. 30 Milliarden Auslandsschulden, Dollar versteht sich. „Nu, wos soll do scho werdn, die werdn se uns erlossn missn“ meinte ein Stadtführer, und dann erzählte er „Ulbrichtwitze“. Er war schon ziemlich alt.

Verkauf des Vaterlandes ums Fressen. Die Fleischtöpfe der Janitscharen locken. Es gibt kein Konzept für die Zukunft in Ungarn. Aber wir haben inzwischen unsere eigenen Sorgen. Das langweiligste Land Europas rührt sich. „Heimatland reck‘ Deine Glieder…“ Es fallen einem immer die unpassenden Lieder ein, und zur unpassenden Zeit. Die Zeiten jedenfalls sind nicht besser geworden, aber spannender.

Wir fliegen nach Hause. Auf dem Campingplatz haben uns einige schlicht für blöd erklärt, meinten, so eine Chance käme nie wieder. Wer nächstes Jahr rüber wolle… so billig jedenfalls nicht mehr. Wir werden sehen, wer recht behält, vielleicht keiner. Aber kann es verkehrt sein, in die Heimat zurückzukehren? Sehr sicher sind wir uns jedenfalls nicht (mehr). Vielleicht gibt es zu Hause schon bald Mord und Totschlag. Die Kinder, die sich so auf ihren ersten Flug freuten. Vielleicht werfen gerade sie einem einst vor, heute hier abgeflogen zu sein. Andererseits ist es schwer vorstellbar, daß an einer so neuralgischen Stelle…

Abschied von Ungarn. Fast sind wir sicher, dieses Land so bald nicht mehr wiederzusehen.

(Tagebuch von Gerhard H.)

Samstag, 4. November

Und samstags zur Demo – zuerst mit gemischten Gefühlen. Ein Kollege hatte mich überredet. Versprochen ist versprochen und irgendwie hing mir meine eigene Passivität auch langsam zum Halse raus. Die „Wende“ war jetzt über 2 Wochen alt und ich saß immer noch vor dem Fernseher, saugte gierig alle Neuigkeiten in mich hinein – und wartete. Worauf eigentlich? Wohl darauf, daß mich der Genosse Krenz einlud, bei seinem gigantischen Reformgebäude mitzutun.

Den Wehrersatzdienst und das Verfassungsgericht konnte Krenz aber zweifellos auch ohne den kleinen Genossen H. einrichten und bei den Gesprächen mit Gorbi und Jaruzelski wäre ich ebenfalls nicht besonders nützlich gewesen. Er braucht vorläufig keine Helfer, wie es scheint, jedenfalls keine an der Basis. Da lief bisher auch noch wenig, oder sagen wir es ehrlicher (und resigniert): Da lief noch gar nichts. Viele scheinen nicht böse darüber, hoffen, die Revolution aussitzen zu können. Andere wollen verändern – und verlangen dringend nach Direktiven, möchten, daß man ihnen Werkzeug und Baustelle zuweist (und, verdammt, ich muß es zugeben: Zu denen gehöre ich auch.)

Aber soweit unten soll wohl gar nicht gebaut werden. Kein gigantisches Reformgebäude, nur ein neues Dach. Und das bauen die Bewohner der oberen Etagen ganz allein. (Weiß der Teufel, warum sie nicht begreifen, daß inzwischen das Fundament am zerbröseln ist.)

Ganz so weit oben hatte ich mir die ersehnte Revolution von oben eigentlich nicht vorgestellt. Also zur Demo.

Aber wozu laufe ich hier mit? Sicher nicht wegen der beiden Verfassungsparagraphen. Wegen der Losungen? Die Transparente sind frech, geistreich, vor allem frech.

Wenn man zwei Dutzend gelesen hat wird klar: Hier sind sich alle nur einig in der Ablehnung des Vergangenen. Die Zukunft ist offen, scheint sogar ziemlich egal, jeder Teilnehmer denkt sich seine eigene. Man toleriert sich. Heute. Heute noch?

Wieviele mögen es sein? 200 000 bestimmt, vielleicht gar eine halbe Million. Oder noch mehr? Kopf an Kopf. Wir stehen noch am Pressecafe, da füllen die ersten schon den Alex (und dabei geht der Zug nicht gerade hinüber, sondern nimmt den Umweg über den Marx-Engels-Platz). Es geht kaum voran. Den Versuch, nicht gerade unter einer völlig unmöglichen Losung zu stehen, gibt man bald auf. Über mir ist jetzt „Stasi in die Produktion – für normalen Durchschnittslohn!“, dicht dabei zwei Knirpse, die „Für besseres Schulessen“ den Unterricht schwänzen. Das geht noch. Am Rand: „Hare Krishna singen für Religionsfreiheit“. Sie singen gut, verbreiten ein wenig Woodstock-Athmosphäre, die Luft von ’68. Paris, L.A., Prag. Prag!?

Happeningstimmung. Jemand versucht Trompete zu spielen. „We shall overcome“. Er spielt scheußlich, aber alle Strophen. Clowns in der Menge. Einer mimt Stasi, klettert auf einen Mast, zeigt von dort aus mit ausgestrecktem Arm auf Demonstranten, „befiehlt“ sie zu sich. Ein anderer agiert als Polit(büro)greis. Die schönste Szene am Staatsratsgebäude: Ordner spielen „Ehrentribüne“, parodieren Honeckers 1. Mai.

Die Leute amüsieren sich. Die leichte Spannung, die am Anfang über allem lag, weicht heiterer Gelassenheit. Wir schaffen es. Diesmal wirklich: WIR. Endlich eine Demo, mit der man sich identifizieren kann. Viele Freunde, verstreut in der Menge. Wir begrüßen uns, verlieren uns wieder.

Aber: Hier sind wir richtig! Ich bin dabei, einig mit allen hier, die wir eine neue DDR wollen.

Auf dem Alex zeigt sich: Nicht alle wollen eine neue DDR. Pfeifkonzerte für Wolf und Schabowski, Beifall für die Opposition. Beklatscht oder ausgebuht wird das Etikett, wenige hören wirklich zu.

Sieht so die Demokratie aus, die Toleranz, für die wir doch hier demonstrieren? Oder ist es in dieser Phase normal, ein Überschwinger, verständlich nach 60 Jahren Frust?

Ich weiß es nicht, aber irgendwie fühle ich mich zunehmend unwohl. Ich bin plötzlich allein, Fremde ringsumher. Ich habe Angst zu klatschen wenn sie neben mir pfeifen und umgekehrt sowieso. (Außerdem pfeife ich nicht besonders gut.) Schöne Meinungsfreiheit! Wieder die Zweifel. Reicht es, gemeinsam GEGEN etwas zu sein? SOLCHE Gemeinsamkeiten hatten wir mit den Alten auch – und solche Ängste voreinander…

Die Bürger singt. Das „Lied eines Gefangenen an den Genossen Stalin“. Ich höre es zum ersten Mal und ich muß heulen. Ein großer Kerl – 6 Fuß, 90 Kilo – und heult! Und niemand ringsherum findet etwas dabei. Gefühle.

Es ist eine Zeit der Gefühle. Nach so vielen Jahren der sarkastischen Nischen, des Zynismus und der spöttelnden Winkel. Wir stehen da und heulen. Und staunen über uns.

(Tagebuch von Gerhard H.)

Freitag, 10. November

Die Grenze ist auf! Nach mehr als 28 Jahren kann jeder in den Westen.

Unbeschreiblicher Jubel – und mir ist zum ersten Mal in dieser Revolution Angst um unseren Sozialismus. Im Frühstücksfernsehen von RIAS-TV zeigten sie Bilder vom Grenzübergang Bornholmer Straße, gefilmt aus Richtung Osten, offenbar irgendwann in den Abendstunden: Eine dichte Traube vor der Absperrung skandierte „Tor auf, Tor auf!“ Und die Grenzer öffneten wirklich, ein Menschenstrom flutete jubelnd in den schmalen Gang zwischen den Kontrollbaracken. Plötzlich steigerte sich das Geschrei. Man mußte sehr genau hinsehen, aber es war trotz der Dunkelheit deutlich erkennbar: Sie holten unsere Fahne vom Mast!

Sicher nur einer oder wenige, die da handelten, aber der Beifall der sich erhob, war allgemein. Das sind nicht mehr die disziplinierten Intellektuellen vom Sonnabend, deren Auftreten Stefan Heym gestern mit der Kanonade von Valmy verglich. (Sich selbst empfand er offenbar ein wenig als Goethe, sein Selbstbewußtsein war jedenfalls danach: „Ich bin überhaupt der einzige Vertreter des sozialistischen Realismus gewesen, denn die anderen waren keine Realisten“ Ziemlich unbescheiden, aber natürlich hat er da recht, der Gute. Es ist fast unmöglich, ihm in diesen Tagen etwas übel zu nehmen.)

Was an der Bornholmer unsere Fahne herunterholte, war der Pöbel a la Dresden-Hauptbahnhof. Unfähig zur Analyse, unwillig zur Mitarbeit. Die rasen jedem hinterher, der ihnen eine Banane unters Maul hält, wenns sein muß, auch in den größten Dreck. Wie die Geisteskranken. Wenn in den nächsten Tagen kein Blut fließt, hat dieses kleine Land doch irgendwo einen Schutzengel – und die Oberen haben ein Volk, dessen Disziplin sie einfach nicht verdienen.

Sie selbst jedenfalls sind wiederum nicht Herr der Lage. Man hört nicht auf sie, begreifen sie es denn immer noch nicht?

Gestern abend vor dem Fernsehgerät. Pressekonferenz. Wieder mal. Schabowski steht Rede und Antwort, macht seine Sache nicht schlecht, verliest plötzlich irgendeinen nachgereichten Zettel: Der Ministerratsbeschluß zur ständigen Ausreise (armes Land, in dem ein zurückgetretenes Gremium solche brisanten Beschlüsse faßt /fassen kann /fassen muß!) Ich begriff zuerst gar nichts. Ist die Grenze nun auf oder nicht? Und vor allem: Für wen? Im Laufe der Nacht wurde erschreckend klar, daß die Verfasser dieser „Regelung“ sich um genau diese Frage herumgedrückt hatten. Dementsprechend war die Situation. „Die Nacht der offenen Grenze“ hieß die Fernsehsendung heute morgen. Mit Recht, wie es aussieht. Es gab praktisch keine Kontrollen mehr. Anarchie an der Mauer. Der Zustand vor dem 13. August. Heute früh um 8.00 sollte dann aber alles in geordneten Bahnen laufen – meinten „die zuständigen Stellen“. Pustekuchen! Neue Parole: Bis Sonntag nacht alles offen. Wahnsinn, die Leute nun auch noch unter Zeitdruck zu setzen!

Im Betrieb deutliche Anzeichen von Massenpsychose, jedenfalls soweit Intellektuelle dazu fähig sind. Gleich früh Anrufe: „Mensch, komm doch mit. Wir gehen alle. Bloß mal gucken.“ Und die 100 Piepen abholen, natürlich. Kaum einer wird an diesem Tag gearbeitet haben. Wer nicht rüber fuhr, diskutierte. Eine Art Generalstreik aus Versehen. Abends brachte das Fernsehen Bilder von ganzen Brigaden, die offenbar noch am Vormittag gleich aus der Werkhalle ausgebüxt waren, ungewaschen, in Arbeitskleidung, alle sehr glücklich.

Was muß dieses Volk für einen Hunger nach Freizügigkeit gehabt haben! Bilder vom nächtlichen Ku‘-Damm: Volksfeststimmung, zusammengebrochener Verkehr, Begeisterung und viel gesamtdeutsche Gefühlsduselei, die Angst macht, und schlimmer: Tausende Westberliner, die am Brandenburger Tor auf der Mauer sitzen, Hammer und Meißel schwingen. „Mauer weg!“ Eine dünne Kette Grenzer davor, um Gelassenheit bemüht. Man möchte beten.

Die meisten Ostberliner haben heute jedoch anderes im Sinn. Niemandem ist nach beten zumute, und schon gar nicht für den Weltfrieden. (Aber ein Dankgebet werden etliche heute nacht wohl gesprochen haben.)

„Schnell mal rüber!“ ist die Parole dieses Tages. So schnell geht’s denn allerdings doch nicht, aber im Anstehen ist dieses Volk ja ohnehin Spitze. Am eifrigsten scheinen plötzlich die sonst ach so Roten. Der Opportunismus zeigt seine häßliche Fratze, aber im Überschwang der Gefühle schaut niemand hin. Der Nachbar vis a vis, der abends sonst kaum das Haus verläßt, schleicht sich fast aus der Tür, Anorack, Schirm, die Frau neben sich, ein verlegener Gruß. Er soll bei der Staatssicherheit sein, heißt es. Die dürfen noch nicht, die „Angehörigen“: Grüne, Dunkelblaue, Feldgraue aller Waffenfarben, Staatsapparat, Parteifunktionäre, Geheimnisträger… Was haben sie jahrzehntelang großmäulig verzichtet auf die Trauben, die zu hoch hingen!

Aber wer fragt schon danach an der Grenze, heute, morgen, letzte Nacht. Montag allerdings kann es schon zu spät sein. So lobpreisen sie denn die Anarchie dieser Tage. Peinlich nur, wenn die Vorgesetzten sich später die Ausweise vornehmen. Zwar ist heute noch kein Visum nötig, aber kaum einer entgeht dem verräterischen Ausreisestempel. Da hätte er gestern nicht so zeitig ins Bett gehen dürfen. Vielleicht sind zweimal hundert WEST aber auch den Anpfiff wert. Immerhin ein Monatsgehalt zum laufenden eins-zu-zehn-Kurs – für einen Kantenlatscher der Stasi jedenfalls, für einen zivilen Ingenieur gleich zwei.

Woher nehmen die bloß diese Summen drüben? Wenn bis Jahresende 10 Millionen… sicher nicht zu viel gerechnet. Eine Milliarde müssen sie dann mindestens locker machen! Nicht schlecht, Herr Specht. Aber auch unsere marode Wirtschaft wird an den lächerlichen 15 Mark pro Nase fast zugrunde gehen. 150 Millionen Devisen! Was nützt es da, wenn sie die gleiche Summe Ostmark dabei einspielen. Da sowieso keine Warendecke dahintersteht, kann die Staatsbank das eingetauschte Spielgeld gleich in den Ofen schieben. Ein volles Jahreseinkommen liegt auf der Kasse in diesem Staat, gar nicht zu reden von den Bargeldsummen, die die Leute im Strumpf haben.

Mit einem gewöhnlichen Taschenrechner konnte man sich diese Zahlen zusammenbasteln, selbst aus den frisierten Daten des offiziellen statistischen Jahrbuches. Wer Augen hatte, zu sehen, Ohren zu hören… Soll mir keiner sagen, er hätte nichts gewußt! Gerade das scheint aber eine Disziplin zu werden, die sich heutzutage vom Volkssport zum Funktionärssport mausert:

Da stellt sich doch gestern im Großen Haus ein Parteisekretär ans Mikrofon – 13 Jahre ZK – und flennt, er habe keine Ahnung von unserer Wirtschaftsmisere gehabt. Man hätte ihn betrogen, 13 Jahre lang. Und von irgendwelchen Privilegien hätte er noch viel weniger geahnt. In einem Sondergeschäft sei er nie gewesen, sein Herzblut hätte er stattdessen vergossen, die Intellektuellen auf der Straße würden ihn beunruhigen, und zu denken gäbe ihm, daß zur Zeit niemand mehr über die Auslastung der Arbeitszeit spricht.

Das ist alles so vollkommen blödsinnig, daß man kaum darüber schreiben möchte. Sowas sitzt also seit ’76 im ZK, will über unsere Zukunft entscheiden, und plärrt, plärrt um die eigene Haut. Wahrscheinlich haben seine Kumpels die Fäuste geschüttelt, und da hat der Herr in die Hosen gemacht, faselt von Verleumdung der Partei, und beklagt sich über die Presse. Widerlich! Hat er sie wirklich nie gesehen, die Häuser der Bonzen? Wo hat er denn gewohnt, ? Iim Bergwerk? Kein Sondergeschäft je gesehen? Nicht mal im ZK? Vielleicht denkt er, ein Sondergeschäft wäre an der Oben-ohne-Bedienung erkenntlich, oder wie? Ist gut, ich rege mich ab. Solche Schleimer sind es nicht wert.

Tagebuch von Gerhard H.)

Sonntag, 12. November

Heute nun doch rüber, in der Hoffnung, dem ersten Ansturm entgangen zu sein, und dennoch einiges von der besonderen Stimmung dieses historischen Wochenendes einzufangen.

U-Bahnhof Jannowitzbrücke. Wer von meiner Generation kann sich schon an diesen Ort erinnern? Eine lange Schlange steht geordnet, wird geordnet von Transportpolizisten, erwartungsvolle Stimmung ringsherum, zügiges Vorrücken. Der Tunneleingang, Treppe, VP, Grenzer, alles provisorisch, trotzdem freundlich, entspannt. „Visa links, bitte!“ Wer keines hat, erhält in Sekundenschnelle seinen Stempel. Meine Sorgen im Hinblick auf den Montagmorgen schwinden ein wenig. Vielleicht bekommen sie es doch in den Griff. Es ist imponierend, wie schnell selbst die Synonyme der Bürokratie – VP, Zoll, Grenzkontrolleure – plötzlich zu handeln in der Lage sind – kaum daß die zentrale Führung handlungsunfähig wurde.

Kommandeure besinnen sich plötzlich auf ihren gesunden Menschenverstand, auf ihren wirklichen Auftrag. Ideen, Initiativen, Einsatzbereitschaft, diese guten, und doch so schrecklich abgedroschenen Begriffe, in diesen Tagen haben sie die Chance der Wiedergeburt. Und alles unter den Bedingungen einer zurückgetretenen Regierung. Was könnten diese Menschen leisten unter einer handlungsfähigen!

Ein Pappschild an der Decke: „DDR-Grenzkontrolle“, noch ein Stempel. Fünf Meter unter dem Pflaster von „Berlin – Hauptstadt der DDR“ und doch schon im Westen! Feierliche Stimmung ringsherum, die Kinder sind aufgeregt. Trauben vor dem aushängenden BVG-Schema. 28 Jahre! Druck auf den Augen. Nein, ich habe nicht 28 Jahre auf diesen Tag gewartet. So habe ich ihn nicht einmal erwartet, und auf gar keinen Fall so bald. Und trotzdem feuchte Augen? Gesamtdeutsche Gefühle? Erinnerung ist es jedenfalls nicht, wie bei so vielen Älteren auf diesem Bahnsteig; ich war zu jung ’61 und durfte sowieso nicht hinüber. Für mich war der Westen nicht Grenzkino, Nietenhose, Südfrucht, Lichterglanz und Wohlleben. Für mich war der Westen stets Wohlleben der anderen, Glanz auf anderen, unverdiente Frucht für andere. Andere hatten die begehrten Nietenhosen, spielten mit silberglänzenden Cowboypistolen, holten in der Schulpause ihre Bananen aus der Tasche, knauserten nicht mit der Butter – ich durfte mir diese Welt nicht mal im Fernsehen betrachten, geschweige denn in Natura, nur einen Katzensprung entfernt…

Wohlstand als Zeichen der Leistung – ein Ursignal, schon in grauer Vorzeit unverrückbar in das Rückenmark der Ahnen gepflanzt. Gut ist, wer fett ist. Sie waren nicht gut, die fetten. Trotzdem lebten sie besser, erlebten mehr, wurden beneidet, fanden leichter Freunde, die Kinder der Grenzgänger, die Enkel der Wilmersdorfer Witwen. Oft haßte ich sie dafür, sie, die unverdient fetten – und jene, die vor ihnen auf dem Bauch lagen. Wem sonst sollte der zehnjährige Sohn eines ehemaligen Volkspolizisten seinen Zorn auch widmen. Der Regierung? Wollte sie nicht das Beste für uns alle, wollte sie nicht Bananen und Butter für die fleißigen? Und waren es etwa keine Feinde, die unsere knappen Bockwürste in den Westen schleppten?

Ich hatte keine Probleme mit der Mauer. Die Nietenhosen würden ersatzlos verschleißen, die Bockwürste im Lande bleiben – eine Mauer der Gerechtigkeit! Und trotzdem jetzt die feuchten Augen? Vielleicht gab es doch in jedem von uns so eine Art Nationalgefühl, Deutschtum, was weiß ich? Schlimm, wenn es so wäre. Und da sind sie wieder, die Sorgen, trocknen die Wimpern.

Die U-Bahn kommt, füllt sich ansehnlich, aber nicht beunruhigend. Kein Problem für einen Ostberliner – klingt komisch. Wird man sich in Zukunft so vorstellen müssen? Immer noch besser als „DDR-ler“, wie sie in letzter Zeit des öfteren im Westfernsehen sagten. Einfach scheußlich!

Ostberliner oder Provinz, die Leute drängeln mit der gewohnten Disziplin in die Wagen, und nur die West-BVG scheint sich darüber Sorgen zu machen. Die Lautsprecherdurchsagen sind jedenfalls von einer ängstlichen Hektik gekennzeichnet. Wie beneidenswert leer muß es hier sonst immer sein…

Herrmannplatz, der Duft der großen weiten Welt. Erst mal umsehen. Ein Stapel Info-Zeitungen, einfach abgestellt zum wegnehmen. Stadtplan, farbig, U- und S-Bahnnetz, Verzeichnis der Begrüßungsgeldkassen, kurze Rede von Momper, Bericht über Verpflegungsstellen…

Karstadt, davor eine riesige Schlange – alles „unsere“. Die Karl-Marx-Straße, auf dem Mittelstreifen ein Schild: „Kreuzberg“. Wir gehen in die entgegengesetzte Richtung. Man hat so viel gehört von diesem Kreuzberg, Kriminalität, Verfall, Ausländer, wir sind noch zu unsicher, um uns auf Abenteuer einzulassen. Ängstliche Bäuerlein in der Großstadt. Also nach Neukölln. Die Straßen kaum leerer als die U-Bahn. Erster Eindruck: Wozu brauchen sie hier soviele Banken? Sicher nicht als Begrüßungsgeldkasse, denn die meisten haben geschlossen. Zwischendurch trotzdem immer mal wieder auch gewaltige Schlangen. Hier gibt es die berühmten 100,- DM.

Gestern und am Freitag sollen die Leute drei Stunden und mehr gewartet haben. Hundert Mark, hundert „D“-MARK wohlgemerkt. Wir sind vier. Mit den bei uns umgetauschten 60,- hätten wir dann vierhundertsechzig WEST! Zum herrschenden Kurs 4 Monatslöhne, einfach so geschenkt. Die einzuzahlenden 60 DDR-Mark fallend da praktisch nicht ins Gewicht. Wir sind reich! Jedenfalls werden wir reich sein, nachdem wir uns angestellt haben. Die Wirkung der Schlangen ist zunächst allerdings noch sehr abschreckend, zumal wenn man hoffen kann, in den nächsten Wochen alles viel entspannter vorzufinden – wieder sind die Berliner bevorzugt, werden sie in Sachsen sagen. Also bummeln. Viele Geschäfte haben geöffnet. Das „Ladenschlußgesetz“ soll für dieses Wochende aufgehoben sein. Dieses Gesetz ist ohnehin eine der für uns unverständlichen Errungenschaften: Da dürfen Kunden nichts mehr kaufen, obwohl die Ladenbesitzer gern weiter offenhalten würden, nur damit die Verkaufskräfte keine Spätschicht machen müssen? Bei uns springen die Leute nachts um drei in den Werkhallen herum, weil die Maschinen so teuer waren. Wie auch immer: Heute darf trotz Sonntagsruhe verkaufen wer will, und stand einer kurz vor der Pleite, hat er jetzt nochmal seine unverhoffte Chance. Aber pleite sieht hier keiner aus. „Jeans ab 15 Mark!“ Scheint überhaupt eine ausgesprochene Jeansgegend zu sein, dieses Neukölln. Kaum vorstellbar, daß sie mit den Eingeborenen genügend Umsatz machen. Die Ost-ler jedenfalls drängen sich heute in den Jeansbuden, an Imbißständen, vor Süßwarengeschäften und vor allem beim Obstverkauf. Apfelsinen, Ananas, körbeweise Weintrauben (im November!) und immer wieder DIE Wohlstandsfrucht der DDR-Seele: BANANEN! Unsere Invasion hat nach drei Tagen das Unvorstellbare vollbracht – im Westen werden die Bananen knapp, die reifen jedenfalls. Man verkauft grüne, unsere Leute merken es nicht mal so richtig. Wer es heute darauf anlegt, könnte ganzen Tausendschaften das Fell über die Ohren ziehen, aber der Trend geht wohl eher zum Verschenken, als zur Überteuerung. Ich schäme mich ein wenig für meine mißtrauischen Gedanken.

Neben „Quelle“ dann eine Schlange, die ungewöhnlich rasch vorrückt. Wir fragen. „Halbe Stunde“, heißt es. Da kann man denn doch weich werden. Was ist schon eine halbe Stunde für 400 WEST. Im Stehen wird es dann doch empfindlich kühl. Der Arbeitersamariterbund verteilt heißen Tee. Ein Mann mit einer riesengroßen SPD-Plakette am Revers geht die Reihen entlang: „Wenn Sie Kinder dabei haben, und sich ein wenig aufwärmen wollen; Die SPD lädt Sie ein ins Jugendfreizeitheim gleich hier in der Querstraße. Es gibt auch Kaffee und einen Imbiß…“

Viele freiwillige Helfer sind auf den Beinen, die meisten wohl schon den dritten Tag. Auch die Kassiererin, die uns das Geld auszahlt, sieht sehr müde aus. Wir bedanken uns, daß sie sich wegen uns den Sonntag um die Ohren schlägt, sie lächelt. Ein Angestellter ruft in den Schalterraum: „Öffnungszeit nochmal verlängert bis Zwei!“ Was für eine Atmosphäre in einem Land, das angeblich „die gefühllose bare Zahlung“ zum Maßstab des Lebens macht. Zwei Gesellschaftsordnungen bestaunen sich.

Die Kinder sind vom Anstehen durchgefroren. Wir suchen das Freizeitheim. Es ist wirklich gleich um die Ecke und leer. Drei Männer hantieren hinter einer Durchreiche an Kannen und Töpfen, gießen uns Kaffee ein. „Tee für die Kinder?“ Über der Durchreiche eine Preistafel: „…Kaffee – 50 Pf…“ Der Kaffee schmeckt gut, aber eine ganze kostbare Westmark nur so zum Aufwärmen… Einer muß unseren Blick bemerkt haben. Er macht es uns leicht, wendet sich an seinen Mitstreiter: „Ich glaube, wir müssen die Disko-Preis-Tafel doch abmachen, sonst denken die Leute noch, sie müßten SOGAR HEUTE den Kaffee bezahlen.“

Bewegung am Eingang. Ein HERR kommt: Jung, Bart, Metallbrille, sehr freundlich, schaut offenbar nach dem Rechten. Jemand stellt vor: „Frank Bielka, unser Bezirksbürgermeister.“ Er begrüßt uns, wir sind derzeit die einzigen Gäste. Small talk: „Haben Sie sich schon ein wenig umgesehen, gefällt es Ihnen bei uns hier in Neukölln?“ Nach so kurzer Zeit läßt sich noch kaum etwas sagen, meinen wir, alles noch zu neu. Und dann, damit wir nicht gar zu blöd dastehen als staunende Wilde, machen wir das Allerblödeste, Kraft unserer 2 Stunden Westerfahrung gehen wir sofort daran, im Kapitalismus gleich mal Ordnung zu schaffen: Eins wäre uns aufgefallen, sage ich, die Fassaden in der Karl-Marx-Straße paßten nicht in unser Westklischee. Sie sehen kaum anders aus, als bei uns. Die Auslagen, ja die sind natürlich picobello, teilweise erdrückend prachtvoll, prunkvoll, glanzvoll, überhaupt fast zu voll. Aber darüber sieht es richtig stinknormal aus – „stinknormal“ haben wir zu dem Herrn Bürgermeister natürlich nicht gesagt. Der Beitrag war auch so dumm genug und mit meiner spendierten Kaffeetasse in der Hand tut es mir leid, kaum daß die letzte Silbe heraus ist. Er aber sieht das ganz und gar nicht so eng. Ja, das sei ein Problem in Neukölln, meint er. Da müsse er sich noch tüchtig mit Momper auseinandersetzen… Bürgernähe! Unseren Stadtbezirksbürgermeister kennen wir nicht, nicht mal seinen Namen. Wahlveranstaltungen haben wir nie besucht, es schien sinnlos alle paar Jahre den Demokratie-Kasper zu spielen. Auf der Straße haben wir unseren auch nicht getroffen, warum den Neuköllner? Vielleicht wirklich ein seltener Zufall, das mit dem Bielka, aber keine schlechte Anekdote, oder? Und ein schöner Abschluß für Neukölln und die Karl-Marx-Straße.

„Wir sollten dorthin, wo jetzt keiner ist,“ meint Claudia „- zum Brandenburger Tor!“ Sie spinnt, denke ich. Sie hat recht, stellt sich heraus. Zumindest Ostler sind hier heute kaum zu finden.

Später fragen wir Freunde und Kollegen. Keiner war an diesem Tag dort. Alle haben ihr Geld abgeholt. Alle haben irgendetwas gekauft. Am Brandenburger Tor war keiner.

Trotzdem ist dort alles gerammelt voll, vor allem Ausländer fallen auf, dazu viele Westberliner oder Westdeutsche. Vom Lehrter Stadtbahnhof war es nur ein kleiner Weg bis zum Platz vor dem Reichstag, und von dort nur ein Sprung zum Brandenburger Tor – wie leicht heute alles ist, was noch vor 3 Tagen schier unmöglich erschien.

Das alte Wahrzeichen! Früher diente es sogar als Pausenbild fürs DDR-Fernsehen, als das noch „Deutscher Fernsehfunk“ hieß. Damals sangen wir unsere Hymne noch. „…Deutschland, einig Vaterland!“ Dieses Tor war fast immer Grenze, Begrenzung, aber solange man es passieren konnte auch Symbol der Gemeinsamkeit, von Stadt und Umland, Ost und West, und schließlich letztes Symbol deutscher Gemeinsamkeit. Vor 28 Jahren wurde es das Wahrzeichen der endgültigen Teilung. Endgültig?

Die Mauer ist hier einen guten Meter flacher als anderswo und -für uns verblüffend – versehen mit einer breiten Krone, auf der man bequem umherspazieren könnte. Jetzt erst begreifen wir die Bilder der letzten 2 Tage. Heute jedoch stehen keine Randalierer dort oben, sondern einige breitbeinige Grenzer, dazu ein Team der Aktuellen Kamera. Auf Westberliner Seite ein dünnes Passierband, das die Leute von der Mauer fernhalten soll. Dahinter spazieren einige Polizisten umher. Eine Absperrung in Anführungszeichen, eher nur ein Tabu-Strich in der Landschaft, ein Witz, verglichen mit dem soliden Beton dahinter (und selbst den hatten SIE gestern umgeworfen). Wer weiß, was sich hier demnächst noch abspielt. Die „Fensterplätze“ an diesem Theater der Weltgeschichte sind jedenfalls schon dicht besetzt: Scheinwerfer, Kameras, Podeste, auf denen Interviews gegeben werden – die Medien der Welt sind auf Ballhöhe. Fragt sich nur, wer der Ball ist. Und werden sie sich mit Interviews zufrieden geben?

Links und rechts an der „normalen“ Mauer, die man nach wie vor ungehindert erreicht, stehen Einzelne oder kleine Grüppchen und pickern sich Betonbrocken heraus, mit Hammer und Meißel, Schraubenziehern, Taschenmessern… Jedes herausgelöste Krümchen wird mit Beifall bedacht. Viele Fotoapparate, Videokameras. Deutlich zu sehen auch wo SIE vorige Nacht die Betonplatte umgestürzt hatten, noch ein lohnendes Fotoziel.

Die Sorgen sind wieder da.

Wir laufen Richtung Potsdamer Platz, immer vorbei an hämmernden Menschen. Ich schimpfe halblaut. Eine Männerstimme hinter mir: „Was paßt Ihnen denn nicht, an so einem herrlichen Tag.“ Ich wende mich um. Offenbar ein Westler. Gutaussehend, baumlang, eleganter Mantel, etwa in meinem Alter, neben sich eine kleine Frau. „Mir paßt nicht, daß Ihre Leute die Mauer einreißen, nachdem meine Leute die Türen darin aufgemacht haben. Durch solchen gesamtdeutschen Blödsinn kann alles verspielt werden!“ Er scheint perplex, sagt nichts, lächelt nur ein wenig hilflos. Ein Sieg! Ein Sieg über Gedankenlosigkeit und Kriegstreiberei! Mir ist besser. „Du bist wirklich der größte Muffel Groß-Deutschlands“, sagt Claudia. „Was haust Du auf den armen Kerl denn so ein. Der hat Dir doch nichts getan. Er wollte nett sein und Du spielst den Klassenkämpfer, pflegst Deine Weltkriegsfurcht. Stimmungsverderber!“ Sie hat recht. Ich bin ein Arschloch! Das Arschloch wendet sich also nochmal um, und versucht, sich zu entschuldigen, zu erklären. Der Westler begreift zwar nicht, aber er ist fair und verzeiht. Wir kommen ins Gespräch. Ein Kollege von Claudia, stellt sich heraus. Werbebranche. Selbständig. Wir fabulieren bis zum Potsdamer Platz, haben aber bis dahin kaum die Standpunkte abstecken können. Es verspricht interessant zu werden. Wir wollen weiterreden, aber erst sollen die Fahrräder geholt werden, die sie irgendwo im Tiergarten angeschlossen haben.

Wir verabreden einen Treffpunkt, warten 20 Minuten an der falschen Stelle, weil wir, wie sich dann herausstellt, die Staatsbibliothek wegen ihrer Größe für die Nationalgalerie halten – und verlieren uns für immer aus den Augen. Schade.

Wir müssen zurück. Am Potsdamer Platz etliche Polizeifahrzeuge. Die Kinder staunen über die außen vergitterten Scheiben und die Beulen im Blech. Diese riesige kahle Fläche soll einst der verkehrsreichste Platz Europas gewesen sein. Heute liegt seine wiedergekehrte Bedeutung in einem halben Dutzend Betonelementen, die Bautrupps gestern dort zur Seite geräumt haben.

Morgen – nach der Aufhebung des „Schießbefehls“ – wird hier Richard von Weizsäcker unseren Grenzern die Hand schütteln, und später wird man vielleicht eine Tafel anbringen.

Als wir uns vor der gewaltigen Bresche in Richtung Heimat einreihen, ist es fast dunkel. Immer noch Volksfeststimmung. Eine Truppe mit Pauken, Rasseln, Bongos, Trommeln und Tamburins macht gewaltigen Lärm. Brasilianische Karnevalsrhythmen. Unwillkürlich bewegen wir uns im Takt langsam vorwärts. Die Mauer. Jetzt erst sieht man, wie riesig hier die kahle Fläche war. WAR? „Ausweise hochhalten, Paßbildseite aufschlagen!“

U-Bahnhof Otto-Grotewohl-Straße. Daheim.

 

 

 

 

Stuttgart, 17.12.89

Lieber Frank!

Bevor Du nun glaubst, daß meine guten Vorsätze endgültig wieder dahin sind, setze ich mich nun doch hin, um auf Deinen (inhaltlich) „überraschenden“ Brief zu antworten. Die letzten Wochen waren so voll mit allem Möglichen. Weihnachtsstress könnte man sagen, aber anders als Du vermutest. Wie Du vielleicht weißt, habe ich noch so etwas wie einen – unbezahlten – Nebenjob, der in der Weilnachtszeit besonders gefragt ist, meine musikalischen Aktivitäten. Allein an diesem Wochenende drei Auftritte, zwei Mal Händels Oratorium „Judas Maccabeus“, ein Mal Kirchenmusik. All das will geprobt sein etc, etc. Ich war noch nicht ein einziges Mal im allgemeinen Kaufgewühl in der Stadt und werde es auch bis Weihnachten noch zu vermeiden wissen (allerdings nimmt da Judi einiges ab).

Damit wären wir schon beim Thema Deines Briefes und Deinem überraschenden und höchst interessanten Vorschlag einer Bruderrolle in Deinem Buch. Ich weiß nicht, ob Du eine bestimmte Vorstellung von einem Bruder im Westen hast. Aber der typische „Westler“, wenn es den gibt, bin ich vermutlich nicht. Auch weiß ich nicht, ob ich den Bruder in der Form, wie Du ihn Dir vorgestellt hast, spielen kann, ohne tatsächlich in eine Rolle zu verfallen. Ich fürchte ich kann mich nur schwer authentisch in die Lage dessen versetzen, der die DDR schon früher verlassen hat. Immerhin war ich, mit kleinen Ausnahmen in Ost-Berlin, nie in diesem Land, das ich eigentlich erst in der Zukunft entdecken möchte. Die DDR war für mich immer weiter weg als Indonesien, geographisch aber auch als gesellschaftliches Gebilde. Vielleicht wäre es daher besser, daß ich Dir Material für eine Figur biete, die die DDR nicht kennt, vielleicht einen Halbbruder, oder einen Cousin, den Du nur einmal während eines Urlaubs in Ungarn getroffen hast. Für den gäbe es dann, ebenso wie für Dich, auch einiges zu entdecken, was ja für die Darstellung einer Entwicklung nicht schaden kann.

Das wäre dann einer wie ich, der die DDR bislang immer als etwas weit Entferntes und Bizarres angesehen hat. Irgendwie hatte ich mich längst damit abgefunden, daß die DDR ein eigenes Land sei, das sein eigenes Leben führt. Ein besonderes Gemeinsamkeitsgefühl hatte ich kaum verspürt. Ich hielt das Land für eine Folge des 2. Weltkrieges, der ja nun einmal nicht ohne Folgen sein konnte. Sogar unter dem Gesichtspunkt eines „Deutschtums“ konnte ich der Vorstellung von zwei deutschen Staaten einen Vorteil abgewinnen. Wäre selbiges nicht besonders stark, wenn es in zwei und ja noch in zwei weiteren Staaten vertreten war? Ich glaubte, wie Du ja offensichtlich auch, die Folgen des Weltkrieges rückgängig machen zu wollen, hieße den Weltfrieden aufs Spiel setzen und mit Verwunderung schaute ich auf die, die nach so langer Zeit noch alte Vorstellungen aufrecht hielten. Merkwürdigerweise wurde diese meine für gefestigt gehaltene Vorstellung in den letzten Wochen einigen Prüfungen unterzogen. Die plötzlich sich eröffnende Möglichkeit eines einheitlichen Landes mit einer wirklichen Hauptstadt (was für ein armseliges Nest ist doch Bonn) ließen meine alten Vorstellungen verblassen, so daß ich mich fragen mußte, ob diese möglicherweise nur aus der scheinbaren Unvermeidbarkeit der bestehenden Tatsachen resultierten.

Mittlerweile sind die ersten Gefühle vorbei und Überlegungen können an ihre Stelle treten. Ich denke jetzt, daß die Vereinigung der beiden Gesellschaften kommen wird und zwar in erster Linie aus wirtschaftlichen Gründen. Ich denke, daß das Herumdoktern an einem dritten Weg bald zu einem Weg führen wird, der unserem System sehr ähnlich ist und vielleicht nur den Spielraum, den unser System läßt, etwas weiter in die eine oder andere Richtung nutzt. Das marktwirtschaftliche System hat gewisse Gesetzmäßigkeiten, die man nicht außer Acht lassen kann, ohne den Erfolg zu verspielen, den man in der DDR wird haben wollen (schon wegen des unvermeidlichen Vergleichs mit der BRD). Man kann die sozialen Verpflichtungen mehr – wie in Schweden – oder weniger – wie in den USA und England – hervorheben, aber man kann die Kuh, die man melken will, nicht schlachten (oder erst gar nicht erzeugen). Und bald wird sich in der DDR herumsprechen, daß Kapitalismus nicht etwa bedeutet, daß man wirtschaftlich machen kann, was man will (als Privatperson oder Gesellschaft). Diese Vorstellung scheint, sicherlich unter dem Eindruck von Desinformation, unter Deinen Landsleuten ziemlich verbreitet, was ich nicht nur den vielen Statements von Leuten entnehme, die ohne nähere Kenntnis unseres Wirtschafts- und Sozialsystems – meist in sehr allgemeiner – Form urteilen. Ich finde sie auch in meiner beruflichen Praxis erstaunlich häufig. Als Wirtschaftsstaatsanwalt beschäftige ich mich ja mit den Exzessen unseres Systems und versuche daran mitzuwirken, daß sie sich einigermaßen in Grenzen halten. Es ist auffällig, daß viele ehemalige DDR-Bürger in solche Exzesse verwickelt sind und offensichtlich völlig falsche Vorstellungen über die Pflichten haben, welche einem Wirtschaftenden hier auferlegt sind, bzw. sie glauben, diese nicht so ernst nehmen zu müssen. Vielleicht kann man sich eine Menge Überlegungen sparen, wenn man sich einmal anschaut, was sich in dieser Hinsicht sowohl an präventiven als auch an repressiven Mechanismen hier alles entwickelt hat.

Zu letzteren darf ich auf ein Opus verweisen, an dem ich selbst mitgewirkt habe und das einen umfassenden Überblick über das Wirtschaftsstrafrecht bietet (ich lege Dir einen Prospekt bei – ich bearbeite übrigens den Teil „Soziale Sicherheit der Arbeitnehmer“ und „Illegale Beschäftigung“). Vielleicht kannst Du ein bißchen Reklame für dieses Buch bei Euch machen (du siehst, daß ich hier ganz kapitalistisch denke, wiewohl ich nur reich davon werde, wenn ihr 50.000 Stück davon ordert).

Aber zurück zum Wiedervereinigungsthema. Ich denke also, daß sich unsere Systeme so aneinander annähern werden, daß man sich fragen wird, warum zwei Staaten sein sollen. Ich denke, dass man dies in keiner Weise beschleunigen braucht und insbesondere auch nicht soll. Z.Zt. zerbrechen sich hier reichlich viele Leute Euren Kopf, und das obwohl dieselben ständig betonen, daß Ihr Euren eigenen Kopf haben sollt. Das Aufsehen, das all dies bei unseren Nachbarn erzeugt hat, ist höchst überflüssig und nährt auf deren Seiten alte Ressentiments und bei uns nur Trotzreaktionen. Ich denke, daß sich die Dinge auch ohne die Kohl´schen 10 und andere Punkte in die von vielen erstrebte Richtung entwickeln werden.

Lieber Frank, das war der „Brief zur deutschen Einheit“. Es gibt tausend Themen, über die ich noch schreiben könnte. Ich denke Du hörst bald von mir. Wir kommen, nachdem das Eintrittsgeld bei Euch zwischenzeitlich weggefallen ist, sicher bald in die DDR, aber ich denke, daß es darüber Frühjahr werden wird. Vielleicht kommt Ihr doch vorher zu uns – ihr seid herzlich eingeladen und könnt bei uns natürlich im Haus wohnen. Wollt ihr nicht gemeinsam mit uns Neujahr feiern? Werft Euch in einen Zug!

Auf jeden Fall schöne Feiertage.

Dein Klaus

Grüße auch an Marietta und die Kinder.

Unsere Tel. Nr. lautet übrigens xxx

Anbei noch einen Artikel aus dem „Independent“ vom 13.12. den ich unter ökonomischen Geschichtspunkten für realistisch halte.

Soeben (18.12.) lese ich in der Zeitung, daß bei einer Repräsentativumfrage in der DDR 70 % der Befragten gegen eine Wiedervereinigung gewesen seien. Wird da die Rechnung ohne den Wirt gemacht?