Monatsarchiv: Mai 2008

1786 Wolfgang Amadeus Mozart (1756 – 1791) Konzert für Klavier und Orchester c-moll, KV 491

 

In seinem persönlichen Werkverzeichnis, das Mozart in den sieben letzten Jahren seines Lebens führte, ist die Fertigstellung des Klavierkonzertes in c -moll für den 24.3.1786 notiert. Die nächste Eintragung betrifft die Vollendung der Oper „Die Hochzeit des Figaro“. Zwischen den beiden Werken liegen nur etwas über vier Wochen. Der Unterschied zwischen ihnen könnte aber kaum größer sein. Der „Figaro“, an dem Mozart seit Oktober 1785, also parallel zum Klavierkonzert arbeitete, ist, wiewohl durchaus auch ernste, nämlich persönlich leidenschaftliche und politische Themen angeschnitten werden, inhaltlich und musikalisch der perfekte Ausdruck des lebensfroh verschnörkelten Rokoko. Im Klavierkonzert hingegen herrscht eine außerordentlich ernste Stimmung. Mozart kleidet seine musikalische Aussage nicht, wie bis dato bei ihm die Regel, in hintergründige Heiterkeit, sondern äußert sich ungewöhnlich unmittelbar und mit großem Pathos. Es werden Töne angeschlagen, wie man sie sonst eigentlich erst in der ausgebildeten Klassik, insbesondere bei Beethoven hört (das Konzert wird daher gerne im Zusammenhang mit Beethovens Schicksalssymphonie genannt, mit dem es die „düstere“ Tonart teilt).

 

Der markante Unterschied zwischen zwei Werken, die zeitlich so nahe beieinander liegen, diente den Persönlichkeitsdiagnostikern immer wieder exemplarisch zur Konterkarierung des Klischees vom Götterliebling Mozart und als Beleg für die außerordentliche Bandbreite seines Charakters. Die Tatsache, dass  der Komponist sich mitten in einer Phase, in der er mit der Fertigstellung des Riesenwerkes der Oper mehr als ausgelastet gewesen sein dürfte, auch mit einem derart andersartigen Werk befasste, zeige, dass  ihm die rokokohaft-heitere Seite der Musik seiner Zeit keineswegs genug war. Mozart scheint die Arbeit an diesem Klavierkonzert in der Tat sehr wichtig gewesen zu sein. Zahlreiche Verbesserungen, Streichungen und Ergänzungen im Autograph der Partitur lassen darauf schließen, dass  er mit dem musikalischen Text mehr als bei ihm üblich gerungen hat.

 

Neuerdings ist dem Bild von den Bedingungen der künstlerischen Produktion bei Mozart und den unterschwelligen Inhalten seines künstlerischen Schaffens am Beispiel dieses Konzert noch eine weitere mögliche Facette hinzugefügt worden. Es wurde festgestellt, dass  in der Zeit, als der Plan zur Komposition des Klavierkonzertes reifte, auf ausdrückliche Anordungs von Kaiser Josef II. auf dem Hohen Markt, unweit von Mozarts Wohnung, ein vier Stunden dauerndes Hinrichtungsexempel an dem Raubmörder Zahlheim statuiert wurde. Dafür hatte der an sich aufgeklärte Monarch eigens sein fortschrittliches, seinerzeit beispielloses Dekret über die Suspendierung der Todesstrafe von 1781 ausgesetzt. Man hat nahegelegt, dass  sich das Ereignis, an dem 30.000 Schaulustige teilnahmen, im Klavierkonzert widerspiegele.

 

Tatsächlich mutet etwa der ständige Wechsel zwischen martialischen, dramatisch düsteren, turbulenten und mitleidsvollen Passagen im ersten Satz des Konzertes wie eine Auseinandersetzung mit dem barbarischen Geschehen an. Der strenge Unisono-Anfang klingt wie die Verkündung eines gnadenlosen Strafverdiktes und die folgenden, scharf akzentuierten Tritonussequenzen erscheinen wie Schläge, die ohne Mitleid auf das „Opfer“ niederprasseln, zumal die Intervalle wiederholt grell aus der Grundtonart fallen. Die nachhaltige Betonung dieses Intervalls, eines Sprungs über drei Ganztöne, ist bezeichnend. Mozart verwendet damit eine Figur, die wegen ihrer extremen harmonischen Spannung als „diabolus in musica“ bezeichnet und in der kompositorischen Tradition zur Darstellung eines schmerzhaften Geschehens eingesetzt wird. Das volle Orchester, das massiv mit insistierenden Repetitionen einsetzt, scheint für die Volksmasse zu stehen, die von Rachegelüsten aufgestachelt und von Schaulust erregt ist. Schließlich gibt es noch einen imaginären Beobachter, der immer wieder an das Mitleid appelliert, eine Haltung, die Mozarts eigene Empfindungen wiederspiegeln dürfte. Wie in der Wirklichkeit auf dem Hohen Markt ist das grausame Schauspiel nicht aufzuhalten. Es nimmt in der Musik mit beklemmender Konsequenz seinen unerbittlichen Lauf bis eine gequälte Seele kläglich verlöscht.

 

Darauf dass  es hier um „schreckliche“ Fragen des Todes geht, zeigt auch die Tatsache, dass  Mozart eine dramatische musikalische Passage später wieder in seinem Requiem verwendet. Für die Interpretation musikalischer Selbstzitate gilt zwar in der Regel, dass  man aus dem Kontext, im dem eine zeitlich frühere Verwendung eines Motivs steht, auf die Bedeutung schließen kann, die es in einem späteren Kontext haben soll. Im Falle des c-moll Konzertes dürfte es aber angesichts der Gesamtkonstellation wohl erlaubt sein, in einer Art retrograden Interpretation Schlüsse aus dem späteren Kontext auf seine frühere Bedeutung zu ziehen. Wenn Mozart im „Rex tremendae“ des Reqiems mehr oder weniger „wörtlich“ eine rythmisch stark akzentuierte, absteigende Passage mit anschließender Beruhigung aus dem ersten Satz des Konzertes zitiert, dann ist dies ein Hinweis darauf, dass  diese Passage für ihn tödliche Dramatik ausdrückt.

 

Wenn diese Deutung des Konzertes zutrifft, dann wäre es in der Tat in besonderem Maße geeignet, Aufschluss über Mozarts Charakter zu geben. Sollte er das menschlich und politisch höchst brisante Ereignis dieser öffentlichen Hinrichtung tatsächlich in seinem Konzert reflektiert haben, würde diese Tatsache und die Art ihrer Abhandlung einen außerordentlichen humanitär-seriösen Zug in seiner Persönlichkeit offenbaren.

 

Abgesehen von derlei biographischen Aspekten ist das Konzert im übrigen auch ein wesentlicher Schritt auf dem Weg der Steigerung der musikalischen Komplexität, auf dem der experimentierfreudige Komponist stetig voranschritt. Schon bei den Konzerten, die dem c-moll Konzert in dichter Folge vorausgingen, hatte Mozart das Zusammenspiel von Soloinstrument und Orchester immer mehr im Sinne einer symphonischen Konstruktion verdichtet. Das Orchester wurde nicht nur mit umfangreichen Tuttiblöcken, sondern auch in immer neuen Gruppierungen am musikalischen Geschehen beteiligt. Im c-moll Konzert hat es nun auch die volle klassische Besetzung. Erstmals in Mozarts Werk werden die Klarinetten nicht anstelle, sondern neben den Oboen eingesetzt. Darüber hinaus sind auch Pauken und Hörner beteiligt, wobei letztere nicht mehr nur die Harmonie verstärken, sondern eigenständige Stimmen haben.

Krüger Park

 

Es ist Mittagszeit im Krügerpark. Die Sonne steht senkrecht über einem Wasserloch. Zwei Zebras, Mutter und Kind, nähern sich und trinken. Müde trotten sie ein paar Meter weiter und bleiben stehen. Das Fohlen drückt sich an die Flanke der Mutter. Die Mutter legt den Kopf auf den Rücken ihres Kindes. So stehen sie eine Stunde lang in der prallen Sonne. Nur gelegentlich wechseln sie die Stellung, um sich in neuer Position, mal mit verschlungen Hälsen, mal den Kopf auf dem Rücken des anderen gelegt, wieder eng aneinander zu schmiegen.

 

Eine Affenfamilie überquert vor einem Fahrzeug die Straße. Vornweg geht gemäßigten Schrittes der Vater. Die Mutter folgt im Abstand von einigen Metern. Dazwischen springt aufgeregt ein kleiner Affenjunge. Laut quietschend fordert er die Mutter zur Eile auf, was diese wenig beeindruckt. In aller Ruhe trottet sie weiter über die Straße. Der Kleine wird immer unruhiger und hüpft vor Aufregung ständig in die Höhe. Als die Mutter die Straße überquert hat, beruhigt er sich und springt auf ihren Rücken. Er krallt sich in ihr Fell und blickt erleichtert zum Fahrzeug zurück.

 

Eine Elefantenherde frisst sich durch das Buschland am Rande der Straße. Zunächst kann man sie nur hören. Äste werden abgerissen oder zertreten. Dann wird ein dicker Rüssel sichtbar, der einen Zweig umschlingt und ihn mit einem Ruck abreißt. Langsam schiebt sich danach ein Bulle durch das dichte Laub und überquert kauend die Straße. Auf der anderen Seite setzt er seine Mahlzeit fort. Es folgt eine Elefantenkuh mit einem Kleinkind, das mit baumelndem Rüssel tollpatschig auf der Straße umherspringt. Die Mutter drückt sich in das Gebüsch der gegenüberliegenden Straßenseite. Als das Kleine bemerkt, dass die Mutter nicht mehr zu sehen ist, rennt es in die nächste Lücke zwischen den Büschen. Kurz darauf stürzt es aufgeregt trompetend wieder auf die Straße, um in einer anderen Lücke der Vegetation zu verschwinden.

 

Dann treten Elefanten von allen Seiten aus dem Gebüsch. Die meisten überqueren gemächlich die Straße und setzen ihre Mahlzeit auf der anderen Seite fort. Eine Gruppe von fünf Tieren, drei Elefantenkühe und zwei Kinder, bleibt auf der Straße stehen. Die beiden Kleinen legen sich müde am Straßenrand nieder. Die erwachsenen Damen, unter denen mindestens eine Tante sein muss, stellen sich, jede in eine anderen Richtung blickend, um die schlafenden Kinder und warten regungslos. Nach einer Viertelstunde beginnt sich einer der beiden Youngster zu regen. Genüsslich räkelt er sich auf dem Boden und streckt die Beine. Daraufhin kommt Bewegung in die Damenrunde. Man macht Anstalten zum Aufbruch. Der zweite Schläfer lässt sich vorläufig jedoch noch nicht stören. Auf einen weichen Tritt seines Schlafgenossen zeigt er keine Reaktion. Erst als ihn eine der Damen nachdrücklich mit dem Rüssel schubst, steht er, ein wenig verschlafen, auf. Dann setzt die Gruppe ihren Weg fort und verschwindet im Gebüsch. Der Straßenverkehr, der inzwischen blockiert war, kann wieder rollen.

 

Verdeckt durch Gebüsch schläft ein halbwüchsiger Elefantenbulle am Straßenrand. Ein Auto fährt vorbei. Der junge Bulle springt verschreckt in die Höhe und blickt den Störenfried vorwurfsvoll an. Der Fahrer des Fahrzeuges bleibt stehen und schaltet den Motor ab. Autofahrer und Bulle stehen sich gespannt gegenüber. Schließlich wendet der junge Bulle seinen Blick ab und beginnt schläfrig durch das Gebüsch zu trotten. Hier und dort reißt er ein paar Zweige ab und schiebt sie lustlos ins Maul. Schließlich übermannt ihn wieder die Müdigkeit. Mit einem vernehmbaren Plumps lässt er sich am Straßenrand in die Äste des Buschwerkes fallen. Bald hört man regelmäßiges tiefes Atmen. Nach einer Weile entschließt sich der Fahrer des Wagens weiterzufahren und lässt den Motor an. Wütend springt der Bulle wieder auf, wedelt aufgeregt mit seinen großen Ohren und beschwert sich laut trompetend über die erneute Ruhestörung. Er rennt verärgert umher und verschwindet schließlich im Gebüsch.

 

Im Hause Baboon ist Familienkrach. Ein Teenager hat Vater Baboons Zorn erregt. Der Alte brüllt den Jungen mit gefletschten Zähnen an. Dieser hält dagegen, was Vater Baboon vollends aus der Fassung bringt. Wutentbrannt stürzt er sich auf seinen Sprössling. Dieser flüchtet in den nächsten Baum. Der Alte setzt nach. Begleitet von martialischem Geschrei folgt eine wilde Jagd durch das Geäst, an der auch andere Familienmitglieder teilnehmen. Der Junge fliegt von Baum zu Baum, der Vater folgt mit beängstigender Nachdrücklichkeit. Einmal, als er sich in gesicherter Position wähnt, hält der Junge an und zetert unbeeindruckt gegen den Alten. Der setzt nun alles auf eine Karte und rast, koste was es wolle, hinter dem respektlosen Jüngling her, bis dieser das Feld räumt.

 

Im Schatten von Schirmakazien haben sich einige hundert Springbock-Antilopen niedergelassen. Propere Weibchen mit schöner Zeichnung liegen zufrieden kauend im Steppengras umgeben von ihren Jungen. Die Teenager sitzen, eng zusammengeschart und nach Geschlechtern getrennt, etwas abseits. Von den männlichen Youngstern erhebt sich gelegentlich ein Paar und geht mit den Geweihen aufeinander los. Dabei achten sie sorgfältig darauf, dass sie sich nicht gegenseitig verletzen. Gelegentlich verhaken sie sich und haben Schwierigkeiten wieder auseinander zu kommen. Ihre Geweihe sind noch kurz. Ein großes Geweih hat hier nur einer. Durch die Herde stolziert ein prächtiger Bock, der alles im Blick und im Griff hat.

 

Eine Gruppe von Zebras grast friedlich am Straßenrand. Unter ihnen befindet sich ein junges Tier, das auf drei Beinen humpelt. Den Fuß des vierten Beines hat es sich gebrochen. Er baumelt nur noch lose an einigen Fleischlappen. Tapfer versucht das Junge mit der Gruppe mitzuhalten. Aus ihr kommen immer wieder einzelne Tiere in seine Nähe und muntern es auf, indem sie ihm mit der Nase in die Seiten drücken oder ihm mit dem Kopf über den Rücken streichen. Es wird das nächste Opfer der Raubkatzen oder der Hyänen sein.

 

Man geht in den Krüger Park, um Antworten auf Fragen über Tiere zu erhalten, kommt aber mit Fragen über den Menschen heraus, welche die Antworten in Frage stellen, die er über die Tiere zu geben pflegt.

Briefe aus der Wendezeit – Teil 11

Stuttgart, 18.8.1991

 

Lieber Frank,

 

Nun haben wir auch die andere Hälfte der deutschen Hinterlassenschaft im Osten in Augenschein genommen. Wir haben das ganze alte Preußen von Stettin bis an die russische Grenze durchfahren und an allerhand geschichtsträchtigen Orten Deutsches und Nichtdeutsches aufgesucht einschließlich dem, was mal dieses und mal jenes gewesen ist.

 

Seit wir im Frühjahr die ersten Schritte in diese Richtung gemacht haben, hat die Ostflanke Deutschlands für mich eine bemerkenswerte Anziehungskraft entwickelt. Sicher war dabei das Bedürfnis im Spiel, die totale Nichtbeachtung wieder gut zumachen, die mein Verhältnis zu dieser Region bis vor Kurzem bestimmt hat. Spätestens nach den Besuchen in Auschwitz und Warschau kam auch der Wille hinzu, ein wenig zur Normalisierung des nicht eben einfachen Verhältnisses von Polen und Deutschland beizutragen. Mittlerweile hat sich jedoch eine tiefergehende Neugier entwickelt. Die Beschäftigung mit dem Osten hat offensichtlich auch sehr viel zu tun mit der jetzt allenthalben ausgebrochenen Suche nach dem merkwürdigen Phänomen, das sich Deutschland nennt (während ich dies niederschreibe, trägt man in Potsdam den alten Fritz nochmals zu Grabe; in Zittau verprügelt man rumänische Asylbewerber). Diese Suche erinnert stark an das Verhalten von adoptierten Kindern, die – allen Geheimhaltungsbemühungen von Adoptiveltern und Behörden zum Trotz – in einem bestimmten Alter von dem unwiderstehlichen Drang befallen werden, ihre Herkunft aufzuklären.

 

Auch die Westdeutschen, die von Deutschland früher eher Abstand (und Wohlstand) wollten, sind heftig auf der Suche nach dem verlorenen Vaterland. Der Pulverdampf der Schlacht um Berlin ist noch nicht verzogen, da stürzt man sich bereits in eine neue heiße Geschichtsdiskussion und ist drauf und dran, das deutsche Kind mit dem preußischen Bad auszuschütten. Die Diskussion um Friedrich den Großen, die man in den Ländern, welche nach wie vor ihren Napoleon oder Robert Clive verehren, mit Verwunderung beobachten dürfte, zeigt nur zu deutlich die Schwierigkeiten, welche die Deutschen mit ihrem(n) deutschen Land(en) haben. Die Lage wird nicht gerade erleichtert durch die Begleitmusik aus dem Osten Deutschlands, wo einige „Zeitgenossen“ das Vaterland mit eher abgestanden Methoden suchen. Immer deutlicher wird, daß – unter kräftiger Mithilfe erfolgloser westlicher Politunternehmer – ausgerechnet im antifaschistischen Osten ein lebhafter Markt für ausrangierte Politprodukte entsteht, die man doch mit Fug für unverkäuflich halten durfte[1]. Es scheint, daß man den Ostdeutschen im Augenblick jeden Ladenhüter andrehen kann. Freilich tragen die politischen Gebrauchtwarenhändler weniger zur Suche nach dem Vaterland als dazu bei, es zu spalten.

 

Die Begeisterung für das ganze Deutschland, die im Westen aus naheliegenden Gründen ohnehin verebbt, hat – so fürchte ich – ihren entscheidenden Schlag erhalten, als vor einiger Zeit die Bilder der antipolnischen Ausschreitungen an der Grenze um die Welt gingen. Die Reaktion auf diese Vorkommnisse haben wir übrigens in Polen zu spüren bekommen. Die Stimmung in der Grenzregion war äußerst frostig. So deutlich habe ich antideutsche Einstellungen noch nicht erlebt. Fairerweise muß ich aber auch sagen, daß ich selten so viel offensichtliches Bemühen um Entkrampfung gegenüber den Deutschen (allerdings mit deutlicher Differenzierung nach Ost und West), wie in den anderen Regionen Polens gefunden habe.

 

Polen – das ist ein Kapitel, daß mich noch nicht zur Ruhe kommen lässt. Wenn ich etwa in der Kathedrale von Oliwia, die, wie alle „nationalen“ Monumente, mit polnischen Schulklassen gefüllt war, die Kinder mit ihren Engelsgesichtern aufmerksam der Orgelvorführung lauschen sah, mußte ich unweigerlich an den Erlaß Himmlers denken, den wir in Auschwitz gesehen hatten. In diesem Machwerk, das zu den ungeheuerlichsten Dokumenten gehört, die Menschen jemals verfasst haben, wird angeordnet, daß die polnischen Kinder nur in den Anfangsgründen von Lesen, Schreiben und Rechnen unterrichtet werden dürfen, auf daß sie zu nichts anderem geeignet seien, als dazu, mit einfachen Tätigkeiten an den gewaltigen Kulturtaten des deutschen Volkes mitzuwirken. Ausdrücklich wird sogar der Sportunterricht verboten, so als befürchte man bereits dadurch eine gefährliche Emanzipation oder die Entwicklung eines allzu positiven Lebensgefühls. Du kannst Dir vorstellen, wir mir zu Mute ist, wenn ich jetzt die Haut- und Holzköpfe an dieser denkbar sensiblen Grenze agieren sehe. Dabei hoffe ich eigentlich, daß wir von den Polen einiges lernen. Mehr noch als Warschau hat nämlich Danzig meinen Traum von der Wiederherstellung der zerstörten Städte erfüllt. Es war fast berauschend zu sehen, daß der Verlust der historischen Dimension, der unsere großen Städte heute kennzeichnet, nicht endgültig sein muß. Könnte man etwa das Leiden an diesen ges(ch)ichtslosen Großstädten beenden? Polen könnte den Anstoß geben, Berlin den Anfang machen – mit polnischen Restaurateuren! Polnische Kulturtaten zur Beseitigung der Folgen deutscher Barbarei – das wäre die richtige Antwort auf die Himmlers und ihre kleinen Trittbrettfahrer.

 

Aber zurück zur deutschen Ostgrenze. Die Beschäftigung mit ihr ist ziemlich zwangsläufig, wenn man auf der Suche nach Deutschland ist. Mit einer gewissen Notwendigkeit stößt man auf die unklaren Konturen, die dieses „Land“ in der Vergangenheit gerade nach Osten gehabt hat. Und so bin ich mittlerweile weit in die Untiefen der wechselvollen Abgrenzungsgeschichte dieser Regionen hineingezogen worden, die, wie der Augenschein ergab, schon äußerlich wenig klare Abgrenzungsmerkmale, dafür aber umso mehr Anreiz für territoriale Begehrlichkeiten bieten (darin unterscheiden sie sich sehr von den westlichen und südlichen Regionen: man merkt sofort, wenn man nach Italien oder nach Frankreich kommt.) Mit jeder Antwort auf ein Grenzproblem bin ich auf eine tiefer liegende Frage gestoßen. Es wird Dich daher nicht verwundern, daß auch ich längst beim alten Fritz und seinen Vorgängern bis hin zu den Deutschordensrittern – wir waren natürlich auch in Marienburg – angelangt bin. Der Zufall, der mir auf der Schlesienreise die Briefe Maria Theresias zuspielte, hat sinnvollerweise dafür gesorgt, daß mir im „Preußischen“ die Werke ihres großen Gegenspielers in die Hände kamen (beides Mal in einer Form, die auch meine Sammlerinteressen befriedigt). Noch auf der Reise habe ich mich in die Geschichte der schlesischen Kriege, des siebenjährigen Krieges und des österreichischen Erbfolgekrieges vertieft, die sich ja meist im und um den Osten abspielten. Wohlvorbereitet durch Schlachtpläne, Memoranden, Instruktionen und polit-moralische Spekulationen des großen Friedrich bin ich dann in ein Deutschland zurück gekehrt, in dem die Preußendiskussion gerade heftige Wogen schlug.

 

Übrigens verdanke ich den erstaunlich ungeschminkten Überlegungen Friedrichs eine Einsicht, die mir einen merkwürdigen Zusammenhang erhellte. In der Einleitung zur „Geschichte meiner Zeit“ schreibt er: „Als Grundgesetz der Regierung des kleinsten wie des größten Staates kann man den Drang zu Vergrößerung betrachten. … Die Fürsten zügeln ihre Leidenschaft nicht eher, als bis sie ihre Kräfte erschöpft sehen… Wäre ein Staatsmann weniger auf seinen Vorteil bedacht als seine Nachbarn, so würden sie immer stärker, er zwar tugenhafter aber immer schwächer werden.“ Des Weiteren spricht er von einem „allgemeinen Wettstreit des Ehrgeizes, in dem sich so viele mit den gleichen Waffen zu vernichten und sich mit den gleichen Listen zu hintergehen suchen“. Diese Beschreibung passt erstaunlich gut auf das Verhalten unserer Wirtschaftslenker (und übrigens auch noch auf einige andere Gesellschaftsbranchen). Mir war die Irrationalität der taktischen Spiele, die in der Wirtschaft üblich sind, schon immer ein Rätsel, diese ständigen Versuche, Gegner auszumanövrieren, andere Firmen feindlich zu übernehmen, Geländegewinne auf irgendwelchen Märkten zu machen, Allianzen zu schmieden, Imperien zu gründen und zu zerstören, immer größere und immer besser ausgerüstete „Truppen“ aufzustellen, nationale oder regionale Feindbilder zu pflegen, vor- und nachzurüsten, zu beäugen und zu spionieren. Es war einer nur dem öffentlichen Wohl verpflichteten Beamtenseele wie mir nicht recht klar, was diese Menschen dazu veranlasste, sich über das ökonomisch Notwendige hinaus immer wieder in einen Kampf zu begeben, der kein Ende haben kann, sich die Psyche zu demolieren, das Weltbild zu amputieren, die Familien zu opfern und sonstige ungeahnte Strapazen auf sich zu nehmen, um eines Zieles willen, das mit jedem Schritt wächst, aber nicht näher kommt. Es sind, worauf mich die Bemerkungen des preußischen Militaristen Friederich aufmerksam machten, offenbar die gleichen Impulse, die die alten Herrscher zu ihren permanenten Kriegsspielen veranlassten, eine zivile Form der Kriegslust also, die darauf hindeutet, daß die Menschheit mehr in ihren Mitteln als in ihren Zielen fortgeschritten ist. Der Kapitalismus als die Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln, die Wirtschaftsbosse als seine Fürsten und Feldherren – manche Absonderlichkeit dieser Lebensform ließe sich damit erklären.

 

19.8.1991

 

Während ich mich im ruhigen Westen gedanklich mit den zivilen Formen des Militarismus beschäftige, sind im Osten wieder leibhaftige Panzer unterwegs. Soeben kommt die Nachricht, daß die Unverbesserlichen in Moskau wieder den Rückwärtsgang der Geschichte eingelegt haben. Dann lieber neurotische Wirtschaftkapitäne als diese Finsterlinge! Es ist, als sei man aus tiefem Schlaf unsanft aufgeweckt worden und stehe vor der Frage, ob alles nur ein Traum gewesen sein soll. Von einem auf dem anderen Tag scheint man in das welt-politische Nichts gestürzt. Ich fürchte, jetzt rächt sich, daß die westlichen Staaten Gorbatschow zuletzt wie einen Bittsteller behandelt haben[2]. Es werden wieder aufregende Wochen auf uns zukommen, hoffentlich nur am Fernseher. Und Kohl ist wiedereinmal der Nutznießer der Geschichte, weil er mit seiner Eile bei der Zusammenführung Deutschlands tatsächlich noch Recht bekommt (was nichts daran ändert, daß man das Ganze professioneller hätte machen müssen[3]).

 

 

 

 

11.9.1991

 

Inzwischen ist der Moskauer Spuk vorbei und wir haben dort eine Entwicklung erlebt, an die man selbst im Traum nicht gedacht hätte. Die Geschichte macht gelegentlich doch erstaunliche Bocksprünge. Selten ist durch einen eher kleinen politischen Fehler in so kurzer Zeit soviel vom Gegenteil dessen erreicht worden, was beabsichtigt war. Unweigerlich denkt man an jenen persischen König, der durch das Überqueren eines „Flusses“ ein großes Reich zerstörte. Dinge, die sich Jahre lang dahinschleppten, wie das Problem der baltischen Staaten, werden mit einem Male gelöst. Der Coup hätte erfunden werden müssen, wenn er nicht stattgefunden hätte. Es war wieder eine Fernsehrevolution, im doppelten Sinne. Nicht nur daß wir wieder einmal „life“ dabei waren. Die elektronische Einmischung in die inneren Angelegenheiten durch die grenzüberschreitenden Medien ist geradezu die Vorraussetzung für derartige Aufstände (ich habe es Gorbatschow schon in seiner Neujahrsansprache für 1990 gesagt, er hat es aber nicht glauben wollen). Diese Medien übernehmen bei der Emanzipation des Menschen von Seinesgleichen mehr und mehr die Funktion, die vor 500 Jahren der Buchdruck hatte. Sie machen die Geschäfte der Dunkelmänner „zusehends“ schwieriger, zumal wenn dieselben, wie die nicht eben gelungene Vorbereitung des Moskauer Coups zeigt, auch noch alt und müde geworden sind. Der größte „Fehler“ Eurer alten Herren war zweifelsohne, daß sie keine Anstrengungen zur Errichtung einer elektronischen Mauer zwischen Ost und West gemacht haben[4].

 

Gorbatschow – Gorbi nennt ihn interessanterweise niemand mehr – ist in all dem die merkwürdigste Figur. Er wirkt wie ein bloßes Werkzeug der Weltgeschichte, mehr von den Umständen getrieben, als sie bewegend. Es spricht zwar für seine Wahrhaftigkeit, daß er jetzt, wo er es könnte, nicht aufsteht und verkündet, sein ganzes Lavieren zwischen Reform und Beton sei überlegene Taktik im Dienste eines emanzipatorischen Zweckes gewesen. Aber es zeigt auch, daß er nicht so sehr eindeutige Konzepte, sondern ein ziemlich undefiniertes „Leben“ für die im wahrsten Sinne des Wortes „treibende“ Kraft der Geschichte hält. Und dem rennt er jetzt ständig hinterher, um nicht zu spät zu kommen – manchmal offenbar weniger wegen des Lebens als wegen des Überlebens. Er „war“ wohl doch mehr der (Zauber-) Lehrling als der Meister des Geschehens (was der alles überschwemmenden Wirksamkeit bekanntlich keinen Abbruch tut). Wahrscheinlich wird man von ihm einmal sagen, er habe anfangs bei den Jubelfesten der Betonköpfe mitgefeiert, später nichts dagegen getan, daß letztere ins Rollen gerieten, seinen eigenen Kopf aber dadurch gerettet, daß diejenigen, deren Köpfe er stürzte, Panzer ins Rollen brachten – that’s life. Unsere deutschen Probleme wirken daneben ja eher putzig.

 

Die Diskussion um das Verhältnis von Produktivät und Löhnen ist im vollen Gang und das gibt mir Gelegenheit auf Deinen Brief vom 24.4.1991 einzugehen. Interessant ist schon, dass die Diskussion überhaupt stattfindet. Denn wenn man über derart Grundsätzliches zu diskutieren beginnt, zeigt dies, wie wenig man auf dem gleichen Boden steht.

 

Natürlich ist auch die Arbeit eine „Ware“ und ihr Preis wird in der Marktwirtschaft durch Vereinbarung der beteiligten Parteien festgelegt. Daß es dabei wie beim levantinischen Teppichhandel zugeht und dementsprechend das Ergebnis für die Beteiligten mehr oder weniger profitabel sein kann, steht ebenfalls außer Frage. Ich weiß aber nicht, ob Deine marxistischen Zweifel an der Bereitschaft der Arbeitgeber, mit den Arbeitnehmern „gerecht“ zu teilen, bei der Beschreibung des so heftig in Frage gestellten marktwirtschaftlichen Grundgesetzes weiterhilft. Man muß wohl kein Marxist sein, um diesen Zweifel für berechtigt zuhalten. Unsere Gewerkschaften leiten geradezu ihre Berechtigung aus dem mangelnden Glauben an die arbeitgeberliche Philanthropie ab. Dennoch ändert dies, so fürchte ich, nicht an dem marktwirtschaftlichen Grundgesetz. Daß zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer eines bestimmten Betriebes nur das verteilt werden kann, was erwirtschaftet wurde, liegt auf der Hand. (Bei manchen Äußerungen aus der „DDR“ kann man allerdings den Eindruck gewinnen, daß selbst diese Binsenweisheit in Frage gestellt wird – offensichtlich wird der spendable Onkel, der Defizite ausgleicht, schon automatisch mitgedacht.) Die Beziehung zwischen Produktivität und Löhnen ist daher ziemlich deutlich bei kränkelnden Betrieben. Bei maroden Betrieben ist sie überdeutlich und wird Konkursreife genannt. Ein „Problem“ ist sie nur bei gesunden Unternehmen, weil hier unter dem Stichwort „stille Reserven“ selbst bei Publizitätspflicht einiges verschleiert werden kann; allerdings ist dies mehr ein quantitatives als ein qualitatives Problem.

 

Nun findet eine Verteilung auf dieser individuellen (Betriebs-)Ebene in unserer Spielart der Marktwirtschaft nur in begrenztem Maße statt. Vielmehr ist die Sache dadurch kompliziert, das wir es mit einer sozialen Marktwirtschaft zu tun haben und eine ihrer sozialen Komponenten der Versuch ist, trotz unterschiedlicher Produktivität der Betriebe möglichst gleichmäßige Lebensbedingungen der Arbeitnehmer herzustellen. (Das geschieht dann mittels der Tarife, unter denen Arbeit nicht zu haben sein soll.) Dies hat jedoch nicht notwendig zur Folge, daß nun auf dem niedrigsten gemeinsamen Nenner geteilt wird, wie Du angesichts Deiner besonders markanten Zweifel an der Freigiebigkeit der Arbeitgeber anzunehmen geneigt bist. Es gibt eine Reihe von Ausgleichsmechanismen, mit denen dem einzelnen Betrieb bestimmte Lasten und Risiken, die er auf Grund seiner eigenen Produktivität möglicherweise nicht tragen könnte, abgenommen und auf möglichst viele Schultern verteilt werden – so gewisse Umlagen, etwa zur Finanzierung sozialer Errungenschaften wie Mutterschafts- und Krankengeld, Subventionen, Steuervorteile (letztlich gehört auch das Sozialversicherungssystem dazu). Die Regierungen, vor allem gewisse Landesregierungen, zählen dazu sogar die Auslandswerbung (insbesondere wenn dabei noch von der Wirtschaft bezahlte Auslandsreisen herausspringen). Nicht zuletzt diese Mechanismen ermöglichen es, bei Tarifabschlüssen von einer Basis auszugehen, die deutlich über der Produktivität des schwächsten Arbeitgebers liegt. Auch darin liegt ein Teil des Geheimnisses der im Grunde erstaunlich hohen pauschalen Grundentlohnung (die i.ü. die Abschöpfung besonderer Produktivitätsspitzen im einzelnen Betrieb nicht hindert; das sind dann die sog. übertariflichen Leistungen). Das System dieser ziemlich differenzierten Lastenverteilung und Stimulanzien ist, wie Du siehst, einigermaßen kompliziert und ich wage zu bezweifeln, dass die Phantasie eines Marx ausgereicht hat, sich diesen in jahrzehntelanger Praxis herausgebildeten Variantenreichtum des Kapitalismus vorzustellen und bei seinen Annahmen über die Grundsätze kapitalistischen Teilens zu berücksichtigen.

 

Der Preis dieses hohen Gesamtniveaus darf freilich nicht vergessen werden, denn er zeigt zugleich die Grenzen dieses Systems auf. Das (Er)Mitteln der Produktivität erzeugt noch immer ein eher grobes Raster und eine ganze Reihe von Unternehmen kann die daraus resultierenden Vorgaben nicht verkraften. Ganze Branchen sind schon an Löhnen und sozialen Errungenschaften zugrundegegangen. Ob der Bogen überspannt wird, hängt daher stark von der Sensibilität der Tarifparteien ab. Sicher weiß jede Seite des Teppichhandels ihre Vorteile zu wahren. Allerdings weiß sie auch oder sollte es jedenfalls wissen, daß sie auf dem Teppich bleiben, mit anderen Worten, daß sie die andere Seite am Leben erhalten muß. Angesichts des tatsächlichen Funktionierens der Marktwirtschaft in der alten Bundesrepublik schätze ich mal, dass man im Großen und Ganzen von einer nicht völlig ungleichmäßigen Verteilung der Gewichte zwischen den Tarifvertragsparteien ausgehen kann.

 

Soweit so gut. Leider funktioniert das Ganze nur unter einigermaßen homogenen und gewachsenen wirtschaftlichen Bedingungen. Und da kommt nun die „DDR“ ins Spiel oder besser in die Quere, die im Verhältnis zur Alten Bundesrepublik nun einmal weder homogen noch sonderlich gut gewachsenen ist. Daß dort jetzt einige Arbeitgeber von der Gleichmäßigkeit der Entlohnung „über Gebühr“ profitieren liegt nahe (allerdings gehören dazu angesichts des so gut wie totalen Steuerausfalls aus dieser Region sicher nicht die öffentlichen Arbeitgeber). Eine Orientierung an der höchsten Produktivität ist naturgemäß nicht möglich. Sollte man also die Gleichmäßigkeit der (Grund-)Entlohnung und damit gleich zum Einstand ausgerechnet eine wesentliche soziale Komponente der Marktwirtschaftaufgeben? Wohl kaum. Allzu groß sind die Differenzen der Produktivität in der „DDR“ ja ohnehin kaum. Auch dort besteht eine – allerdings weniger erfreuliche – Gleichmäßigkeit, eine Art kollektive Marodheit nämlich, die eine Korrellation von Löhnen und Produktivität auf einem deutlich niedrigeren Niveau als in der alten Bundesrepublik erzwingt.

 

Nun wirst Du mich wahrscheinlich fragen, wo denn bei dieser Argumentation die deutsche Einheit bleibt. Müßte man nicht die neue Bundesrepublik als den Wirtschaftsraum zu Grunde legen, dessen Produktivität die Löhne bestimmt? Das wäre zentralistisch gedacht. Das Maß aller Dinge kann in einer marktwirtschaftlichen Wirtschaftsform nur der einzelne Betrieb sein, denn dieser muß die Löhne zahlen, nicht irgendein größeres Ganzes. Somit läuft die Forderung auf eine Lösung des Zusammenhangs von Produktivität und Löhnen auf Transferleistungen von West nach Ost hinaus. Da ist ja nun schon einiges in Gang gebracht worden. Daß aber Löhne damit nicht in westlicher Höhe und schon gar nicht auf Dauer finanziert werden können, muß sich irgendwann einmal auch in der „DDR“ herumsprechen.

 

Übrigens bin ich auch der Ansicht, daß man den Transfer über ein gewisses Maß hinaus auch deswegen nicht erweitern sollte, weil man die Wirtschaft dadurch ihres eigentlichen Antriebsaggregates beraubt. Der Motor der Leistungsgesellschaft ist nun einmal die Tatsache, daß Leistung belohnt wird. Wo die Belohnung ohne Leistung eintritt, wird am Ende auch die Leistung fehlen. Mit anderen Worten: Man kann in der gegebenen Situation mit Transferleistungen die größte Not, nicht aber den Mangel an Poduktivität beheben. Und dieser wird wohl auf absehbare Zeit die beiden Wirtschaftsgebiete noch teilen.

 

Genau hier scheint mir auch das Problem zu liegen. Die Politik (und der Wunsch der Ostdeutschen) hat die Illusion entstehen lassen, daß Deutschland jetzt in allen Bereichen eine Einheit sei. Daraus resultiert „verständlicherweise“ die Frage, warum für „gleiche Arbeit“ nicht der gleiche Lohn gezahlt wird. Aber der Wunsch ist nicht Wirklichkeit und die Illusion noch weniger. Wir haben eben keinen einheitlichen Wirtschaftsraum – wie sollten wir auch. Es ist ohnehin erstaunlich, daß der Staat schon die jetzige Schlucht – von Lücke zu reden wäre verniedlichend – zwischen Produktivität und Löhnen überbrücken kann (hoffentlich kann er es wirklich!). Die Tatsache, daß die Brücke noch nicht zusammengebrochen ist, sollte aber nicht zu der Annahme verführen, daß es keine Schlucht gebe. Wer das tut, setzt genau den allmächtigen und für alles sorgenden Staat voraus, den es, wie ihr in einem langen und leidvollen Experiment bewiesen habt, nicht gibt. Da es noch lange dauern wird, bis wir einen einheitlichen Wirtschaftsraum Bundesrepublik haben, bin ich noch immer der Meinung, daß man die beiden deutschen Wirtschaftsräume getrennt hätte führen sollen. Was wir jetzt haben ist eine verschleierte Trennung, in der sich zu den wirtschaftlichen Schwierigkeiten auch noch immense psychologische Probleme gesellen, die – frei nach Freud – aus der Verdrängung unangenehmer Tatsachen resultieren.

 

    24.9.1991

 

Mittlerweile sind unsere Mitbürger im Osten drauf und dran, sich sehr unbeliebt zu machen. Was man aus Hoyerswerda hört, bestätigt die schlimmsten Befürchtungen. Am übelsten ist dabei die Haltung der Bevölkerung, die ihrem Haß völlig ungebremst freien Lauf lässt. Man fühlt sich um 55 Jahre zurückversetzt. Zugegeben, unsere Politiker lassen uns mit der Asylproblematik im Regen stehen und das ganze Rechtstheater nimmt den Charakter einer – ziemlich teuren – Farce an. Darüber wird man sich auch aufregen dürfen. Aber daß so viele Leute drüben kein Gespür dafür haben, welch‘ unselige Zeiten ihre Haltung beschwört, zeigt daß der Rückstand in der gesellschaftlichen Entwicklung größer ist, als man es sich hier vorstellen konnte. Wir leben offensichtlich nicht nur wirtschaftlich in zwei Welten. Nicht daß es hier keine ähnlichen Tendenzen gäbe. Aber Täter und Sympatisanten halten es hier immerhin noch für nötig, verschleiert oder im Dunkeln zu agieren. Ich hoffe nur, daß es im puncto „Offenheit“ keinen Ost-West Teransfer gibt.

 

Gruß

Klaus

 

PS

Nach „Redaktionschluß“ ging hier Dein Brief vom 11.9. ein, der sich thematisch z.T. mit diesem Brief überschneidet. Ich kann ihn daher teilweise als beantwortet ansehen. Eine „kleine“ Antwort auf Deine Antwort auf meinen Brief vom 10.6.1991 will ich aber diesem Brief noch anfügen. Du hast versucht zu erklären, warum die Städte, insbesondere die alten Stadtzentren in der DDR so heruntergekommen sind. Deine Erklärung ist für mich in erster Näherung auch nachvollziehbar. Aber die Frage, die ich mir gestellt hatte, zielte eigentlich weniger in eine technologische oder ökonomische Richtung. Es lag – ebenso wie in meinen sonstigen Beschreibungen östlicher Zustände – auch kein (Wessi-)Vorwurf zwischen den Zeilen (wiewohl ich in Sachen Stadtgestaltung meine Emotionen nur wenig unter Kontrolle habe[5]). Noch weniger hatte ich etwa die Absicht, die Zustände in anderen sozialistischen Staaten auf Kosten der „DDR“ zu idealisieren[6] (übrigens auch nicht zu dramatisieren; das mit den Fellachen, bezog sich wirklich nur auf die Bewohner der Pusztabauernhöfe). Es sieht in diesen Ländern schlimm genug aus (was aber nichts daran ändert, daß in der „DDR“ die Optik noch schlimmer ist). Meine Frage betraf die Einstellung, auf Grund deren Menschen eines Kulturkreises, für den ein solcher Zustand der Unordnung untypisch ist, diese hinnehmen. Ich versuchte – erfolglos – Klarheit über die psychischen Vorgänge zu gewinnen, die dazu führten, daß man – auf Seiten der Regierenden und Regierten – aufhörte, sich gegen den Verfall zu stellen, daß man anfing, ihn für „normal“, seine Behebung für nicht besonders dringend zu halten, daß man sich darin einrichtete, mit einem Wort, daß man ihn mehr oder weniger akzeptierte. Ich habe also darüber gegrübelt, was das sozialistische System in den Köpfen der Menschen bewirkt hat, welche Wertesysteme entstanden und welche zusammengebrochen sind. Der Frage liegt natürlich die Vorstellung zu Grunde, daß sich Menschen unseres Kulturkreises normalerweise gegen die Verrottung wehren und daß es auch bei schlechten äußeren Bedingungen Mittel und Wege gibt, das, was man für wirklich wichtig hält, zu realisieren. Die Frage ist natürlich nicht nur historischer Natur und sie beschränkt sich auch nicht auf das Problem der Stadtgestaltung (wiewohl dieselbe in aller Regel auch eine ganze Menge über die Menschen und ihre Wertsysteme aussagt, weshalb dieser zugebenermaßen leicht touristische Ansatz – ein anderer ist unsereinem ohnhin kaum möglich – nicht ganz zu verachten ist). Die mir selbst gestellte Frage enthält auch die Frage nach den Menschen, mit denen wir es heute zu tun haben, danach, wieweit man sich in Ost und West voneinander entfernt hat und wie man künftig miteinander leben kann.

 

Es gab wohl selten einen Zeitpunkt, in dem man größere Aussichten hatte, auf solche Fragen eine Antwort zu finden, als jetzt. Die Vereinigung der unterschiedlichen Gesellschaftssysteme ist nicht nur, wie Du richtig feststellst, ein Wirtschaftsexperiment ohnegleichen, das Ungeheures von den Menschen verlangt[7]. Auch die Teilung wirkt wie ein riesiges Experiment zur Gewinnung von Erkenntnissen über die Entwicklung von Gesellschaften. Ich meine damit nicht die Tatsache, daß auf Euren Rücken ein Gesellschaftssystem ausprobiert wurde (und für ungeeignet befunden) wurde, sondern den Umstand der Trennung einer einheitlichen Gesellschaft und der äußerst effektiven Separierung ihrer Teile. Wir befinden uns praktisch in der Situation gesellschaftlicher Zwillingsforscher, die herausfinden wollen, was bei der Entwicklung der gleichbegabten Zwillinge auf die Begabung und was auf die Verhältnisse zurückzuführen ist. Und da ließe sich vielleicht meine – und nicht nur diese – Frage beantworten. Ich frage also nach den Bedingungen, unter denen Menschen die Liebe zu ihrer Umgebung verlieren und sich stattdessen, bewehrt mit einem Fuchsschwanz, ins Innere zurückziehen, wo sie es, wie ich zu bestätigen vermag, sehr wohl fertig bringen, ihre Umgebung zu gestalten.

 

Die Frage ist nicht nur interessant zur Vermeidung künftiger Fehler. Die Antwort darauf könnte auch neue Ansätze für eine positive Stimulierung geben. Ein allgemeines Ergebnis habe ich immerhin schon ausgemacht. Bei Gesellschaften ist, anders als bei Individuen, der Anteil der „Umstände“, des Systems also, an der Entwicklung offensichtlich wesentlich wichtiger als die „Begabung“, m.a.W. man kann mit der falschen Wahl eines Systems in sehr kurzer Zeit sehr viel kaputt, mit der richtigen wohl aber auch viel gut machen. Das muß den Experimentatoren zu denken geben. Und wie lange es dauert, eine aus der Bahn geworfene Gesellschaft wieder auf’s Gleis zu bekommen, das zeigen nicht zuletzt einige Entwicklungsländer. Das Aufholen ist, wie Du zu Recht feststellst, nicht nur per se ein Handicap. Es wird noch dadurch erschwert, daß das rasante Tempo der Gesellschaften (Wirtschaftssysteme), zu denen es aufzuschließen gilt, die Folge ihres Vorsprunges ist.

 

Ein Wort noch zum Thema Wundern und Staunen. Ich glaube, das Staunen darüber, daß nach Einführung von Demokratie und Marktwirtschaft nicht gleich Wohlstand und Wohlleben ausgebrochen sind, ist wohl mehr auf östlicher Seite. Mich wundert der mangelnde Fortschritt entgegen Deiner Vermutung keineswegs. Gewundert hat mich eigentlich immer nur die Naivität oder Unverfrorenheit derer, die immer so getan haben, als seien in überschaubarer Zeit hüben und drüben gleiche Lebensverhältnisse zu erwarten (bei bestimmten Leuten wundert mich aber auch dies nicht). Die große Enttäuschung, die jetzt offenbar bei Euch vorherrscht, beruht doch darauf, daß man sich von der Freiheit Wunderdinge erhofft hat. Daß der jetzige Zustand der „BRD“ das Ergebnis einer Jahrzehnte langen Entwicklung ist[8], hat man sich ebenso wenig klar gemacht, wie die Tatsache, daß eine freiheitliche und offene Gesellschaft notwendigerweise einige Probleme mit sich bringt, die Euch bislang nicht bekannt waren.

 

Die Enttäuschung ist wohl auch deswegen so groß, weil die meisten Menschen bei Euch erwartet haben dürften, das Leben in einer pluralistischen Gesellschaft sei leichter als in einer geschlossenen Gesellschaft. Daß diese Lebensform die denkbar komplizierteste ist und auch bei uns unzählige Menschen überfordert, hat man angesichts der von den Medien „verallgemeinerten“ Tellerwäschererfolgsstories einiger Weniger offensichtlich nicht wahrgenommen. Das sind die Fährnisse einer freiheitlichen Gesellschaft, von denen ich früher schon mehrfach gesprochen habe.

 

Übrigens wurde diese Lebensform bis vor kurzem auch hier als außerordentlich schwierig empfunden. Die neue Begeisterung des Westens für offene Gesellschaft und Marktwirtschaft ist eigentlich erst die Folge des Zusammenbruchs im Osten. So richtig gut geht es uns erst, seit es Euch schlecht geht[9]. Vorher war das Stöhnen über die problematischen Lebensverhältnisse so allgemein, daß kein Mensch mehr zur Kenntnis nahm, daß es uns zu keinem Zeitpunkt besser ging. Täglich entdeckten wir eine neue Zivilisationsgefahr und es war schlechterdings unerklärlich, daß die Lebenserwartung dennoch ständig nach oben kletterte. Jedermann war auf der schmerzensreichen Suche nach dem Sinn oder auf der Flucht vor der Frage danach. Wer nicht zum Psychiater ging, ins Glas guckte oder sich ins Vergnügen stürzte, vertiefte sich in östliche Kulturen oder versuchte sich in alternativen oder traditionellen Lebensformen.

 

Es ist noch gar nicht so lange her, da behaupteten viele junge Leute, es sei unverantwortlich, in diese Welt noch Kinder zu setzen. Was ihr jetzt durchmacht, ist die Umkehrung einer Erfahrung, die man insbesondere bei der Beobachtung traditioneller geschlossener Gesellschaften macht. Es ist eine merkwürdige Tatsache, daß die Menschen in solchen Gesellschaften (auch dort wo es denkbar ärmlich, nach unseren Maßstäben sogar katastrophal zugeht) „glücklicher“ zu sein scheinen, als in den hochentwickelten freien und wohlhabenden Gesellschaften. Offenbar entlasten diese traditionellen Kulturen den Einzelnen in so großen Maß von Fragen der Sinngebung und der psychischen Vorsorge, daß der materielle Mangel nicht entscheidend ins Gewicht fällt.

 

Ich glaube, daß das „System“ in der DDR zu einem erheblichen Teil solche Bedürfnisse abgedeckt hat. In gewisser Hinsicht trauern jetzt viele Menschen in der „DDR“ einem solchen einfachen Leben in gesellschaftlicher Geborgenheit nach, wahrscheinlich sogar die, die schon immer gegen das System gewesen sind[10]. Dieses Leben freilich dürfte Europäern in wirklich glückbringender Form kaum mehr möglich sein. Denn unter der Herrschaft eines solchen Systems fühlt man sich, wie gesehen, auch nicht wohl. Der Versuch, einfache Verhältnisse wiederherzustellen, muß sich daher des Zwangs bedienen. Er endet, da ihm der Drang zur Freiheit entgegensteht, „zwangsläufig“ im Faschismus (rechter und linker Couleur – vgl Fn 1).

 

30.9.1991

Gorbatschow ist wirklich nicht mehr der Alte. In meinem Neujahrsbrief auf das Jahr 1990 hatte ich in einem Anfall politischer Zärtlichkeit noch gemeint, die große einseitige Abrüstungsgeste könne nur von seiner Seite kommen. Daß er jetzt von Busch überholt wird, zeigt, wie sehr er die Initiative in dem Prozeß verloren hat, den er in Gang gesetzt hat.

 

3.10.1991

Tag der deutschen Einheit. Noch nie wurde über die deutsche Zweiheit soviel gesprochen wie an diesem Tag.

 

5.10.1991

Mit großem Interesse verfolge ich z. Zt. die Blockflötendiskussion. Irgendwann mußten aus diesen verstimmten Instrumenten die wahren Töne doch einmal herauskommen. Ein Musikus hört sie freilich schon etwas früher (vgl. meinen Brief vom 10.2.1990).

 

PPS

Wir hoffen, Dich bald wieder mal in natura zu sehen.


[1] So ganz verwunderlich ist es allerdings nicht, wenn man von der These der Nähe von rechtem und linkem Faschismus ausgeht, die ich bereits in meinem Brief vom 6.5.1990 aufgestellt habe.

[2] Vor allem die Japaner, die wegen ihrer läppischen Kurilen den Blick für das weltpolitisch Wesentliche aus den Augen verloren zu haben scheinen.

[3] Man hätte, um auf Deinen Brief vom 16.3. zurückzukommen, zwar nicht unbedingt ein Jahr nur beraten müssen. Aber man hätte überhaupt ein permanent tagendes Gremium aufstellen müssen, das alle Aspekte dieses ungeheuer komplexen Prozesses im Auge behält. Wann überhaupt, wenn nicht in dieser Situation, war der Zeitpunkt, ein Gremium der Besten zu schaffen, das sich ausschließlich mit dieser Frage zu beschäftigen gehabt hätte (ich denke dabei an so etwas wie das amerikanische Atombobenprojekt am Ende des 2. Weltkrieges). Die Lage mit Beamten und ein paar guten Freunden meistern zu wollen, ist eben dilletantisch , wobei dann so absurde Vorstellungen herauskommen mußten wie die, man könne die deutsche Einheit aus dem Laufenden finanzieren.

[4] Der Blick ins kommerzielle (!) italienienische Fernsehen war es ja wohl auch, der die Massen Albanien mobilisiert hat (politisch und körperlich). Und das Überleben des Kommunismus in China dürfe nicht zuletzt auf der televisionären Isolation diese Landes beruhen.

[5] Anbei ein kleiner Leserbrief über das neues Kongresszentrum in Stuttgart, den die Stuttgarter Zeitung abgedruckt hat. Du magst darauf entnehmen, dass ich mich nicht nur über den Osten errege.

[6] Das mit dem absoluten „Schlußlicht der Weltkultur“ ist eine „Schluß“folgerung von Dir, die ohne den von Dir ein paar Zeilen höher angebrachten Klammerzusatz „Bau“ der Paradefall einer unzulässigen Verallgemeinerung ist.

[7] Die von Dir geschilderten – geistigen – Umstellungsprobleme, kann ich Dir nur zu gut nachempfinden. Ich bin aber nicht sicher, ob die Ossis in allen Punkten besser dafür gewappnet sind als die Wessis. Ein nicht unerheblicher Teil dieser Probleme dürfte auch daraus resultieren, dass man Euch nicht gerade mit der Relativität der verschiedenen gesellschaftlichen Gestaltungsmöglichkeiten vertraut gemacht hat. Wer gelernt hat, wie wacklig unter Umständen gerade das ist, was sich als besonders stabil ausgibt, wird wohl beim Zusammenbruch einer „Wahrheit“ weniger überrascht dastehen, als der, der vieles für möglich gehalten hat.

[8] Bereits dies sollte deutlich machen, dass der tarifpolitische „Sprung über Jahrzehnte“ ein Ding der Unmöglichkeit ist.

[9] Bei Euch ist es eher umgekehrt. Das ganze jetzige Dilemma ist daher weniger existentieller als komparativer Natur; was nicht heißt, das es keine psychische Wirksamkeit habe. Es kann einem verdammt schlecht gehen, weil es anderen gut geht.

[10] Deine Bemerkung, das ihr die neue Zeit in Ungarn nicht vermisst habt, scheint in diese Richtung zu gehen.

Ein- und Ausfälle (China 16)

Im alten China gab es den Beruf des Juristen nicht. Offenbar war den Menschen im wesentlichen auch so klar, was man darf und soll. Juristen braucht man erst, wenn dies nicht mehr der Fall ist. Die Unklarheit beginnt, wenn man anfängt zu fragen, welche andere Möglichkeiten es gibt. Diese Frage stellen nicht zuletzt diejenigen, welche aus der Reihe tanzen wollen. (wovon es im alten China offenbar nicht so viele gab).

Briefe aus der Wendezeit – Teil 10

Stuttgart, 10.6.1991

 

Lieber Frank,

 

die deutsch-deutschen Erkundungen der weiter gewordenen Welt gehen ihren reziproken Gang. Während ihr Euch in den lange verschlossenen Süden aufmacht, haben wir unseren Horizont kräftig nach Osten erweitert. Und wir staunen, was unseren Blicken bislang alles verborgen geblieben ist. Trotz Fernsehen, trotz einer freien Presse und Büchern, trotz der Berichte von Reisenden und Besuchern hatte man, wie mir immer stärker bewußt wird, ein wenig zutreffendes Bild von der „zweiten Welt“[1]. Der Osten war früher eine eher dumpfe und irgendwie unwirtliche Region, mit der man sich nicht unnötig befasste. Man nahm entgegen, was andere darüber berichteten, meist war es Unangenehmes und Unfreundliches. Ein mögliches Feld eigener Erlebnisse war die Region für mich kaum mehr als für Euch der Westen und der Süden. So blieb der Osten chimärenhaft und unwirklich. Ohnehin schienen alle wirklich wesentlichen Zeugnisse europäischer Kultur in unserer Hälfte der Welt zu liegen. Die Mutter der europäischen Kultur war Italien. Ein paar hübsche westliche Töchter stritten darum, wer der Mutter am ähnlichsten sei. Im Osten hingegen wohnten allenfalls ein paar späte Abkömmlinge, deren Abstammung darüber hinaus nicht richtig geklärt war. Eigentlich war es kein Wunder, daß sich der Rest des politischen und gesellschaftlichen Dunkels, welcher die erste Hälfte des Jahrhunderts kennzeichnete, im Osten halten konnte. Dieses diffuse und düstere Ostbild war so wirksam, daß selbst die Vergangenheit davon betroffen war. Natürlich wußte man, daß Kant in Ostpreußen und Kopernikus in Polen wirkte. Und doch blieb auch der geschichtliche Kulturraum merkwürdig undeutlich. Es war, als hätte man mit der unerfreulichen Gegenwart auch gleich die Vergangenheit ins östliche Abseits gedrängt. Das gilt sogar für den mitteldeutschen Kulturraum, obwohl dieser schon um die Ecke beginnt (daß er in der Mitte Deutschlands lag, ist mir erst in diesen Tagen wirklich bewußt geworden). Man wußte von Luther in Wittenberg, von Bach, Schumann und Mendelsohn in Leipzig, von Wagner in Dresden und von der ganzen klassischen Schreibzunft (einschließlich den Schwaben Wieland und Schiller) in Weimar. Aber all das gab kein zusammenhängendes Bild von diesem Raum und nicht einmal ein Interesse dafür.

 

Nun sind wir dabei, die Lücken unseres Weltbildes zu füllen. Die letzten Wochen haben mich durch vier ehemalige Ostländer geführt. Es fing an mit dem Ort, an dem „alles“ anfing, dem sympathischen Land zwischen Süd und West, das im Großen und Kleinen, so etwas wie der Katalysator der ostwestlichen Horizonterweiterung war. Ich nutzte ein Basketballturnier in Keskemet, ziemlich hinten in Ungarn, um die neueste Entwicklung der dortigen Dinge in Augenschein zu nehmen. Da außer uns noch eine polnische, eine rumänische und zwei ungarische Mannschaften mitwirkten, war es tatsächlich so etwas wie eine Informationsveranstaltung zum Thema Osten. Darüber hinaus haben wir die Probleme dieser Länder auch ziemlich hautnah erlebt. Das fing schon mit dem Freizeitverhalten der Ostmannschaften an. Sie waren bei diesem Turnier von alternden Hobbysportlern anfangs mit fast verbissenem Ernst bei der Sache, gingen abends früh ins Bett, um für die Spiele fit zu sein und hielten sich von geselligen Dingen weitgehend fern. Das ging zu wie in den ausgestorbenen abendlichen Städten im Osten, in denen sich nach Geschäftsschluss ebenfalls alles in die Betten zu begeben scheint. Erst angeregt durch unser Beispiel tauten die Ostler langsam auf und schlossen sich zunächst verwundert, dann mit wachsender Faszination den verrückten Westlern an. Die merkwürdige Ungeselligkeit hatte freilich zum Teil handfeste „wirtschaftliche“ Ursachen. Die ungarischen Veranstalter hätten entsprechend der Übung bei den vorangegangen Turnieren (u.a. in Stuttgart) an sich die gesamten Kosten ein schließlich Unterkunft und Verpflegung tragen sollen, was jedoch offensichtlich über ihre Kräfte ging. Obwohl es ihnen sichtlich peinlich war, baten sie daher, daß die Beteiligten die Kosten für die Getränke selbst tragen möchten. Die Folge war, daß die Rumänen mangels „Devisen“ (für die Rumänen ist der Forinth bereits eine harte Währung) nicht am abendlichen gemütlichen Zusammensein teilnehmen konnten. Es reichte nicht einmal für eine Flasche Bier. Da es ihnen ihr Stolz verbot, sich ohne Getränke zu beteiligen, saßen sie, während sich im Gemeinschaftsraum mit Hilfe von Akkordeon, Gitarre uns Banjo (alle von unserer Mannschaft) lautstark deutsche Gemütlichkeit ausbreitete, in ihren Zimmern und gaben vor, sich auf die Spiele vorzubereiten. Erst mit einem Trick, nämlich der Behauptung, eines unserer Mannschaftsmitglieder habe Geburtstag und lade alle Turnierteilnehmer ein, gelang es, sie aus ihren Zimmern zu locken. Aber das ging nur einmal. Eine weitere Einladung wollten sie, wiewohl sie für uns einen Klacks bedeutete, partout nicht annehmen. Stattdessen hofften sie, die erforderlichen Devisen erhandeln zu können. Und so boten sie uns eine alte Kuckucksuhr (mit Ausfuhrzertifikat des rumänischen Zoll) und eine Vorkriegskamera an, in der Annahme den meisten Westdeutschen sitze das Geld so locker, daß sie ein paar tausend Mark, die die Sachen laut einem Sammlerkatalog wert sein sollten, wohl zahlen würden.

 

Die Rumänen, mit denen ich ausführliche Gespräche hatte, berichteten, der Zustand ihres Landes unterscheide sich von dem Ungarns wie dessen Zustand von dem (West)Deutschlands. Dabei geht es den Ungarn selbst alles andere als glänzend. Das Warenangebot in den Läden der Kleinstädte ist noch genauso dürftig, wie eh und je[2]*. Die malerischen kleinen Bauernhöfe, die über die Puszta verstreut sind, erweisen sich bei näherem Hinsehen als äußert dürftige und heruntergekommene Behausungen, in denen die Menschen samt allerlei Getier auf dem Niveau von Fellachen leben, umgeben von chaotischen Sammlungen von absolut allem, was in einer Mangelwirtschaft Gegenstand des Handels und der Lebensvorsorge sein könnte. Von einer neuen Zeit ist nicht viel zu sehen. Was in den Städten aus der allgemeinem Tristesse herausragt, sind meist Gebäude aus der „guten alten Zeit“ der K.& K. Monarchie. Nach Maria Theresia und der Gründerzeit ist es städtebaulich offenbar nur noch bergab gegangen. Und heute sieht es so aus, als stimme das Bild vom Katalysator auch insoweit, als ein solcher zwar die Verbindung ziemlich heterogener Elemente bewirkt, selbst aber unberührt bleibt.

 

In den Pfingstferien ging es wieder gen Osten. Diesmal hatten wir Größeres vor. Wir haben zu nächst den Süden der ehemaligen DDR noch einmal nachgearbeitet. Der Zustand der alten Städte hat uns noch mehr als beim letzten Mal erschüttert, insbesondere nachdem sich hier, einige Einzelprojekte ausgenommen, noch immer wenig zu bewegen scheint[3]. Auch nach intensivem Grübeln ist es mir bislang nicht gelungen, herauszufinden, auf Grund welcher Einstellung es dazu kommen konnte, daß mitteleuropäische Menschen eine dermaßen verrottete Umgebung akzeptieren. Nicht weniger erstaunlich ist das Nebeneinander von moderner Billigstarchtitektur und großartigsten historischen Gebäuden[4] (Das „Ambiente“ des alten Rathauses von Gera ist dafür ein Musterbeispiel). Es gibt nur eine Hoffnung. Diese Häuser sind möglicherweise so schlecht gebaut, daß sie in absehbarer Zeit abgerissen werden müssen[5]. Hoffentlich gilt dies auch für die „monumentalen“ Bauten von Chemnitz, dessen Zentrum ein Alptraum ist. Der traurige Höhepunkt aber war für uns zweifelsohne Zwickau. Gleich hinter dem Schumannhaus am Marktplatz glaubt man im Kriegsgebiet zu sein. Eine Außenre novierung der vom Braunkohlequalm zerfressenen, prächtigen Marienkirche dürfte einem Neubau fast gleichkommen. Nicht weniger traurig sehen weite Teile der Altstadt von Bautzen aus. Dresden allerdings, daß mich vor einem Jahr noch in städtebauliche Depressionen versetzt hat, hat mich dies mal weniger hart getroffen, vielleicht, weil man dort etwas Bewegung sieht. Ein Schloß, aus dessen schwarzer Fassade heller Sandstein wächst und dessen Dach wieder gedeckt ist, lässt mich über manche „Prager Straße“ hinwegschauen. Die Entdeckung der Reise durch Thüringen und Sachsen war Görlitz. Die Stadt, von der ich bis vor kurzem nicht den Hauch einer Vorstellung hatte, hat die Chance, zu einer der schönsten deutschen Städte zu werden. Ein gütiges Schicksal hat die umfangreiche Altstadt nicht nur vor dem Krieg, sondern auch vor den Flächensanierungen à la SED geschützt, so daß in ihr Plattenbauten und sozialistischer Klotzstil fehlen. Daß die Gründerzeit so „fern“ im Osten solche Feste feierte, habe ich mir nicht träumen lassen.

 

Apropos Freizeitverhalten. Görlitz, dessen Architektur gerade des 19. Jahrhunderts wahrlich den Sinn für das Vergnügen wiederspiegelt, soll einmal 400 Gaststätten gehabt haben. Heute sind es vermutlich weniger als 10 und davon haben, wie wir uns überzeugen mußten, noch immer abends die meisten geschlossen. Vom nächtlichen Leben in dieser Prachtstadt will ich gar nicht reden. Man macht sich fast verdächtig, wenn man abends durch ihre finsteren Gassen schlendert.

 

So richtig bewußt wurde mir bei dieser Reise durch Deutschlands „Osten“, in welcher Blüte hier die Deutsche Renaissance stand. Es ist schon mehr als erstaunlich, daß einem Renaissanceenthusiasten, wie ich es bin, das Bewußtsein davon weitgehend abhanden gekommen ist. Zu einem Zeitpunkt, wo man aus schierer Verzweifelung über die abgegraste „europäische“ Kulturlandschaft zunehmend dem Exotischen zustrebte, stellt sich heraus, daß in nächster Nähe eine Menge Kulturgeschichte nachzuarbeiten ist. Der Mangel an gesamtdeutschem Kulturbewußtsein war tatsächlich ein Abhandenkommen. Ich kann mich noch gut daran erinnern, daß mir die „Ostgebiete“ und ihr kulturelles Erbe einmal wesentlich näher standen. Es gab im Bücherschrank meiner Eltern Bücher wie „Deutsche Dome“ und „Deutsche Bürgerbauten“, in denen wir als Kinder blätterten und in denen „natürlich“ auch die Bauwerke des Ostens abgebildet waren. Erst im Laufe der Zeit geriet die Vorstellung von einem einheitlichen deutschen Kulturraum in den Hintergrund. Das war es ja wohl, worauf die alten Herren bei Euch spekulierten und fast wäre es ihnen auch gelungen. Bei den Jungen hier ist von einem gesamtdeutschen Bewußtsein schon kaum mehr etwas zu spüren. Sie fühlen weder eine gemeinsame Aufgabe noch sind sie bereit, sich für den anderen Teil Deutschlands sonderlich zu engagieren (oder gar etwas zu opfern). Für die Erscheinungen, die die Folge der jahrzehntelangen Isolation des Ostens sind, haben sie überhaupt kein Verständnis. Für sie ist Deutschland das, was im Westen daraus geworden ist und sie erwarten, daß die, die dazu gehören wollen, sich entsprechend verhalten. Mit dem dumpfen alten Deutschland, das in der ehemaligen DDR leider zu einem guten Stück  überlebte, wollen sie nichts zu tun haben. So manche Übersiedlung tatkräftiger Mittvierziger in den Osten scheitert an dem massiven Widerstand seines halbwüchsigen Nachwuchses.

 

Soweit die „DDR“. Unser eigentliches Ziel war Polen. Nach allem, was wir darüber gehört hatten, war hier Übles zu erwarten. Wir waren darauf gefasst, daß die Städte noch herunter gekommener als in der „DDR“ sein würden und daß die Polen die alten deutschen Städte nach dem Krieg vollends heruntergewirtschaftet hätten. Nach einem unmittelbar vor unserer Abfahrt in der hiesigen Zeitung erschienen Artikel über die polnischen Straßenzustände haben wir sogar zum Schutze unseres altersschwachen Gefährts erwogen, das Ostprojekt abzubrechen. Es war die pure Abenteuerlust, daß wir trotz der abschreckenden Meldungen an dem Reiseplan festhielten.

 

Aber es war kein Abenteuer, jedenfalls nicht in der erwarteten Weise. Die Wirklichkeit kontrastierte auf’s Deutlichste mit den Vorurteilen. Das Land machte auf uns von Anfang an einen besseren Eindruck als die deutsche sozialistische Hinterlassenschaft. Wir fanden keine verfallenden Altstädte und auch die Straßen waren deutlich besser als in der „DDR“. Zu allem fanden wir mit Krakau zu unserem Erstaunen (wir waren abgesehen von unseren Vorurteilen vollkommen unvorbereitet) eine Stadt, die unter die ganz großen Stadtlandschaften Europas einzuordnen ist, dazu in einem Zustand, der auch nicht schlechter ist als der vieler westlicher, zumal südeuropäischer Städte. Sicher das Land ist arm und vielen Menschen sieht man an, daß sie unter Bedingungen leben und arbeiten, die bei uns als veraltet, teilweise sogar als menschenunwürdig gelten. Aber man hat nicht in gleichem Maße den Eindruck, daß die Menschen resigniert und einfach alles haben den Bach hinuntergehen lassen. Dies zeigt sich auch an dem geradezu beispiellosen privaten Bauboom. Kaum ein Haus, in dessen Garten nicht Backsteine für einen Erweiterungs- oder Neubau lägen. Und zahlreiche Häuser sind offensichtlich gerade erst fertiggestellt worden. Wenn jetzt aus rechtsradikalen Ecken der „DDR“[6] antipolnische Töne kommen, so sind sie mit der Überlegenheit der „deutschen Rasse“ weniger denn je zu begründen. Der Mythos von der geradezu genetisch bedingten deutschen Ordentlichkeit und Gründlichkeit ist, nachdem die „DDR“ so ziemlich den größten sozialistischen Sauhaufen produziert hat, endgültig gestorben. Auch die so vorbildlichen germanischen gesellschaftlichen Umstände, die „aufgeklärtere“ Nationalisten für die Basis der deutschen Tugenden halten, haben sich bei Gelegenheit des sozialistischen Experiments als nicht eben widerstandsfähig erwiesen[7]. Wenn überhaupt ein altes gesellschaftliches System überlebt hat, das den Menschen im Sozialismus noch einen gewissen Halt geben konnte, dann ist es ausgerechnet der polnische Katholizismus gewesen.

 

 A propos Katholizismus: Das religiöse Leben, das wir in Polen antrafen, lag jenseits meiner westlichen Vorstellungskraft. Man hat vom polnischen Katholizismus ja schon einiges gehört. Aber man muß die keineswegs nur alten Frauen beim gemeinsamen abendlichen Gebet im Freien vor einer Kapelle am Straßenrand gesehen haben, man muß in Tschenstochau und in den überfüllten Kirchen Krakaus gewesen sein und die endlosen Strophen melancholischer Lieder gehört haben, um zu wissen, wie Katholizismus heute in „Mitteleuropa“ noch aussehen kann. (Dagegen erscheint die religiöse Inbrunst Italiens geradezu als Theater.) Auch hier kommen völlig neue Facetten (und neue Probleme, wie ich fürchte) ins erweiterte europäische Bild.

 

Mehr denn je sind wir in Polen mit Deutschland konfrontiert worden. Die sogenannten deutschen Ostgebiete waren für mich bislang noch weniger ein Begriff als der sonstige Osten. Es muß etwas mit Verdrängung zu tun haben, wenn man von den meisten alten Städten in Schlesien nicht einmal die Namen, geschweige denn ihre Lage und Geschichte kennt. Umso merkwürdiger war es, hier auf Schritt und Tritt auf deutsche Kultur und Geschichte zu stoßen. Erst dadurch hat der Begriff Mitteldeutschland für mich Konturen erhalten. Die Folgen für die deutsche Gefühlslage sind verwirrend. Bislang war es keine Kunst, auf diese unbekannten Gebiete zu verzichten. Jetzt mußte ich den Verzicht, den ich für unvermeidbar halte, durchleben. Da ist zur Bewältigung zwiespältiger Gefühle nicht wenig Verstand gefragt. Die Situation Schlesiens ist ja überaus merkwürdig. Überlagerungen von Kulturen und politisch-soziale Überwucherungen sind aus Nah und Fern ja wohlbekannt; ein „Musterbeispiel“ liegt mit dem Elsaß vor unserer Haustür. Solche Akkulturationen sind jedoch in der Regel ein allmählicher Prozeß, zumal dabei in aller Regel die ursprüngliche Bevölkerung erhalten bleibt. Die plötzliche Auswechslung aller Menschen eines alten, dicht besiedelten Kulturgebietes hingegen hat etwas Ungeheuerliches und Künstliches. In ihrer Ungeheuerlichkeit erinnert sie überdeutlich an die Ungeheuerlichkeit der Zeit, dessen Ergebnis sie ist. Sie liegt wie ein Findling aus barbarischem Urgestein in einer durch Wind und Wetter neuerer Zeiten weicher gewordenen Landschaft. Und das dürfte die Überwindung der alten Zeit nicht gerade erleichtern. Vielleicht hilft die Vorstellung von einem einheitlichen europäischen Kulturraum, in dem die nationalen Grenzen ihre trennende Wirkung verlieren, wie sie zur Besänftigung der Gefühle jetzt entwickelt wurde. Sie hat etwas Tröstliches und Rührendes, aber, wie mir angesichts des Entwicklungsgefälles zwischen Deutschland und Polen scheint, auch etwas Beschwörendes. 

 

Ich habe mich auch der nicht geahnten Belastung eines Besuchs von Auschwitz ausgesetzt. Wenn ich von dem ungeheuren Eindruck, den dies auf mich machte, auf den Eindruck schließe, den dies bei den polnischen Schulklassen machen dürfte, die ständig durch diese Stätten des Grauens geführt werden, so weiß ich allerdings nicht so recht, wie das deutsch – polnische Verhältnis jemals unbefangen werden soll. Übrigens war ich sehr verwundert Auschwitz dort zu finden, wo es ist. Für mich lag es immer in einer nicht klar bestimmten, jedenfalls aber fernen unwirtlichen Ostregion weit jenseits jeder Zivilisation, so daß die Nazischergen ihrem grauenhaften Tun ungestört nachgehen konnten. Jetzt aber fand ich es nicht weit von ehemals deutschem Gebiet inmitten einer dicht besiedelten Region. Meine Bereitschaft zu glauben, daß keiner so recht wußte, was sich da abspielte, hat dies nicht gerade erhöht.

 

Etwas geradezu Konstruktives hatte für mich hingegen der Besuch von Warschau. Nicht nur daß ich hier eine meiner architektonischen Lieblingsideen verwirklicht sehen konnte (die unbefangene Rekonstruktion historischer Bauten nach Kriegszerstörungen, womit man sich in der alten Bundesrepublik ungeheuer schwer getan hat). Der Wiederaufbau einer mutwillig zerstörten Stadt symbolisiert irgendwie auch den Willen, die fürchterlichen geschichtlichen Entgleisungen ungeschehen und vergessen zu machen, was wie im Privaten auf längere Sicht doch die einzige Möglichkeit ist, so etwas wie „Heilung“ für das zu erreichen, was unglücklicherweise geschehen ist.

 

Wir sind auf dem Rückweg durch so ziemlich die ganze Tschechoslowakei gefahren. Auch dort haben wir viele großartige Städte angetroffen, von denen mir die meisten ebenfalls nicht einmal dem Namen nach bekannt waren[8]. Nie hatte ich etwa von einer Stadt wie Kuppenberg gehört, die zu den schönsten Kleinstädten Europas zählt und so eine Art Görlitz Böhmens ist: nicht weit von einer großen kunstsinnigen Ostmetropole, geschückt mit prächtigen Bauten aus allen Epochen und abends vollkommen tot. Die Städte zeigen, daß hier einstmals blühendes Land war[9]. Überall sieht man, daß einmal eine große Freude an der Stadtgestaltung und am Leben in der Stadt bestand. Vielleicht ist das der Unterschied zwischen Ost und West, nämlich daß im „Osten“ den Menschen diese Freude abhanden gekommen ist. So hat denn diese Reise deutlicher denn je gemacht, wie unnatürlich die klare Linie zwischen Ost und West ist, die sich in den Köpfen (und leider auch in der Lebenswirklichkeit) festgesetzt hat. Es scheint, daß wir jetzt erst einmal wieder zurück zu Maria Theresia müssen, zu deren Zeiten sich in dieser „Grenzregion“ eine einheitliche lebensfrohe Kulturlandschaft ausbreitete. Tatsächlich scheint ja das allgegenwärtige Barock zur Zeit eines der wichtigsten und unproblematischsten Bindeglieder in dieser Region zu sein. So wird womöglich die Repräsentantin eines „ausbeuterischen“ Systems zur Stammmutter einer neuen mitteleuropäischen Kultur.[10]

 

Mit der Wiederentdeckung einer untergegangenen mitteleuropäischen Kulturlandschaft verlagert sich naturgemäß der Mittelpunkt Europas nach Osten. Für einen eingefleischten Mitteleuropäer wie mich ist erst jetzt verständlich, daß die Polen den Mittelpunkt Europas in ihren Land sehen.

 

Gruß

 

Klaus

4.7.1991

 

Lieber Frank,

 

dieser Brief ist eigentlich noch nicht beendet. Ich hatte die Absicht, noch einige andere Themen anzuschneiden. Vor allem wollte ich Deine letzten beiden Briefe beantworten. Aber der nächste Urlaub steht schon wieder vor der Tür und ich will Dich nicht länger warten lassen. Also geht der Brief jetzt unvollständig ab. So ganz kurz ist er ja nicht geworden. Der Rest folgt. Jetzt geht’s ab nach Italien. .

 

 


Darmstadt, den 11.09.91

 

Lieber Klaus!

 

Vor drei Monaten hatte ich gehofft, hier in Darmstadt ausreichend Zeit und Muße für viele viele Briefe zu finden. Wie man leicht sieht, knappt es mir zZt. noch an beidem, aber ein Anfang soll nun gemacht werden.

Zunächst zu Deinem Brief vom 10.06.: Es war hochinteressant zu lesen, wie ein (Bau-)Kulturbegeisterter seine Passion soweit in den Mittelpunkt stellt, daß er schließlich leichtfüßig die Völker nach dem Zustand ihrer Fassaden beurteilt. Dies soll nicht unwidersprochen bleiben, zumal Du dabei die alte „DDR“ (man beachte die H’schen Anführungszeichen!) gleich noch zum „größten sozialistischen Sauhaufen“ und absoluten Schlußlicht der Weltkultur stempelst und verwundert fragst, „auf Grund welcher Einstellung… mitteleuropäische Menschen eine dermaßen verrottete Umgebung akzeptieren.“

 

Ich kann mich bei meiner Widerrede z.T. auf eine ähnliche Tour wie Du berufen, denn auch wir waren im Sommer in Ungarn, in Böhmen und – natürlich – im „Beitrittsgebiet“ (man beachte meine Anführungszeichen!)

 

Dabei ist zunächst festzustellen, daß Dein (oder mein?) „größter Sauhaufen“ jene Art von Sozialismus praktiziert hatte, die – seinerzeit auch vom Westen anerkannt – insgesamt noch am wenigsten schlecht funktionierte. Hinsichtlich des Baugeschehens versagte natürlich auch die DDR – wie jedes Land der Zweiten Welt auf seine Weise. Gemeinsame Ursache war fast immer der pathologische Drang zur Selbstdarstellung in Tateinheit mit ewig knappen Ressourcen.

 

Die stark zerstörte DDR begeisterte sich nach der Berliner Stalinallee, die sich bald als viel zu aufwendig erwies, für den „industriellen Wohnungsbau“ und die „Neugestaltung der Stadtzentren“, um das, was die (industriellen) „Großbauten des Sozialismus“ an Zement und Bauarbeitern noch übrigließen, zu möglichst vielen Wohn-„Einheiten“ zu machen (Der Wohnungbau kam sowieso nie über einen Anteil von 20% hinaus). Für die Erhaltung der Altsubstanz blieb so nichts mehr übrig. [11]

 

Unsere Oberen, die ohnehin arge Probleme mit dem Aufbau einer DDR-nationalen Identität hatten, (und oft auch arge Banausen waren) sahen den Verfall des „schlimmen kapitalistischen Erbes“ wohl auch nicht ungern. Wer, meinten sie in den 60er und 70er Jahren, würde noch in einem 100jährigen Bürgerhaus mit Ofen und Außenklo wohnen wollen, wenn erst genügend Silos mit „Vollkomfort“ zur Verfügung stünden, und weil sie sehr schlechte Rechner waren, unterschätzten sie außerdem Tempo und Folgen des Verfallsprozesses an der Altsubstanz so total, daß schon bald mehr einfiel als neugebaut werden konnte.

 

Im ebenfalls stark zerstörten Polen dagegen wurde von Anfang an versucht, dem Sozialismus auch eine national(istisch)e Note zu verpassen und dem alten polnischen Traum von einer nationalen Identität Rechnung zu tragen. Da liegt es denn auf der Hand, sich auf die alte polnische Kultur zu besinnen, die alle Teilungsversuche überstanden hat und entsprechende Baudenkmäler sind eben eines der augenfälligsten Mittel dies zu dokumentieren, selbst wenn sie schon vernichtet waren. Nur so ist beispielsweise zu erklären, weshalb das alte Warschauer Schloß, von dem buchstäblich kein Stein übriggeblieben war, in den 70er Jahren mit einem unverantwortlichen Aufwand wieder aufgebaut wurde, zu einem Zeitpunkt, zu dem die Wohnverhältnisse in Polen noch als verheerend beschrieben wurden. Der baupolitische Akzent wurde in Polen also auf das nationale Erbe gesetzt (Weiß der Teufel, weshalb auch die deutsche Baukultur in den neuen Gebieten ihren Teil abbekam. Vielleicht wollte man keinen „Stilbruch“ entlang der alten Grenze erzeugen.) und natürlich sieht das im Nachhinein für einen Ästheten gefälliger aus als das Stadtzentrum von Chemnitz.

 

Die (realsozialistische) Selbstdarstellung war dennoch auch hier das Hauptmotiv, aber wen interessiert schon beim Anblick der Pyramiden, daß die Leute seinerzeit in Reisighütten hausten, weil der Pharao alle Steine für sein Grab – und die begeisterte Nachwelt – in Anspruch nahm.

 

Die vom Kriege unzerstörte CSFR machte auf mich übrigens einen geradezu erschreckend verkommenen Eindruck. Die Städte im Sudetenland waren nach der Vertreibung noch nie ein schöner Anblick gewesen, aber auch im klassischen Böhmen hat der Verfall gerade in den letzten Jahren offensichtlich lawinenartig zugenommen. Auf der Strecke zwischen Budweis, Pilsen und dem Erzgebirge ist kaum ein wirklich gut erhaltenes Gebäude zu sehen.

 

Selbstverständlich sind viele Orte malerisch gelegen, die Marktplätze reizvoll angelegt usw. Aber dies alles sind nur die traurigen Reste einer längst vergangenen Blütezeit und mit dem mangelbedingten Verfall mußte sich eben die Böhmische Einwohnerschaft, zunächst genauso abfinden wie die „mitteleuropäischen Menschen“ bei uns und vor zwei Jahren haben sie ihr Grundproblem schließlich genauso gelöst wie wir. Leider haben sie unvergleichlich schlechtere Startbedingungen. Zum einen hilft ihnen kein großer Westonkel und zum anderen waren die Rudimente des Kapitalismus in der alten CSSR wesentlich gründlicher ausgemerzt als bei uns. Einen privatwirtschaftlichen Sektor, wie er in der DDR vor allem im Handel und Dienstleistungsgewerbe auch nach der Zerschlagung der mittelständischen Betriebe [12] [13] noch in großem Umfang bestand, gab es dort praktisch nicht mehr (weshalb die CSR in den 60er Jahren stolz das zweite „S“ in ihren Staatsnamen einfügte) und die Privatinitiative entwickelt sich augenscheinlich auch nach der tschechischen Wende nur sehr langsam und mühevoll, da es kaum Strukturen gibt, an die man unmittelbar anknüpfen kann. Ganz im Gegensatz dazu die von Dir inzwischen zu „Fellachen“ degradierten Ungarn, deren Gulaschkommunismus in Tateinheit mit einer schon immer glücklicheren Finanzpolitik da ein ganz anderes Vorfeld für den Sprung in die – zugegeben: arme – Marktwirtschaft bietet. Folgerichtig ist das – wieder zugegeben: im Vergleich zum inzwischen gesamtdeutschen dürftige – Angebot in Ungarn unvergleichlich besser als in der CSFR und weil es in Ungarn schon seit Jahrzehnten Steine, Zement und Badewannen frei zu kaufen gab, sind wenigstens die privaten Häuser dort insgesamt besser in Schuß.

 

Ürigens horten die Ungarn ihre „chaotische Sammlung von absolut allem“ wohl weniger wegen der „Mangelwirtschaft“ als wegen der Armut, die es (wie die Mangelwirtschaft) einfach verbietet, Dinge wegzuwerfen, die irgendwie noch zu gebrauchen sind und auch die Inflation wird kein geringes Motiv sein. Vielleicht siehst Du unter diesem Aspekt auch einmal die begeisternden „Backsteine für den Erweiterungs- oder Neubau“ in den polnischen Gärten. Im Gegensatz zum Zloty verlieren die nämlich nicht täglich an Wert, sind wetterfest und ohne LKW nur schwer zu stehlen.

 

Von einer „neuen Zeit“ im Vergleich zu 1989 haben allerdings auch wir in Ungarn tatsächlich nur wenig bemerkt (und sie auch nicht vermißt), dies ist aber m.E. mehr ein Zeichen dafür, daß im Gegensatz zum Rest des alten Ostblocks in Ungarn eine ganze Menge „neue Zeit“ schon unter der alten UVAP ausgebrochen war und die neuen Überdemokraten eben auch keine Wunder vollbringen können.

 

An sich also nichts Erstaunliches. Die (West-) Deutschen scheinen aber ulkigerweise immer größte Probleme zu haben, wenn es darum geht zu begreifen, was die eigentlichen Ursachen (zB ihres eigenen) imponierenden Wohlstandes sind. So hört man häufig, es bedürfte nur eines fleißigen Volkes und ein paar guter Ideen des „Klugen Ludwig“[14] von der Marktwirtschaft schlechthin, und alles Weitere ergäbe sich dann schon. Darüberhinaus wird gern (?) und regelmäßig vergessen, daß es etwas anderes ist, von Anfang an mit vorn dabeizusein als von ganz hinten unten aufholen zu müssen. Also staunt man denn folgerichtig immer sehr, wenn nach freien Wahlen und der Ausrufung von Demokratie und Marktwirtschaft nicht gleich überall der Wohlstand ausbricht.

 

Da Du, ein weitgereister Wirtschafts- und Rechtskundiger, der am besten weiß, daß die bürgerliche Gesellschaftsordnung (fälschlicherweise meist mit dem Begriff „Marktwirtschaft“ gleichgesetzt) genausowenig notwendig mit Wohlstand verbunden ist wie Sozialismus mit Armut, darüberhinaus bisher auch stets betont hast, was für ein kompliziertes und empfindliches Gebilde eine funktionierende Marktwirtschaft ist, wundert mich insofern Dein Wundern über das Ausbleiben einer „neuen Zeit“ (in Ungarn).

 

Zum guten Schluß (dieses Kapitels) noch ein paar Bemerkungen zum „Beitrittsgebiet“, in dem nach Deinem Eindruck das Warenangebot zwar einen „Sprung über einige Jahrzehnte“ vollführte, sich aber außer diesem „bisher noch wenig bewegt hat“.

 

Der These vom „Sprung über Jahrzehnte“ kann ich nichts abgewinnen. Bedenkt man, daß mit der Währungsunion die Finanzen Ostdeutschlands endlich und mit einem Schlag technisch (!) in Ordnung gebracht wurden (dazu etwas später noch mehr) , ein gewaltiger Nachholebedarf des Konsums bestand, und das Kapital eben stets dorthin Ware pumpt, wo sich Geschäfte machen lassen, war die Bereitstellung des hübschen Angebotes ein recht normaler Prozeß. (Nichts desto trotz genießen wir es.) Organisiert wurde dies mit deutscher Gründlichkeit und so konnte der Effekt – von einigen Querelen abgesehen, die man aber wirklich der Größe der Aufgabe zugestehen muß – kaum ausbleiben. An dem Tage, an dem man den Kubanern ihren Lohn in Dollars zahlt und die US-Großhandelsketten ins Land läßt, wird auch auf der armen Zuckerinsel ein ähnliches Angebot herrschen (vielleicht nicht ganz so schnell, wegen der fehlenden deutschen Gründlichkeit), aber die Kubaner werden damit keinen Deut reicher sein, nur glücklicher. (Wie wir.)

 

Imponierend für mich ist im Zusammenhang mit der Währungsunion weniger das entstandene Angebot als die finanztechnische Abwicklung und der politische Mut, sich auf dieses Abenteuer überhaupt einzulassen (wahrscheinlich muß man hier wieder unseren Bundeskanzler hervorheben).

 

Ein Abenteuer war es m.E. vor allem deshalb, weil kaum verläßliche Daten über die Wirtschafts- und Finanzsituation der DDR vorhanden waren, anhand derer man vorab exakte Berechnungen hätte anstellen können. Natürlich hat man deshalb versucht, das ganze soweit möglich auf der sicheren Seite anzusiedeln und so ist wohl der 2:1-Kurs entstanden. (Wenn auch viele im Westen das bis heute nicht wahrhaben wollen) Von der Finanzseite her hätte er – zumindest bei den privaten Guthaben – wahrscheinlich noch etwas zugunsten der Ossi-Konten verschoben werden können, denn es hat (im Zusammenhang mit der Währungsunion, wohlgemerkt!) kaum negativen Auswirkungen auf die DM gegeben. Die ‚zig Millionen umgestellter Privatkonten haben die Inflation jedenfalls nicht angeheizt oder sonstwie an der DM-Stabilität gekratzt.

 

Das ist insofern auch nicht verwunderlich, da es in der DDR kaum jemandem gelungen war, so etwas wie „Vermögensbildung“ im westlichen Sinne zustande zu bringen. Der im vorigen Jahr häufig zitierte Vergleich zwischen Ost- und West-Sparkonten hinkt denn auch ganz gewaltig, da er vom Bausparvertrag über Kapitalbildende Lebensversicherungen bis hin zu Aktien und Investmentanteilen alle wesentlichen West-Anlagen außer Betracht ließ, während er das Ost-„Vermögen“ fast komplett dagegensetzte, da es bei uns außer den 3,25%-Sparbüchern praktisch keinerlei Geldanlagen gab. Umgekehrt gab es außer (sehr zinsgünstigen) Krediten für Häuslebauer (die i.a. aber unter 50.000 Ost-Mark lagen) und einem (zinslosen) Kredit für einkommensschwache junge Ehen (7.000 M) auch keine privaten Verbindlichkeiten, so daß selbst von der Halbierung der „Schulden“ nur sehr wenige profitierten. Im Grunde starteten die meisten Familien bei uns am 01.07.90 mit einer Art „Einheits-Standard-Vermögen“ (ich schätze pro Kopf im Mittel deutlich unter 5000,-DM), das meist für den Kauf eines Gebrauchtwagens aufgebraucht wurde.

 

Im Verhältnis zu den jetzt laufenden Einnahmen/Ausgaben sind die damals umgestellten Privatkonten finanztechnisch jedenfalls fast ohne Bedeutung.

 

Ganz anders sieht es natürlich mit der wirtschaftlichen Gesamtmisere im Osten aus, die aber nicht wegen der Währungs-, sondern vor allem wegen der Wirtschafts- und Sozial- und natürlich der politischen Union über die Staatsverschuldung auf die DM drückt. Auch die für einige Betriebs- und andere nichtprivate Konten tatsächlich unzweckmäßige 2:1-Umstellung (hier wäre wegen der realen DDR-Devisenerlöse oft 4:1 oder gar 5:1 angebrachter gewesen) und die pauschale Halbierung der Schulden (hier hätte man wegen der starken Bevorteilung der Häuslebauer auch im privaten Bereich differenzieren müssen) wirken sich da natürlich aus.

 

Einigermaßen unverständlich ist auch das lange Zögern beim Angleich der letzten beiden heiligen Ostkühe: Mieten und Nahverkehr. Hier hätten die Kommunen bis heute viele Milliarden mehr einnehmen bzw. weniger ausgeben können. Inzwischen sind sie aber geschlachtet (die Kühe, nicht die Kommunen), die S-Bahn kostet auch im Osten endlich 1,80 DM und ab 1.10. bezahlen wir für unsere 80qm schlappe 500,-DM mehr. Damit ist die Angleichung des Angebotes tatsächlich fast vollzogen.

 

Bleibt die Angleichung der Einkommen (oder wenigstens des Lohnniveaus), unser alter Streitpunkt, der selbstverständlich an dieser Stelle nicht unerwähnt bleiben soll. Das Arbeitseinkommen liegt – wie erwartet – im Mittel noch unter 50% des Westpegels, was selbst das Handelsblatt (Ausschnitt anbei) feststellt, dem man bestimmt nicht nachsagen kann, daß es die Lohnkosten herunterspielen würde. Für einen Anhänger der Marxschen Mehrwert-Theorie nicht erstaunlich, zeigt sich praktisch überall, daß der Ossi-Traum vom 2/3-Einkommen erstmal nur ein Traum bleibt, ganz zu schweigen von 3/3. Das Kapital kommt damit erstmal nicht schlecht zurecht, denn das zweifellos erhebliche Ost/West-Produktivitätsgefälle, von dem so viel geredet wird, ist ja ein Mittelwert, der zZt. dadurch charakterisiert ist, daß die besonders unproduktiven Bereiche noch gar nicht privatisiert sind, die zur Leistung verhältnismäßig hohen Lohnkosten dort also dem Staat bzw. dem Steuerzahler am Hals hängen, während die bessergestellten – und schon oder demnächst privatisierten – Bereiche mit ihren verhältnismäßig geringen Lohnkosten dem Kapital einen schönen Extraprofit einfahren.

 

Eine gewaltige Umverteilung wie aus dem Marxschen Bilderbuch! Und irgendwo mittendrin strampelt der Ossi und traut sich nicht mehr zum Arzt. Womit wir beim „wenig bewegen“ wären.

 

Auch wenn Du primär dabei das ostdeutsche Baugeschehen im Auge hattest, war es, so denke ich, auch hier wieder für Dich Symptom einer allgemeinen Situation. Und so möchte ich an dieser Stelle einen etwas weiteren Bogen spannen und zunächst auf das verweisen, was ich schon vor einigen Monaten geschrieben habe:

 

Wer in irgendeiner Weise motiviert ist, positiv mit Gewinnaussicht oder meinetwegen auch negativ mit Angst um seinen Arbeitsplatz, der bewegt sich hier inzwischen schon ganz schön, vorausgesetzt, er hat das Gefühl, wirklich aktiv Einfluß nehmen zu können, und nicht nur Spielball zu sein. Bei diesem Problem liegt denn auch nach wie vor der Hase im Pfeffer, aber der Trend ist inzwischen doch schon recht eindeutig zu „mehr Bewegung“.

 

Natürlich verläuft dieser Prozeß oft schleppend und fast immer schmerzhaft für die Beteiligten (im Osten). Aber wer hat denn wirklich etwas anderes erwartet? Immerhin erleben wir hier – gewollt oder ungewollt – eines der größten politischen und Wirtschaftsexperimente der Weltgeschichte und wenn man bedenkt, daß per dato für den Osten Deutschlands erst 14 mal 30 Tage Währungsunion und 11 mal 30 Tage Bundesrepublik zu Buche stehen, läuft es doch gar nicht so schlecht. Ein ganzes Volk muß in neuem Wasser auf neue Art schwimmen lernen (Leider sind schon etliche abgesoffen[15]

 

(Fast) sämtliche Wertvorstellungen sind schlagartig verändert, alte Rechte (und Privilegien) verlorengegangen, neue zwar hinzugewonnen, aber oft nicht bekannt, alte Erfahrungen und Talente sind von einem Tag auf den anderen nutzlos, neue Erfahrungen werden pausenlos gemacht (viele davon unfreiwillig), neue Talente werden entdeckt (manchmal auch schon genutzt) usw.

 

Der Druck auf den Einzelnen, die Familie, die alten und neuen „Kollektive“ in allen Bereichen ist pausenlos und allgegenwärtig. Damit sind Adaptionsprozesse verbunden, die in ihrem Umfang und ihrer Komplexität praktisch beispiellos sind und ich glaube fest, wenn dies überhaupt zu bewältigen ist, dann wirklich nur durch die Ossis. Meine Erfahrungen besonders in den letzten 3 Monaten hier im Westen besagen, daß – mit Verlaub – die Masse der Altbundesbürger an einer solchen Belastung sehr schnell scheitern würde. (Seien wir alle also froh, daß nicht im Westen der Real Existierende ausgebrochen ist, sondern, daß es umgekehrt kam.)

 

Soweit meine doch recht ausgeuferte Antwort auf Deinen Brief. Zum Schluß nur noch ein kurzer Anriß des Themas SU:

 

Der gescheiterte Putsch – und besonders wie er gescheitert ist – bestätigt m.E. eindrucksvoll, daß die Karte Gorbatschow nicht mehr sticht. Mit Ausnahme der beiden Metropolen, wo einige tausend kaum als Anhänger Gorbatschows, sondern vielmehr als Anhänger ihrer (durch den Putsch ebenfalls gefährdeten, aber zu Gorbatschow in Opposition stehenden) lokalen Größen aufgetreten sind, hat niemand in dem großen Land für die – als Reform des Kommunismus – gescheiterte Perestroika einen Finger krumm gemacht, und es kann nicht deutlich genug gesagt werden: Die Menschen waren (und sind!) trotz der 6 Jahre Glasnost derzeit offenbar bereit, ein Regime altstalinistischer Prägung zu akzeptieren. Wären die Putschisten nicht derartig stümperhaft und ohne die simpelsten Regeln der Leninschen „revolutions-“ (oder besser: Putsch-) Theorie zu beachten, vorgegangen, hätten wir (ja, wirklich: wir) dieses Regime jetzt.

 

Dies bedeutet, daß im Grunde in der SU gegenwärtig die Macht auf der Straße liegt und auf den, oder besser: die, wartet, die sie aufheben. Aber da ist kaum jemand von Format, der die Gewähr dafür böte, sie vernünftig zu gebrauchen. Jelzin hat sich (endgültig?) als erfolgreicher Volkstribun und unfähiger – oder unwilliger – Diplomat gezeigt, und sein Einfluß geht offenbar auch nur soweit wie seine Stimme vom Panzer herab reicht. Weiter weg hat er – auch in seiner Republik Rußland – umsonst zum Streik aufgerufen. Als Partner kann er trotz seines unzweifelhaften Popularitätssprunges hier und zu Hause darum dem Westen kaum willkommen sein, wo man denn mehrheitlich auch weiter auf Gorbatschow setzt, der außenpolitisch immer seriös und berechenbar war. Aber ich habe mehr Zweifel denn je, ob man damit noch gut beraten ist. Die SU zerfällt in Windeseile, eine Integrationsfigur a la Gorbatschow ist eigentlich überflüssig und man wird gut daran tun, sich auf mindestens soviele Partner einzustellen wie es Republiken gibt.

 

Das Primärproblem sehe ich für die nahe Zukunft in dem entstehenden Machtvakuum. Wenn es weiterhin keinen Diktator für die SU als ganzes (unwahrscheinlich) oder in dieser oder jener Republik gibt (recht wahrscheinlich), kann man davon ausgehen, daß in den verbleibenden am Anfang noch halbwegs demokratischen Rahmen einiger Republiken kaum mehr als ein wirres Mosaik der verschiedensten politischen Farben und Schattierungen zu besichtigen sein wird: Zaristen, Kommunisten, Sozialrevolutionäre, Volksfreunde, Faschisten, Nationalisten, Anarchisten… Jeder wird versuchen, die Gunst der Stunde zu nutzen, und keinem wird es gelingen, und also kann es wieder nur teuer werden, in jedem Sinne und für alle Beteiligten und Unbeteiligten.

 

 

Das soll es für heute gewesen sein. Ich warte geduldig auf Deinen im Juni versprochenen Brief

 

Dein Frank

 

 

PS: Hinsichtlich unseres Projektes, den bisherigen Briefwechsel in eine neue Form zu gießen, bin ich leider (noch) ein Opfer des technischen Fortschritts. Alle diese schönen modernen Computer, die mir jetzt zur Verfügung stehen, (und auf denen ich zB auch diesen Brief schreibe) sind nämlich nicht in der Lage, meine alten Ost-Computer-files zu lesen. Obwohl das Problem natürlich auch einen ganzen Sack dienstlichen (Ost-) Schriftgutes betrifft, nimmt sich bisher hier niemand der Sache so richtig an. Hardware und know-how müßten zwar vorhanden sein, aber wahrscheinlich kann sich niemand vorstellen, daß aus der alten DDR-Zeit noch irgendetwas benötigt wird.

 

In Berlin gibt es aber einen Bekannten, der behauptet, ein entsprechendes Adaptierungsprogramm zu besitzen. Sobald ich im Frühjahr wieder (werktags) dort bin, starte ich einen neuen Versuch. Bis dahin mußt Du auf meine Mitarbeit bei dem Geschäft erstmal verzichten.

 

Alles was jetzt entsteht paßt ohnehin in das besprochene Schema, denn wie es aussieht wird der Takt unserer Korrespondenz so sein, daß sich keine Post mehr überschneidet.


[1] Die Tatsache, dass ich nun selbst von diesem merkwürdigen Phänomen des Uninformiertseins trotz reichlicher Information (vgl meinen Brief vom 16.1.1990 mit den entsprechenden Bemerkungen Berghofers) betroffen bin, hat mein Verständnis dafür deutlich erhöht.

[2] Wenn meine Bedürfnisse trotzdem befriedigt wurden, so liegt dies an meiner dekadenten Bescheidenheit. Schon bei unserer letztjährigen Ostreise, als es in der DDR noch Ostwaren gab, war eines meiner erfreulichsten Reisemitbringsel ein paar (mit „Behelfsettiketten“ !? versehene) Gläser Stachelbeeren. Solche Erzeugnisse östlicher Einmachkultur sind in Ungarn noch zu haben und so habe ich mir zur Freunde meiner späten Abendstunden Stachelbeeren aus Ungarn mitgebracht.

[3] Wirklich ins Auge stach allerdings das umgestellte Warenangebot. Die Veränderung dieses einen Jahres gleicht einem Sprung über einige Jahrzehnte und ist wahrhaft verblüffend.

[4] In dieser Hinsicht hat freilich auch die alte Bundesrepublik Einiges zu bieten.

[5] Leider ist bei uns die Hoffnung auf eine solche (bau)pysikalische Lösung weniger berechtigt – man hat einfach zu „gut“ gebaut.

[6] Wenn ich „DDR“ schreibe, meine ich Zustände, die noch auf die DDR zurückzuführen sind. In diesem Zusammenhang eignen sich die meisten der üblich gewordenen Umschreibungen für das „Beitrittsgebiet“ nicht. Denn sie beziehen sich auf ein Land, das nicht mehr die DDR ist, haben andererseits aber auch mit den „neuen Bundesländern“ nicht viel und mit Deutschland hoffentlich gar nichts zu tun.

[7] Überhaupt ist der neue Nationalismus aus der DDR höchst unnötig. Es werden damit wieder Gespenster frei, die man hier – einige Spinner abgezogen – eingentlich für tot gehalten hat. Es gibt hier nicht wenige Leute, die den in Jahrzehnten mühsam wiederherstellten deutschen Ruf gefährdet sehen. Man hört, erstmals seit langer Zeit müsse man sich wieder schämen, ein Deutscher zu sein.

[8] Wenn ich mal eine vom Namen her kannte, wie Königgrätz, dann war mir jedenfalls völlig unklar, dass sie sich hier befindet.

[9] Übrigens hat sich auch hier bestätigt, dass die DDR das heruntergekommste Land im näheren Umkreis ist.

[10] Ihre wahrhaft erstaunlichen Briefe, die dem linken Klischee von einem barocken Monarchen so sehr widersprechen, habe ich sinnigerweise in Krakau gekauft.

[11] Nochmal eine Bemerkung zur „Akzeptanz einer verrotteten Umgebung“: Hier spricht der Wessi aus jeder Silbe, der sich einfach nicht vorstellen kann, was es tatsächlich bedeutet (hat), etwas wirklich nicht zu bekommen, es nirgends und um keinen Preis kaufen, es nicht einmal erbetteln zu können.

Was man den Ossis kaum absprechen kann, ist ihr ungeheures Talent zur Improvisation (was ich einigen im Westen sehr wünschte). Was da aus feuchten Kiefernbrettern – ohne Black&Decker statt dessen mit dem guten alten Fuchsschwanz – gezaubert wurde (IN den Häusern), ist, denke ich, schon recht imponierend, aber beim Ziegel- und Zementbrennen, beim Balkenschneiden, bei der Herstellung von Wasserrohren und Elektrokabeln, Glasscheiben, Dachrinnen, Fensterrahmen, Treppen, Beschlägen, Gerüsten,… (ich breche hier aus Papiermangel ab) endet eben die Kunst des Heimwerkers. Auch die des polnischen oder böhmischen übrigens und selbst Deine häuslebauenden Schwaben würden beim Angebot der DDR-Baustoff“versorgung“ ganz schön alt aussehen, zumal wenn die Häusle nicht ihnen gehörten, sondern irgendeiner volkseigenen KWV (Kommunale Wohnungsverwaltung).Die einzige Lösung für das Problem war, die Regierung davonzujagen. Und das wurde denn ja auch getan und niemand soll behaupten, er hätte es eher zustande gebracht.

[12] ^Anfang der 70er sind alle größeren Privat- oder „halbstaatlichen“ (KG mit staatlicher Beteiligung) Betriebe dem Staat „zum Kauf angeboten“ worden, darunter weltbekannte Firmen wie Zeuke (Modellbahnen), viele sächsische und thüringer Textilbuden, uva. Die alten Inhaber – oder auch mal der eine oder andere Sohn – wurden i.a. als Betriebsleiter weiterbeschäftigt, waren aber mit den Konditionen unzufrieden, denn erstens fiel der Kaufpreis relativ niedrig aus, da sie oft wegen der Steuer den Buchwert der Anlagen ein wenig nach unten frisiert hatten und zweitens kam der größte Happen in der Regel auf ein Sperrkonto und stand ihnen nur in Raten zur Verfügung, damit sie nicht übermütig werden (und noch mehr an der dünnen Warendecke ziehen). – mehr nächste Seite

[13] Die 4 Blockflöten, die inzwischen komplett in der Kohl-CDU oder der FDP aufgegangen sind, und sich heute als die größten stasiverfolgten Widerstandskämpfer gebärden, haben seinerzeit übrigens eine besonders miese Rolle gespielt. Honecker und die seinen hatten es nämlich für zweckmäßig erachtet, die Initiative für die „Kaufangebote“ von den Betroffenen selbst ausgehen zu lassen und da diese meist in irgendeiner Blockpartei organisiert waren, wurden sie von ihren eigenen Parteifreunden auftragsgemäß und ohne großes Sträuben unter Druck gesetzt.

[14] Vielleicht ist es bei Euch schon bekannt: Dieser „K.L“ ist eine Zeichentrickfigur (L.Erhardt, mit Dackel), mit der im vorigen Jahr den Ossis (dem Dackel also) per TV die Grundbegriffe der Marktwirtschaft beigebracht werden sollten. Sicher gut gemeint, aber es gab Bedenken, ob diese Machart nicht sogar für uns zu primitiv sei, und so ist uns der Quatsch (?, ich kenne nur Zeitungsberichte darüber) erspart geblieben.

[15] Ich meine dies ohne jeden Zynismus: Etliche gehen nun in dieser neuen Welt unter, viele trifft es hart und unverschuldet, aber die Alternative, wenn denn wirklich noch eine bestanden hat, hätte ebenso ihre Opfer erfordert, sicher meist andere, aber kaum weniger.

Ein- und Ausfälle (China 15)

China kannte von alters her keinen Adel, keine Verehrung des Militärs, keine Kirche, die meinte, alles am besten zu wissen, keinen Kolonialismus, keine Religionskriege, keinen Rassismus und keinen Nationalismus, dafür aber einen relativ gerechten Zugang des Volkes zu öffentlichen Ämtern und die tatsächliche Verantwortung der Regierung für das Wohl des Volkes, mit anderen Worten China hatte das oder das nicht, was sich Europa erst in neuerer Zeit mühsam ab- oder anzugewöhnen begonnen hat.

Briefe aus der Wendezeit – Teil 9

Berlin angefangen am 23.01.91 und dann oft und lange unterbrochen (aber Du bist in letzter Zeit ja auch nicht mehr mit dem Schreibelan der Revolutionszeit versehen)

 

Lieber Klaus!

 

It’s Saurier-time. Der jüngste Golfkrieg ist nun eine Woche alt und macht, daß man die deutschen Probleme wieder deutlich als das erkennt, was sie sind: Harmlos – zum Glück! Bei uns geht’s nicht ans Leben, nur ein wenig ans Portemonnaie. Und ans ach so empfindliche (deutsche) Gemüt,   natürlich.

 

Die Medien bieten rund um die Uhr ein erschöpfendes Gemisch von fast allem, was sich im Zusammenhang mit diesem (nicht erklärten) Krieg sagen und zeigen läßt und so könnte ich mir eigentlich die Mühe sparen, noch originelle eigene Wertungen und Ansichten zu entwickeln. Dennoch kommt mir ein Aspekt – insbesondere in den Medien West – entschieden zu kurz, wahrscheinlich liegt es daran, daß sich die (westliche) Welt schon in erschreckendem Maße daran gewöhnt hat:

 

Was als „Sadam Hussein gegen Freiheit und Demokratie“ (oder umgekehrt) begonnen hatte, ist nun ein Fall „USA/Irak“ geworden und bringt damit eine im Grunde gerechte Sache bei den Völkern der 3. Welt unnötig in Mißkredit. Wieder einmal posieren die USA in ihrer angemaßten Rolle als Gralshüter aller Werte der Zivilisation und Europa tut so, als müßte das so sein, hat sich ein sinn- weil chancenloses Ultimatum aufschwatzen lassen und kratzt nun maulend die Groschen zusammen, um den Irrsinn zu bezahlen. Einzig ein paar tausend Pazifisten treten dagegen auf, mit untauglichen apeacement-Flausen, die noch nie einen Diktator gebremst haben – genausowenig wie Bombenteppiche.

 

Wahrscheinlich hat es sich noch nicht ausreichend herumgesprochen, daß jeder, der gegen eine Großmacht antritt, den Nymbus des Märtyrers im Tornister trägt, und gerade deshalb die Großen dieser Welt allen Grund haben, übervorsichtig zu agieren. Auch die Deutschen haben allen Grund dazu. Man nimmt uns noch immer gern übel, was dem Rest der Welt ohne weiteres erlaubt ist, und damit müssen wir wohl noch eine Weile (?) leben[1].

 

Dabei wäre alles ganz einfach: Keine Waffenexporte in die Dritte Welt, und die Kriege dort fänden mit dem Krummsäbel statt…  Aber dazu ist nun wirklich an anderer Stelle schon alles gesagt worden (mit Ausnahme der Antwort auf die Frage, womit der Norden dann sein Öl bezahlen soll. Aber die Japaner schaffen das ja auch irgendwie).

 

Immer wenn die Diktatoren dieser Welt zuschlagen, stehen die Demokraten mehr (falls) oder weniger (falls nicht) ergriffen (betroffen) dabei und staunen. Viele werden sich ihrer Ohnmacht wieder einmal so richtig bewußt und beten, andere wünschen sich sehr heftig einen eigenen Diktator (möglichst einen, den man auch wieder abwählen kann) und allen gemeinsam ist das Empfinden, vor einem Phänomen zu stehen.

 

Offenbar fällt es nach einer langen Phase der Demokratie ungeheuer schwer, sich wirklich in die Mechanismen einer Diktatur hineinzudenken. (Ich bin da ausgesprochen im Vorteil) Das gefährlichste dabei ist diese sagenhaft dumme Überzeugung, das demokratische Politsystem wäre eine Art Belohnung für kluge und fleißige Völker und die anderen wären wohl irgendwie immer auch selbst schuld an ihrer Unterdrückung. Nun ist da leider auf den ersten flüchtigen Blick oft auch etwas dran und in nullter Näherung (und über lange Zeit gesehen) hat wohl tatsächlich „jedes Volk die Regierung, die es verdient“. Nur gibt es ein ungeheuer breites Spektrum zwischen dem aktiven Installieren oder Erleiden, dem Abfinden bzw. (Er)dulden und dem Abschütteln eines Zwangsregimes. Hier scheint mir der Knackpunkt des Irrtums zu liegen, in den all jene nur allzu gern verfallen, die von vornherein davon verschont wurden.

 

(Ich habe vor einigen Jahren im Fernsehen ein Interview mit US-amerikanischen Oberschülern gesehen, die vor der Berliner Mauer standen und alle Eide schworen, in den USA würde jede Regierung selbstverständlich sofort aus dem Amt gejagt, die so etwas bauen würde… Heilige Einfalt!)

 

Eine gehörige Portion dieser Ansicht kommt besonders jetzt immer mal wieder mit ‚RÜBER. Dabei ist gerade ein geteiltes Volk das in verschiedenen Systemen lebt(e) der beste Gegenbeweis, es sei denn, man unterstellt, daß ausgerechnet die Mentalität von Thüringern und Sachsen einem autoritären System mehr Vorschub leistet als die von Bayern und Rheinländern (die im übrigen wenige Jahre zuvor ihrem Adolf auch nicht gerade verhalten zugetan waren), oder daß in Vietnam und Korea irgendein willkürlich festgelegter Breitengrad in wunderbarer Weise die Völker dort in „demokratiefähige“ und „diktaturempfängliche“ trennt.

 

Bleibt dennoch die Frage, ob es irgendetwas gibt, das die These, mit Völkern könne man eben alles machen, in Frage stellt? Ich für meinen Teil fürchte: Nein. So jammerschade es auch sein mag. Einzige Hoffnung ist vielleicht, daß die Geschichte immer wieder gezeigt hat, daß stets alle Diktaturen früher oder später irgendwie „abgewirtschaftet“ hatten bzw. am eigenen Größenwahn erstickt sind. Aber dabei ging natürlich auch immer wieder nicht nur ein System vor die Hunde, sondern Völker und Volkswirtschaften gleich mit. Dieser zwanghafte Hang, sich in kritischen Situationen unter die Fittiche einer starken Autorität zu flüchten ist jedenfalls nicht totzukriegen. Und gerechterweise muß man zugeben, daß es zum einen immer auch durchaus eine ganze Reihe Argumente dafür gibt, und daß zum anderen das diktatorische Grundprinzip die damit verbundenen Hoffnungen der Diktierten oft auch erfüllt hat. Es gibt halt immer wieder Zeiten, in denen eine straffe Hand als das kleinere Übel erscheint – gegenüber endlosem Parteienpalaver.

 

Übrigens scheint mir das autoritäre Prinzip keinesfalls scharf abgegrenzt gegenüber dem demokratischen. In den meisten Fällen wird ja auf demokratische Weise eine Art „Diktatur auf Zeit“ gewählt, auf deren konkrete Politik der eigentliche „Souverän“ dann kaum noch Einfluß hat (jedenfalls nicht, solange die nächsten Wahlen noch in weiter Ferne sind). Daher wohl auch immer wieder die (wie in Deutschland) ursprünglich sogar gewählten Diktatoren, denn längst nicht alle haben sich ja an die Macht putschen müssen.

 

Aber zurück zur „Diktatur auf Zeit“: Imponierend für mich in diesem Sinne die Briten. Sie haben in kritischer Zeit einen Winston Churchill auf den Schild gehoben, sich jahrelang seinem eisernen Willen untergeordnet – und nach dem Sieg bar irgendwelcher sentimentalen Dankbarkeitsgefühle keine Sekunde gezögert, ihn wieder in die Reihe zu stellen (und er hat sich da auch widerspruchslos wieder hinstellen lassen). Ein großes Volk, das die hohe Schule der Demokratie schon lange und souverän praktiziert!

 

In einem Präsidialsystem, in dem einem einzelnen Mann bewußt eine ungeheure Machtfülle anvertraut wird, wiederholt sich m.E. dieses Prinzip leider auch außerhalb kritischer Zeiten. Die USA sind da ein sehr anschauliches Beispiel. Was unterscheidet – bis auf die begrenzte Amtszeit natürlich – einen US-amerikanischen Präsidenten von einem europäischen Monarchen der Jahrhundertwende? Die Parallelen gehen bis zu den Lächerlichkeiten der Etikette. Wenn in Washington irgendein Lakai ausruft:

 

„Ladies and Gentlemen – the president of the United States!“, kann ich keinen rechten Unterschied zu „Meine Damen und Herren – seine Majestät, der Kaiser!“ erkennen. Die „first lady“ und der Vizepräsident sind so überflüssige Figuren wie Kaiserin und Kronprinz usw.

 

Da lobe ich mir doch die „richtigen“ Herrscherhäuser. Das Volk hat seinen Spaß und seine Tradition und hier und da rettet auch mal ein König wie Juan Carlos die Demokratie…

 

Aber zurück zu den Diktatoren. Ich fürchte sie sind integraler Bestandteil der menschlichen Zivilisation, denn sie sind ebenso alt. (Du wirst mit Deiner ordentlichen humanistischen Bildung sicher bessere Beispiele zusammenbringen, als ich mit meiner polytechnischen von Margots Gnaden. Ich versage mir deshalb an dieser Stelle den Versuch, in die Antike auszuschweifen.)

 

Offenbar gibt es etwas in unseren äffischen Verhaltensmustern, das uns nie so richtig von dem Drang nach Unterordnung unter einen Leitaffen frei werden läßt. Spätestens wenn die Bananen knapp werden, keimt in uns der Wunsch nach einem Obergorilla, der uns zu neuen Stauden führt.

 

Für mich ist diese Problematik nur wenig faßbar (trotz oder gerade wegen der eigenen unmittelbaren Erfahrung) und mir ist auch noch nichts wirklich wissenschaftliches in die Hände gekommen, das über die Beschreibung der Merkmale hinaus eine brauchbare Analyse liefert. (Vielleicht kannst Du mir etwas empfehlen?)

 

Apropos empfehlen: Ich habe jetzt die Bücher „Der Sturz“ (Honecker-Interviews ’90) und „Denk‘ ich an Deutschland“ beim Wickel. Mit dem „Sturz“ bin ich fertig und ich kann ihn nur empfehlen. Redaktionell ist das Buch zwar von einer wirklich beispiellosen Stümperhaftigkeit – ein Laie und ein Amateur interviewen da offenbar ohne klares Konzept und teilweise deutlich unter dem Niveau von Schülerzeitungsredakteuren, aber vielleicht waren sie durch diese Art journalistischer Harmlosigkeit für die Honeckers überhaupt erst akzeptabel. Wie und was der Mann (und seine Frau) da aber an Plattheiten zusammenstottern, ist schon irgendwie lesens- auf alle Fälle aber für die Enkel aufbewahrenswert.

 

Besonders pikant die Tatsache, daß sich die „wissenschaftliche Weltanschauung“ des Ehepaar Honecker offenbar in zwei, drei Floskeln aus der Sekundärliteratur erschöpft. Ich hatte schon immer das Gefühl, daß die Mehrzahl der Politbüromitglieder mit dem „Kapital“ von Marx gründlich überfordert gewesen wäre (und sich deshalb gar nicht erst damit befaßt hat).

 

Zum guten Schluß noch ein paar postspezifische und damit persönliche News. Die Bundespost ist in diesen Tagen gerade dabei, die ehemaligen Stasi-Leute fristlos zu entlassen. Nach der Auflösung des „Amtes für nationale Sicherheit“ vor einem Jahr hatte die Modrow-Regierung viele von ihnen – genau wie die Mitarbeiter aufgelöster Ministerien u.a. – im Öffentlichen Dienst untergebracht. Dort waren jahrzehntelang viele Stellen unbesetzt geblieben, Arbeit gab es in den Postämtern genug (bis heute), und es waren schließlich nicht die faulsten und dümmsten bei Mielke gewesen. Außerdem hatten sie eine hervorragende Disziplin und muckten nicht.

 

Jetzt wird also wieder Platz und ich überlege, ob es nicht sinnvoll ist, sich mit irgendeinem Posten in einem Briefverteilamt zu bescheiden, anstatt auf die „große Chance“ zu warten. Unsere Bude macht spätestens Ende ’92 zu… Allerdings bin ich nach einem halben Jahr Marktwirtschaft und trotz der Perspektive einer Arbeitslosenrate von 25% von der Wohlstandsgesellschaft doch schon so angekratzt, daß ich mich im gehobenen Dienst als zu billig verkauft empfinde[2]

 

Also habe ich mir ein Buch zugelegt („Bewerben mit Erfolg“) und daraus gelernt, daß man seine Unterlagen in Klarsichtfolien stecken muß und wie wichtig ein sympathisches Farbfoto sein kann. Mit solcherart know-how und einem neuen Anzug ausgerüstet biete ich mich auf dem Arbeitsmarkt feil, pflege ängstlich mein Selbstbewußtsein und glaube ehrlich daran, daß ich früher oder später meiner Chance begegnen werde… Ich halte Dich auf dem laufenden.

 

Schreib mal wieder, Grüße an Judy und die Kinder (auch von Paula und den Kindern)

 

Dein Frank

 


Stuttgart, 10.2.1991

 

Lieber Frank,

 

mein revolutionärer Schreibelan ist tatsächlich etwas erlahmt. Deutschland, um daß sich doch vor kurzer Zeit die Welt zu drehen schien, ist in den letzten Wochen in den Hintergrund getreten, bei mir und im allgemeinen. Erst jetzt, wo der Golfkrieg zur Routine zu werden droht, treten die immensen, wenn auch, wie Du zu Recht bemerkst, vergleichsweise bescheidenen Probleme des vereinten Landes wieder in den Vordergrund. Doch dazu später.

 

Erlahmt ist aber nicht mein Schreibelan überhaupt. Ich habe mich, einem tiefsitzendem Hang folgend, wieder einmal eher unpolitischen Dingen zugewandt. Längst hättest Du ein geschriebenes Lebenszeichen von mir bekommen, wenn ich nicht den Ehrgeiz gehabt hätte, Dir ein fertiges Manuskript zuzusenden. Aber so etwas geht – ich hätte es wissen sollen – immer länger, als geplant. Ursprünglich hatte ich mir Weihnachten als Termin gesetzt, dann aber passierte der Daten-GAU. Ich löschte versehentlich ein Drittel meines Textes in der Wunderkiste (darunter verstehe ich das Gerät, das mir jetzt so allerhand Schreibereien ermöglicht, über das ich mich aber gelegentlich nur wundern kann.) Und so kam ich terminlich vollständig ins Schleudern. Nun ist das Opus fertig und ich hoffe, daß es Dich für die lange Durststrecke etwas entschädigt.

 

Das Werkchen betrifft unsere Familienreise nach Malaysia im Jahre 1985, wenige Monate bevor ein weiser und sehr langfristig disponierender Zufall zwei Schreibenthusiasten am Plattensee zusammenführte, die sich ihre Leidenschaft nicht eingestehen wollten, wiewohl jeder sie wohl auch dem anderen zutraute. Daß ich Dir heute ein solches Reisewerk zusenden kann, hat sehr viel mit den inzwischen eingetretenen Veränderungen in Deutschland zu tun. Vor der Maueröffnung hätte ich es Dir nicht übersandt. Übrigens mußt Du dabei politisch nicht vollständig darben. Du wirst darin ein paar bekannte Problemstellungen wiederfinden, von der Ziel- und Paradiesdiskussion über den Kolonialismus bis zum Oberaffen, den Du in Deinem soeben hier eingegangenen Brief vom 23.1. erwähnst.

 

Nun aber zur Welt und Seelenlage. Wie weit sind wir heute von der Stimmung entfernt, die sich in meinem Silvesterbrief von 1989 widerspiegelt; wie weit selbst von der Stimmung, die noch zu Zeiten meines letzten Briefes herrschte. Welch‘ merkwürdige Farben hat das Bild Gorbatschows inzwischen erhalten. Die vor noch gar nicht langer Zeit verbreitet gewesene Überzeugung, unter vernünftigen Leuten lasse sich doch mehr oder weniger Alles gewaltfrei lösen – sie war eines der aufregendsten und hoffnungsvollsten „Ergebnisse“ Eurer Revolution – hat harte Prüfungen durchmachen müssen.(Ein Glück, daß ich in dem genannten Silversterbrief eine internationale Streitmacht für Hussein-Fälle vorgesehen hatte; womit ich nicht sagen will, daß ich den Zeitpunkt für ihren Einsatz gutheiße.) Geradezu aberwitzig erscheint die Tatsache, daß man ausgerechnet den Deutschen neuerdings mangelnde Kriegslust vorwirft; und daß manche unserer Politiker glauben, sich dafür schämen zu müssen und nun tausend teure Entschuldigungen dafür vorbringen, weil sie die Kriegstrommel nicht rechtzeitig geschlagen haben. Auch angesichts eines Sadam Hussein denke ich, daß es einem Volk wie dem Deutschen nicht schlecht ansteht, in Sachen Krieg „unsicher“ zu sein, selbst wenn es nicht sehr realpolitisch gedacht sein mag. (Das ändert nichts an meiner Zustimmung zu Deiner Meinung, daß die deutsche Schuld nur begrenzt vererbbar sein kann.) Es macht natürlich wenig Sinn, die mangelnde deutsche Kriegslust mit der Erfahrung von Auschwitz begründen zu wollen, wie dies jetzt gelegentlich geschieht. Denn Auschwitz hätte ohne die Bereitschaft (der damaligen Alliierten) zum Krieg kein Ende gefunden. Dennoch wäre es sehr merkwürdig, wenn die Deutschen mit dem Krieg ebenso unbefangen umgehen würden, wie diejenigen, die ihn gegen den deutschen Wahnsinn geführt (und gewonnen) haben.

 

Nach der außenpolitischen Nabelschau ist seit einigen Tagen wieder das vereinte Deutschland im Gespräch. Plötzlich und scheinbar überrascht stellt man fest, daß man beim Zusammenführen der beiden Staaten einen wahren Scherbenhaufen angerichtet hat. Dabei ist es so verwunderlich nicht. Es liegt ja nicht gerade fern, daß einer (sozialistischen) Volkswirtschaft die Luft ausgeht, wenn man ihr gleichzeitig von Osten (durch Abschneiden der Märkte) und von Westen (durch Konfrontation mit dem Weltmarkt) den Hals zudrückt. Nachdem die Ostwirtschaft jetzt bedrohlich schnauft, heißt es, die Folgen von 40 Jahren Mißwirtschaft könnten eben nicht so schnell überwunden werden. Ich fürchte aber, daß die gefährliche Atemnot zu einem erheblichen Teil die Folge einer dilettantischen Überleitungspolitik ist.

 

Man hat seinerzeit die unziemliche Eile bei der wirtschaftlichen Vereinigung (die politische steht auf einem anderen Blatt) damit begründet, nur durch schnelles Herbeiführen der doch so leistungsstarken Marktwirtschaft könne man verhindern, daß die Leute aus dem Osten weglaufen. Das Ergebnis ist, daß die Übel jetzt potenziert sind. Die Leute laufen weiterhin davon (es wird nur nicht mehr soviel gezählt) und die Ostwirtschaft kann aus eigener Kraft nicht einmal die Grundbedürfnisse befriedigen, mit der sogar die sozialistische Wirtschaftsordnung keine Probleme hatte. Die großen Lenker der Marktwirtschaft scheinen sich nicht so recht darüber im Klaren darüber gewesen zu sein, wie der Kapitalismus funktioniert. Der Niedergang des Sozialismus hat eine allgemeine Begeisterung über die Überlegenheit des Kapitalismus ausgelöst und den Glauben verbreitet, man könne das kommunistische Chaos unter Einsatz der Portokasse allein kraft der Eigendynamik der Marktwirtschaft aufräumen: Helmut als Herkules, der den DM-Strom durch den sozialistischen Saustall leitet und ihn mit einem Schlage ausmistet. Leider haben die großen Strategen dabei übersehen, daß das Funktionieren der Marktwirtschaft von einigen nicht ganz unkomplizierten Vorraussetzungen abhängt. Dazu gehören nicht nur so scheinbar banale Dinge wie Telefonverbindungen und Grundbuchämter, sondern überhaupt ein funktionierender öffentlicher Dienst. Diese Voraussetzungen sind hier so sehr zur Gewohnheit geworden, daß man nicht mehr viel darüber nachdenkt. Und so hat man nicht nur vergessen, daß sie hier erst in jahrelanger Aufbauarbeit entstanden sind, sondern auch daß sie hochentwickelt und äußerst spezialisiert sind. Und das heißt, daß sie drüben nicht einfach aus dem Boden gestampft werden können. So lange diese Vorraussetzungen aber nicht vorliegen, kann ein marktwirtschaftliches Wirtschaftsmodell bei den gegebenen Konkurrenzverhältnissen nicht arbeiten. Die Marktwirtschaft ist eben kein Naturereignis, das sich seinen Weg bricht, wenn man sie nur laufen lässt. Sie ist ein höchst artifizielles Gleichgewicht, das, wie ein Blick in die Welt zeigt, nur in besonders glücklichen Einzelfällen zufriedenstellend funktioniert.

 

So hat die überstürzte Einigungspolitik gewissermaßen die negative Quadratur des Kreises erreicht. Man hatte die Wahl zwischen einer behutsamen Rehabilitation des lungenschwachen Wirtschaftspatienten DDR (was vorrübergehend eine getrennte Führung der beiden Wirtschaftsgebiete bedeutet hätte) und einer Schocktherapie durch sofortige Einigung. Man hat die Schocktherapie gewählt, den Patienten getötet und die Zweiteilung vertieft, ohne sie zu nutzen. Deutschland ist noch lange kein einig Vaterland. Gewöhnt hat man sich an die fülligere Wetterkarte. Auch Katrin Krabbe sollte der ganzen Nation zur Verfügung stehen. Die Vorstellung, daß Lokomotive Leipzig in der Bundesliga spielt, ist schon etwas schwieriger. Die Wirtschaft aber teilt das Land, wie könnte es anders sein, in zwei klare Hälften. Hätte man die Tatsache offen akzeptiert, so wäre der Weg dafür frei geworden, den Osten kontrolliert in das neue Wirtschaftssystem zu überführen. Das hätte freilich einige Einschränkungen zur Folge gehabt, die zu fordern damals keiner den Mut hatte (meine Briefe hat ja niemand gelesen!). Wie man jetzt aus dem Schlamassel wieder herauskommt, weiß ich auch nicht. Will man den Zusammenhang von Lohnentwicklung und Produktivität erhalten, braucht man zwei Wirtschaftsgebiete. Tut man es, laufen die guten Leute in den Westen über (Beispiel: ein gewisser Postler aus Ostberlin). Andererseits kann ich mir nicht vorstellen, daß die Lösung darin liegt, die Ostlöhne alsbald auf westliches Niveau zu heben. Das hieße den Patienten an einen Tropf hängen, in dem dazu noch das falsche Medikament ist. Denn damit würde der o.g. Zusammenhang zwischen Löhnen und Produktivität, der doch eines der marktwirtschaftlichen Grundgesetze ist, aufgehoben, ganz abgesehen davon, daß ich nicht weiß, wie solche rein konsumtive Ausgaben auf Dauer finanziert werden sollen. Möglich wäre es ohnehin nur, wenn der Staat eine die Wirtschaft dominierende Rolle übernähme, die der im real existent gewesenen Sozialismus verdächtig nahe käme, mit den bekannten Folgen.

 

Dann ist da noch das Problem Berlin, das durch seine Querlage auch noch erhebliche Schmerzen im deutschen Magen erzeugt. Ich fürchte, es wird einfach ein ziemlich unsystematisches Herumkurieren geben. Wir werden wohl Gelegenheit bekommen, uns in einigen „Tugenden“ zu üben, die uns Deutschen nicht angeboren sein sollen. Sicher ist nur, daß es eine teure Angelegenheit wird.

 

Noch ein paar Worte zum Vorrang hautnaher Probleme vor hehreren Gedanken und dem daraus resultierenden Hang zur Diktatur. Den Hang der Völker hierzu will und kann ich nicht bezweifeln. Interessant erscheint mir nur die Frage, unter welchen Umständen dieser Hang zum Tragen kommt, m.a.W. was Diktaturen mehr oder weniger wahrscheinlich macht. Ohne Zweifel hängt dies nicht von Breiten- oder Längengraden ab. Der entscheidende Faktor scheint mir, ohne daß ich hemmende Institutionen verachten will, eine demokratische Tradition zu sein. Deshalb ist es für mich nicht verwunderlich, daß die Briten ihren Churchill so leicht wieder losgeworden sind. Es sind die gleichen Gründe, die es verhindert haben, daß die Schweiz niemals einen Diktator hatte. Ich fürchte, daß man an den Vereinigten Staaten als einem Hauptbeispiel für die Wichtigkeit einer solchen Tradition nicht vorbeikommt. Ich habe schon in einem früheren Brief erwähnt, in welchem Ausmaß demokratisches Gedankengut gerade die amerikanische Gesellschaft beherrscht, bis hin zu nicht gerade pragmatisch erscheinenden Regelungen wie dem demokratischen Luxus von 50 verschiedenen Rechtsordnungen. Auch die Stellung des amerikanischen Präsidenten hat nach meiner Auffassung wenig mit Diktatur zu tun. Sicher, er hat eine starke Stellung. Aber durch ein äußerst komplexes System von checks and balances ist diese Macht in das Ganze des Systems eingebunden und nach allen Seiten begrenzt. Von den tagelangen bis in die Privatsphäre gehenden Befragungen, die ein vom Präsident gewünschter Minister oder oberster Richter über sich ergehen lassen muß, können wir nur träumen. Ich verkneife mir hier, auf weitere Einzelheiten einzugehen, zumal ich nicht damit rechne, Dich brieflich überzeugen zu können. Ich mußte mich auch erst vor Ort davon überzeugen, daß Amerika nicht meinen Vorurteilen entsprach. Ich denke, Du mußt bald mal über den großen Teich, was schon deswegen zu empfehlen ist, weil Du Dir angesichts der harten DM dabei das Vergnügen leisten kannst, den Überlegenheitstraum des ehemaligen DDR-Bürgers (Dein Brief vom 13.11) gerade gegenüber dem alten Klassenfeind zu verwirklichen.

 

Gruß für heute

 

Hier noch ein paar Personalnachrichten: Vor ein paar Wochen habe auch ich meinen Job gewechselt. Mittlerweile bin ich Richter am Landgericht in Stuttgart und beschäftige mich mit Bankräubern und Rauschgiftlern, eine nicht uninteressante und nicht zuletzt weniger strapaziöse Abwechslung. Am Tag meines Amtswechsels hat sich Judi auf die andere Seite des Erdballes begeben, von wo sie, so Sadam Hussein will, in der kommenden Woche zurückkommen wird. Unter dem Vorwand, ihre Verwandtschaft in Australien zu besuchen, hat sie sich, eine alte Rechnung mit mir begleichend, u.a. eine Woche in Bali herumgetrieben (die Fortsetzung meines Malaysia-Büchleins wird sich mit meinen anschließenden Erlebnissen in Bali ohne Familie befassen, die Judi jetzt nachgeholt hat.) Und dann winkt noch die Aussicht, daß ich mich in absehbarer Zeit ein Jahr lang als Besserwissie in Sachsen betätigen könnte (entschieden ist noch nichts). Reichlich spät hat man jetzt bemerkt, daß auch die Rechtspflege dort zusammenbricht, wenn nicht alsbald Hilfe kommt. Auch das gehört in das Kapitel Überleitungsdilettantismus.

 

Das Malaysia – Manuskript bekommst Du, da ich Deinen Brötchengeber nicht unnötig mästen will, mit gesonderter Post – ein kleines Beispiel des Vorrangs der Ökonomie vor höheren Gefühlen.

 

Gruss

 

Klaus


Berlin 26.3.1991

 

Lieber Klaus!

Vielen Dank für Deinen Brief vom 10.02.91. Er hat große Freude bei mir ausgelöst, ein echtes Geburtstagsgeschenk. Ich war regelrecht euphorisch, mal wieder etwas von Dir zu hören und auch sonst irgendwie… Du kannst getrost für Dich verbuchen, daß mir Deine Briefe (und meine Antworten) inzwischen ein schier unverzichtbarer Teil meines (politmoralischen?) Seelenlebens geworden sind. Wahrscheinlich bin ich als visueller Typ für mein Wohlbefinden auf die Möglichkeit angewiesen, meine Gedanken schriftlich zu ordnen. Und zu ordnen gibt es immer noch eine Menge.

In diesem Sinne hier also gleich der nächste Brief, in ungewohntem Tempo. Mein Minister erhöht ab Ostern das Porto und redlich bemüht, ein pfiffiger Bundesbürger zu werden, lasse ich selbstverständlich die Gelegenheit, noch schnell 50 Pf zu sparen, nicht aus.

 

Seit voriger Woche drehen die Ossis nun wieder ihre Runden. Zumindest beim zweiten Mal scheint es auch im Westen ausreichenden Eindruck gemacht zu haben, denn das ZDF berichtete letzten Montag an erster Stelle darüber, und so wird es in Leipzig sicher nicht die letzte „Montags-Demo“ gewesen sein.

Der kleine Ableger in Berlin nimmt sich übrigens gegen die 80.000 Leipziger vergleichsweise harmlos aus, wenn auch die von der (alten Volks-) Polizei angegebenen Zahlen regelmäßig etwa die Hälfte der Teilnehmer unterschlagen (Wir haben von unserem Fenster aus in den letzten 18 Monaten ein recht gutes Augenmaß für so etwas entwickelt).

 

Die Tatsache, daß die PDS-Hochburg Berlin mit Leipzig nicht so recht mithalten kann, zeigt andererseits m.E. sehr deutlich, daß es bei dieser neuen Demowelle (und nicht nur im Sachsenland) den meisten vor allem um die ganz profanen Bedürfnisse und weniger um die große Politik oder gar um die Moral geht – wie schon im Herbst ’89.

 

Viel ist denn die Rede von Betrug und Enttäuschung und unser aller Bundeskanzler, der vor einem Jahr noch so heftig beklatschte und vor 3 Monaten – auch und gerade von den Ossis, wohlgemerkt – noch so heftig gewählte, muß hier nun fürchterliche Schelte einstecken, weil immer noch kein Manna vom Osthimmel regnet. Na sowas!

 

Mich hat er nicht enttäuscht, im Gegenteil. Meine Erwartungen an die Gebefreude der Bundesregierung waren ausgesprochen harmlos, denn erstens bin ich (in dieser Beziehung) kein Phantast und zweitens muß mir der neue Landesvater Kohl nicht unbedingt was schenken, denn vom alten Landesvater Honni bin ich nicht verwöhnt. Trotzdem sind wir dem Herrn Kohl wahrscheinlich dennoch in einem Punkt zu großem Dank verpflichtet und spätere Generationen werden dies vielleicht und hoffentlich auch zu schätzen wissen: Man kann zu dem Mann ja stehen wie man will, ihm Fingerspitzengefühl oder sogar den Intellekt absprechen, aber wohl kaum seinen schier übersinnlichen politischen Instinkt. Bei nüchterner Überlegung muß man ihm zugestehen, daß er mit seinem elefantenhaften Charme vielleicht das einzige schmale Zeitfenster für die Deutsche Einheit genutzt hat, das sich in diesem Jahrtausend noch für einige Monate auftat. Noch ehe die alten Alliierten eine Idee hatten, wie man der weltweiten Vereinigungseuphorie vorsichtig entgegentreten könnte, stapfte unser Bundeskanzler auf das diplomatische Parkett, schubste seinen Außenminister zur Seite, pappte den Erstarrten ein paar Milliarden an die Stirn und verschwand – mit der DDR unterm Arm. Hoch Helmut!

 

Der Vorwurf zugelassen zu haben, daß unser Einig Vaterland nun doch „zusammengewuchert“ ist, wie unser Bundespräsident vor einem Jahr befürchtet hatte, mit allen zunächst wirtschaftlichen, später sozialen und danach politischen Problemen, diesen Vorwurf kann man der Regierung Kohl natürlich machen. Aber auch Du schreibst ja, daß Du keinen konkreten Weg siehst, „wie man aus dem Schlamassel wieder herauskommt“. Ein bißchen schwanger geht eben nicht, und insofern ist der Crash-Kurs vielleicht gar nicht der schlechteste (und wir Deutschen sind vielleicht auch eines der wenigen Völker, dem man so etwas zumuten kann). Schließlich kann man nach ein paar Monaten noch keine Wunder erhoffen, wenn sich auch – wie zu erwarten – herausstellt, daß allzuviele hier solchem Glauben angehangen haben, die Armen (Idioten).

 

Sicher, das beste wäre gewesen, 200 kluge Köpfe für ein Jahr in Klausur zu schicken und dann nach einem mit deutscher Gründlichkeit perfekt ausgearbeiteten Einigungsfahrplan zu verfahren, aber es war eben keine Zeit dazu – sowohl wegen des Zeitfensters als auch wegen des Drucks der nun mal gefallenen Mauer. Es muß eben auch anderers gehen und wir sind ja eigentlich auch nicht schlecht im Improvisieren.

 

Eine Hauptursache dafür, daß dennoch mehr schief geht als nötig, sehe ich darin, daß vor etwa einem Jahr die damals sicher noch breit vorhandene (oder?) Solidarbereitschaft der Wessis durch diese (ausgerechnet von der SPD angezettelte) Finanzierungsdiskussion verspielt wurde.

 

Plötzlich rechnete alles wie blöd mit irgendwelchen Milliarden und in den Augen von 60 Millionen Westdeutschen, die noch ein Jahr zuvor wenn schon nicht ihr letztes so doch wenigstens ihr zwölftes Hemd für die Einheit gegeben hätten, wandelte sich der arme Verwandte vor der Tür in einen Eindringling, der nicht bloß ein Obdach mit Hängematte aus sozialem Netz wollte, sondern gleich Anspruch auf den Lieblingssessel in der Guten Stube erhob. In Anbetracht dieser Ängste kam dann natürlich aus Westsicht nur noch der bedingungslose Anschluß in Frage und sind offenbar die meisten der jetzt (für beide Seiten der Elbe) so lästigen Einigungskrücken entstanden, immer unter dem Motto: Im Osten wird alles, aber auch alles umgekrempelt – und im Westen bleibt möglichst alles, aber auch alles wie es ist. Damit ist das zarte Pflänzlein eines gesamtdeutschen WIR-Gefühls zertreten. Schade.

 

Bleibt die Frage, ob die Wessis unter anderen Bedingungen wirklich bereit gewesen wären, wenigstens auf die überflüssigsten Teile ihres liebgewordenen Überflusses für eine Weile zu verzichten?

 

Nun gibt es natürlich löbliche Beispiele für echte Hilfsbereitschaft und wie es aussieht hast Du vielleicht selbst auch bald die Chance, hier Deine Furche der Rechtsstaatlichkeit in den sächsischen Acker zu setzen. Ich weiß nicht, ob man Dir dazu gratulieren soll, den Sachsen sicher. Auf alle Fälle kannst Du Dich auf eine hochinteressante Phase in Deiner Laufbahn freuen, die auf ihre Art sicher von besonderem Reiz ist und in ihrer Exotik Deiner Zeit in Indien kaum nachstehen wird.[3]

 

Ich für meinen Teil würde mich freuen, denn erstens erlebtest Du gewaltigen Diskussionsstoff und zweitens hätten wir auch viel leichter die Chance, diesen Stoff vis a vis zu verarbeiten.

 

Soweit für heute. Frohe Nachostern für Dich, für Judy und die Kinder und herzliche Geburstagsgrüße an Deine Töchter.


 

Berlin angefangen 21.4.1991

 

Lieber Klaus!

 

Soeben habe ich die Lektüre Deines „Sekolah Kebangdsaan“[4].beendet und bin beeindruckt, sowohl von Euren Erlebnissen[5].als auch von Deiner Art, darüber zu schreiben.

 

Insbesondere Landschaften und alles was damit zusammenhängt sind Deine Stärke. Man hat das Gefühl, im Moment des Lesens mit dabei zu sein. Der „innere Blick“ schweift gleichsam über Bergkuppen und Urwaldriesen…

 

Schön, wenn man so was kann und schade, daß man einem solchen Talent nur trockene (?) Fachbücher und Artikel über Spitzbuben druckt.

 

Ein Witz der Literaturgeschichte, aber vielleicht auch ganz bezeichnend, daß dieses Werk in Deutschland mit der Post länger unterwegs war und dabei mehr Federn lassen mußte als der Autor im Dschungel von Malaysia. (Ich hatte beim letzten Mal vergessen, den schon ausgeschnittenen Kouvertteil mit den beweisenden Stempeln beizulegen, was ich jetzt nachhole.)

 

Tja, die Post. Mit ihrem Gebührencoup hat sie wohl der CDU heute in Rheinland-Pfalz die letzten Prozente verdorben, und vielleicht stolpert am Ende sogar der Kanzlerallerdeutschen über die 2,30 DM. In der Zeitung stand übrigens die Schlagzeile „Telefonieren im Westen teurer – im Osten billiger!“ und dazu ein Text, aus dem man beim besten Willen nicht entnehmen konnte, daß wir für unsere miesen „Doppelanschlüsse“[6] immer noch mehr bezahlen als die Altbürger für ein ungeteiltes ordentliches Telefon. Der (vor allem westliche) Journalismus (ganz typischer Vertreter ist hier die Westberliner „Morgenpost“, die doch gerade den kürzesten Weg zu den Fakten haben sollte) macht überhaupt in jüngster Zeit des öfteren durch solche „kleinen Ungenauigkeiten“ eine recht eigenartige Stimmung, die den Ossi z.T. ziemlich erbost. Vor einiger Zeit war eine Grafik zu sehen, in der ein strahlender Ostrentner neben einem riesengroßen Geldstapel und dem Kommentar „Ostrenten +15%“ auf einen traurigen Westrentner herabblickt, der sich mit einem klitzekleinen Stapel und „Westrenten +5%“ begnügen muß.

 

Auf Schritt und Tritt immer noch(?) die große Angst vorm Teilen nach dem Ende der Teilung. Dabei zeigt eigentlich die Praxis der letzten Monate, daß der aktive (!) Griff der Ossis in die Westtaschen doch eher harmloser ausfällt als befürchtet. Immerhin begnügen sich die, welche hier noch in Arbeit und Brot sind, bei längerer Arbeitszeit mit Tarifabschlüssen deutlich unterhalb des Arbeitslosengeldes ihrer Westkollegen, und unsere Arbeitslosen, denen ja die Unterstützung noch auf der Basis ihrer alten Bezüge berechnet wird, sind meist mit Summen kleiner als der Sozialhilfesatz zufrieden. Das ist doch nett, oder?

 

Und wenn demnächst hier für viele das erste Arbeitslosenjahr herum ist, wird es noch netter. Trotzdem kommt natürlich der Osten teuer, wer wollte das bestreiten. Nur eben nicht wegen Tarifabschlüssen unterhalb von 60% (*)[7]

 

Die langtrainierte Bescheidenheit der Ossis kommt aber erstmal nur den Unternehmern zugute (wenn ich einmal großzügig vom Öffentlichen Dienst absehen darf, der jedoch so arm nicht sein kann, wenn er darüber nachdenkt, den abkommandierten Westbeamten mehr zuzulegen als die Ostbeamten insgesamt erhalten). Der Staat/Steuerzahler muß dagegen für seine Aufgabenflut im Osten (u.a. genau diesen Unternehmern) den mindestens vollen Preis zahlen und somit greifen wir Euch sozusagen ohne eigenes Zutun – quasi aus Versehen – in die Tasche, einfach aufgrund unserer objektiv gegebenen Misere, genau wie Kurden, Sowjets, die US-Army und andere Bedürftige.

 

Und genau diese Bedürftigkeit bzw. das Empfinden dieser Bedürftigkeit bewirkt eine arge Passivität. Elan habe ich in den letzten Monaten nur bei einem „ausgewanderten“ Bekannten erlebt, den wir zu Ostern in Schleswig-Holstein besucht haben. Ansonsten ist die Lähmung allgemein und geht in eine seltsam fatalistische Müdigkeit über, die mir verdammt bekannt vorkommt. Der Unterschied zur seligen DDR ist nur, daß man sich seinerzeit zwar damit abzufinden hatte, daß das Politbüro Obst erst für das nächste Quartal einkaufen würde, Autos nur für sich und Mikrowellen gar nicht, andererseits aber auch zu keinem Zeitpunkt die Gefahr bestand, unverschuldet die Arbeit zu verlieren [8].aus seinem heißgeliebten Schrebergarten vertrieben zu werden, oder gar aus der Wohnung zu fliegen.

Es bahnt sich hier eine Art kollektiver Masochismus an, der bei zarten Gemütern – und deren gibt es viele – bis zur absoluten Handlungsunfähigkeit und zu einem fast zwanghaften Dauerjammer führt. (Ich kann’s nicht mehr hören!) Die Medien tuen ein übriges und füllen Berge von Papier und Sendezeit mit immer neuen Hiobsbotschaften. Und wenn wirklich einmal etwas Positives gemeldet wird, ist es meist in die Rubrik „kleine Ungenauigkeiten“ einzuordnen, siehe oben. Aber vielleicht gibt es ja tatsächlich nichts Positives, Herr Kästner.

 

Die Passivität scheint sogar den Willen zum Protest endgültig überwuchert zu haben. Ich hatte gemeint, daß zumindest die Sorge um den ganz persönlichen Kleinkram die Leute wieder kräftig auf die Straßen bringen würde – offensichtlich ein Irrtum. Bei der großgeplanten IG-Metall-Demo vorige Woche rollten die angemieteten Sonderzüge halbleer in die Reichshauptstadt und anschließend füllten die Herangekarrten nicht mal den Kundgebungsplatz, sondern die Warenhäuser der Innenstadt. Typisch (Provinz-)Ossi. Seine größte Sorge ist immer noch die Beschaffung.

 

Neben der Gefahr einer Massenpsychose mit all ihren unkontrollierbaren Begleiterscheinungen besteht auf der anderen Seite zunehmend auch die, daß sich die Leute in der Krise einrichten, genauso wie sie sich in den alten Verhältnissen bis zum Herbst ’89 eingerichtet hatten, weil es damals wie heute keine Kraft gibt, die ihnen Kraft gibt, will sagen: Es ist niemand da, der ihren Kummer in irgendwelche konstruktiven Bahnen lenkt.

 

Im übrigen scheinen auch die sonst so breit engagierten unter den Altbürgern derzeit den Blick starr und unverrückbar nur aufs eigene Geldbeutelchen zu heften und dabei geht ihnen etliches von der Nichtfinanz-Politik offenbar durch die Lappen, was sie in besseren Zeiten bestimmt zu stimmgewaltigem Protest herausgelockt hätte. (Man erinnere sich nur der Diskussion um den §218 vor einem Jahr – für etliche Wessis wohl damals DAS Schlüsselproblem der Deutschen Einheit!)

 

So gibt es denn einmalige Chancen, von hinten durch die kalte Küche mit der berühmten Salamitaktik auf bestimmten Terrains Tatsachen zu schaffen.

 

Die Bundeswehr hat auf diesem Wege nun endlich erreicht, was dem Kaiser und der Wehrmacht nicht vergönnt war – sie ist im Irak angekommen, und niemand haut dem Stoltenberg das Grundgesetz um die Ohren. Wer Augen hatte und sehen wollte, konnte in den letzten Monaten hier ein wunderschönes Lehrstück erleben, wie man dem braven Bürger in aller Ruhe die politische Prinzipienkammer ausräumt, während er um das Säckel in der Guten Stube bangt: Erst fuhren die Minensucher ein bißchen „ins östliche Mittelmeer“, um die gar schrecklich klaffende Sicherheitslücke zu schließen, die die zum Golf verlegten US-Boote dort hinterlassen hatten (bekanntlich schmeißen die Russen ja sofort die ganze See mit Minen voll, wenn nicht die soundsovielte US-Flotte tüchtig aufpaßt) – kein Protest. (Der Michel besaß offenbar keinen Atlas und hat deshalb gar nicht wissen können, daß irgendwo kurz vor dem „östlichen Mittelmeer“ Europa zu Ende ist.) Also wurde man auf der Hardthöhe etwas dreister und fuhr anschließend ein bißchen um Arabien herum, denn schließlich wollen Minensucher ja Minen suchen, und im Golf waren gerade welche im Angebot. (Die Sicherheitslücke im Mittelmeer schließen inzwischen wahrscheinlich die türkischen Fischer) Protest? Wieder nix, die Ossis stehen gerade beim Arbeitsamt an (außerdem begreifen die sowieso nicht worum es beim Thema „Bundeswehr und Europa“ eigentlich geht) und im Westen kümmert sich alles um Lohn-, Vermögens-, Mineralöl-, Kapital- und andere Steuern. Und so ist es kein Wunder, daß schließlich deutsche Luftwaffenangehörige im Iran auftauchen. Aber der friedliche Herr Stoltenberg ist natürlich auch ein besorgter Mann und meint, daß sie demnächst zwar auch in den Irak gehen würden, aber selbstverständlich „nur, wenn dort ihre Sicherheit gewährleistet ist“. Und dann schickt er noch ein paar Pioniere, ist ja klar, die haben die nötige Technik. Aber er schickt auch Fallschirmjäger. Wenn man einmal davon ausgehen darf, daß die nicht aus ihren Fallschirmen Zelte für die Kurden nähen sollen, kommen sie also wohl wegen der Sicherheit der Pioniere mit. Und schwuppdiwupp – schon ist die Rede von ein paar tausend Mann. Und die brauchen dann natürlich noch dieses und jenes und diesen und jenen, und für das ganze muß ja auch die Sicherheit gewährleistet sein. Das ist dann nicht mehr so einfach, es gibt da einschlägige amerikanische Erfahrungen, gar nicht weit vom derzeitigen Schauplatz. Wie wäre es also mit einem zusätzlichen Panzerbataillon. Oder zwei. Das ist immer noch das „sicherste“… Jetzt habe ich mich wirklich hinreißen lassen, soweit sind wir ja – noch – nicht. Aber beim nächsten Krieg sind wir dabei, nicht nur mit Geld, hurra! Dann können wir endlich der Freien Welt wieder in die Augen sehen und müssen uns nicht mehr schämen, daß wir am Golf so geizig mit dem bißchen deutschen Blut waren. It’s Saurier-time.

 

So, eine neue Seite fange ich jetzt nicht mehr an. Viele Grüße,

 

24.04.91

 

Ich habe doch noch eine neue Seite angefangen. Eben hat mich nämlich eine Zeitungsmeldung (ich lege sie bei) inspiriert, nochmal einen Blick auf Deinen Brief vom 10.02. zu werfen, und mir fiel ein, daß ich eigentlich vorhatte, auf Deine Bemerkungen zum Thema Löhne und Produktivität unbedingt etwas zu entgegnen, zumal mir dies die Chance gibt, wieder einmal so richtig schön im marxistischen Urschleim zu schwelgen.

 

Als dann:

 

Einen „Zusammenhang“, wie Du schreibst, gibt es zwischen beiden Kategorien zweifellos. Etwas präziser formuliert ist doch aber von Dir (und vielen anderen) wohl statt „Zusammenhang“ eher „Proportionalität“ gemeint, die da „eines der marktwirtschaftlichen Grundgesetze“ bilden soll. Interessanterweise war auch in der DDR schier pausenlos von notwendigen Produktivitätssteigerungen die Rede, die die unbedingte Voraussetzung für ein besseres Leben bilden würden. In bewährter Manier wurde das auch meist in schön faßliche Losungen gequetscht: „Wie wir heute arbeiten werden wir morgen leben“ aus den 50er Jahren[9] unter Honecker dann die Floskel von der „Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik“ oder auch die schon mal erwähnte leicht verunglückte Parole „Ich leiste was – ich leiste MIR was“.

 

Ganz sicher gibt es eine gewisse Proportionalität zwischen Produktivität und KONSUM einer Gesellschaft als GANZES, wobei dann aber auch bitteschön solche Teile der gesamtgesellschaftlichen Konsumtion wie z.B. die Rüstung und neue Regierungspaläste oder, um etwas Positives anzuführen, Zuschüsse im Kulturbereich genauso wie staatliche Großprojekte zur Neulandgewinnung u.ä. zu berücksichtigen sind. Insofern war „Wie wir heute arbeiten werden wir morgen leben“ auch gar nicht verkehrt. Nur interessiert den Einzelnen natürlich mehr der eigene Lohn, über den er wirklich selber verfügen kann als sein undefinierbarer Anteil an gesamtgesellschaftlichen Projekten, die ihn ohnehin in ihrer Mehrzahl nicht tangieren. Um die Leute dennoch zur Dankbarkeit anzuhalten, ohne ihre Einkommen erhöhen zu müssen, wurde unter Honecker deshalb die „2. Lohntüte“ erfunden, in der all die Herrlichkeiten gesellschaftlichen Konsums addiert und dann durch die 6 Millionen Familien geteilt wurden. Wenn ich mich recht entsinne, entfielen auf uns nach dieser Rechnung so an die 800 Mark monatlich und obwohl wir als Neubaubewohner, Theaterbesucher, Straßenbahnnutzer, Betriebsessenteilnehmer und Kindergartengänger[10] sicher tatsächlich wohl einen großen Teil dieser 2. Lohntüte auf der Haben-Seite verbuchen konnten, hätten wir doch lieber die Tüte ausgezahlt gehabt, von kinderlosen, altbaubewohnenden Autofahrern gar nicht zu reden.

 

Um nicht noch weiter in die Vergangenheit abzuschweifen: Auch die schönsten Parolen und Tricks mit virtuellen Tüten zum Vermengen des gesellschaftlichen Konsums mit dem individuellen machen jedenfalls die These von der Proportionalität zwischen Produktivität und LÖHNEN nicht glaubwürdiger. Der Marxismus (ausgerechnet!) leugnet sie überhaupt und setzt dagegen die These vom „Wert der Ware Arbeitskraft“ und dem Lohn als Ausdruck dieses Wertes, der seinerseits wiederum von einem ganzen Sack – „gesellschaftlich anerkannter“, d.h. von der Gesellschaft zur konkreten Zeit am konkreten Ort subjektiv zugestandener – Bedürfnisse der Arbeitskraft bzw. dem Preis dieser Bedürfnisse abhängt. Und da hat er Recht der Marxismus, denke ich. Wie anders wäre es zu erklären, daß einerseits die z.B. (west)deutschen Arbeit(nehm)er einer hochproduktiven Branche – und dort wiederum sowohl im modernsten wie im klapprigsten Betrieb – in etwa das gleiche verdienen wie die eines weniger produktiven Bereiches[11] und andererseits ihre Kollegen an den modernsten Anlagen Südkoreas nur ein Viertel[12]

 

Oder, in die andere Richtung geblickt: Warum zahlen nicht wenigstens die deutschen Automobilfirmen soviel wie die in den USA? Ist Ford in Köln weniger produktiv als in Detroit?

 

Aber zurück zu uns: Hier machen die Betriebe reihenweise pleite, trotz der niedrigen Löhne, und sie würden ganz gewiß auch pleite machen, wenn man die Löhne nochmal halbierte. Andererseits gibt es bereits jetzt eine ganze Reihe von Firmen im Osten, die pro Nase mindestens das gleiche Ergebnis, also die gleiche Produktivität, erreichen wie in Baden-Würtemberg. Solche Beispiele finden sich gegenwärtig erstmal natürlich vor allem im Dienstleistungsbereich. (Die meisten) Verkäuferinnen, Bankangestellten, Briefträger, Putzfrauen, Müllfahrer, Kellner, meine Frau und viele andere schaffen jedenfalls das gleiche Pensum wie ihre Kollegen im Westen. Trotzdem findet es alle Welt ganz normal, wenn diese Kräfte mit dem halben Geld nach Hause gehen – und nach dem marxistischen Ausbeutungsmodell ist es auch normal!

 

Der Wert ihrer „Ware Arbeitskraft“ ist eben im Osten viel geringer, auch und gerade wegen des im ersten Teil von mir breit behandelten allgemeinen Jammers, der somit eine hervorragende Rolle bei der Erzielung des berühmten „Extraprofites“ spielt und in diesem Sinne wahrscheinlich gar nicht so ungern gesehen wird.

 

Andererseits ist (nach diesem Modell) auch bei schlimmster Wirtschaftslage nicht damit zu rechnen, daß eine bestimmte Schwelle der Einkommen unterschritten wird, und zwar nicht wegen der Gefahr des Abwanderns – der westliche Arbeitsmarkt ist ja bei allen positiven Trends keinesfalls fähig, von den hier vorhandenen ca 9 Mio Kräften einen wirklich nennenswerten Teil aufzunehmen, der wiederum dazu führen könnte, daß bestimmte Berufsgruppen im Osten tatsächlich so KNAPP werden, daß dies auf deren Löhne durchschlagen könnte – sondern weil die Gesellschaft in den 90er Jahren des 20. Jahrhunderts für einen deutschen Arbeitnehmer eben ein bestimmtes Lebens- und damit Einkommensniveau für notwendig erachtet, selbst wenn er im Osten lebt. Einige Kilometer weiter westlich freilich würden solche Einkommen als „absolut unzumutbar“ abgelehnt werden, während sie einige Kilometer weiter östlich als der totale Wohlstandstraum empfunden würden – und zwar auch wenn alle Beteiligten die gleichen Effekte erzielten, meinetwegen hinter dem Tresen von McDonalds.

 

Damit wird doch aber sehr anschaulich, daß es sich bei dem von der Gesellschaft akzeptierten – und den Unternehmern bezahlten – Wert der Arbeitskraft keinesfalls um irgendwelche objektiven Größen handeln kann, und dieser Wert schon gar nicht von der persönlichen Produktivität abhängt, wenn man sich auch sehr bemüht, durch Akkordlöhne, Gewinnbeteiligungen u.a. diesen Eindruck zu erwecken.

 

In den Ostbundesländern wird im Prinzip der Wert der Arbeitskraft und damit das Lohnniveau deshalb solange geringer (als im Westen – aber immer höher als in Polen) sein, wie die allgemeine Misere hier noch sichtbar ist, d.h. (in einem bestimmten Maß) weit über die zwei, drei Jahre hinaus, die jetzt in den diversen Tarifabkommen als Harmonisierungszeitraum ins Auge gefaßt sind. In dieser oder jener Form werden die Einkommen also noch auf lange Sicht zu drücken sein. (Ich bin selber gespannt WIE die das machen, nicht aber OB.)

 

Das Kapital wird es sich andererseits auch durch die so oder so früher oder später relativ hohen Löhne nicht nehmen lassen, sich hier im Osten gewinnbringend zu realisieren, sofern nur die äußeren Rahmenbedingungen stimmen bzw. geschaffen werden, und dafür wird es schon sorgen, denke ich. (Wenn Kohl dazu zu dusselig ist, nehmen sie eben einen anderen.) U.a. darauf gründet sich mein unendlicher basismarxistischer Optimismus. Vielleicht habe ich es schon mal geschrieben: So viele schöne deutschsprechende Ausbeutungsobjekte mit Zehnklassenschule wie hier finden sich ja sonst nirgends auf der Welt. Also werden sie kommen, die Ausbeuter.

 

So, lieber Klaus, hoffentlich bist Du nach soviel Rotlicht immer noch mein Freund. Ich gönne Dir jetzt erstmal eine verdiente Pause. Am 12.05. fahren wir für 2 Wochen nach Tunesien, in der Hoffnung, uns dort von unseren ersten Schritten in der Marktwirtschaft mal so richtig erholen zu können. In den letzten Wochen haben Paula und ich ziemlich oft an Euch gedacht, und uns vorgenommen, Euch bei passender Gelegenheit einmal heimzusuchen, oder klappt es eher umgekehrt?

 

Wie denkt Ihr darüber?

 

Viele Grüße, auch an Judi und die Kinder

[1] Ehrlich gesagt bin ich es ein wenig leid, mich dauernd für etwas zu schämen, was ich nicht selbst angerichtet habe, wohl aber mit bezahlen mußte. Niemand sieht heute noch einen Franzosen schief an weil seine Vorfahren vor 180 Jahren die halbe Welt unterdrückt und mit Krieg überzogen haben. Die letzten Hitlerwähler von 1933 dürften bis zur Jahrtausendwende ausgestorben sein, dann ist hoffentlich Schluß…

[2] Kannst Du mir sagen, was man im Öffentlichen Dienst wirklich verdienen kann? Mir sind ein paar Tabellen (A-Gruppen, Post) in die Hände gefallen, wo ich glaube, das kann nicht ALLES sein, denn gehört habe ich immer höhere Summen…

[3] typisch Ossi: War weder in USA noch in Indien, aber schwätzt darüber! Sollte aber auch ironisch klingen. Ich weiß nur nicht immer genau wie es ankommt, weil die deutsche Schriftsprache leider noch keine Untertöne kennt.

[4] Was auch immer das sein mag. Bei der Schreibweise bist Du Dir auch ein wenig uneins. Ich habe deshalb die vom Titelblatt übernommen.

[5] Hier kommt der Alt-Ossi wieder hautnah zum Vorschein, der in seiner Eingesperrtheit und mit seiner Zehnklassigen Polytechnischen Schul­weisheit so unendlich weit davon entfernt war, daß ihm nicht nur solche Erlebnisse fehlten, sondern sogar ein Begriff davon, was man in der „Freien Welt“ wirklich erleben konnte (wenn man es denn wollte).

Was auch immer das sein mag. Bei der Schreibweise bist Du Dir auch ein wenig uneins. Ich habe deshalb die vom Titelblatt übernommen.

[6] Falls es nicht so bekannt sein sollte, dies ist eine unserer alten Errungenschaften: In der Regel teilen sich immer zwei „Teil“-nehmer eine Leitung. Solange der eine telefoniert, hat der andere Trauer. Wenn er als Bastler bewandert ist, kann er dafür aber zum Trost mit einem schmerzlosen Eingriff in seinen Apparat solange mithören, was der andere sagt…

[7] Auch so ein Beispiel für „kleine Ungenauigkeiten“ der Pressemeldungen: Den lauthals verkündeten 60%-Wert erhalten bei der IG Metall nämlich nur die alleruntersten Lohngruppen. Meine alten Ingenieur- Kollegen im EAW liegen bei ca 53% der Westtarife. (natürlich sind sie damit z.Zt besser bedient als ich bei der Post, aber ich will nicht meckern und vielleicht legt der Herr Black-penny im Sommer ja auch noch was drauf)

[8] Auch wer sie verschuldet verlor wurde woanders i.a. in Windeseile wieder eingestellt und konnte dort weitersaufen, weiterklauen und weiterfaulenzen.

[9] Böse Zungen machten später – sehr schön doppeldeutig – daraus: „Wie wir heute leben haben wir nie gearbeitet“

[10] Kleine Auswahl unserer subventionierten Errungenschaften

[11] Interessanterweise werden ja beispielsweise nach dem sogenannten Metalltarif (der außerdem – man beachte – REGIONAL, nicht etwa branchenweise, etwas unterschiedlich ausfällt) sowohl die eigentlich relativ wenig produktiven Stahlbauer als auch die superproduktiven hightechgetouchten Computerlöter bezahlt!

[12] Die Zahl wurde vom wenig weltgewandten Autor willkürlich polemisch postuliert, u.a. auch um wenigstens unter das Drittel des Ostens zu rutschen. Vielleicht hätte es aber auch genügt, nach Griechenland oder Portugal zu schauen.

 


Ein- und Ausfälle (China 14)

Im alten China herrschte die Vorstellung, dass sich Recht und Moral dadurch entwickeln, dass der Herrscher seinem Volk mit gutem Beispiel vorangehe. Dies hielt das Bedürfnis der Menschen in Grenzen, an die Spitze der Gesellschaft zu streben. Im Abendland hingegen nahmen die Herrschenden aus angeblich übergeordneten Gesichtspunkten heraus gerne in Anspruch, außerhalb des Rechtes zu stehen. Dies hatte zur Folge, dass die oberen Ränge der Gesellschaft sehr attraktiv erschienen. Dies scheint eine wesentliche Ursache dafür zu sein, dass sich im Westen ein Gesellschaftsmodell entwickelte, dessen Leitmotiv der soziale Aufstieg ist.

Ein- und Ausfälle (China 13)

Ein Unterschied, der den Stoff für den nächsten clash of civilisations abgeben könnte: der von Kulturen mit und ohne Glauben an einen Schöpfergott. Denn viel grundlegender voneinander geschieden als Islam und christlich geprägten Kulturen, die gerade wieder einmal meinen, dass die Weltprobleme zwischen ihnen ausgetragen werden, ist die Differenz zwischen Christentum und Islam auf der einen und der chinesischen Kultur auf der anderen Seite. Immerhin gehen erstere davon aus, dass die Welt nur im Hinblick auf einen jenseitigen Schöpfergott verstanden und gehandhabt werden kann, während letztere sich ohne derart komplizierte Extrapolationen eher mit den Problemen des Diesseits befasst. Angesichts der außerordentlich hohen Selbsteinschätzung, welche den Islam im allgemeinen und die (amerikanischen) Kreationisten im Speziellen kennzeichnen, müsste die Konfrontation mit der Kultur Chinas spätestens dann relevant werden, wenn der ostasiatische Koloss, wie zu erwarten, demnächst eine Hauptrolle auf der Weltbühne übernehmen wird. Allerdings könnte es auch sein, dass der clash ausbleibt: zum Einen, weil ein erbitterter Streit, wie wir ihn gerade zwischen christlich und islamisch geprägten Kulturen beobachten, erfahrungsgemäß am ehesten zwischen Verwandten stattfindet; zum andern, weil möglicherweise die „Konfrontation“ der kreationistischen Kulturen mit der Tatsache, dass eine der ältesten und größten Kulturen der Welt ohne die Frage nach einem Schöpfergott zurechtkam, eine Relativierung der Fragestellung zur Folge haben könnte; schließlich weil zum Streiten zwei gehören und die Chinesen in Fragen dieser Art nie sehr streitbar gewesen sind.

Ein- und Ausfälle (China 12)

Auf den ersten Blick scheint es, dass im alten China und im Westen auf sehr unterschiedliche Weise Geschichtsschreibung betrieben wurde. Für die alten Chinesen war die Beschreibung des Vergangenen im Wesentlichen ein Mittel der Zukunftsgestaltung und damit ein Werkzeug der Didaktik oder der Politik. Deswegen haben sie nur begrenzt danach gefragt, ob die Beschreibung den Tatsachen entsprach. Die westlichen Geschichtsschreiber haben in viel höherem Maß die Nähe der Tatsachen gesucht. Der Sache nach dürften beide aber mehr oder weniger das Gleiche getan haben. Der Unterschied liegt wahrscheinlich nur darin, dass die chinesischen Historiographen entweder naiv oder weise und unsere Historiker entweder naiv oder raffiniert waren. Die chinesischen Schriftsteller haben sich nämlich entweder gar nicht erst eingebildet, etwas anderes als Gesellschaftsgestaltung zu betreiben, was weise, oder sie (oder ihre Adressaten) haben die Mechanik des Zusammenhangs von Vergangenheit und Zukunft nicht durchschaut, was naiv wäre. Die westlichen Historiker haben entweder geglaubt, ihr Geschäft sei um so weniger politisch, je näher sie an die Tatsachen rückten, was ebenfalls naiv wäre, oder sie haben sich hinter den Tatsachen und dem ernormen Aufwand, den sie zu ihrer Ermittlung betrieben, verschanzt, um ihre wahren (Gestaltungs)Absichten zu verschleiern, was raffiniert wäre.

Der Traum des Tuttischweins

Orchestermusiker kennen den Begriff des Tuttischweins. Darunter versteht man Streicher, die weit weg vom Dirigenten an den hinteren Pulten des Orchesters sitzen und immer nur gemeinsam mit anderen spielen dürfen. Das Gegenstück zum Tuttischwein ist der Solostreicher. Das sind jene handverlesenen Geiger, Bratscher und Cellisten, die nahe beim Dirigenten am ersten Pult sitzen und ab und zu ganz alleine spielen dürfen. Solostreicher sind Respektspersonen. Sie werden nicht nur besser bezahlt als Tuttischweine. Sie dürfen diesen auch sagen, wie sie zu spielen, insbesondere welche Bogenstriche sie zu verwenden haben. Darüber hinaus bekommen sie am Ende eines Konzertes vom Dirigenten die Hand geschüttelt. Manchmal dürfen sie, wenn sie ein paar Noten allein gespielt haben, auch früher als die Kollegen aufstehen und ein wenig von dem Applaus für sich entgegennehmen, der dem Dirigenten gebührt.

 

Die folgende Geschichte handelt von einem besonders armen Tuttischwein. Es geht um eine nicht mehr ganz junge Geigerin, die seit vielen Jahren im städtischen Orchester einer deutschen Kleinstadt Dienst tat. Diese Geigerin war am letzten Pult der zweiten Geige vom Solospiel einschließlich dem Ruhm, der damit verbunden ist, denkbar weit entfernt. Am meisten näherte sich ihm noch, wenn bei spätromantischen Riesenwerken die zweiten Geigen zur Erzielung eines möglichst vollen Orchesterklanges vierfach geteilt waren und sie ein paar Töne nur noch gemeinsam mit zwei oder drei anderen Kollegen zu spielen hatte. Ihre Ehrfurcht vor den Solostreichern war außerordentlich. Sie beneidete schon den Stimmführer ihrer Gruppe, der gelegentlich gemeinsam mit seinem Kollegen von der ersten Geige, die immer am meisten zu sagen hatte, die untere Stimme in einem Soloduett spielte. Größte Bewunderung brachte sie dem ersten Konzertmeister entgegen, der zur Linken des Dirigenten saß und manchmal eine Kantilene ganz alleine spielen durfte. Darüber gab es nur noch den Dirigenten und die Konzertsolisten, deren Leistung und Ruhm aber eigentlich schon außerhalb ihres Vorstellungskreises lagen.

 

Dieser Tuttigeigerin geschah etwas Merkwürdiges. Eines Tages kam der Dirigent, der ihr immer so weit weg schien, dass sie gar nicht wusste, ob er sie überhaupt bemerkte, auf sie zu und machte ihr das Angebot, im nächsten Abonnementskonzert, das in der städtischen Liederhalle stattfinden sollte, den Solopart eines großen romantischen Klavierkonzertes zu übernehmen. Vor dem angesprochenen Werk hatte die Geigerin schon wegen der schnellen Tuttistellen in den Ecksätzen, von denen auch die zweiten Geigen betroffen waren, große Achtung. Geradezu unendlich war ihr Respekt vor dem Solopart, der dem Solisten den denkbar größten Ruhm verhieß. Sie wusste daher, dass das Angebot des Dirigenten die Chance ihres Lebens war. Ohne lange zu überlegen, sagte sie zu.

 

Das Problem war, dass die Geigerin keine Pianistin war. Sie war daher überhaupt nicht in der Lage, das Werk zu spielen. Diese Tatsache konnte sie aber bis kurz vor dem Konzert vollständig verdrängen. Sie sonnte sich sogar in dem Ruhm, in der Stadt als die Solistin des nächsten Abonnementkonzertes angekündigt zu werden. Schließlich aber kam der Tag der Generalprobe und damit der Moment, in dem die Solisten spätestens Farbe bekennen müssen. Als die Geigerin den Saal der städtischen Liederhalle betrat, hatte man den großen Konzertflügel schon hineingerollt und den Deckel abmontiert. Das Orchester probte noch die schnellen Tuttistellen aus den Ecksätzen des Klavierkonzertes. Unweigerlich näherte sich der Moment, in dem das Klavier einsetzen musste. Zum Glück hatte der Klavierstimmer noch einige Töne nachzustimmen. Diese Unterbrechung nutzte die Geigerin, um sich in die Solistengarderobe zu flüchten.

 

In ihrer Verzweiflung kam der Geigerin die Idee, einen Unfall vortäuschen, der sie bedauerlicherweise daran hinderte, das Konzert zu spielen. Daher versuchte sie, sich eine vorzeigbare Verletzung an einem Finger zuzufügen. Sie rieb sich zunächst heftig am Zeigefinger, in der Hoffnung, dass sich dadurch eine beweiskräftige Rötung einstelle. Nachdem dies nicht den erhofften Erfolg zeitigte, schlug sie mit dem Finger wiederholt auf das Fensterbrett, konnte die erforderliche Wirkung damit aber ebenfalls nicht erzielen. Schließlich erwog sie, den Finger in der Türe einzuklemmen, nahm davon jedoch Abstand, weil sie davon ausging, demnächst wieder die zweite Geige spielen zu müssen.

 

In der Liederhalle begann man inzwischen die Geigerin zu vermissen. Der Orchesterwart rief auf dem Gang laut ihren Namen aus und fügte hinzu, dass die Probe fortgesetzt werde. Da kam der Geigerin der rettende Gedanke. Der Dirigent, so stellte sie fest, hatte ihr das Angebot, das Konzert zu spielen, doch von sich aus gemacht. Er war also davon ausgegangen, dass sie dazu in der Lage sei. Zu dieser Meinung aber konnte er, der doch alles wusste und alles zu sagen hatte, nicht ohne Grund gekommen sein. Sicher hatte er zuvor Rücksprache mit den Solostreichern genommen, die immer wussten, wie die Tuttisten einzustufen waren. Nachdem ihr somit alle, auf die es ankam, die Bewältigung des Konzertes zutrauten, war klar, dass sie das Konzert spielen konnte.

 

Erhobenen Hauptes verließ sie die Solistengarderobe und trat in die heilige Halle. Sie nahm auf der Klavierbank Platz und stellte in aller Ruhe die Sitzhöhe ein. Das Orchester begann unter den energischen Schlägen des Dirigenten mit dem Anfangstutti. Versunken schaute die Geigerin zu den letzten Pulten der zweiten Geige, von wo ihr bewundernde Blicke entgegen geworfen wurden.

 

Dort aber bemerkte sie, wie sie sich als Tuttischwein gemeinsam mit den anderen an einer schnellen Stelle abmühte.