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Kampf der Kulturen – wie kommt der Westen aus der Defensive?

Der Westen ist seit einiger Zeit nicht mehr der unbestrittene Hort des sozialen Fortschritts. In vielen Teilen der Welt werden die sog. westlichen Werte heute mit Skepsis betrachtet. In manchen sind sie fast schon zum Schimpfwort geworden. Insbesondere von muslimischer Seite wird mit zunehmendem Selbstbewusstsein behauptet, dass der Liberalismus westlicher Prägung gescheitert sei. In den traditionsgeprägten Gesellschaften, die zahlenmäßig die westlichen Gesellschaften weit überwiegen, sieht man den Grund des Scheiterns in erster Linie darin, dass den westlichen Zivilisationen die Spiritualität abhanden gekommen sei. Diese Entwicklung wird als eine Folge der Aufklärung gesehen, einem sozialen Prozess, den der Westen für eine seiner größten Errungenschaften hält und auf den er daher immer besonders stolz gewesen ist. Auf Seiten derer, die das westliche Gesellschaftsmodell in Frage stellen, ist man davon überzeugt, dass das kritische Befragen der Grundlagen der Religion, welches mit der Aufklärung begann, dem „Heiligen“ seinen Nimbus und damit seine soziale Wirkungskraft genommen habe. Dies habe zu Werterelativismus und damit zur Beliebigkeit sozialer Normen geführt. Das Ergebnis sei schließlich der blanke Materialismus und in seiner Folge ein ausufernder Kapitalismus einschließlich eines politischen und wirtschaftlichen Kolonialismus, dem es nicht darum gehe, soziale Probleme zu lösen, sondern darum, individuelle oder nationale Interessen durchzusetzen.

 

Wer sich mit dieser Kritik an den westlichen Werten auseinandersetzen will, tut zunächst einmal gut daran, zu akzeptieren, dass das westliche Denken durchaus in hohem Maße problematische soziale Ergebnisse produziert hat.

 

Die Befreiung von unnötig einengenden und missbrauchsanfälligen traditionellen Normen, die typisch für die westliche Gesellschaftsentwicklung ist, hat nicht nur die Freiheit des Individuums, sondern auch die Notwendigkeit und Pflicht zu seiner Selbstgestaltung begründet. Tatsache ist, dass viele Menschen an dieser Aufgabe scheitern, sei es, weil die Natur oder ihre soziale Umwelt ihnen nicht die nötigen Fähigkeiten mitgegeben haben, sei es, weil das soziale System ihnen nicht ausreichend Chancen einräumt hat. In welchem Ausmaß die liberale Lebensform Gefahren produziert, die sehr schwer zu meistern sind, zeigt überaus augenfällig die Anzahl der Sucht- und Medienopfer und der Menschen, die sozial oder psychisch destabilisiert oder gar entgleist sind. Auch wenn ihre Methoden im einzelnen nicht zu akzeptieren sind, kann man kann daher nur zu gut verstehen, dass Eltern mit traditionellen Hintergrund Probleme damit haben, ihre Kinder einer Welt zu überlassen, in der derartige Gefahren überall zu lauern scheinen. Dies gilt umso mehr als naturgemäß junge Menschen aus traditionellen Gesellschaften mit der Freiheit, der sie bei uns ausgesetzt sind, besondere Schwierigkeiten haben und daher überproportional oft scheitern.

 

Nicht ohne Recht wird aus den traditionellen Gesellschaften bei uns auch ein ausufernder Pluralismus und eine geringe soziale Solidarität kritisiert. Die Atomisierung der Gesellschaft – eine Folge des Verfalls der überkommenen familiären Strukturen durch Individualisierung aber auch Deregionalisierung – hat viele problematische Folgen. Zu nennen wäre hier etwa die Regellosigkeit in der Kindererziehung, was zur Folge hat, dass Kinder häufig kein klares Wertegerüst mitbekommen und damit ziemlich hilflos gegenüber gesellschaftlichen Manipulationsmächten wie Werbung und Starkult sind, die bekanntlich nicht eben soziale Ziele verfolgen. Ein weiteres Beispiel ist die Situation vieler alter Menschen. Sie werden viel zu häufig in trostlosen Heimen „konzentriert“ oder werden sich alleine überlassen, wodurch es etwa möglich wird, dass tausende alter Menschen bei einer Hitzewelle unbemerkt sterben können. Die Auslagerung sozialer Aufgaben auf staatliche und sonstige Institutionen führt tendenziell zu einer Reduktion der Lösungen auf dem niedrigsten Nenner, etwa indem man Hilfebedürftige in erster Linie mit Geld versorgt. Für die Befriedigung der wirklich substanziellen – sozialen – Bedürfnisse hat in den westlichen Gesellschaften der Einzelne weitgehend selbst zu sorgen. Anders als in den traditionellen Gesellschaften, wo der Einzelne fest in soziale Gruppierungen eingebettet ist, scheitern bei uns sehr viele Menschen an diesen Fragen und vereinsamen.

 

In hohem Maße problematisch ist auch, dass in den westlichen Gesellschaften zunehmend das Gefühl für den sozialen Sinn der wirtschaftlichen Aktivität verloren geht. Die Möglichkeit zur Akkumulation von wirtschaftlichem Potential, die unsere Gesellschaftssystem dem Einzelnen oder Zusammenschlüssen von Individuen einräumt, wird immer weniger als Mittel zur Stimulierung der wirtschaftlichen Dynamik im Dienste gesamtgesellschaftlicher Ziele, sondern als der eigentliche Zweck des Wirtschaftens gesehen. Die Folge ist eine ungeheure Konzentration wirtschaftlicher Ressourcen, zu deren Erzeugung gigantische Machtspiele veranstaltet werden. Mittlerweile ist in den westlichen Gesellschaften, die sich doch einmal mit viel Aufwand von ihren anciennes régimes befreit haben, eine neue (Geld)Aristokratie oder eigentlich eine Oligarchie an die Macht gekommen, die Wirtschaftsfeldzüge nach dem Muster früherer Kabinettskriege führt. Die (Selbst)Überschätzung ihrer Protagonisten spiegelt sich in „fürstlichen“ Vorstandsgehältern, die Zweck – Mittel – Vertauschung etwa darin, dass hochprofitable Unternehmen Personal zur Steigerung der Kapitalrendite „freisetzen“. Im Falle des Umgangs mit alten Menschen führt die wirtschaftsliberale Denkweise zu vollkommen untragbaren Ergebnissen. Zum Schutz kommerzieller Altenpflegedienste, die letztlich ohnehin nicht bezahlbar sind, wird etwa in Deutschland bezahlbaren ausländischen Hilfskräften das Tätigwerden im Haushalt pflegebedürftiger Personen bis zur Verhinderung erschwert, mit der Folge, dass diese Personen in Heime gebracht werden, wo sie meist schnell versterben.

 

Nicht zu bezweifeln ist auch, dass der Westen die Welt – nicht zuletzt unter Berufung auf seine liberalen Werte – lange in kaum zu unverantwortender Weise zu seinem Nutzen dominiert hat. Dies schlägt heute auf ihn zurück und verleiht antiwestlichen Stimmungen starke Impulse.

 

Die Konfrontation mit den offenkundigen negativen Seiten des westlichen Lebensstiles hat in einigen traditionellen Gesellschaften eine Rückbesinnung auf ihre Wurzeln bewirkt. Dabei ist die Radikalität, in die man mitunter verfällt, nichts anderes als das Gegenstück zu der Vorstellung von den Gefahren, die man glaubt abwehren zu müssen. Es ist nicht ohne Grund, dass die radikalste Kehrtwende einer muslimischen Gesellschaft im Iran stattfand, wo man unter der Herrschaft des Schah ausgiebig Gelegenheit hatte, die Probleme zu beobachten, die das westliche Denken mit sich brachte. Aus dieser Rückbesinnung resultieren Spannungen zwischen den Gesellschaftsmodellen, die man mittlerweile als Kampf der Kulturen bezeichnet.

 

Die Frage ist, wie der Westen auf diese Spannungen reagieren kann und sollte.

 

Eine mögliche Reaktion des Westens ist, darauf zu hoffen, dass in den traditionellen Gesellschaften, insbesondere in der muslimischen Welt, die Aufklärung nachgeholt wird. Hintergrund dieses Denkens ist die Vorstellung, der „rückständige“ Zustand dieser muslimischen Gesellschaften resultiere daraus, dass es dort keine Aufklärung gegeben habe. Da die Aufklärung bei uns meist als eine notwendige Folge des modernen wissenschaftlichen Weltbildes gesehen wird, geht man daher davon aus, dass sie in den muslimischen Gesellschaften, zumal unter den Bedingungen der Globalisierung, früher oder später von selbst einsetzen werde; gegebenenfalls, so meinen manche, müsse der Westen nachhelfen. Man erwartet also, dass die islamischen Gesellschaften eine ähnliche Entwicklung wie die westlichen Gesellschaften nehmen. Darauf, dass dies in absehbarer Zeit oder überhaupt der Fall sein wird, sollte man aber besser nicht zu sehr vertrauen. Die europäische Aufklärung war in erster Linie eine Folge der Unzufriedenheit der Menschen mit den sozialen Systemen ihrer Zeit und den Welterklärungsmodellen, die ihnen zugrunde lagen. Der westliche Mensch stellte das alte soziale System vor allem deswegen in Frage, weil es eine sehr ungleiche Verteilung von Ressourcen und Chancen und stark beschränkte politische Gestaltungsmöglichen produzierte. Das, was danach folgen sollte, hat man sich in den schönsten Farben ausgemalt und tatsächlich ist vieles ja auch eingetreten. Die Probleme des neuen Gesellschaftsmodells, die schon bei der ersten großen Probe auf´s Exempel, der Französischen Revolution, massiv in Erscheinung traten (im Form von uferlosen „Umgestaltungen“ einschließlich der rücksichtslosen Vernichtung all derer und all dessen, was dem im Wege zu sein schien), die Probleme hat man aber weitgehend beiseite geschoben. Die problematischen Folgen der Aufklärung sind heute offenkundig und scheinen sich sogar noch zuzuspitzen. Anders als die europäischen Gesellschaften im Zeitalter der Aufklärung können die islamischen Gesellschaften sie daher jetzt in ihrer vollen Ausprägung besichtigen. Dies ist ohne Zweifel ein Grund dafür, dass in diesen Gesellschaften das Bedürfnis nach Veränderung der sozialen Verhältnisse im Sinne des Westens wesentlich geringer ist, als in den seinerzeit hoffnungsfrohen Gesellschaften Europas. Damit erhält dort aber auch der Drang zur geistigen Aufklärung wesentlich schwächere Impulse als im alten Europa. Dies gilt umso mehr als die Struktur der islamischen Gesellschaften bei allen Exzessen, die insbesondere der Ölreichtum mancher Regionen hervorgebracht hat, im Grunde egalitär ist und in ihrem Inneren sozialethische Aspekte einen hohen Stellenwert haben. Die Menschen dieser Gesellschaften verspüren nur ein begrenztes Bedürfnis nach Veränderung.

 

Eine andere Reaktion des Westens ist der Versuch, seinerseits das Rad der Geistesgeschichte zurückzudrehen. Es besteht in den westlichen Gesellschaften eine wachsende Tendenz, aus der Tatsache, dass die Probleme der modernen Gesellschaften parallel zum Zerfall der alten (religiösen) Welterklärungsmodelle einsetzten, zu schließen, die Wiederherstellung dieser Modelle würde auch die Probleme reduzieren. Daher beschwört man immer häufiger die christlichen Grundlagen des Abendlandes. Ob solchen Bestrebungen Erfolg beschieden sein wird, ist jedoch eher zweifelhaft. Zu einen sind viele der Probleme aus voraufklärerischer Zeit, für die in unseren Gesellschaften einigermaßen brauchbare Lösungen gefunden wurden, weitgehend gegen die Kräfte der alten Systeme und ihre Denkmodelle durchgesetzt worden – man denke etwa an die Gleichberechtigung der Frau, die Meinungsfreiheit oder die Arbeitnehmerrechte. Diese Prozesse rückabzuwickeln ist, auch wenn es in Teilbereichen immer wieder versucht wird, schwer vorstellbar. Zum anderen ist der Prozess der Aufklärung aus prinzipiellen Gründen nicht mehr vollständig zurückzudrehen. Die Zweifel an den religiösen Welterklärungsmodellen sind so grundlegend, dass diese Modelle bei aller Sehnsucht der Menschen nach einfacher Orientierung nicht mehr die Überzeugungskraft erlangen können, die sie einmal gehabt haben. Ohne ihren absoluten Anspruch bewirken diese Modelle aber eher das Gegenteil von dem, was man sich von ihnen erhofft. Infrage gestellte Absolutismen und Irrationalismen sind entweder weitgehend wirkungslos oder schlagen wild um sich; letzteres lässt sich etwa an den Religionskriegen zeigen, die nicht zuletzt während der Aufklärungszeit stattfanden zeigen. Meist führen sie auch zu einer drastischen Absenkung des Kulturniveaus. Dies lässt sich an der ausufernden Esoterik beobachten, welche die hilflosen Individuen in immer phantastischere Gedankengebäude flüchten lässt. Das Beispiel Amerikas, wo die Religion zunehmend betont wird, zeigt im übrigen wie in einem Sozialexperiment, wie wenig die Probleme, welche die westlichen Gesellschaften erzeugen, mit diesem Ansatz zu lösen sind. Amerika hat die typischen Probleme unseres Lebensmodells nicht nur nicht bewältigen können, sondern in vieler Hinsicht auf die Spitze getrieben.

 

Der Weg aus der westlichen Krise wird wohl nur über ein hohes Maß an Selbstkritik und anschließende Formulierung klarer problem- und ergebnisorientierter Normen möglich sein. Wir werden uns vermehrt damit befassen müssen, dass der westliche Gesellschaftsentwurf mit seiner starken Betonung der Selbstbestimmung des Individuums höchst anspruchsvoll und daher außerordentlich risikoreich ist, dass er ohne Zweifel wunderbare Chancen bietet aber eben auch erheblich Gefahren. Das aber bedeutet, dass wir uns mehr um die Gefahren kümmern müssen. Die geschichtliche Entwicklung brachte es mit sich, dass die Freiheit in erster Linie als ein Abwehrrecht gegenüber den Mächten verstanden wurde, die ihr entgegenstanden. Heute müssen wir uns jedoch vornehmlich mit der Frage beschäftigen, wie die Auswüchse der Freiheit zu beschränken sind. Das Problem lässt sich besonders schön am folgenden Beispiel illustrieren: Seit Jahren gibt es wohlbegründete Hinweise darauf, dass die Gewalt, die heute pausenlos in den Medien in den Medien gezeigt wird, insbesondere für die Jugend in hohem Maße schädlich sein dürfte. Dennoch kann ein führender Politiker auf die Frage, warum diesem offenkundigen  Misstand, der allein der Freiheit gewisser Gewerbetreibender dient, von Seiten der Politik nicht ernsthaft entgegengetreten wird, antworten, das sei bei unserer freiheitlichen Verfassung nicht oder nur schwer möglich. Hier beißt sich die Katze der Freiheit verhängnisvoll in den Schwanz. Die Freiheit, die dem Individuum dienen soll, kann kaum als Begründung dafür herangezogen werden, dass man tatenlos Entwicklungen zusieht, die es beschädigen oder gar zerstören können.

 

Wir werden uns daher mehr auf die soziale Gestaltungspflicht als dem Gegenstück der Freiheit des Individuums konzentrieren müssen. Allgemein formulierte Grundsätze des Zusammenlebens, die ja unser Grundgesetz durchaus enthält, reichen dabei aber nicht aus (man denke nur an die weitgehend wirkungslosen Appelle zum Schutz der Nichtraucher oder zur Rücksicht im Straßenverkehr). Daher wird man für ganz konkrete Probleme auch konkrete Regeln formulieren müssen. Da nur die politischen Instanzen das Mandat und die Möglichkeit der Durchsetzung solcher Normen haben, müssen diese – nach angemessener gesellschaftlicher Diskussion – auch von diesen Instanzen formuliert und durchgesetzt werden. Dabei wird man auch an Fragen herangehen müssen, die man bislang weitgehend der Wirtschaft, etwa die Höhe der Gewinne und der Vorstandsgehälter oder die Grenzen der Werbung, oder die man den Individuen überlassen hat, so die Erziehung der Kinder und der Umgang mit alten Menschen. Wenn wir den sehr praktischen Fragen, welche die traditionellen Kulturen an uns stellen, wirkliche, das heißt praktizierte Antworten entgegenzusetzen haben, wird der Westen dann wohl auch aus der Defensive herauskommen, in der er sich zur Zeit befindet.

Ein- und Ausfälle – Lüge und Wahrhaftigkeit

Im sozialen Leben ist es mit der Wahrhaftigkeit wie mit dem euklidischen Raum im modernen Weltbild. Sie ist ein Spezialfall ihres Gegenteils.

 

Man hat eine Zeit lang geglaubt, dass die Gradlinigkeit von Flächen und Räumen das Fundament der Welt sei. Es war, gemessen an der Länge der Zeit, in der sich der Mensch um die Erkenntnis der Welt bemüht, eine kurze Zeit. Kaum 200 Jahre nachdem Newton die scheinbar unumstößlichen Gesetze des euklidischen Raumes aufgestellt hatte, zerfielen sie. Heute wissen wir, dass die gerade Linie nur ein Sonderfall der Krümmung und der dreidimensionale Raum nur ein Spezialfall des Raum-Zeit-Kontinuums ist.

 

Von der Wahrhaftigkeit hat man eine Zeitlang geglaubt, dass sie das Fundament der Gesellschaft sei. Auch das galt, gemessen an der Länge der Entwicklungsgeschichte menschlicher Gesellschaften, allenfalls für eine kurze Zeit. Es war dies, nimmt man es genau, im wesentlichen das Zeitalter der Aufklärung, das in etwa identisch ist mit der Zeit, in der Newtons Theorien herrschten. Heute wissen wir, dass die Unwahrhaftigkeit eine anthropologische Funktion und somit die Wahrhaftigkeit nur ein Spezialfall der Lüge ist.

 

 

 

 

Die verschlungenen Wege der Aufklärer

Es ist schon ein faszinierendes Schauspiel, zu sehen, wie die Denker der frühen Aufklärung nach rasantem Start in die tatsächliche Welt die Kurve doch wieder in Richtung Glauben kratzen: René Descartes etwa, der alles bezweifelt, um schließlich mit dem ontologischen Gottesbeweis schnurstracks auf den christlichen Gott zuzulenken; Pierre Bayle, der mit dem Gewicht überzeugendster Argumente, darunter der Tatsache, dass die heidnischen Chinesen auch ohne Offenbarung allerhand Vernünftiges zustande brachten, gegen den christlichen Glauben anfährt, um all die schlagenden Argumente kurz vor dem Ziel als angeblich falschen Ballast, den andere angehäuft hätten, wieder abzuwerfen; Nicolas Malebranche, der die Vorstellung von  übermenschlichen Wesen frontal mit der Erklärung angeht, der Mensch habe nur nach einer Ursache für die gewaltigen Kräfte der Natur Kräfte gesucht, dann aber die gerade Bahn verlässt, um dem christlichen Gott auszuweichen; die englischen Deisten wie Charles Blount und John Tolant, welche die Tatsachen zwar gegen willkürliche Eingriffe durch ein höchstes Wesen, einschließlich dessen irdischer Stellvertreter und den von ihnen verfassten heiligen Büchern immunisierten, aber doch an einem Gott als der ersten Ursache aller Tatsächlichkeiten festhielten; oder der Freidenker Anthony Collins, der zwar mutig darüber räsonierte, welche Texte der heiligen Schriften authentisch und welche apokryph sind und wie man  die Schikanen für die Vernunft bewältigt, die auch die heiligsten Texte enthalten, sich aber zu fragen scheute, ob sie heilig sind; schließlich Baruch Spinoza, der so ziemlich all die wolkigen Schleifen, die der Geist gerne um die Tatsachen zieht, wirklich radikal abkürzte, um bei einem Gott zu landen, der in allen Tatsachen steckt. Die deutschen Denker dieser Zeit freilich haben das Tempo, mit dem sie in die Welt fuhren, gerne schon vorsorglich gedrosselt und haben gleich die Kurve angesteuert, Gottfried Wilhelm Leibniz etwa, der um den hinderlichen Umstand, dass ein vollkommener Gott eine unvollkommen Welt geschaffen zu haben schien, mit der Feststellung kurvte, es könnte alles noch schlimmer sein, Gott habe aus der Menge der möglichen Welten die beste gewählt. Auch sprach er im Wettbewerb um die Vortrefflichkeit der Völker zwar den Chinesen den „goldenen Apfel“ (des Paris) zu, sicherte sich aber mit dem Nachsatz ab, dass ihnen jedoch das göttliche Geschenk der christlichen Religion fehle. Manche allerdings sind dennoch aus der Kurve geflogen, so Leibnitz unglückseliger Schüler Christian Wolff, der sich zwar alle Mühe gab, dem Christentum „vernünftige Gedanken“ zu unterlegen, aber beim allfälligen Vergleich mit den Chinesen die vorsorgliche Einschränkung seines Lehrers vergaß, was ihm Job und Heimat kostete. Er bekam sie erst zwanzig Jahre später durch eine der ersten Amtshandlungen Friedrichs des Großen zurück. Dieser hatte dann allerdings schon die Kraft – und die Stellung -, mit der Schrift „Der Bericht des Phihihu“ via  Chinesenvergleich voll auf Kollisionskurs mit der (katholischen) Kirche gehen zu können.

Ein- und Ausfälle – Warum man die Normen für eine Erfindung der großen Normgeber hält

Wenn es darum geht, Führungspositionen in der Gesellschaft zu erlangen und zu begründen, hat sich der Mensch immer als besonders kreativ erwiesen. Eine äußerst erfolgreiche Methode war und ist noch immer, sich als Nachfolger, Stellvertreter oder bevorrechtigter Interpret eines großen Normgebers darzustellen, der seinerseits die großen Regeln des Zusammenlebens in einer Art Reparaturaktivität formuliert habe, um ein aus dem Ruder gelaufenes animalisches Erbes des Menschen einzudämmen. Denn auf diese Weise kann man vom Abglanz hoch angesiedelter Vorbildfiguren profitieren. Dem entsprechend hat man bei der Zeichnung dieser Normgeberfiguren mit Superlativen nicht gegeizt. Wer seinen Führungsanspruch auf diese Weise begründet, hat natürlich wenig Interesse daran, der Frage nachzugehen, ob sich die grundlegenden Normen der menschlichen Gesellschaft möglicherweise ganz unabhängig von solchen Normgeberfiguren mit dem Menschen selbst, nämlich als das notwendige Korrelat zu den freiheitlichen Möglichkeiten des Geistes, mit anderen Worten nicht im Nachhinein als Reparatur, sondern von Anfang an entwickelt haben, dass sie also wie  die Fähigkeit, Sprache erlernen, mit der Physis des Gehirns entstanden sind. Die Frage drängt sich an sich auf, weil man sonst schwer erklären kann, wie ein (soziales) Leben und insbesondere ein Überleben der Menschen vor der Zeit der großen Normgeber möglich war, die ja alle aus neuerer, gemessen an der Entwicklung der Menschheit sogar aus allerneuester Zeit stammen. Für diejenigen, die ihre Autorität auf die großen Normgeber stützen, bedeutet eine solche Vorstellung von der Genese der grundlegenden Normen, dass ihre Rolle – ähnlich wie die der Juristen – weitgehend auf die Ausformulierung im Detail beschränkt wird, was natürlich unerwünschte  Auswirkungen auf ihre Bedeutung und damit auf ihren Macht- und Führungsanspruch hat. Daher haben die Führungsfiguren, die ihren Machtanspruch  von den großen Normgbern ableiteten, Versuche, die Normen auf andere Weise zu begründen, mit allen Mitteln zu ver- oder jedenfalls zu behindern versucht. Wie sehr sie um ihre Macht fürchteten, zeigt im Falle des Christentums etwa die Tatsache, dass sie sogar Versuche, die grundlegenden Normen aus der Vernunft abzuleiten, mit großem Argwohn begegneten und darauf bestanden, dass sie auf diese Weise allenfalls ergänzend begründet werden könnten. (alternativ hat man das Vernunftargument auch dadurch ausgehebelt, dass man die Offenbarung selbst als vernünftig dargestellt hat). Wer bei alternativen Begründungsversuchen vergaß, auf den absoluten Vorrang der großen Normgeber bei der Normbegründung hinzuweisen, hatte mitunter Übles zu gewärtigen, so Aufklärer wie Baruch Spinoza, der auf Grund solchen Mangels aus der jüdischen Gemeinde exkommuniziert oder Christian Wolff, der unter Verlust seines philosophischen Lehrstuhles in Halle aus Preußen verbannt wurde, sowie John Toland, der, nachdem seine Schrift „Christianity not mysterious“ nach einem öffentlichem Tribunal verbrannt worden war, aus seinem Heimatland Irland nach England  floh, da er für seine freidenkerischen  Überlegungen nicht auch noch persönlich zur Rechenschaft gezogen werden wollte.