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Rameswaram – Indien zwischen Illusion und Wirklichkeit

 

Auf einer Insel am südöstlichen Ende des indischen Subkontinentes liegt Rameswaram. Der Ort ist den Hindus in besonderem Maße heilig. Hier steht nicht nur ihr wichtigstes Heiligtum nach dem Kashi-Vishwanath Tempel in Benares. Rameswaram ist auch eine der vier Wallfahrtsstätten, welche die indische Welt an ihren äußersten Grenzen nach allen Himmelsrichtungen einrahmen. Wie der Moslem nach Mekka so soll auch der Hindu einmal im Leben zu diesen Orten pilgern.

Nicht nur die Lage als symbolischer Grenzort der indischen Kulturwelt macht Rameswaram für den Hindu bedeutsam. Es ist auch der Ort, an dem die spirituelle Phantasie der Inder ein wesentliches Geschehen ihrer Mythologie platziert hat. Von hier aus soll Rama, eine der wichtigsten und populärsten Gestalten des komplexen hinduistischen Figurenkosmos, seinen Feldzug zur Befreiung seiner Gemahlin Sita aus den Händen Ravanas, des Dämonenkönigs von Sri Lanka, unternommen und nach erfolgreichem Abschluss desselben eine Sühnezeremonie abgehalten haben, die das Muster für die rituellen Handlungen abgibt, welche die Gläubigen hier vollziehen. Die Geschichte ist die zentrale Episode des Ramayana, dem einen der zwei riesigen indischen Epen, welche, wie die beiden – deutlich kleineren – homerischen Epen in der europäischen Antike, maßgeblich den mythologischen Raum der Hindus abgesteckt und kanonisiert haben. Sie erinnert im Übrigen auch bemerkenswert an die „Entführung“ Helenas und den Kampf um ihre Rückgewinnung in der Ilias.

Nach dem Ramayana raubte der zehnköpfige Ravana die in einer Ackerfurche als Tochter der Erdgöttin geborene Sita, die nicht nur außerordentlich schön, sondern auch noch mit allen Tugenden, Eigenschaften und Fähigkeiten ausgestattet war, welche man sich von einer Frau nur wünschen kann. Abgesehen davon, dass er es auf das prächtige Weib abgesehen hatte, das er trickreich aber erfolglos zu verführen versuchte, rächte er damit auch seine Schwester Shurpanakha, welche in der Geschichte kontrapunktisch als körperlich und charakterlich außerordentlich hässlich gezeichnet wird. Sie hatte bei einem Besuch in Indien Rama, der nicht weniger prächtig als seine Ehefrau war, begehrt und hatte sich, nachdem sie von diesem unter Verweis auf seine Treue zu Sita abgewiesen worden war, auch vergeblich um dessen ebenfalls ansehnlichen Bruder Laksmana bemüht. Aus Verärgerung über diese Abfuhr hatte Shurpanakha Sita nach dem Leben getrachtet, worauf Laksmana ihre ohnehin bestehenden Defizite noch dadurch anreicherte, das er ihr die Nase und die Ohren abschnitt, was eben Ravana zu kompensieren hatte.

Der Herrscher über die Dämonen glaubte sich mit der schönen Beute in seinem scheinbar uneinnehmbaren Inselreich und in seiner gigantischen Schlossfestung auf der Spitze eines hohen Vulkankegels eigentlich sicher, zumal er sich auf Grund eines Versprechens seines Urgroßvaters, des Schöpfergottes Brahma, für unverwundbar hielt. Rama aber schmiedete Pläne zur Invasion Sri Lankas über die fünfzig Kilometer breite Meerenge, welche die Insel bei Rameswaram vom indischen Subkontinent trennt. Zunächst forderte er den Gott des Ozeans auf, den Weg freizumachen, damit er mit seinen Mannen, wie die Israeliten durch das Rote Meer, nach Sri Lanka marschieren könne. Der Meeresgott berief sich aber – für indische mythologische Verhältnisse ungewöhnlich – auf die Gesetze der Natur, die ihn daran hinderten, einem solchen Verlangen nachzukommen. Daraufhin drohte Rama damit, den Ozean mit einem „Regen“ seiner Wunderpfeile auszutrocknen und dabei alle darin lebenden Kreaturen zu töten, eine Vorgehensweise, die nun wieder schwer mit den Gesetzen der Natur zu vereinbaren ist, aber insoweit der Normalfall in der indischen Mythologie ist. Der naturgesetzestreue Herr des Ozeans, der die indientypische Kraft von Mächten, welche die Naturgesetze aushebeln können, kannte, war davon beeindruckt und erklärte sich kompromissweise dazu bereit, den Bau einer Brücke zu unterstützen. Der Affengeneral Hanuman, mit dem sich Rama verbündete, erstellte daraufhin mit „zehn Millionen Kriegern“ in sechs Tagen einen „achtzig Meilen“ breiten Damm über die Meerenge. Über diese setzte er mit seiner Affen- und Bärenarmee, die sich auf nicht weniger als einhundert Milliarden „Mann“ belief – wenn es um Mengen und Zahlen geht, sind die indischen Epen nicht kleinlich – samt Rama und Laksmana und deren Streitkräfte nach Sri Lanka über. Dort fand unter Beteiligung von allen möglichen Dämonen und Wunderwesen und mit allen denkbaren Waffen aus dem unerschöpflichen Arsenal von Phantasy, Science-Fiktion, Esoterik und Virtual Reality am Boden, zu Wasser und in der Luft eine Schlacht von galaktischen Dimensionen statt, deren ausufernde Schilderung im Ramayana ungezählten Künstlern im gesamten indischen Raum für Jahrhunderte Material für bildliche Darstellungen in einer Menge geliefert hat, die einem manchmal kaum geringer als die Anzahl der Krieger in Hanumans Streitmacht erscheinen will. Am Ende kam es zur unmittelbaren Konfrontation der zentralen Protagonisten. Rama versuchte den Dämonenkönig zunächst durch Abschießen seiner Köpfe außer Gefecht zu setzen, die aber, ähnlich wie bei der Hydra in der griechischen Mythologie, sofort wieder nachwuchsen. Gleiches war bei abgeschlagenen Armen und Beinen der Fall. Die Lösung kam schließlich vom Gott Indra, welcher das Geschehen mit seinen Gottkollegen, nicht anders die griechischen Götter bei der Schlacht um Ilios, angelegentlich verfolgte, da Ravana mit seinen Dämonen die Götter immer wieder bedrohte. Indra hatte Rama seinen prachtvollen Streitwagen samt Wagenlenker und höherem Wissen über die Verwundbarkeit Ravanas gestellt und dieser riet Rama, auf Ravanas Herz zu zielen. Damit konnte er den König, der sich mit immer neuen üblen Fernwaffen lange wehrte, schließlich zu Fall bringen.

Wie Rama die Tötung Ravanas trotz der göttlichen Garantie gelang, ist eine ziemlich merkwürdige Sache, die tief in die verwickelten Daseins- und Familienverhältnisse der indischen Götterwelt hineinführt. Nach dem Ramayana hatte Ravana von Brahma für bestimmte Verdienste die Gnade erbeten und erhalten, dass er von Niemandem getötet werden könne, was er, wie ausgiebig geschildert, dazu nutzte, um seine Kontrahenten zu tyrannisieren. Aber derartige göttliche Garantien sind gelegentlich mit geradezu winkeladvokatorischen Fallstricken behaftet. Nach der einen Version der Geschichte hatte Ravanna, da er sich über die Menschen erhaben fühlte, nur Sicherheit vor den Göttern und himmlischen Wesen verlangt, mit denen er im Dauerstreit um die Herrschaft in der Oberwelt lag. Als die Götter den Obergott Brahma anflehten, sie von diesem Übel zu befreien, bat dieser daher Vishnu, den zweiten der drei Hauptgötter Indiens, die allerdings im „Trimurti“ wieder eine dreifaltige Einheit sind, die Gestalt eines Menschen anzunehmen, um in dieser Ravana zu vernichten. Vishnu erschien daraufhin als der Mensch Rama auf Erden und als solcher konnte die Welt von dem Übel des Ravana erlösen (eine bemerkenswerte Parallele zum christlichen Erlösungsmythos). Nach einer anderen Version hatte Ravana zwar seine Köpfe, Arme und Beine gegen Angriffe versichern lassen, nicht aber sein Herz, was Indras Wagenlenker wusste und Rama verriet.

Dazu wie es zu der Heiligung von Rameswaram kam, gibt es, wie bei so vielen Details der indischen Mythologie, auch wieder unterschiedliche Versionen. Die herrschende Lesart ist wohl, dass Rama für die Tötung Ravanas bei Shiva, dem dritten Gott der Hindutrinität, zu dessen Anhängern Ravana gehörte, Abbitte leisten musste. Als Urenkel Brahmas war Ravana nämlich ein Brahmane und einen solchen zu töten, gilt den Hindus, selbst wenn derselbe ein solcher Schurke wie Ravana ist, als eine der schwersten Sünden (ein Schutzprivileg, welches sich die irdischen Brahmanen neben diversen anderen Vorteilen in der indischen Gesellschaft mit göttlicher Beglaubigung gesichert haben). Diese – ziemlich menschliche – Norm galt trotz seiner göttlichen Herkunft auch für Rama, weswegen er ein Sühneritual zu vollziehen hatte. Um Shiva zu besänftigen, wollte Rama, wiewohl er mit diesem eigentlich eine Einheit war, einen besonders großen Lingam, das Phallussymbol, mit dem die Hindus diesen Gott unter Außerachtlassung aller Aspekte von Scham verehren. Ein solcher war in Rameswaram aber nicht aufzutreiben, weswegen Hanuman nach dem Himalaya – nach anderer Version nach Benares – geschickt wurde, um vom heiligen Berg Kailash, dem Sitz Shivas und Erscheinungsform des mythischen Weltberges Meru, bzw. vom Kashi-Vishwanath Tempel, der wie die meisten Tempel der Hindus ein Abbild des Kailash ist, auf dem Luftweg ein adäquates Exemplar eines Lingam herbeizuschaffen. Da sich die Rückkehr des Affengenerals verzögerte, befürchte man, den spirituell günstigen Zeitpunkt für die Sühnehandlung zu verpassen (derartig „auspiziöse“ Zeiten spielen im indischen Leben bis heute ganz konkret eine wichtige Rolle). Daher formte Sita vorsorglich einen Lingam aus dem Sand des Strandes von Rameswaram. Kurz darauf kam Hanuman mit seinem Lingam angeflogen, sodass man nun zwei dieser merkwürdigen Ritualobjekte hatte. Diese sind nun das spirituelle, mit milchigen Flüssigkeiten umsorgte Zentrum der großen Tempelanlage von Rameswaram, die dementsprechend ein Doppelheiligtum ist.

Diese Geschichte wird in Rameswaram natürlich in besonderem Maße phantasiereich in Stein und anderen Medien dargestellt, wobei die Gestaltungskraft der Künstler insbesondere bei der Darstellung Ravanas mit seinen zehn Köpfen gefordert war – manchmal wird er mit einem besonders großen Kopf mit umlaufenden Gesichtern abgebildet, manchmal zusätzlich mit entsprechend vielen Extremitäten, das heißt zwanzig Händen und Füßen; oft werden seine Häupter aber auch in voller Ausprägung samt Herrscherkronen auf einem Hals waagrecht aneinandergereiht, was nicht nur statisch eine erstaunliche Figur abgibt. Man fragt sich dabei unwillkürlich, inwieweit die Gläubigen dieser unwahrscheinlichen Figur und überhaupt dem ganzen außerordentlich frei imaginierten epischen Geschehen, dem sie nicht zuletzt in Rameswaram sehr konkret Reverenz erweisen, so etwas wie historische Realität zumessen. Die Tempelbrahmanen als die Hüter des Glaubens scheinen eine solche Realität jedenfalls vorauszusetzen oder den Glauben daran einzufordern. In einem der anderen Tempel Rameswarams etwa zeigen sie Steine, welche, da besonders porös, im Wasser schwimmen und versichern unterstützt durch entsprechende bildliche Darstellungen, dass die Brücke, welche Hanumans Soldaten nach Sri Lanka bauten, aus diesem Material gefertigt worden sei. Im Ramayana ist freilich von solchen Steinen, welche die Überbrückung der Meerespartien offenbar plausibler machen sollen, nicht die Rede. Dort heißt es ohne Rücksicht auf irgendeine Wahrscheinlichkeit, dass die „Brücke“ aus Baumstämmen, Erde und Felsen aufgeschüttet worden sei, wobei sich bei letzteren teilweise um ganze Berge gehandelt habe.

Wie real all diese Dinge für manche Gläubige sind, zeigt die Diskussion um den Bau eines Kanals durch die flache Meerenge zwischen Indien und Sri Lanka, mit welchem die Fahrt vom arabischen Meer zu den Häfen an der Südostküste Indiens um 400 Kilometer verkürzt würde. Hinduaktivisten streiten gegen dieses wirtschaftsrationale Projekt mit theologischen Argumenten. Der Bau, so sagen sie, würde Teile der Brücke zerstören, welche Rama und Hanuman gebaut hätten. Diese sei aber durch das Ramayana geheiligt und dürfe nicht tangiert werden. Dabei geht es „tatsächlich“ um die Frage, ob das fünfzig Kilometer lange schmale Band aus Sandbänken, Korallenriffen und Inselchen, das sich in Verlängerung der kontinentalen Landzunge und der Insel von Rameswaran wie eine Nabelschnur vom Mutterland Indien bis zu dessen Ableger Sri Lanka zieht, die Reste einer realen, von Menschen gebauten Brücke sind. Abgesehen vom Text des Ramayana beziehen sich die streng gläubigen Hindus dabei auf ein Gutachten eines ehemaligen höchsten Landvermessers Indiens, das feststellt, dass hier unter einer Schicht festen (Korallen)Materials wieder Sand liege, was, da Korallen nicht auf Sand wüchsen, auf ein künstliches Bauwerk hindeute. Als schlagenden Beweis für die Richtigkeit ihrer Überzeugung sehen sie darüber hinaus ausgerechnet Aufnahmen an, welche mit Mitteln der modernsten Wissenschaft von einem Satelliten der Nasa gemacht wurden. Auf diesen ist in der Tat ein erstaunlich linear geführtes Band zwischen Indien und Sri Lanka zu sehen, dessen regelmäßige Kurvatur nach Meinung der Hindus nur damit erklärt werden könne, dass es von Menschen gemacht sei. Die Auseinandersetzung um das Projekt, dem man auch ökologische Argumente entgegenhielt, die freilich auch nicht selten aus dem Grenzbereich von Realität und interessengeformter Einbildung stammen, wurden vor den höchsten Gerichten geführt, die sich „tatsächlich“ auch mit der Frage befassten, ob die Kette von Untiefen und Inselchen, wiewohl von Affen erstellt, „man made“, also von Menschenhand gebaut sei. Die verschiedenen Instanzen waren darüber keineswegs so einig, wie man meinen könnte. Der High Court des Bundestaates Tamil Nadu, in dessen Gebiet das Streitobjekt liegt, bejahte die Frage. Beim Supreme Court of India war man rationaler Argumentation gegenüber weniger verschlossen und kam zu dem nicht eben fern liegenden Ergebnis, dass es sich bei der „Brücke“ um ein meeresgeologisches Phänomen handele. Auch die Nasa wehrte sich gegen die Vereinnahmung durch die Hindus und stellte lakonisch fest, man könne Aufnahmen, die aus großer Höhe gemacht worden seien, nicht entnehmen, ob ein auffälliges Phänomen auf der Erde natürlichen oder menschlichen Ursprungs sei. Historiker des buddhistischen Sri Lanka wiederum meinten, die hinduzentristische Interpretation des Phänomens stelle eine grobe Verfälschung der Geschichte ihres Landes dar.

Das Phänomen der „Brücke“, die wohl bis in die Mitte des letzten Jahrtausends tatsächlich eine feste Landverbindung zwischen Indien und Sri Lanka gewesen war, hat nicht nur die religiöse Phantasie der Hindus angeregt. Auch die anderen großen Weltreligionen haben insofern allerhand tatsachenhaltige Vorstellungen entwickelt. Obwohl die Hindus angesichts ihrer indigenen Vormachtstellung eigentlich die terminologische Hoheit in dieser Angelegenheit haben müssten, hat sich für die Kette von Untiefen und Erhebungen nicht ihre Bezeichnung „Ramas Bridge“ oder „Rama Setu“, wie die Hindus sagen, sondern der Name „Adams Bridge“ durchgesetzt, und dies auch noch vermittelt durch die Weltreligion, die in dieser Region am wenigsten vertreten ist. Die Bezeichnung geht auf die moslemische Vorstellung zurück, wonach der biblische Urvater Adam nach der Verstoßung aus dem Paradies, das man irgendwo in der Höhe imaginierte, die Erde, auf die er strafversetzt worden war, erstmalig auf einem der höchsten Berge von Sri Lanka betreten habe, dem über zweitausend Meter hohen Vulkankegel, für dessen Benennung sich die mehrheitlich buddhistischen Bewohner Sri Lankas merkwürdigerweise ebenfalls keine terminologische Vorherrschaft sichern konnten, weswegen derselbe den Namen „Adams Peak“ trägt. Von dort soll Adam, nachdem er auf dem Berg eintausend Jahre auf einem Fuß stehend Buße geübt habe, über die „Adams Brücke“ nach Indien gewandert sein, um sich mit seinen Nachkommen schließlich über die Welt auszubreiten (nach einer anderen Version wird aber auch eine Wanderung in umgekehrter Richtung angenommen). Auf dem „Adams Peak“ zeigt man denn auch eine Bodenvertiefung, welche der Fußabdruck sein soll, den Adam dabei hinterlassen habe, der allerdings ist so groß ist, dass die Figur, welche ihn geprägt hätte, eine Größe von mindestens zehn Metern gehabt haben müsste. Nichtsdestoweniger haben auch die anderen Weltreligionen in einer Art Wettbewerb um die Deutungshoheit in Sachen „Adams Peak“ diese Vorstellung aufgenommen und sich je auf ihre Weise an der Ausgestaltung der Geschichte beteiligt. Die Buddhisten sehen darin den Fußabdruck Buddhas, der Ceylon drei Mal besucht haben soll. Nachdem die Moslems den gemeinsamen Stammvater Adam schon für sich vereinnahmt haben, meinen die Christen, es sei der Fußabdruck des Apostels Thomas, den es nach Ceylon verschlagen haben soll, von wo er über die Brücke nach Indien gelangt und dort, nachdem er die Gemeinde der Thomaschristen gegründet habe, bei Madras gestorben und begraben sei. Und die Hindus gehen davon aus, dass Shiva, Ravanas Schutzpatron, der Urheber der Vertiefung sei. Im Übrigen habe der zehnköpfige Herrscher von Lanka auf dem steilen Vulkankegel, auf den die Anhänger all dieser Religionen heute über fünftausend Stufen mühevoll hinaufpilgern, seine formidable Residenz gehabt, von der allerdings genauso wenig Reales zu sehen ist wie von Ramas Brücke.

Dem gewichtigen mythologischen Geschehen entsprechend hat man in Rameswaram einen Tempel von passender Bedeutung gebaut, an dem sinnigerweise auch Herrscher aus Sri Lanka, nämlich die hinduistischen Könige des Jaffna Reiches beteiligt waren, die vom 13. bis 17. Jahrhundert im Norden der Insel herrschten, in den hinduistische Tamile schon seit dem Altertum über die Adamsbrücke eingewandert waren (der Hintergrund des erbitterten Bürgerkrieges, der Sri Lanka zwischen 1983 bis 2009 spaltete). Der Tempel ist mit einer Fläche von rund einem halben Quadratkilometer tatsächlich gewaltig, wenn auch nicht so groß wie einige andere Tempel Südindiens, etwa der von Madurai. Während letzterer zahlreiche Tempeltürme aufzuweisen hat, die auf „barocke“ Weise mit dem – reichlich bunt präsentierten – mythologischen Personal des Hinduismus übersät sind, hat der Tempel von Rameswaram nur zwei große und zwei kleinere Türme in den vier Himmelsrichtungen, die einfarbig in vornehmen Gelb gehalten und nur in „klassizistisch“ reduzierter Weise mit Figuren und Ornamenten geschmückt sind. Er verfügt aber über die längsten Tempelkorridore Indiens, jene prachtvollen pfeilergesäumten Hallen, welche das mystisch dunkle, enge und verschachtelte sanctum sanctissimum der südindischen Tempel umlaufen, in dem die Brahmanen ihre rätselvollen Rituale verrichten. In Rameswaram haben diese Gänge zusammengerechnet eine Länge von deutlich über einem Kilometer und sind von rund viertausend bis zu zehn Meter hohen Pfeilern gerahmt, die meist bunt bemalt und mit allerhand Figuren, darunter viele aus dem Ramayana, bestückt sind. Die beiden größten Gänge, die jeweils rund zweihundert Meter lang sind, lassen den Besucher auf Grund eines besonderen perspektivischen Effektes in einmaliger, geradezu magischer Weise in eine Tiefe blicken, welche den unendlichen Dimensionen des spirituellen Raumes entspricht, der im Innersten des Tempels beschworen wird.

Zu den Ritualen, welche die Gläubigen in Rameswaram vollziehen, gehört das Eintauchen in geheiligtes Wasser, vom dem nach hinduistischer Vorstellung erdmagnetische Energien himmelwärts ziehen. Das Grundmuster dieses Rituals ist das Bad im vergöttlichten Fluss Ganges, das in jedem indischen Tempel nachvollzogen wird, indem man entweder in das nach den Prinzipien der heiligen Geographie bestimmte natürliche Wasser steigt, an welchem Heiligtümer bevorzugt platziert sind, oder in den großen rechteckigen Teich, Tank genannt, der regelmäßig zu einen Tempel gehört und von Stufen wie an den Badestellen des Ganges in Benares umgeben ist. Auf der Insel Rameswaram gibt es vierundsechzig heilige Wasserstellen, Theertham genannt, von denen zweiundzwanzig wichtig sind. Zumindest in letztere müssen die Gläubigen eintauchen, wenn sie die segenspendende Wirkung der Wallfahrt sicherstellen wollen.

Das größte Wasserheiligtum ist natürlich das Meer, das dazu auf einer Insel wie Rameswaram das Heiligtum auf ideale Weise von allen Seiten umgibt. Merkwürdigerweise ist es hier nach dem Feuergott Agni benannt, was offenbar damit zusammenhängt, dass er Sita in einer kritischen Situation beistand. In der Hauptversion des Ramayana, welche dem Weisen Valmiki zugeschrieben wird, wollte Rama Sita, für die er doch so heftig gekämpft hatte, nicht zurücknehmen, da sie so lange im Haus eines Fremden gelebt habe. Sita, die sich, anders als Helena, mit aller Kraft den Verführungskünsten ihres Entführers widersetzt hatte, war von diesem Misstrauen wenig begeistert und verlangte trotzig, dass ihr ein Scheiterhaufen bereitet werde. Sie bat Agni um Hilfe, der auch dafür sorgte, dass ihr die Flammen nichts anhaben konnte und sie unter der Akklamation aller Götter persönlich aus den Flammen hob. Danach gibt es ein Happy End nach Art eines Märchens mit Königskrönung und großem Fest, dem eine zehntausendjährige glückliche Regentschaft Ramas im mythischen Urkönigreich Ayodhya folgt (ohne Krankheiten, Seuchen, Gier, Verbrechen, verdorbene Ernten und so weiter). Agni hatte sich, wiewohl er doch alles zum Schutz von Sita getan hatte, durch seine Beteiligung an der Feuerprobe aus irgendeinem Grund auch wieder versündigt und musste sich vor Shiva, dem Schutzpatron Ravanas, rechtfertigen. Zu Tilgung seiner Sündenschuld stieg er in das Meer an der Stelle, die nun Agni Theertham genannt wird. In seiner Nachfolge tun dies nun auch die Pilger und tauchen vornehmlich mit der ganzen Familie in die ziemlich trüben Fluten, wobei den selfie-süchtigen Indern die elektronische Dokumentation dieses Vorgangs mittels Smartphone mindestens so wichtig zu sein scheint wie die heiligende Handlung. In einer wohl späteren Version, die geradezu islamische Männeransprüche offenbart, sind die dramatischen Verwicklungen für Sita mit ihrer Rettung und der Feuerprobe aber noch lange nicht beendet. Nach dieser melodramatischen, an Bollywood erinnernden Variante des Epos hat Sita die  bestandene Treueprüfung wenig genützt, denn der ziemlich menschelnde göttliche Rama schickte sie, wiewohl sie von ihm mit Zwillingen schwanger war, weil er absolute Sicherheit verlangte, dennoch in die Verbannung, aus der er sie erst viele Jahre später wieder herausholte, nachdem er seine Kinder daran erkannt hatte, dass sie das Ramayana sangen. Sita zog es nun aber vor, der ungerechten Welt entsagend, in die Ackerfurche und damit zu (ihrer) Mutter Erde zurückzukehren, aus der sie einst gekommen war.

Die einundzwanzig anderen wichtigen Wasserstellen befinden sich alle innerhalb der rund einen Kilometer langen festungsartigen Mauern des großen Tempels, in dem ein penibel überwachtes Smartphoneverbot herrscht. Abgesehen von einem größeren Tank handelt es sich im Wesentlichen um etwa sechs Meter tiefe brunnenartige Schächte, die zum Grundwasser herunterreichen. Unter anderem gibt es auch ein Wasser, welches ein vollwertiges Äquivalent für das originale Gangeswasser ist. Da die Inder selbst in zweihundert Jahren englischer Kolonialherrschaft nicht gelernt haben, sich ordentlich anzustellen, erfolgt der Zugang zu den Wasserstellen in langen vergitterten Gängen, die sich in Schlangenlinien durch weite Teile des Tempels und bis auf die Straße ziehen. Um die Massen abzufertigen hat man das Eintauchen in die heiligen Gewässer rationalisiert. An allen Wasserstellen steht ein dienstbarer Geist, der das heilige Nass mit einem kleinen Eimer, der an einem Seil befestigt ist, aus der Tiefe holt und den pausenlos ankommenden Pilgern recht unfeierlich über den Kopf gießt. Jedes dieser Wasser hat, wie Agni Theertham, einen Namen, der sich auf einen bestimmten heiligenden Umstand bezieht, und verspricht eine besondere Wirkung, die allerdings meist ziemlich allgemein formuliert ist – etwa wenn es heißt, dass man durch dasselbe Einsicht in die Vergangenheit und die Zukunft gewinne oder man in die Lage versetzt werde, von Dämonen ausgelöste ungute Stimmungen zu beherrschen.

Wesentlich konkreter geht es bei der Frage zu, welche Gegenleistung die Pilger für die verschiedenen rituellen Leistungen zu erbringen haben. Auf großen Schildern sind für die gängigen Kulthandlungen feste, einigermaßen moderate Preise aufgelistet. Rituale für bestimmte Lebenssituationen sind gesondert zu bezahlen und können ziemlich teuer werden. Darüber hinaus werden von den Gläubigen, wie in allen indischen Tempeln, auch noch freiwillige Zahlungen erwartet. Die Anzahl der Spendenboxen, die – wie die verführerichsten Waren im Supermarkt – an strategischen Punkten wie Wegbiegungen, Abzweigungen und Engstellen platziert sind, übertrifft in den Tempeln in der Regel deutlich die der Idole. Meist sind es voluminöse blecherne Kästen mit großen Einwurfschlitzen, die Rupien in einer Größenordung aufnehmen können, welche sich offenbar an den Mengenangaben in der indischen Mythologie orientiert.

Wer die vorgeschriebenen Rituale samt Bezahlung absolviert, dem wird einen Großteil seiner Sündenschuld erlassen mit der daraus resultierenden Möglichkeit, in nächsten Leben auf höherer Ebene wiedergeboren zu werden und so den leidvollen Kreislauf der Wiedergeburten abzukürzen. Anderseits haben berufene Normgeber, wie auf Schrifttafeln festgehalten ist, bestimmt, dass eine Sünde, welche im Rameswaram begangen wird, nie getilgt werden kann. Keine Sünde ist dabei offenbar das Entsorgen von Müll auf allen möglichen öffentlichen Flächen, unter anderem auch, indem man sich bei Agni Teertham trotz entgegenstehender Aufforderung der lokalen Kommunalverwaltung der nassen Kleider entledigt, die dann massenhaft an den Strand gespült werden, sodass es dort wie nach einer maritimen Katastrophe aussieht, abgesehen davon, dass sich auch hier, wie überall in Indien, aller möglicher sonstiger Müll in Mengen sammelt, zu deren Beseitigung man die Heerscharen Hanumans benötigen würde. Ebenso wenig sündhaft scheint es für Männer zu sein, dort zu urinieren, wo gerade sie gerade stehen. Und an einem Ort, an dem die Menschen in großer Zahl darauf angewiesen sind, die elementaren Bedürfnisse des realen Lebens mit Hilfe von Dienstleistern zu befriedigen, ist es offenbar nicht verwerflich, die indientyische massive Differenz zwischen werbend angepriesenen und realen Tatsachen dergestalt auf die Spitze zu treiben, dass eine Portion Pommes frites, die auf einem Werbebild eines staatlichen Restaurants gewaltig hochgestapelt präsentiert wird, sich in der servierten Wirklichkeit als bloßer Tellerbodendecker erweist. Insofern erfolgte die Ausgestaltung der Norm offensichtlich unter Berücksichtigung der sozialen Realität, vermutlich weil sonst für unverhältnismäßig viele Inder die Erlösung aus dem Kreislauf der Wiedergeburten in unerreichbare Ferne gerückt wäre.

Im Tempel herrscht reges Treiben. Viele Gläubige, auch Frauen und Kinder, kommen mit kahl geschorenem Kopf daher, an dessen hinterem Teil nur noch ein kleines Haarbüschel ähnlich einem Schweineschwänzchen verblieben ist. Kleine Gruppen, die von einem Kundigen religiös instruiert werden, sitzen in Nischen auf dem Boden. Gelegentlich zieht eine Prozession mit Schlagzeug und einem plärrenden Blasinstrument, das einer Oboe ähnelt, durch die Pfeilerhallen, in denen die grob laute Musik weithin widerhallt, vorneweg einige Frauen, die sich verzückt im Tanz wiegen. Überall laufen tropfnasse Menschen mit derangierten Haaren umher. Eine besonders reich verzierte Pfeilerhalle ist von Devotionalien- und Souvenirhändlern gefüllt wie einst der Tempel von Jerusalem von Geldwechslern. Vor dem Haupttor des Tempels, über dem eine fünfzig Meter hohe Pyramide emporragt, dringt Musik aus einem großen Lautsprecher, wie landesüblich und allgegenwärtig mit jener Lautstärke, welche die Inder mit einem Gleichmut ertragen, der darauf hindeutet, dass ihre Gehörnerven ebenso abgestumpft sind wie ihre Geschmacksrezeptoren durch den exzessiven Genuss scharfer Gewürze.

Anders als in Madurai, wo sich im großen Tempel unzählige Reisegruppen drängen, sieht man in Rameswaram nur wenige Fremde, was sicher auch damit zusammenhängt, dass der Ort ziemlich abgelegen ist. Hin- und zurück nach Madurai, wo die Reise beginnt, muss man mit acht Stunden Fahrtzeit rechnen. Inzwischen kommt man hier auch nicht mehr, wie Rama, auf dem Weg von oder nach Sri Lanka vorbei, nachdem die (Eisenbahn/Fähr)Verbindung über die Meeresenge zwischen den beiden Ländern, welche die Engländer einst zur Herstellung der Einheit ihres Kolonialreiches eingerichtet hatten, nach einem verheerenden Tropensturm seit vielen Jahren unterbrochen ist und man beiderseits der Meerenge offenbar andere Probleme für wichtiger hielt als Wiederherstellung der Verbindung zwischen dem vorwiegend hinduistischen Mutterland und der abtrünnigen Tochter, wo der Buddhismus vorherrscht, den die Hindus aus seinem Mutterland mehr oder weniger vollständig verdrängt haben.

Rama ist die mythische Lichtfigur am Beginn des zeitlichen Spektrums, in welches Rameswaram gebettet ist. Darüber, wann die Ereignisse stattfanden, die im Ramayana geschildert werden, gehen die Meinungen weit auseinander. Diejenigen, welche in dem Epos einen realen historischen Grundkern sehen, platzieren Rama als eine lokale Herrscherfigur in die Mitte des ersten Jahrtausends vor unserer Zeitrechnung. Sie verzichten realistischerweise auf die Annahme, dass die Details des Epos wörtlich zu nehmen sind. Wer dazu nicht bereit ist und, um die Geschichte plausibel zu machen, Feststellungen der Radiokarbonanalyse betreffend die Korallen der Adams-Bridge einbezieht, kommt auf bis zu 5.000 Jahre, hat aber Probleme, die zehntausend-jährige Herrschaft Ramas in Ayodhya unterzubringen, der, da er nicht gestorben wäre, noch am Leben sein müsste. Dieses Problem lösen diejenigen, die  sich auf makrogeologische Erkenntnisse beziehen. Sie kommen zu dem Ergebnis, dass Rama vor fast zwei Millionen Jahren lebte. Für den eingefleischten Hindu ist dies kein Problem, da sich die Geschichte nach dem Ramayana im dritten Weltzeitalter abgespielt hat, das ungefähr so  lange zurückliegen soll. Man hat aber das Problem, dass die reale Adams-Bridge durchschnittlich nur etwa acht Meilen breit ist. Dieses lösen manche, indem sie die Mengenangaben des Ramayana proportional um eine Art mythologischen Übertreibungsfaktor reduzieren. Denselben nehmen sie den realen Gegebenheiten entsprechend mit tausend Prozent an, womit sie das Problem der Brückenbreite (im Übrigen auch der Pommes frites) gelöst, bei der Größe von Hanumans Truppen und dem Tempo des Brückenbaus aber immer noch Erklärungsbedarf haben, ganz abgesehen davon, dass Hinweise darauf, was zwischen letzterem und der historischen Zeit geschah noch dünner sind, als das Band zwischen Indien und Sri Lanka und seine Aussagekraft aus der Perspektive der Nasa.

Am anderen Ende des Zeitrahmens von Rameswaram steht eine Persönlichkeit, welche viele Inder als Leitfigur des modernen Indien sehen. Auf der Insel geboren und aufgewachsen ist Abdul Kalam, der es aus einfachen Verhältnissen zum renommierten Wissenschaftler und schließlich zum (elften) Präsidenten von Indien brachte (2002-2007). Kalam, der im hinduistischen Hauptort in einer muslimischen Familie aufwuchs, war als Wissenschaftler in führender Position an der Entwicklung Indiens zur Atommacht beteiligt. Er war Leiter des indischen Raketenprogramms, zu dem nicht zuletzt eine Reihe von Langstreckenraketen gehören, die sinnigerweise auf den Namen „Agni“ getauft wurden. Damit repräsentieren sie die andere Seite des Feuergottes, der im Falle Sitas so „human“ erschienen war. Die Agni-Raketen können Atomsprengköpfe tragen, die Indien nicht zuletzt im Hinblick auf den völlig überflüssigen, aber um so erbitterter kultivierten Bruderkonflikt mit dem muslimischen Pakistan entwickelte.

Der Mann, zu dessen Metier als Wissenschaftler der kritische Umgang mit Tatsachen gehörte, hatte mit denselben als Politiker aber einige Probleme. Kalam war, sonst hätten seine Raketen nicht abgehoben, ein tatsachenorientiert denkender Wissenschaftler. Er war aber auch ein glühender Patriot und Politiker und als solcher war er in der Gefahr, den Kontakt zu den Tatsachen zu verlieren. Als Patriot musste er mit einer gewissen Notwendigkeit zu einer kritischen Haltung gegenüber dem englischen Kolonialismus kommen, den viele Inder als Trauma empfinden. Diese Aversion nun brachte ihn in Konflikt mit einem Engländer, der sich dem Ziel verschrieben hatte, die indische Vermischung von  Mythologie und Tatsachen zu entflechten, um letzteren im sozialen Leben das Gewicht zu geben, welche sie in einer modernen Gesellschaft haben müssen. Es handelt sich um den renommierten englischen Politiker und aufgeklärten Essayisten Lord Macaulay, der in den dreißiger Jahren des 19. Jahrhundert als Mitglied der britischen Kolonialregierung in Indien entscheidend dazu beitrug, dass im höherem Bildungssystem von Britisch-Indien die englische Sprache eingeführt wurde. Macaulays erklärte, zweifelsohne eurozentristische Absicht war, der einheimischen Führungselite die auf Englisch verfasste oder lesbare aufgeklärte bzw. wissenschaftliche Literatur Europas zugänglich zu machen, um auf diese Weise dem in Mythen und sozialer Segregation feststeckenden Subkontinent einen Impuls in Richtung Westen, Demokratie, Aufklärung, Säkularisierung und Verwissenschaftlichung zu geben. Dieses Ziel haben die Maßnahmen Macaulays, der so letztendlich die Selbstregierung und damit langfristig  die Unabhängigkeit des Landes vorbereiten wollte, inzwischen ein Stück weit erreicht. Kalam selbst, der im Jahre 2015 verstarb, war als Wissenschaftler und demokratisch bestimmter, dazu muslimischer Präsident in einem mehrheitlich hinduistischen Land ein Musterbeispiel für diese Ausrichtung. Dennoch hat sein Patriotismus Kalam dazu verleitet, Macaulay massiv tatsachenwidrig darzustellen.

Der Engländer hatte sein Bildungskonzept in einem legendären Memorandum für die englische Kolonialregeierung niedergelegt. Anfang der zweitausender Jahre kursierte in Indien eine Textpassage, die angeblich aus diesem Memorandum stammte, in der Macaulay als ein Kolonialist der übelsten Sorte erscheint, welcher die indigene Kultur und die Selbstachtung der Inder mit allen Mitteln zerstören wolle, um das Land leichter beherrschen und ausbeuten zu können. Die Passage war eine – übrigens leicht zu enttarnende – Fälschung, die offensichtlich aus Kreisen traditioneller Hindus kam, welche Macaulay als die Leitfigur der Unberührbaren diskreditieren sollte. Ein Teil dieser rund einhundertfünfzig Millionen Menschen große Menschengruppe, die in Indien trotz rechtlicher Gleichstellung nach wie vor diskriminiert wird, hatte sich den Briten zum Schutzpatron erwählt, weil er massiv gegen die Einteilung der Menschen in Gruppen verschiedener Wertigkeit vorgegangen war, welche die traditionelle hinduistische Gesellschaftsordnung kennzeichnet. Unter anderem hatte er ein indisches Strafgesetzbuch konzipiert, nach dem alle Straftäter nach den gleichen Regeln zu behandeln waren, was den Verlust von Privilegien der höheren Kasten, insbesondere der Brahmanen zur Folge hatte. Trotzdem zitierte Kalam die genannte Passage in einer Rede, als handele es sich um einen Auszug aus Macaulays Memorandum. Auch wenn man Kalam, zumal als Muslim, nicht ohne weiteres unterstellen kann, dass er damit den Widerstand der traditionellen Hindus gegen die Aufweichung des uralten Kastensystems unterstützen wollte, ist dieser freihändige oder gar strategische Umgang mit den Tatsachen in Indien nach wie vor besonders  weit verbreitet.

Man hat in Kalams verschachtelt-kleinräumigen Familienhaus in Rameswaram ein Museum eingerichtet, in dem seine Taten und Visionen auf vielen Schautafeln präsentiert werden. Sie sind nicht zuletzt voller nationalistischer Sentenzen, die meist so allgemein gehalten sind, wie die Sinnsprüche und Lebensbewältigungsmaximen der mehr oder weniger weisen Gurus, die man zur Genüge kennt, oder wie die Verheißungen, welche nach dem Gebrauch der verschiedenen heiligen Wässer im Tempel von Rameswaram eintreffen sollen, etwa: „Träume, Träume, Träume, setze diese Träume in Gedanken um und handle.“ Kalam war in seiner Aufbruchgestimmtheit davon überzeugt, dass sich Indien schon bald in der Spitzengruppe der Staatengemeinschaft befinden werde. Einstweilen sind diese Verheißungen allerdings noch im Stadium des Traumes. Der aufklärerische Kulturtransfer, den Macaulay anstrebte, hat, wie nicht anders zu erwarten, nur partiell stattgefunden. Er scheiterte weitgehend an der Veränderungsresistenz der Grundlangen der indischen Kultur, zu denen gerade auch die besonders ausgeprägte Vermischung von Tatsachen, Mythen, Vorstellungen und Illusionen gehört. Die indische Realität ist bei allem Fortschritt, der seit der Unabhängigkeit des Landes und insbesondere in den letzten Jahrzehnten eingetreten ist, in vieler Hinsicht noch ähnlich weit von einem aufgeklärten Gesellschaftsverständnis entfernt, wie Adams Bridge von Rama Setu oder die Versprechungen über die Menge der Pommes frites am Tempel von Rameswaram von den gastronomischen Tatsachen .

 

 

 

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Ankor und Hampi – zwei untergegangene Metropolen des indischen Raumes

Im Süden Vorder- und Hinterindiens befinden sich – genau auf dem gleichen, dem 15. Breitengrad – die gewaltigen Überbleibsel zweier Städte, die zur ihrer Blütezeit um ein Vielfaches größer und prächtiger waren als jede zeitgenössische Stadt in Europa – Ankor im heutigen Kambodscha und Hampi im Norden des indischen Bundesstaates Karnataka. Beide waren während des europäischen Mittelalters die Hauptstädte großer Reiche, beide sind nach einer Zeit der Blüte und enormer Bauaktivität sang- und klanglos untergegangen, waren Jahrhunderte lang mehr oder weniger vergessen und sind erst nach einem langen Dornröschenschlaf wieder in das Bewusstsein der Welt getreten, die sie heute als ihr Kulturerbe schätzt und schützt. Beiden ist auch gemeinsam, dass ihre Blüte ganz wesentlich einem ausgeklügelten System der Wasserbewirtschaftung verdanken. Schließlich gleichen sie sich auch darin, dass von den einstigen Bauten nur das übrig geblieben ist, was mit dauerhaftem Material erstellt wurde, in derHauptsache steinerne Herrschafts- Verteidigungs- und Religionsarchitektur sowie Bauten der Infrastruktur. Insbesondere die gewöhnlichen Zivilbauten und die Aufbauten der Paläste, die weitgehend aus Holz gebaut waren, sind vollständig verschwunden mit der Folge, dass die sichtbaren Reste der beiden Städte ohne rechten Zusammenhang jeweils über ein Gebiet von vielen Quadratkilometern verstreut sind. Legionen von Steinmetzen haben diese steinernen Baulichkeiten über und über mit Gliederungselementen, Ornamenten und Bildnissen verziert. Vermutlich wurde nirgends in der Welt so viel in weichem Sandstein gemeißelt wie in Ankor und nirgends so viel harter Granit bearbeitet wie in Hampi.

Die ältere und berühmtere der beiden Städte ist Ankor, bekannt nicht zuletzt, weil sich hier das größte religiöse Bauwerk der Welt und nach der Villa des Kaisers Hadrian in Tivoli überhaupt der größte Gebäudekomplex befindet, der je für eine einzelne Person erstellt wurde – Ankor Wat. Die Gegend von Ankor am Rande des riesigen Tonle Sap Sees war seit dem 9. Jahrhundert der Mittelpunkt des ursprünglich hinduistisch geprägten Königreichs der Khmer, dessen Herrschaftsbereich sich im Laufe der Zeit fast über den ganzen Süden Hinterindiens ausbreitete. Über die Jahrhunderte wurden hier mehrere Stadtzentren angelegt, die alle beachtliche Spuren hinterlassen haben. Der Reichtum der Region und damit die Macht der Könige basierte auf einem äußerst differenzierten Wassermanagement, das drei Reisernten im Jahr erlaubte. Mit einem vielfach vernetzten System von Becken und Kanälen wurde das Wasser, welches in der Regenzeit reichlich vorhanden war, für die Trockenzeit gespeichert und in einer Art großtechnischer Version der kleinbäuerlichen Reisterrassenkultur unter Ausnutzen des natürlichen Gefälles der Landschaft ohne weiteren Energieaufwand gleichmäßig auf das Land verteilt.

Wasser spielte denn auch in der Kultur der Khmer eine besondere Rolle. Alle wesentlichen Bauten und selbst die ganz Kernstadt waren von großen Wasserbecken umgeben, die entsprechend dem ausgeprägten Sinn der Khmer für geometrische Ordnung, der seinen Grund in der hinduistischen Kosmologie hat, rechteckig angelegt und fein säuberlich gemauert waren. Ankor Thom etwa, die letzte große Stadtgründung, war von einer quadratisch angelegten, zwölf Kilometer langen Stadtmauer umgeben, um die ein rund einhundert Meter breiter Wassergraben lief. Zusätzlich umgab auch noch innerhalb der Mauern ein vierzig Meter breiter Kanal die ganze Stadt. Hinzu kamen weiter außerhalb der verschiedenen Stadtzentren ebenfalls penibel gemauerte rechteckige Wasserspeicher, die bis zu acht Kilometer lang und über zwei Kilometer breit waren. Die Legitimation des jeweiligen Herrschers beruhte weitgehend auf seiner Fähigkeit, das komplizierte und pflegebedürftige System der Wasserversorgung aufrechtzuerhalten. Dieser wiederum stellte diese Fähigkeit als Folge seiner besonderen Beziehung zu den Göttern oder gar seiner Gottgleichheit dar, die auch nach seinem Tod erhalten blieb. Daher ließ er zu seiner und der Unsterblichen Ehren Baulichkeiten von Ausmaßen errichten, welche diesem Anspruch gerecht wurden. Dieselben sind naturgemäß wieder von viel Wasser umgeben.

Das größte Bauwerk dieser Art ist Ankor Wat, das in der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts tausende Arbeiter und Künstler in siebendreißigjähriger Arbeit als Mausoleum für den hinduistischen Herrscher Surjavarman II. erstellten, das später aber zu einem buddhistischen Kloster umgewidmet wurde. Alles ist hier von Dimensionen, welche ein Denken in monumentalen Kategorien offenbaren. Der axial-symmetrische, rechteckige Gesamtkomplex nimmt eine Fläche von rund zwei Quadratkilometern ein und ist von einem zweihundert Meter breiten, wiederum rechteckigen Wassergraben umgeben. Rund zweitausend fast lebensgroße vollbusige Tänzerinnen (Apsaras) und kunstvoll aufgemachte weibliche Schutzgottheiten (Devatas) schmücken die Wände der Höfe und Pavillons, ein sechshundert Meter langer übermannshoher Relieffries mit dicht gepackten Szenen aus dem indischen Epos Ramayana läuft um das Hauptgebäude, hunderte von gedrechselten Säulen füllen die Maueröffnungen und es scheint keinen sichtbaren Stein der Baumasse von 350.000 Kubikmetern zu geben, der nicht mit feinsten Ornamenten übersät wäre. Die zahllosen Buddhastatuen freilich, die hier einmal versammelt waren, sind weggeschleppt worden und heute eher in den Wohnzimmern esoterisch angehauchter reicher Sammler aus dem Westen zu finden – allerdings sollen bereits im 13. Jahrhundert bei einer hinduistischen Reaktion gegen die Einführung des Buddhismus rund 10.000 Buddhastatuen zerstört worden sein.

Nicht nur Surjavarman II. hatte ein derart ausgeprägtes Bedürfnis, sich durch Bauen zu verewigen. Die Khmer waren insgesamt unermüdliche Baumeister. Man hat in Ankor allein rund eintausend Heiligtümer ausgemacht. Dazu gehören weit verzweigte Tempel- und Klosteranlagen, die nach spirituellen Grundsätzen gebaut und natürlich wieder von großen rechteckigen Wassergräben umgeben waren. Auch bei diesen ist alles mit feinem Ornament überzogen. Auf Pilastern und Türpfosten findet man allenthalben die Akanthusranke, die wie so manche andere architektonische und künstlerische Form, welche in Indien wirksam wurde, mit Alexander dem Großen von Europa auf den Subkontinent gezogen war, sodass man sich manchmal fragt, ob man es nicht mit einem Gebäude aus der europäischen Antike oder Renaissance zu tun hat; wie überhaupt die Gliederungselemente der Bauteile, etwa der Säulenaufbau mit Fuß, Korpus und Kapitell, oder die Einfassungen der Maueröffnungen mit mehrfach gestaffelten Profilen an die Grundformen erinnern, die in den europäischen Mittelmeerkulturen entwickelt wurden. Auffällig herausgehoben sind im Übrigen die Türstürze, die aus dem Maul von Fabeltieren kommend in geradezu rokokoartiger Manier in eine schwingende vertikale Bewegung versetzt und deren Giebelfelder mit fein ausgearbeiteten figürlichen Szenen aus der tropisch wuchernden indischen Sagenwelt gefüllt sind. Auch für derartigen Giebelschmuck gibt es Parallelen in der antiken Baukunst Europas.

In besonderem Maße von der Bauwut befallen war Jayavarman VII., der um die Wende vom 13. zum 14. Jahrhunderts regierte und den Buddhismus nach Ankor brachte. Er ist der Erbauer der Riesenstadt Ankor Thom, in welcher er nach einem spirituell ausgeklügelten Konzept Zeremonial- und Herrschaftsbauten von imperialer Großartigkeit errichten ließ. Seinem monumentalen Selbstverständnis entsprechend dekorierte er dieselben unter anderem mit Elefanten – vor seinem Palast etwa ließ er eine über dreihundert Meter lange Terrasse erstellen, an deren Wand eine lange Prozession der Dickhäuter lebensgroß in Stein gemeißelt ist. Vermutlich sah er sich auch gerne in der Pose des Khmerlöwen, der auf vielen seiner Bauwerke zähnefletschend in straffer Hab-Acht Stellung postiert ist. Zu seiner Zeit brachte man an Gebäuden auch die mehrere Meter hohen, kontemplativ-mitfühlenden Gesichter des buddhistischen Heiligen Lokeshvara an, welche fast so sehr zum Markenzeichen von Ankor geworden sind, wie die charakteristische Silhouette von Ankor Wat. Sie blicken zu dutzenden vor allem von den vielen Türmen der Tempelpyramide Bayon herunter, dem komplexesten und aufwendigsten Bau, den dieser Herrscher erstellen ließ. Man rätselt noch immer, ob diese introspektiven Gesichter, die sich in noch deutlich größeren Dimensionen auch über den mächtigen Eingangstoren in den Stadtmauern von Ankor Thom finden, die Züge Jayavarmans VII. tragen.

Vom Leben in der Metropole, die mit möglicherweise bis zu einer Million Menschen die größte Stadt der damaligen Welt gewesen wäre, wissen wir mangels einer ausgeprägten Schriftkultur nicht viel. Abgesehen von Inschriften auf Gebäuden und Stelen, in denen die Taten der Herrscher und Daten der Bautätigkeit dokumentiert sind, gibt es an schriftlichen Quellen nur die Berichte chinesischer Reisender, Händler und Diplomaten. Darin ist unter anderem von großen Paraden, Aufmärschen, Pferderennen und Büffelkämpfen auf dem weitläufigen Platz im Zentrum von Ankor Thom die Rede, welche der Herrscher und sein Gefolge von den großen Terrassen vor dem Königspalast verfolgten. Auf wunderbar ausgearbeiteten Basreliefs des Bayon sind dazu auf äußerst redselige Weise alle möglichen Szenen aus dem bunten Leben der Khmer dargestellt, die zeigen, dass sich in Kambodscha bis heute Vieles nicht geändert hat.

Nach dem Tode Jayavarmans VII., unter dem das Reich von Ankor seine größte Ausdehnung hatte, ging es mit der Herrlichkeit der Khmer bergab. Über die Gründe dafür weiß man angesichts der fehlenden Schriftkultur wenig. Man vermutet, dass der hyperaktive Herrscher durch seine zahlreichen Kriege und eine überbordende Bautätigkeit die wirtschaftlichen Möglichkeiten des Landes überstrapaziert habe. Auch habe er durch den Religionswechsel die religiöse Stabilität erschüttert – Tatsache ist, wie erwähnt, dass die Hindus, insbesondere die Brahmanen, gegen den gleichmacherischen Buddhismus, der ihnen ihre Sonderstellung raubte, revoltierten, und dass innerhalb desselben der Thervada-Buddhismus von der passiveren Strömung des Mahajana abgelöst wurde. Ein weiterer möglicher Grund für den Abstieg Ankors könnte sein, dass man das komplizierte Bewässerungssystem nicht aufrechterhalten konnte. Im Übrigen verlor die Stadt wohl auch durch die zunehmende Verlagerung des Handels nach Phnom Phen an Bedeutung. Die Schwäche der folgenden Könige nutzten die Nachbarvölker, insbesondere die Thais und die Vietnamesen, um sich verlorene Gebiete zurückzuholen und in das Territorium der Khmer einzudringen, was den Untergang Ankors beschleunigte.

Im Laufe der Zeit wurde die Stadt von der Bevölkerung verlassen und die Natur holte sich zurück, was ihr die Kultur zeitweilig abgetrotzt hatte. Relativ gut überlebt hat nur Ankor Wat, da es weiterhin als Kloster genutzt wurde. Die Stadt aber verfiel. Als im 19. Jahrhundert europäische Reisende und französische Landvermesser, welche „ihre“ neuen Protektoratsgebiete explorierten, Ankor aufsuchten, stießen sie auf ein surreales Szenarium. Im tropischen Dschungel, der die einstmals blühende Stadt inzwischen überwuchert hatte, entdeckten sie überall mehr oder weniger zerstörte Bauten. Da die Khmer zwar eifrige Bauherren aber keine besonders guten Bauingenieure waren, waren die Fundamente vieler Gebäude vom tropischen Regen unterspült worden mit der Folge, dass die Mauern, deren Steine merkwürdigerweise nicht miteinander verzahnt wurden, ins Wanken gerieten, und die (Krag)Gewölbe der Räumlichkeiten, die mangels echter Gewölbetechnik aus versetzt übereinander geschobenen Steinplatten gebildet wurden, weitgehend zusammen gebrochen waren. Außerdem hatten sich gewaltige Bäume auf die Baulichkeiten gesetzt und diese teils erdrückt, teils aber auf abenteuerliche Weise auch stabilisiert. Wie riesige Schlangen zogen sich ihre Wurzeln durch die Fenster- und Türöffnungen der Pavillons oder wuchsen in abenteuerlichen Kaskaden von den Dächern und Mauerkronen in den Erdboden hinab. Ein Phantasy-Designer hätte die Szenerie nicht bizarrer gestalten können.

Inzwischen ist Ankor aus seinem Jahrhundertschlaf wieder erwacht. Ab dem Ende des 19. Jahrhunderts haben französische Forscher und Zeichner seine Reste aufgenommen und dokumentiert. Unterbrochen durch die politischen Turbulenzen im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts hat man die Gebäude weitgehend freigelegt und damit begonnen, das wieder aufzurichten, was noch einigermaßen vollständig ist. Ankor ist zu einer der größten Attraktionen der Welt für Touristen aus aller Herren Länder geworden und unter modernen Vorzeichen erneut mit Leben gefüllt samt all den Vorteilen aber auch Auswüchsen, welche der Zustrom sensationslüsterner Menschenmassen mit sich zu bringen pflegt.

Während Ankor in der Zeit seines Dornröschenschlafes wegen Ankor Wat, das europäische Reisende sporadisch besuchten und voller Staunen beschrieben, nie ganz aus dem Blickfeld der westlichen Welt geraten ist, hatte man von Hampi lange Zeit so gut wie keine Vorstellung. Die Ruinen der Stadt wurden zwar zu Beginn des 19. Jahrhunderts im Rahmen der systematischen Exploration und Evaluierung des Landes durch die neuen englischen Eigentümer „entdeckt“ und wurden danach auch von einigen Historikern und Archäologen beschrieben. Nicht zuletzt wegen ihrer Abgelegenheit gerieten sie aber nie richtig in den Fokus einer breiteren Öffentlichkeit. Erst gegen Ende des 20. Jahrhunderts schenkte man den erstaunlichen Hinterlassenschaften größere Aufmerksamkeit. Seitdem ist auch Hampi das Ziel von Besuchern aus aller Welt. Allerdings geht es hier im Vergleich zu Ankor (noch) ziemlich beschaulich zu.

Der Aufstieg Hampis begann, als die Blütezeit Ankors sich dem Ende zuneigte. Der Ort hieß ursprünglich Vijayanagar und war die Hauptstadt des gleichnamigen Reiches, das sich im 14. Jahrhundert als Reaktion auf die Versuche der muslimischen Herrscher Nordindiens bildete, die Hindureiche zu unterwerfen, welche sich im Süden des Subkontinentes noch der stürmischen islamischen Expansion entgegenstellten. Als Gründungsdatum gilt das Jahr 1346, als in der Region eine neue Königsdynastie an die Macht kam, welche die Stadt Vijayanagar gründete. Die äußeren Bedingungen waren für eine Stadt nicht eben optimal. Anders als Ankor liegt Hampi in einer schwer zugänglichen, ausgesprochen arriden und heißen Gegend. Die Wasserversorgung der Stadt und der Landwirtschaft, die in ihrer Umgebung betrieben wurde, basiert gänzlich auf dem Fluß Tungabhadra, dessen Wasserstand im Laufe des Jahres erheblichen Schwankungen unterliegt. Daher war ein sorgfältiger Umgang mit dem kostbaren Nass geboten, der große Speicherkapazitäten und ein differenziertes Verteilungssystem erforderte. Die Stadtgründung war dennoch erfolgreich. Tatkräftige Könige dehnten den Herrschaftsbereich des Reiches im Laufe der Zeit über den ganzen Süden des indischen Subkontinentes aus. Selbst Sri Lanka war zeitweilig tributpflichtig. Das Reich war (welt)handelspolitisch bestens positioniert. Mit Hafenstädten an beiden Küsten des Subkontinentes kontrollierte Vijayanagar große Teile des lukrativen Seehandels mit dem fernen Osten und mit den Arabern und schließlich den ersten Europäern im Westen. Dadurch profitierte das Reich von der starken europäischen Nachfrage nach Gütern aus Asien wie Porzellan, Baumwolle, Seide und Gewürzen. Nicht zuletzt daraus resultierte der große Reichtum des Landes, der sich in den Resten seiner Hauptstadt spiegelt.

Das Ende der Stadt, die einmal mehrere hunderttausend Bewohner gehabt haben dürfte, kam anders als im Falle von Ankor plötzlich und früh. Im Jahre 1564, gerade einmal etwas mehr als zwei Jahrhunderte nach ihrer Gründung, vereinigten einige Sultanate, welche die Könige von Vijayanagar bis dato geschickt gegeneinander auszuspielen gewusst hatten, ihre Truppen, um den widerspenstigen und dazu reichen Hindustaat, der ihre permanenten Attacken bis dato erfolgreich abwehren konnte, endlich und endgültig zu beseitigen. In der Entscheidungsschlacht von Talikota wurde Vijayanagar vernichtend geschlagen und sein König getötet. Das Reich konnte sich danach zwar mit einer neuen Hauptstadt, wenn auch wesentlich geschwächt und verkleinert, noch etwa einhundert Jahre halten. Für die Stadt Vijayanagar aber war die Niederlage im wahrsten Sinne des Wortes vernichtend. Sie wurde Monate lang geplündert und offensichtlich systematisch in der Absicht zerstört, sie auf Dauer unbewohnbar zu machen. Die Soldaten der Sultane haben dabei ganze Arbeit geleistet. Sie legten alles nieder, was nicht fest verankert war und hinterließen die Stadt im Wesentlichen in dem ruinösen Zustand, in dem sie sich heute befindet. Insbesondere von der Herrschaftsarchitektur sind nur noch Grundmauern und Podeste von Empfangshallen übrig geblieben. Die Tempel sind, möglicherweise auf Grund ihrer massiven Bauweise, von dem Zerstörungswerk teilweise verschont geblieben, sodass hier noch viele feine Steinmetzarbeiten zu sehen sind, vor allem schöne Exemplare der überreich mit Fabeltieren geschmückten „Hundert-Pfeiler-Hallen“, welche typisch für die südindischen Tempel sind. Allerdings wurden auch hier die Idole und Figuren weitgehend beseitigt oder massakriert. Leben blieb, ähnlich wie in Ankor, im großen Haupttempel erhalten, der bis heute ein Anziehungspunkt für die Gläubigen aus der ganzen Region ist.

Das wahrhaft Besondere an Hampi ist die Art, wie die Stadt in die karge Berglandschaft gebettet wurde. Diese Landschaft ist so außergewöhnlich und stadtfeindlich, dass man meinen könnte, bei den Erbauern dieses Gemeinwesens habe es sich um Exzentriker gehandelt. Die Gegend ist gekennzeichnet durch gänzlich merkwürdige Felsformationen. Allenthalben liegen riesige von Wind und Wetter blank gewaschene Granitbrocken umher – teils als Solitäre, von denen man nicht weiß, wie sie entstanden und an ihren Ort gekommen sein könnten, teils als Bauklötze, die auf abenteuerliche Weise wie von Gigantenhand aufeinander gestapelt sind. Dazu ist die Stadt durch hohe Berge aus gewürfeltem Granit zerteilt. Die Architektur hat sich mit dieser seltsam gestylten Natur in einer Weise verbunden, die nicht weniger surreal ist als die Symbiose, welche die Vegetation mit der Baukunst in Ankor eingegangen ist. Die Stadt und ihre Baulichkeiten sind in das steinerne Gewirr und das extreme Landschaftsrelief geradezu hineingeflochten. So sind zierliche durchsichtige Pfeilerkonstruktionen in aphoristischer Zuspitzung an einen massiven Felsenball gelehnt, ganze Felsplateaus mit Pfeilerhallen überzogen und ausgedehnte Tempelanlagen in enge Täler gezwängt. Viele Artefakte wurden in einem Stück direkt aus dem gewachsenen Fels oder einem großen Findling gehauen – hier ein mehrere Meter großer dickbäuchiger Ganesha, der elefantenköpfige Sohn Shivas, dort ein tonnenschwerer Nandi Bull, Shivas Reittier, und wieder woanders eine sieben Meter hohe monsterartige Erscheinungsform Vishnus, jeweils überdacht von einem Pavillon, dessen steinernes Dach von monolithischen Granitpfeilern gestützt wird. Im Hof des prächtigen Vitthala Tempels hat man, was in Indien einmalig ist, einen der monumentalen Tempelwagen, die normalerweise aus Holz gefertigt und überreich mit Schnitzereien geschmückt sind, mit allem Drum und Dran in Stein gehauen.

Die Wahl der ungewöhnlichen Lokalität verdankt sich einer Mischung von religiösen und strategischen Faktoren. Die Inder neigen von alters dazu, besondere Bildungen der Natur dem Wirken spiritueller Kräfte zuzuschreiben. Deswegen sind ihre Heiligtümer bevorzugt an Stellen platziert, an denen die Natur exzeptionelle Phänomene geschaffen hat. Dies können Hervorbringungen der lebendigen Natur sein, etwa das labyrinthische Gewirr eines großen Banyanbaumkomplexes, oder solche der toten Natur, wie bestimmte Formen des Wassers – oder eben besondere Felsformationen. Vor allem Felswände haben die indische religiöse Phantasie angeregt, weswegen man in dieselben gerne Höhlentempel gemeißelt hat – nicht sonderlich weit von Hampi, in Badami, liegt in spektakulärer Landschaft solch’ eine grandiose Anlage. Die außergewöhnliche Landschaft von Hampi nun bot unzählige Möglichkeiten für solche Platzierungen. Und so ist die Gegend übersäht von Tempelchen und Schreinen, die an den unmöglichsten Orten angebracht sind – auf schwer zugänglichen Felsterrassen etwa, abenteuerlichen Bergspitzen oder in engen Felsspalten.

Die wuchernde mythologische Phantasie der Inder hat an diesen Ort auch noch den Beginn des Entführungsdramas gelegt, welches einen wesentlichen Teil des Epos Ramayana ausmacht und insoweit so erstaunlich an die europäische Ilias erinnert. Sita, die Ehegattin des Helden Rama, soll sich hier in einer Höhle, die als der Sitz des Affenkönigs Surgiva gilt, aufgehalten haben, als sie von dem zehnköpfigen Drachen Ravana nach Sri Lanka entführt wurde, von wo sie Rama mit Hilfe des Affengenerals Hanuman und seiner tierischen Soldaten, die eine Brücke aus schwimmenden Steinen zu der Insel bauten, nach heroischem Kampf wieder zurückgeholt hat. In einer Felsenhöhle wird eine Gesteinsformation gezeigt, die man als einen Abdruck des Saris imaginiert, den Sita bei der Entführungsaktion verloren habe. Figuren und Szenen aus dieser melodramatischen Geschichte sind denn auch in Hampi überall in Stein gemeißelt zu finden. Der Ort ist im Übrigen noch heute ein Reich der Affen. Eine freundliche Makakenart, die keine Scheu vor Menschen hat, turnt auf putzige Weise überall in den Ruinen und in den Siedlungen der Menschen herum.

Die Erbauer der Stadt wussten aber auch die strategischen Möglichkeiten der ungewöhnlichen Landschaftsbildung von Hampi zu schätzen. Das zerklüftete und schwer zugängliche Terrain erschwerte einem Gegner den Angriff auf die Stadt. Die schroffen Felsformationen baute man in das komplexe System der penibel gefugten zyklopischer Mauern ein, mit welchen man die Stadt auf einer Seite abriegelte, während die andere Seite vom Fluss Tungabhadra geschützt wurde, der im Übrigen ebenfalls heilig ist.

Vom Leben in Vijayanagar weiß man, ähnlich wie in Falle von Ankor, vor allen aus den Berichten von Reisenden und Geschäftsleuten, die aus China, Arabien und gegen Ende auch aus Europa kamen. Sie zeichnen das Bild einer außerordentlich geschäftigen Handelsstadt, deren Basare von Menschen und Ochsenkarren verstopft waren. Fasziniert war man nicht zuletzt von der Größe des Ortes. Ein portugiesischer Pferdehändler berichtete, er habe die Metropole, die mindestens so groß wie Rom sei, selbst von einem hohen Berg aus nicht überblicken können. In den Niederungen, so vermerkte er außerdem, seien überall wohl bestellte Felder und Obsthaine zu sehen.

Der Portugiese hielt sich nicht ohne guten Grund in Vijayanagar auf. Pferde waren einer der wichtigsten Importartikel des Reiches, dessen militärische Stärke weitgehend auf seiner Reiterei beruhte. Man bezog sie in großen Mengen vor allem von Arabien, das die Geheimnisse der Pferdezucht angelegentlich für sich behielt. Das Geschäftsfeld war äußerst lukrativ, denn ein Großteil der Tiere wurde in Indien alsbald ein Opfer der ungewohnten Lebensbedingungen, weswegen dieselben ständig durch neue Lieferungen ersetzt werden mussten. Vijayanagar konnte sich einen derartigen Verschleiß offenbar leisten. Über seinen Reichtum wird Märchenhaftes erzählt, vor allem dass es dort große Mengen an Gold und edlen Steinen gebe, mit denen man Handel treibe. Man zeigt heute eine prachtvoll behauene steinerne Konstruktion, die als Waage des Königs bezeichnet wird, an welcher der Herrscher an Festtagen in Gold und Edelsteinen aufgewogen worden sein soll, mit denen dann öffentliche und soziale Projekte finanziert wurden. Welche Dimensionen insoweit kursierten, kann man der Überlieferung entnehmen, wonach der Bruder des letzten Königs die Stadt nach der Schlacht von Talikota mit Schätzen verlassen habe, die auf dem Rücken von 1500 Elefanten abtransportiert worden seien. Diese Geschichte dürfte zwar „ein wenig“ von der Megalomanie geprägt sein, zu denen indische Berichte über historische Ereignisse tendieren. Als eine Hauptsehenswürdigkeit Hampis werden nämlich – im Übrigen sehr gut erhaltene – Elefantenställe gezeigt, in denen allenfalls ein paar Dutzend dieser Tiere Platz gehabt haben. Die Erzählung macht jedoch deutlich, in welchem Ruf die Stadt stand und dürfte den Drang der goldgierigen Europäer nach dem Wunderland Indien beflügelt haben. Diese haben denn auch bald die politische Instabilität, die nach dem Fall von Vijayanagar entstanden war, genutzt und haben das Erbe des zerschlagenen Reiches angetreten.

In welchem Umfang in Vijayanagar Handel getrieben worden sein muss, zeigen die großen Basare, welche nach Art von Prachtstrassen auf die vier Haupttempelanlagen zulaufen. Auf diesen bis zu einem Kilometer langen sehr breiten Alleen, welche von laubenartigen Bauten aus aberhunderten von monolithischen Granitpfeilern und Deckenplatten gesäumt sind, fand im merkwürdiger Koexistenz mit dem Tempel der rege Handel statt, von dem in den Reiseberichten die Rede ist. Die Granitteile, die, schnurgerade ausgerichtet, noch weitgehend aufrecht stehen, erinnern an die Säulenstrassen, die man aus Städten der europäischen Antike kennt.

Monolithische Granitteile aus den Felsen zu schlagen und zu bearbeiten, muss eine Hauptbeschäftigung der Bewohner von Vijayanagar gewesen sein. Anders als in Ankor, wo man den Sandstein über vierzig Kilometer erst herantransportierten musste, war das Material im Überfluss vor Ort. Aufrecht, in prekärer Schräglage oder am Boden liegend sind die Bauteile heute in eigentümlich pittoresker Weise über das ganze ehemalige Stadtgebiet verstreut, weswegen man im Zusammenhang mit Hampi auch von „Poesie in Granit“ spricht. Es ist eine Poesie, deren Sprache von roher Zweckmäßigkeit bis zu feinster Elaboriertheit reicht. Zusammen mit der wilden und kargen Landschaft trägt sie zu jenem Gefühl der Weltentrückung bei, das den Besucher dieser Ruinenstadt unweigerlich ergreift.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Madras 1970 – Rechte Strassenseite

Sie wollen die Wahrheit und nichts als die Wahrheit? Bitte!

Objekt: ein Stück Hauptstrasse, 600 Meter lang, rechte Straßenseite, Bürgersteig, gepflastert, drei Meter breit.

Ort und Zeit: Madras 1970, vom Law College in Richtung Hafen.

Vor die Klammer kommt noch: Entlang des gesamtem Straßenstücks Bushaltestellen, Endstationen, 20, 30 Busse ruhen, kommen, gehen, alle rot, ohne Glasscheiben an den Seiten, eine Reihe Unterstände für die Wartenden.

Im Einzelnen:

Vor dem Law College, weiße Hemden, gut gebügelt, teils promenierend, teils zusammengeschart, einer, auf einem Sims stehend, spricht heftig auf eine Gruppe hinunter, schlägt rhythmisch mit dem Arm, Prostest der Offiziellen dagegen, dass eine private Studentengruppierung in irgendeiner Sache Abgesandte zum Justizminister geschickt hat, Kompetenzfragen, ein Lieblingsspiel hierzulande, Massengebrüll, Solo, Chor, Vorbeten, Nachbeten.

Rechts neben dem Tor ein Hinduheiligtum, gelb orange gesteift, schmal, hoch, Satteldach, wie das Wachhäuschen einer Schildwache, kleiner Tempelmast, an dem eine Sammelbüchse hängt, drinnen ein Phallus, Sivas Symbol, reichlich abgenutzt, ein kleiner Nandi, Sivas Stier, Gitter davor, mit Vorhängeschloss verriegelt.

Links neben dem Collegetor, Person tritt auf die Wartenden zu, streckt einen weit vorspringenden Oberkiefer entgegen, alles Nase, verschwindend darunter so etwas wie ein Mund mit ein paar ungeordneten Zähnen, Schneidezähne des Unterkiefers stoßen auf die oberen Backen- und Weisheitszähne, hält die Hand auf, stößt unartikulierte Laute aus, der Blick der Wartenden geht zum Boden, handballgroße Fußgelenke dort, eines mit schmutzigen Binden umwickelt, die wenigsten können nichts geben.

Fünf Meter ausgewaschener Sari auf einem Geländer ausgebreitet, zum Trocknen.

Alte Frau am Boden, vielfaltige Haut, fast Schuppen, schlaffe Brust, hängt an der Seite aus dem Sari, nur noch Haut, verkauft frische Blumen, flicht gelbe, blaue, rote und weißen duftenden Jasmin zusammen, wartende Frauen kaufen die Gebinde, abends tragen sie sie in den Haaren oder opfern sie den Göttern.

Schuhmacher am Boden (das gehört noch vor die Klammer: fast alle Aktivitäten spielen sich am Boden ab): ein kleiner Holzkasten, fünf Bürsten, verschiedenfarbig, hängen am Rand, drinnen Ledermesser, Ale, Fäden, Schuhteile und weitere Utensilien.

Wahrsager, am Boden versteht sich, Typ Handleser, wissenschaftliches Gehabe, hinter ihm ein großes Plakat, Riesenhand mit allerhand Funktionslinien, vor ihm ein mächtiges Vergrößerungsglas und dicke Bücher, in denen er bei schwierigen Fragen nachschlägt.

Stand für Mottenkugeln, junge Frau.

Baum, dahinter drei Backsteine im Carré, Feuerreste qualmen, Gefäße, Töpfe.

Große flache Steinplatte, Steinrolle, an beiden Seiten konisch verjüngt, Frau walzt damit auf der Platte Reis zu Brei, vor – zurück, vor – zurück.

Drei Männer und eine Frau auf dem Boden schlafend, eingehüllt in schmutzige Tücher, darauf hundert Fliegen.

Mann im Yogasitz, Turban auf dem Kopf, Gesicht zum Himmel gestreckt, Augen geschlossen, murmelt immer wieder die gleiche Formel, hält eine Pappschachtel nach vorne, eine kleine Braune, zerzaustes langes Haar, nackter Oberkörper, bunter Maxirock auf dem Hüften, spuckt in der Karton, was der nicht sieht, weil er seine Augen geschlossen hat, sie lacht schelmisch über ein bildhübsches Gesicht mit großen Augen – Liane aus der Vorstadt.

Tongefäße am Boden und auf dem Mauersims, große kugelige für die Großfamilie, einfache Ornamente rundherum, Bandkeramik, ein paar Messinggefäße, vier Frauen, dazwischen Kleinkinder, schälen, schneiden, walzen, füllen die Tonkugeln mit allerlei Pflanzengeschnitt, setzen sie auf einem Dreifuß, Feuer darunter, Windschutz drum, da schmort es dann.

Siebenjähriger mit langer Stola voller Sicherheitsnadeln, andere mit Blechbüchsen voller Süßigkeiten, versuchen sie an die Wartenden loszuschlagen.

Erdnusswagen Nr. 1 (vor die Klammer aller Erdnusswagen: vier Fahrradräder, hartgummibereift, Brett darüber, darauf zwei große Haufen, ungebackene Erdnüsse der eine, ungebackene Cashewnüsse der andere, je ein kleiner Haufen gebackene Nüsse, abgepackte Nüsse in Zeitungstütchen, mit Chili, Petroleumlampe, Petroleumkocher, Windschutz darum, Blechschale darauf, darin Sand und Nüsse, Verkäufer scharrt mit Eisenlöffel hindurch, eine Balkenwaage, Verkäufer steht da wie die Gerechtigkeit und wiegt die Nüsse.)

Zwei räudige Enten halten Mittagsruhe, Köpfchen in die Federn, Schwänzchen zerzaust, beide.

Mutti, ein Kleinkind auf der Hüfte, eins auf der Schulter, braune Hintern.

Gefäße auf dem Sims, Frauen beim Kochen, exzessiver Nasenschmuck, auf beiden Nasenflügeln funkelts vielkristallig, Armreife, Beinreife, nur keine Nasenreife, eine jagt einen Hund davon, der mitessen will, der trollt sich.

Reiswalkende Frau.

Raben hüpfen zwischen den Köchinnen und klauen was abfällt.

Schlafende Babys, mit Tüchern zugedeckt, ein unbedecktes, viele Fliegen drauf.

150 Meter sind zurückgelegt.

Von hinten berührt jemand die Schulter, völlig zerfressenes Gesicht, Sir! Sir!, ein paar scheckige Armstümpfe gehen hoch, die Frau dringt, Sir! Sir!

Am Boden schlafen Frauen, bis über den Kopf zugedeckt, ein halbes Bein schaut heraus.

Dazwischen an der Wand ein alter Mann, ein paar Fetzen am Oberkörper, sonst nackt, die Beine angezogen, von Fliegen übersäht, den Stuhl hält er nicht mehr, ein Schwarm Fliegen zwischen den Beinen um den Kot.

Bitte, bitte, das ist sie, die Wahrheit.

Gefäße, junger Hund im Schoß einer Frau, Dreifuß, Körbe.

Erdnusswagen Nr. 2 – nichts weiter in der Klammer

Fahrkartenhäuschen mit Verkäufer

Wägelchen, groß genug für ein Kleinkind, liegt ein ausgemergelter Erwachsener drin, Blechnapf davor.

Kinder spielen, eine vierjährige, halbnackt, arrangiert sechs säuberlich mit Sand gefüllte Kronkorken auf einem Bananenpalmblatt, in jedem steckt ein abgebranntes Streichholz, dazwischen halbverwelkte Jasminblüten, trägt alles vorsichtig davon und serviert’s mit Grazie den Spielgenossen, die im Kreis sitzen, lauter kleine, staubige Schokoladenkinder, die nehmen die Gabe artig, jeder eine, ruhig, erzogen, keiner fällt aus der Rolle, Cocktail im Straßengraben.

Zwei junge Mütter, die ein säugt ihr Kind, das andere liegt am Boden, riesiger Wasserkopf, kann den Kopf aus eigener Kraft nicht heben, die Mütter vielleicht fünfzehn Jahre alt, glatte Kindergesichter.

Mann mit verkümmerten Beinen sitzt auf Holzbrett, darunter vier kleine Räder, ein Bus kommt, der Mann stößt sich mit zwei Holzklötzen vom Boden ab, rollt mit rasselnder Geschwindigkeit zum Bus, schneller als die kleinen Süßigkeitenverkäufer laufen können.

An der Wand ist einer aufgebahrt, von einem Tuch bedeckt bis auf das Gesicht, Münzen auf den Augen, brauner getrockneter Schaum im halboffenen Mund, Passanten werfen Münzen auf das Tuch, man sammelt für seine Bestattung.

Blumenflechterinnen, fünf Frauen, flechten lange Blumenzöpfe, Blüten liegen herum, riecht gut, dazwischen schlafen welche, in schmutzigen Tüchern.

Zwei Plakate an der Wand, wissenschaftliche Aufgliederung der Handfläche und ihrer Linien, daneben Empfehlungen ehemaliger Kunden, ein Berg von Dankesbriefen in Zellophanhüllen, Bilder des Handlesers, Typ freundlicher Onkel, mit Politkern und Filmstars.

Buchstabenverkaufstand, lateinische Plastikkteile, weiße, bunte, verschiedene Größen, alles durcheinander, ein Probeschild ist zusammengestellt „Do not spit here“.

Braunrote Zuckerrohrstangen werden durch zwei Walzen geschoben, der ausgepresste Saft verkauft.

Drei Quadratmeter Bücher ausgebreitet, alles gebraucht, Magazine, Sachhefte „Wie lerne ich mich auszudrücken“, Institutiones Imperatoris Justiniani, Ramayana, Grimms Märchen und Gay Stories.

Erdnusswagen Nr. 3

Wahrsager, Typ Kartenleser, Version A, ernstes Gesicht, kleiner Käfig mit zwei Abteilen, in jedem ein kleiner Papageienvogel, grün mit rotem Schnabel, Flügel und Schwanz gestutzt, der Kunde wählt ein Tier, dieses, das Schicksal, schwankt aus dem Käfig zu einem Stoß von Karten, packt einige mit dem Schnabel, wirf sie beiseite, nimmt schließlich eine und trägt sie zum Meister, der zieht sie aus dem Etui, liest sie betonungslos vor, ohne Pause, wie eine Litanei, kostet umgerechnet 20 Pfennig.

Großes Tor, Eingang zu den Gerichten, Prachtgebäude, Anwälte strömen hindurch, wehende Roben, schwarze Jacken, einer streckt einen mächtigen Bauch heraus, Lederschwarten mit Präzedenzien im Arm, beiderseits Obststände, im Ganzen fünf, Erfrischungen für Gerichtsbesucher, ein buntes Bild, rote Äpfel, gelbe Orangen, grüne Mandarinen, Granatäpfel, einige geöffnet, purpurne Perlen fallen heraus, Anwalt kauft Mandarinen, geschält sagt er, Verkäufer schält, er kaut sie.

Wahrsager für Gerichtsbesucher, Typ Handleser, introvertiert-mystisch, finsterer Blick, dichter Haarwuchs bis tief in die Stirn, schwarze Jacke wie die Anwälte, Bilder auf dem Sims, mit Richtern, mit Anwälten, junger Mann, zahlt eine Rupie, streckt die Hand aus, wird kurz mit dem Vergrößerungsglas betrachtet, schon weiß der Handleser Bescheid, spricht beschwörend, wie abwesend, ohne Pause, vergewissert sich gelegentlich mit dem Vergrößerungsglas, starrt sonst an dem jungen Mann vorbei, dieser ernst, gefasst, bedrückt, blickt unverwandt in die starren Augen des Schicksalsboten, die Hand sinkt langsam, keine Fragen, der junge Mann geht nachdenklich davon, in sich versunken, der nächste nimmt Platz, zahlt demütig eine Rupie.

Erdnusswagen Nr. 4, dahinter ein Achtjähriger, fein gestriegelte Haare, große Tolle.

Einer feilt an Hörnern von Wasserbüffeln, macht daraus Wasservögel, Reiher, Störche, Flamingos, schlank und rank, lange Beine, lange Hälse, hochglanzpolierte Eleganz aus den wohl unelegantesten Viechern, welche Indien zu bieten hat.

Verwachsener Baum, Tempelchen zwischen den Ästen, pastellbunte Götterbilder am Baumstamm, sitzen in Lotosblüten, glückliche Elefanten mit rosa Haut im Hintergrund, vorne ein kleiner Mast, Steinmaus, Phallus, innen ein steinerner Gott, schwarz, gedrungen, üppig, gelbe Blumengirlanden verdecken ihn fast, dahinter staubige Flaschen und Gerümpel des Tempelverwesers.

Größeres Tempelgemäuer, 1.50 Meter hoch, darin verkauft einer Fotos, vor ihm eine ganze Wand davon, Prominente, Götter, Vergötterte, Filmstars, Politiker, Ghandi, Nehru, der ehemalige Chiefminister.

Fahrkartenhäuschen

Lotterieverkaufstand

Frau mit Korb voller Tomaten

Bücherlage – stand kann man nicht sagen, alte Ausgaben der Times, „Edward Kennedy vor der Ermordung“.

Sir! Sir!, mongolides Gesicht, leprazerfressene Hände, runter bis zum Mittelhandknochen.

Halskettenverkäufer, ein ganzer Arm voll Glasperlen- Nuß-, Muschel- Kerneketten.

Junge Kokosnüsse, grün und weich, Kuppe wird mit Buschmesser abgeschlagen, Strohhalm rein, Kokosmilchkocktail.

Erdnusswagen Nr. 5

Wahrsager Typ Kartenleser, Variation von Version A, Käfig mit Papagei und weißer Ratte, Auswahl beim Kunden.

Götterbilder, geflügelter Löwe mit Menschengesicht.

Gesundheitskräuter, eine Reihe gebündelter Kräuter, getrocknet, diverse Gefäße, Marmeladen- und Kaffeegläser, mit Kräutern, Kernen, Heilsäften, großer Topf mit brauner Soße, Verkäufer Typ Sadhu, langes verfilztes Haar, nackter Oberkörper, weißer Lungi, dicke Kreidebalken, für Siva, auf Stirn und Schultern, großartige Gebärden, hantiert bedeutungsschwer mit großen Eisenringen, legt sie so und anders, spricht unablässig, ergreift eine schwere eiserne Ratsche, knattert laut, legt die Ringe wieder anders.

Filmplakate, acht Meter hohe Figur, bunt, Tamilbuchstaben, züchtig umschlungene Paare.

Erdnusswagen Nr. 6
Erdnusswagen Nr. 7

Mauer, dahinter große Bronzestatue, barock, europäische Herrscherfigur im Hermelin, Bulle in der Rechten.

Götterbilder

Wasserpumpe

Baum

Wahrsager, Typ Handleser, Frau mit tiefer trockener Stimme, feinrandige Brille, runde Gläser, graues Haar, flüchtig glatt nach hinten gekämmt, ein paar dicke Bücher, in die sie die Nase tief hineinsteckt.

Verkäufer von Vergrößerungsgläsern, für den Handlesernachwuchs.

Sechsjähriger Junge, nacktes Baby mit laufender Nase auf dem Arm, schläft, Kopf baumelt auf der Schulter des Jungen, der zieht mit Blechnapf von Bus zu Bus.

Ebenso ein zwölfjähriger mit Gipsverband am Unterarm, kann die Augen so weit verdrehen, dass man nur noch das Weiße sieht.

Apothekerwaage, „Prüfen Sie Ihr Gewicht“.

Blumenstand, siebenjähriger Verkäufer.

Wahrsager, Typ Kartenleser, Version B, automatisiert, oben tanzt eine Puppe Hula-Hupp, gelegentlich hupt es laut, wer zehn Paisa in einen Schlitz wirft bekommt eine Karte mit dem Schicksal ausgeworfen, etwa wie eine Bahnsteigkarte, ist getrost schwarz auf weiß nach Hause zu tragen.

Baum, Schumacher auf dem Wurzeln, sein Gerät über den kleinen Hügel verstreut, Lederteile, Messer, Sohlen, fertige, halbfertige Schuhe, Bürsten.

In schmutzige Tücher verhüllte Figur liegt am Boden, lepraverstümmelte Hände und Füße schauen heraus, offene Wunden, geschwollen, bewegen sich rhythmisch wie unwillkürlich, das Tuch zuckt, zwei Jungen ziehen daran, lachen, springt die Figur unter ihrem Tuch hervor, junger Mann mit gut gebautem Körper, jagt die Jungen davon, droht ihnen, legt sich wieder hin, breitet das Tuch über sich und wackelt rhythmisch.

Zweiter Eingang zu den Gerichten, Obststände darum, Handleser, Lotterieverkäufer, das große Glück.

Kartenleser, Version C, Dorftechnologie, zwei Stäbe im Boden, einer quer darüber, daran Papierfetzen aufgereiht mit dem Schicksal, man zieht es für ein paar Paisa.

400 Meter sind zurückgelegt, keine Aussicht auf Neues, wir brechen ab, der Wahrheit wird damit kein Abbruch getan.

Hinter die Klammer was wir ausgelassen haben: alles Flüchtige, nicht Dauernde – die Wartenden, deren bunte Saris, weiße Hemden, saubere Füße, deren Blicke auf die Strasse hinaus, die Aktenmappen der Bankangestellten und Anwaltsgehilfen, alle die, die abfahren.

Ein- und Ausfälle – Wiedergeburtslehre und Ewigkeitsphantasie

In der modernen Gesellschaft verkehrt sich der Sinn der alten Wiedergeburtslehre in sein Gegenteil. Der Gedanke von der Wiedergeburt, der in Südasien beheimatet ist und bis in die europäische Antike wirkte, drückte ursprünglich die schier unendliche Größe des menschlichen Leidens aus. Dem entsprechend richtete sich alles Bestreben darauf, den endlosen Kreislauf der Wiedergeburten verlassen und damit das Leiden beenden zu können. In der modernen Spaßgesellschaft hat die Wiedergeburtslehre hingegen in erster Linie die Funktion, das Leben, das als allzu kurz empfunden wird, zu verlängern, um so weitere Erlebnismöglichkeiten ausschöpfen zu können. Paradoxerweise bedienen jedoch beide Ansätze Ewigkeitsphantasien. So wie Platon aus der Wiedergeburtslehre die Unsterblichkeit der Seele ableitete, versucht der Erlebnishungrige mit ihrer Hilfe die Zumutung des Todes zu reduzieren.

Indische(r) Geist(er)

Die Inder haben die konsequentesten Folgerungen aus der alten philosophischen Schwierigkeit gezogen, Tatsachen und Geistesprodukte auseinander zu halten, die letztlich daraus resultiert, dass wir alle Tatsache nur mittels des Geistes und der ihm vorgeschalteten Sinnesaggregate wahrnehmen können. Sie räumen dem Geist generell die unumschränkte Vorherrschaft über die Tatsachen ein. Dem entsprechend bemühen sie sich in ihrer Mythologie besonders wenig um so etwas wie eine tatsachennahe Wahrscheinlichkeit. Die Folge ist jener freie Umgang mit Zeit und Kausalität, welcher in die außerordentlich windungsreichen indischen Epen und Geschichten so viel Farbe, allerdings für unsereinen auch eine Menge Verwirrung bringt. Tatsächlich sind die eigentlichen Beherrscher des (Welt)Geschehens hier auch die Weisen. In Indien sind dies Menschen, welche ihr Leben ganz dem Geist gewidmet und das Körperliche mittels Askese soweit wie möglich abgetötet haben. Die Weisen, die vornehmlich zurückgezogen im Wald wohnen, haben sowohl die Welt des Geistes als auch die Sphäre der Tatsachen im Griff. Sie können Berge versetzen und Länder überfluten, jede Gestalt annehmen und – bezeichnenderweise – sogar das Schicksal der Götter bestimmen (was einigen Aufschluss darüber gibt, welche Annahmen über die Hierarchie der verschiedenen Wesenheiten und Seinszustände dem indischen Denken zu Grunde liegen).

 

Einige Turbulenzen hatte etwa das Aufeinandertreffen des großen Gottes Dharma mit dem Weisen Mandayva zur Folge, einem Mensch, der mit seiner Fähigkeit, auf geradezu jurisprudenzielle Weise zu differenzieren (was sicher eine der legitimen Tätigkeiten des Geistes ist), nicht zuletzt die Götter zu beeindrucken wusste. Wie das Heldenepos Mahabharata berichtet, war Mandayva, während er meditierend im Wald saß, versehentlich für das Haupt einer Räuberbande gehalten worden. Den bösen Verdacht hatte er dadurch auf sich gelenkt, dass er im Zustand der tiefsten geistigen Versenkung nicht auf Fragen der Polizei reagierte, welche, die kriminellen Tatsachen erforschend, die Räuberbande im Wald verfolgte. Darüber hinaus fand die Polizei nach der fruchtlosen Befragung bei dem Weisen auch noch das Diebesgut. Dies hatten die Räuber auf der Flucht vor den Häschern ohne Wissen Mandayvas in dessen bescheidener Hütte versteckt. All dies ließ den schweigsamen Weisen nicht gerade gut aussehen. Als vermeintlicher Dieb, der sich, was in Indien vorkommt, dazu frech als Weiser getarnt zu haben schien, wurde er im Auftrag des zuständigen Königs von den Ordnungshütern im wahrsten Sinne des Wortes aufgespießt. Die Behandlung, die für jeden normalen Sterblichen tödlich gewesen wäre, konnte dem Weisen allerdings nichts anhaben, da er sich im Zustand der geistigen Versenkung und damit nach indischer Auffassung jenseits des Herrschaftsbereiches der Tatsachen befand. Er blieb daher am Leben. Ob dieses administrativen Missgeschicks geriet der König, als er davon erfuhr, in Angst und Schrecken und eilte in den Wald, um den Weisen vom Spieß zu befreien und ihn untertänigst um Verzeihung zu bitten. Die Verzeihung wurde ihm auch gewährt, da er sich, wie der Weise – rechtlich fein unterscheidend – befand, auf Grund unglücklicher Umstände in einem Irrtum über relevante Tatsachen befand, der für ihn kaum vermeidbar war. Der Weise beschwerte sich über die erlittene Behandlung aber an höherem Ort, nämlich bei dem Gott Dharma, dem er als dem Verteiler der Gerechtigkeit den Vorwurf machte, höheres Wissen gehabt zu haben und daher in der Lage gewesen zu sein, die unsachgemäße Behandlung zu verhindern. Seiner gehobenen Stellung entsprechend präsentierte der Gott eine theologische Erklärung für das missliche Geschehen. Er stellte, Zeiten und Räume überfliegend, fest, die bösen Ereignisse seien die Folge einer Jugendverfehlung Mandayvas – dieser habe als Kind Vögel und Bienen gefoltert. Damit zog er aber erst recht den Zorn des rechtskundigen Weisen auf sich. Denn dieser sah in der Argumentation Dharmas einen Verstoß gegen den Grundsatz, dass Sünden von Kindern nicht so streng wie die von Erwachsenen bestraft werden dürfen. Für diese Ungerechtigkeit degradierte er den Gott zu einem Sterblichen (als welcher er bei diesen unter dem Namen Vidura übrigens keine schlechte Rolle spielen sollte – er brachte es zum Minister und einem der wichtigsten Berater der Pandavas, der einen Partei des schier endlosen dynastischen Streites mit den Kaurawas, welcher der Gegenstand des Mahabharata ist).

 

Die indischen Weisen legten sich, wie nicht nur dieses Beispiel zeigt, überhaupt gerne mit den Großen der Welt und des Himmels an, was darauf hindeutet, dass die außerordentliche Macht, die man in diesem Land dem Geist zuspricht, nicht zuletzt die Funktion eines Werkzeuges der Schwachen gegen die Starken hatte. Tatsächlich wurden die Großen von weniger juristisch differenzierenden Weisen auch dann mit Flüchen und übelsten Strafen überzogen, wenn sie ihnen aus Versehen in die Quere gerieten.

 

In fürchterliche Verwicklungen geriet etwa die Familie eines Großen durch die folgende Begegnung mit einem Mann des Geistes, über die ebenfalls das Mahabharata berichtet (wobei bemerkenswerte Parallelen zu den Erfahrungen zu konstatieren sind, die man in unserem Kulturkreis bei dem Versuch machte, den Geist über die Tatsachen zu erheben).

 

Nach dieser Geschichte hatte der König Pandu das Pech, bei der Jagd ein Reh zu erlegen, in dessen Gestalt ein Weiser gerade im Wald lustwandelte, ohne sich allerdings als solcher zu erkennen zu geben. Aus Wut darüber belegte der Weise, der den Anschlag ebenfalls überlebte, den König unter Außerachtlassung der oben dargestellten Irrtumsproblematik und dazu des Grundsatzes, dass die Schwere der Sanktion nach der Höhe der Schuld zu bemessen ist, mit einem besonders perfiden Fluch des Geistes. Der König, so lautete der Richterspruch, müsse sterben, sobald er die Freuden des Bettes genieße (eine Lösung für den Herrschaftsstreit zwischen Geist und Tatsachen, nämlich den leiblichen, für den man auch in unserem Kulturbereich Parallelen findet). Pandu zog sich daraufhin mit seinen beiden Frauen Kunti und Madri in den Wald zurück und lebte wie ein Weiser, wozu auch die Enthaltsamkeit von den Freuden des Bettes gehörte. Da er sich aber dringend Nachkommenschaft wünschte und aus dynastischen Gründen insbesondere Söhne benötigte, bedienten sich die drei, um dieses Anliegen zu verwirklichen, eines Mittels, bei dem der Geist im Verhältnis zu den Tatsachen eine besonders bemerkenswerte Rolle übernahm (eine Form seiner Tätigkeit, die in unserem Kulturkreis ebenfalls nicht unbekannt ist).

 

Die Lösung des Problems, das man landläufig für rein tatsächlich, nämlich körperlich hält, mit den Mitteln des Geistes gelang wie folgt: Kunti hatte als junges Mädchen von einem Weisen als Dank für Dienste, die sie ihm geleistet hatte, ein göttliches Mantra erhalten, das ist ein tatsachenwirksamer heiliger Spruch, gewissermaßen also ein immaterielles Werkzeug. Mit diesem konnte sie einen ebenso immateriellen Kindeserzeuger evozieren (evozieren, das heißt vor dem geistigen Auge entstehen lassen, mit anderen Worten aus dem Nichts erzeugen, ist eine Lieblingsvokabel der indischen Mythologie). Mit diesem Mantra hatte Kunti bereits in unschuldiger Jugendzeit und ohne ihre Jungfräulichkeit zu verlieren  mit dem Sonnengott einen Jungen namens Karna gezeugt (eine Fähigkeit des Geistes, die bei uns ebenfalls bekannt ist). Kunti konnte das Kind, insoweit gehen die Möglichkeiten des indischen Geistes noch deutlich über die unseres Heiligen Geistes hinaus, sogar ohne Schwangerschaft gebären, weswegen sie gänzlich unschuldig blieb (wenn denn, was nur dem Geist einfallen kann, Kinderkriegen schuldig machen kann). Allerdings konnte sie das Kind wegen ihres jugendlichen Alters nicht behalten. Daher setzte sie es in einem abgedichteten Körbchen auf einem Fluss aus (ein Motiv für den Umgang mit als problematisch empfundenen Tatsachen, das auch in unserem Kulturkreis auftaucht). Dort hatte es der Fahrer eines Streitwagens gefunden und es mit seiner Frau aufgezogen. Karna sollte, ähnlich wie andere mythische Figuren, die in abgedichteten Körbchen ausgesetzt wurden,  später ein großer Held (des Mahabharata) werden.

 

Mit Hilfe dieses Mantras gebaren Kunti und Madri nun fünf Söhne. Es sind dies die Pandavas, die Partei, die, wie gesagt, mit den Kaurawas in einem Streit lag, für dessen Schilderung man rund 100.000 Doppelverse benötigte. Zu letzteren sollte dann ausgerechnet ihr Halbruder Karna stoßen, der in dem epischen Streit schließlich von Arjuna, dem Haupt der Pandavas, im Kampf erschlagen wird, wobei Arjuna allerdings nichts von seiner Verwandtschaft mit Karna wusste (dies wiederum hat vermutlich damit zu tun, dass das Mahabharata Arjuna zwar als tragisch verwickelte aber positive Figur zeichnet – ihm offenbart der Gott Krishna kurz vor der großen Schlacht gegen die Kaurawas die höchste Weisheit in der Bhagavat Gita, die als der vollendetste Ausdruck des indischen Geistes gilt.)

 

Kommen wir aber zurück zu Pandu, den wir vor lauter Nachzeichnung der Verwicklungen, die der Geist erzeugen kann, fast aus den Augen verloren hätten. Nun – Pandu gelang es eine Zeit lang tatsächlich, dem Fluch zu entgehen. An einem schönen Frühlingstag übermannte ihn angesichts der paradiesischen Stimmung des tropischen Waldes aber doch die Versuchung der schönen Tatsachen und er näherte sich Madri, worauf es mit dem Paradies sofort zu Ende war (auch dies kennen wir). Pandu fiel, dem Fluch entsprechend, sofort tot um. Madri wiederum, die sich für dieses Schicksal verantwortlich fühlte (auch dass man allein das Weib für den „Fehltritt“ des Mannes verantwortlich macht, ist uns nicht unbekannt), Madri also sah sich dadurch dazu veranlasst, sich selbst zu verbrennen – woraus man, nimmt man alles zusammen , ersehen kann, welch´ merkwürdige Resultate der Geist insbesondere dann bewirken kann, wenn er sich allzu weit von den Tatsachen entfernt.

 

Eldorado

Von Gold hat der Mensch nie genug bekommen können – zu seinem Glück, das wesentlich größer als sein Verstand war.

Die Entdecker des 15. und 16. Jahrhunderts etwa zogen die Motivation für ihre abenteuerlichen Fahrten weitgehend aus der Hoffnung, neben dem Ursprungsort der Gewürze, die seinerzeit mit Gold aufgewogen wurden, die Gold- und Silberinseln im fernen Osten zu finden. Von solchen Inseln träumte man seit den Eroberungszügen Alexanders des Großen. Mitursächlich für die gewaltigen Energien, die diese Träume mobilisierten, war sicher, dass im Laufe der Zeit die Angaben über die Größe der Schätze immer phantastischer wurden. Aus Inseln mit großen Mengen von Edelmetall, wie es bei Plinius noch hieß, wurden nach und nach Inseln, die – einschließlich hoher Berge – ganz aus Gold und Silber bestehen sollten. Die katalanische Weltkarte aus dem Jahre 1375 wusste sogar, dass im Meer jenseits des indischen Festlandes genau 7548 Inseln liegen, deren „wunderbare Reichtümer an Gold, Silber und kostbaren Steinen“ man nicht alle aufzählen könne.

Kaum dass die Portugiesen den Seeweg nach Indien gefunden und bis nach Hinterindien vorgedrungen waren, schickten sie denn auch Expeditionen auf die Suche nach einer Goldinsel, die – einheimischen Behauptungen zufolge – südlich von Sumatra liegen und deren Strand ganz aus Goldkörnern bestehen sollte. Zwar kehrten die ausgesandten Schiffe alle unverrichteter Dinge oder überhaupt nicht zurück. Dies hatte aber keineswegs zur Folge, dass man an den Goldvorkommen zweifelte. Zur Aufrechterhaltung der Hoffnung reichte ein bloßes Gerücht. In den Hafenstädten des Ostens hieß es, vermutlich weil die Portugiesen es hören wollten, ein Schiff habe die Insel gefunden. Es sei allerdings, nachdem es ganz mit Gold beladen worden sei, auf ein Riff gelaufen und untergegangen. Das hatte, da man die versteckte Ironie dieser (Überladungs)Geschichte nicht sehen wollte oder konnte, zur Folge, dass man die Bemühungen um die Goldinseln verstärkte. Auf den Weltkarten waren sie bis in das 18. Jahrhundert mit dem Vermerk „locus incertus“ notiert.

Auch Kolumbus trat seine Fahrt nach Westen – allen Beteuerungen, vorrangig den christlichen Glauben bei den Heiden verbreiten zu wollen, zum Trotz – in erster Linie wegen des Goldes an. Da er davon ausging, Indien nach Umrunden der Weltkugel auf der Ostseite zu erreichen, dürfte er dabei auch an die Goldinseln gedacht haben, auf die man, wenn man nach Westen fuhr, noch vor dem indischen Festland stoßen musste. Schon einen Tag nach der Ankunft auf einer Insel, die er für einen Teil Indiens hielt, notierte er, nachdem er bei den Einheimischen Goldschmuck gesehen hatte, in seinem Bordbuch, er werde sich nun auf die Suche nach der Quelle des Goldes begeben. Die restlichen drei Monate seines (ersten) Aufenthaltes in „Indien“ waren, wie die Eintragungen in das Bordbuch zeigen, eine einzige Irrfahrt durch die Inselwelt der Karibik in der Hoffnung, die große Goldquelle des Ostens zu finden. Dass man trotz dürftiger Sucherfolge die Hoffnung auch hier nicht aufgab, hatte wieder mit dem Verhalten der Einheimischen zu tun. Die „Indianer“ merkten offenbar, dass die Gier der Ankömmlinge größer als ihr Verstand war. Sie sicherten sich daher mit immer neuen Ortsangaben über den Fundort von Gold Beachtung und die Gunst der ansonsten schwer berechenbaren Besucher.

Später vermuteten die Spanier eine Menge Gold im Nordwesten des südamerikanischen Halbkontinents. Anlass für diese Annahme waren einheimische Berichte über einen Priester-Fürsten, der sich bei einer Zeremonie ganz mit Goldstaub pudern lasse, um diesen verschwenderischerweise in einem See abzuwaschen. Auf der Suche nach diesem Fürsten, den man „El Dorado“ nannte, durchkämmten daraufhin zahlreiche Schatzsucher die Urwälder Südamerikas. Da man die Person nicht fand, wurde aus der konkreten Goldhoffnung im Laufe der Zeit das sagenhafte Goldland Eldorado, nach dem Generationen von Abenteuern – ebenfalls vergeblich – suchten.

Wie bekannt und in den Kirchen Spaniens noch heute zu besichtigen hat man in den Ländern der neuen Welt schließlich doch einiges an Gold und Silber gefunden und nach Europa gebracht. Es war jedoch keinesfalls genug und wesentlich weniger als erhofft. Gerade darin aber bestand das (Schatzsucher)Glück, das wie gesagt, größer als der (ökonomische) Verstand war. Denn hätte man so viel Gold gefunden, wie man sich erträumte, hätte das Edelmetall, ähnlich wie die Gewürze, deren Ursprungsort man auf den Inseln der Molukken finden konnte, allen Wert verloren.

Ein- und Ausfälle (China 18)

Was die Normgeber der großen Kulturkreise von der Normtreue des Menschen halten, kann man aus den Mitteln ersehen, mit denen sie die Befestigung der Norm sicherzustellen und den Einzelnen zu einem normgerechten Verhalten zu bringen versuchten. In unserem Kulturkreis versprachen man dem Normtreuen zu diesem Zwecke ein ewiges Leben in einem überaus herrlichen Himmel. Dem Normverletzer hingegen drohte man eine unglaublich grausame, ebenso ewige Hölle an. In Indien hielt man zur Durchsetzung der Normen ebenfalls extreme Szenarien für notwendig. Man drohte dem Normuntreuen nach dem Tod mit neuer Geburt auf einer niedrigeren Stufe des Lebens und versprach dem Normtreuen den Aufstieg in der Lebenshierarchie. Als höchste Belohnung winkte bei besonderer Anstrengung sogar die Möglichkeit des Ausstiegs auf dem Kreislauf der Wiedergeburten. Die Chinesen waren bei der Wahl der Mittel zur Befestigung der Normen dagegen auffallend mäßig. Sie stilisierten ihre Normgeber zu Heroen, um sie zu Vorbildern zu machen, begnügten sich also im Wesentlichen mit Geschichtsfälschungen. Die interessante Frage ist, was bei der Wahl des Mittels der Normbefestigung Ursache und was Wirkung ist. Haben der Westen (einschließlich des Nahen Ostens) und die Inder so dick auftragen müssen, weil die Menschen besonders schwer in den (sozialen) Griff zu bekommen waren, oder waren die Menschen hier so schwer zu lenken, weil sie diese Art der Normbegründung und -bestärkung nicht recht überzeugte? Es fällt jedenfalls auf,  dass man in China trotz der Mäßigung bei der Normbefestigung eine Menge gesellschaftlicher Fehlentwicklungen ausgelassen hat, welche bei uns auch die drastischsten Versprechungen und Strafen nicht verhindert haben.

Der indische Coup

Die Kosmologen suchen die Weltformel, die Ökologen die Umweltformel. Gibt es, so fragen letztere, eine ganzheitliche Lösung für Abfallbeseitigung, Verkehrsberuhigung und Tierschutz, mit der zugleich Nahrungsmittel, Energie und Dünger erzeugt und Güter immissionsfrei und ressourcenschonend transportiert werden können, ein System, das dazu möglichst keiner Investitionen und keiner Wartung bedarf, einen Beitrag zum friedlichen Zusammenleben der Geschöpfe Gottes leistet und zum nationalen Identifikationsobjekt taugt? Auf der Suche nach einer solchen einheitlichen Formel haben sich in den Industrieländern viele der Besten den Kopf zerbrochen und sich in endlosen Flügelkämpfen verschlissen. Unbeachtet blieb dabei, dass es längst eine naturnahe und wunderbar weiche Lösung all dieser Probleme gibt.

Indien kennt von alters her ein System, das die genannten Leistungen gewissermaßen auf einen Schlag erbringt. In diesem Land ist der Mülleimer mit den aufwendigen Folgelasten Müllabfuhr, Mülllagerung und Müllverbrennung wenig bekannt. Essensreste, gebrauchte Zeitungen und Kartons wirft man kurzerhand mitten auf die Straße, wo sie das System alsbald beseitigt. Gleichzeitig bewirkt das System eine flächendeckende Geschwindigkeitsbeschränkung des Straßenverkehrs auf 20 bis 30 km/h in Siedlungsgebieten und 50 bis 70 km/h auf Landstraßen, und dies ohne dass es hierfür Radargeräte, Laserpistolen oder ähnlich unerfreulicher Mittel bedarf. Die Freiheitsbeschränkung, die damit verbunden ist, wird von der Bevölkerung klaglos akzeptiert. Sie wird nicht einmal von der Automobilindustrie bekämpft oder unterlaufen. Das System hinterlässt darüber hinaus verschiedene Wertstoffe. Es liefert nicht nur Koch- und Heizenergie, sondern auch Dünger und ein Getränk, aus dem allerhand Nahrungsmittel hergestellt werden können – all das, wie gesagt, in einem Coup.  

Bei dem System handelt es sich um nichts anderes als die gemeine indische Straßenkuh. Die Kuh einschließlich ihres maskulinen Gegenstückes sorgt dafür, dass sich auf den Straßen indischer Städte kaum verrottbare Abfälle und Papier finden. Was die Inder wegwerfen, verschwindet, aufgesammelt von langen rauhen Zungen, alsbald im unersättlichen Schlund weißer, brauner und schwarzer Wiederkäuer. Auch die wenigen Mülleimer, die das Land kennt, werden von der Kuh durchsucht. Nur mit Mühe kann man sie davon abhalten, in Wohn- und Geschäftshäuser einzudringen, um auch noch dort nach Abfällen zu suchen oder nach dem, was sie dafür hält. Die Kuh ist ein ubiquitärer lebendiger Mülleimer, der sich dort befindet, wo der Abfall anfällt, ein System also, welches das Müllproblem auf natürliche Weise und gewissermaßen an der Basis löst.

Eine unverzichtbare Rolle spielt die Kuh auch bei der Steuerung des indischen Straßenverkehrs. Als Straßenbewohner ist sie in einer Zeit, in der auch in Indien der Verkehr ausufert, der Anwalt der natürlichen Vernunft. In Sachen Geschwindigkeit geht sie mit gutem Beispiel voran. Selbst im dichtesten Verkehrsgetümmel hat man sie niemals in Hektik fallen sehen. Unnatürliche Raserei anderer Verkehrsteilnehmer verhindert sie, indem sie sich auf der Fahrbahn niederlässt, um in aller Ruhe wiederzukäuen oder zu schlafen. Sehr wirksam ist auch das unerwartete – besser gesagt das jederzeit zu befürchtende – Überqueren der Straße einschließlich des plötzlichen Innehaltens darauf, etwa um eine Bananenschale aufzulesen (Wasserbüffel bleiben auch ohne Grund längere Zeit mitten auf der Straße stehen). Die verkehrsberuhigende Funktion der Kuh ist eine Folge der Achtung, die man ihr in Indien als Geschöpf Gottes entgegenbringt. Wem es an dieser Achtung mangelt, dem nötigen allerdings spätestens ihre kantigen Knochen Respekt ab (auch hier ist der Wasserbüffel – vor allem für die Karosserien leichterer Fahrzeuge – besonders beeindruckend). Kuhfänger vor einen Autokühler sind in Indien übrigens nicht üblich, im Gegensatz zu unseren Landen, wo es dafür keine Kühe auf den Straßen gibt. 

Des weiteren erzeugt die indische Straßenkuh, wenn auch in eher bescheidenem Maße, Milch, deren Derivate Bestandteil vieler indischer Gerichte sind. Was die Kuh ansonsten als Restmüll von sich gibt, wird zum Düngen von Feldern oder – nachdem man es an den Hauswänden getrocknet hat – auch als Brennstoff verwendet. Da somit die Produkte, die sie abgibt, höherwertiger sind, als die, welche sie aufnimmt, ist die Kuh ein Musterbeispiel für Recycling. Schließlich ist der Paarhufer auch noch ein Transportsystem, und zwar eines, welches keine – jedenfalls keine nennenswerten – gasförmigen Immissionen erzeugt, keine nicht erneuerbaren Ressourcen verbraucht und sich dem Beschleunigungszwang entzieht, dem die fortgeschrittenen Gesellschaften einen Großteil ihrer Geisteskraft und Energie opfern. In Indien werden viele Güter, aber auch Menschen, auf Ochsenkarren transportiert, was der Seelenruhe der Beteiligten außerordentlich förderlich ist.  

Die Kuh hat aber in Indien keineswegs nur vordergründig praktische Bedeutung. Sie gilt als heilig und ist die Mutter der Nation. Damit wird die Gattung Rind(vieh) nicht nur wesentlich höher eingeschätzt, als dies bei uns der Fall ist (was unter anderem verhindert, dass ihre Vertreter in der Bratpfanne enden); es wird auch die übertriebene Vorstellung des Menschen von sich selbst relativiert. Wahrscheinlich hat die Friedfertigkeit und der unerschütterliche Gleichmut, welche die Kuh inmitten des täglichen Kampfes unendlich vieler Bewerber um Lebenschancen nie verlassen, einen Anteil an jener Gelassenheit und Toleranz der Bewohner Indiens gegenüber den Problemen der Welt, die man in unseren – angeblich gemäßigten – Breiten gelegentlich vermisst. So gesehen kann man die Kuh nicht nur als Umweltformel, sondern auch als Weltformel begreifen. Einen Nachteil freilich hat das indische System: man tritt gelegentlich in einen frischen Kuhfladen. Aber auch dies ist eine naturnahe und außerordentlich weiche Lösung.   

Politischer Kopf – zum 200. Geburtstag des englischen Politikers und Schriftstellers Thomas Babington Macaulay

 

Geist und Macht sind, wiewohl aufeinander angewiesen, schwierige Genossen. Der Geist tendiert zum Reinen und läuft damit Gefahr, sich der Politik zu entfremden, zur der auch „unreine“ Verfahren, etwa der Kompromiss und die schnelle Aktion gehören. Vor allem in Deutschland wurde die Kohabitation von Geist und Macht häufig als Problem empfunden. Die deutschen Dichter und Denker haben die Niederungen der Politik gerne aus der Klause (und nicht selten der Perspektive des Weltschmerzes) oder aus der Studier- bzw. Redaktionsstube kommentiert. Dass Größen des Geistes politische oder herausragende administrative Ämter übernahmen, war und ist die Ausnahme von einer Regel, die sich durch eine bemerkenswerte Festigkeit auszeichnet. Umgekehrt haben Personen des öffentlichen Lebens selten ernsthafte literarische oder künstlerische Ambitionen an den Tag gelegt. Schöpferische Tätigkeit wird hierzulande bei gesellschaftlichen Praktikern nicht sonderlich geschätzt. Einige missglückte politische Engagements von Künstlern und Literaten in den Zeiten, in denen der Geist der Politik zur platten Ideologie degeneriert war, haben ein übriges getan, das Verhältnis zwischen den Genossen zu komplizieren.

 

Ganz anders sieht dies bei unseren Nachbarn aus. In England etwa spannt sich von den Renaissance-Politikern Thomas Moore und Francis Bacon, deren Werke zu den Klassikern der europäischen Geistesgeschichte zählen, ein höchst eindrucksvoller polit-intellektueller Bogen bis hin zu Winston Churchill, der den Nobelpreis für Literatur erhielt. In den biographischen Nachschlagewerken beginnen hier unzählige Artikel über Personen des öffentlichen Lebens mit dem Vermerk: „Englischer Politiker und Schriftsteller“ und umgekehrt. Literarische Meriten waren auf den britischen Inseln traditionell ein wichtiges Tor zur politischen Karriere. Und wer den Einstieg in die Politik nicht mit dem Schreiben von Romanen, wie Disraeli und Bulwer-Lytton, von Versepen, wie Byron, oder von Essays, wie Addison, Steele und Burke, verband, der lieferte, wie Fox und Gladstone, möglichst ein Geschichtswerk nach. Noch heute ist es in der Nachfolge dieser Tradition in den Vereinigten Staaten üblich, dass ehemalige Präsidenten dem Geist, auch wenn sie sich ihm in ihrer aktiven Zeit nur mäßig verpflichtet fühlten, durch die Stiftung einer Bibliothek Reverenz erweisen. Wie weit der deutsche Kulturraum von einem solchen Geist entfernt ist, zeigt nichts deutlicher als die Tatsache, dass sogar bloß politisch-mäzenatische Taten dieser Art außerhalb unseres Erwartungshorizontes liegen.

 

Ein Musterbeispiel eines englischen literarisch-politischen Lebens aber auch für die Problematik des Spagates zwischen Amt und literarischen Würden ist Thomas Babington Macaulay. In den 30- und 40er Jahren des 19. Jahrhunderts war Macaulay, der hierzulande wenig bekannt ist, einer der brilliantesten Redner des britischen Unterhauses und zugleich einer der profiliertesten Schriftsteller seiner Zeit. Berühmt wurde er durch seine Essays, in denen er sich – nach allen Seiten kräftig Zensuren verteilend – außerordentlich mitreißend und luzide mit einem weiten Spektrum literarischer und politischer Themen befasste. Sein Hauptwerk, eine „Geschichte Englands“, war im englisch-sprachigen Raum einer der größten buchhändlerischen Erfolge des ganzen Jahrhunderts. Auch lange nach seinem Tod im Jahre 1859 gehörten seine Schriften noch zum Kernbestand der Hausbibliotheken des aufgeklärten englischen Bürgertums. Selbst in Australien, wo sich die Kolonialpioniere seinerzeit noch durch den Busch kämpften, waren seine Werke überall zu finden. Ein Reisender des 19. Jahrhunderts berichtete, er habe bei allen Siedlern drei Bücher gefunden: die Bibel, Shakespeare und Macaulays Essays. Noch heute gehören seine Werke, nicht zuletzt wegen eines Englisch, das nicht lebhafter, farbiger und treffender sein könnte, zum anregendsten und spannendsten, was man über die Sicht Englands von der Welt zu einer Zeit lesen kann, in der das Land dem Höhepunkt seiner Entwicklung als Weltmacht zustrebte.

 

Macaulay wurde im ersten Jahr des Jahrhunderts geboren, das man als das „englische“ bezeichnen kann und dessen perfekter Repräsentant er ist. Von Haus aus war ihm weder eine politische noch eine literarische Karriere vorgezeichnet. Er  wuchs in Clapham, einen Vorort Londons in kleinen Verhältníssen auf.  Das  streng evangelikale Elternhaus, in dem es chronisch an Geld mangelte, verfügte  über keine besonderen Verbindungen zum englischen Establishment. Der Vater, dem man für sein philanthropisches Engagement ein Denkmal in Westminster Abbey setzte, redigierte zwar eine religiöse Zeitschrift, die sich vor allem dem Kampf gegen die Sklaverei widmete. Sonst wollte er aber mit Politik und Literatur nicht viel zu tun haben. Die Beschäftigung mit weltlicher Literatur war für ihn fast schon Sünde. Als Internatsschüler musste sich der junge Macaulay gegenüber dem Vater immer wieder gegen den – nicht unberechtigten – Vorwurf verteidigen, ein „Romanleser“ zu sein oder sich zu politischen Fragen geäußert zu haben.

 

Macaulay war so etwas wie ein verbales Wunderkind. Ausgestattet mit einem außerordentlichen Gedächtnis, das ihm sein Leben lang gestattete, jederzeit auf den riesigen Fundus seiner Lektüre in allen wichtigen Sprachen Europas zurückzugreifen, hatte er die Formen und Inhalte der europäischen literarischen Tradition schon als Kind so weit aufgenommen, dass er sich ihrer in stupender Weise zum Zwecke des Ausdrucks eigener Gedanken bedienen konnte. Im Alter von acht Jahren schrieb er ein Epos in Blankversen im Stile Walter Scotts und ein Kompendium der Weltgeschichte. Die Briefe, die der Junge aus dem Internat an seine Eltern schrieb, zeigen eine Gewandtheit und Souveränität im Umgang mit der Sprache, die dem heutigen Leser – insbesondere wenn er die Ausdrucksfähigkeit der Bildschirmjugend unserer Zeit dagegen hält – schlicht die Worte verschlägt.

 

Seine außerordentlichen Fähigkeiten brachten Macaulay einen Platz im berühmten Trinity College in Cambridge ein, wo er unter den Büsten Bacons und Newtons mit großem Erfolg studierte und preisgekrönte Gedichte, Dialoge und kleinere Essays verfasste. Soeben dem College entwachsen, trat er schließlich im Jahre 1825 mit einem Paukenschlag auf die große publizistische Bühne. Die angesehene „Edinburgh Review“, das Sprachrohr der liberalen Partei der Whigs, veröffentlichte von ihm einen mit unerhörter Verve geschriebenen umfangreichen Artikel über den englischen „Dichter und Politiker“ John Milton, den Verfasser des „Verlorenen Paradieses“. Darin trat der 25-jährige Autor mit einer so erstaunlichen Weite des Blickwinkels und einer solchen Entschiedenheit des Urteils über künstlerische und politische Fragen hervor, dass ihm die literarisch-politische Öffentlichkeit sofort zu Füßen lag.

 

Macaulays Erstling enthält weitgehend das Programm seines ganzen Lebenswerkes. Wie alle fast 40 Essays, die er in den nächsten 20 Jahren für die „Edinburgh Review“ schrieb, hatte der Milton-Aufsatz die Form einer Buchkritik, ohne sich viel um das Buch zu bekümmern, um das es ging. Viele der besprochenen Werke – Biographien, Werkausgaben und politische Traktate – waren nicht besonders bedeutend und nicht wenige sind überhaupt erst durch Macaulays Lob oder seinen Verriss „groß“ geworden. Im Grunde waren sie für ihn nur der Anlass, auf der Basis verblüffender Detailkenntnisse über die jeweilige Person oder das in Frage stehende Thema weit ausgreifende eigene Gedanken zu ästhetischen, ethischen und historischen Problemen darzulegen und kulturhistorische Vergleiche zu ziehen. Macaulay interessierten dabei vor allem Figuren, die, wie er selbst, zwischen Schreiben und politischer Praxis changierten. Schon im Falle Miltons wandte er sich, nachdem er dessen dichterisches Werk sachkundig abgehandelt hatte (wobei er nebenbei seine persönliche Poetologie darlegte), weit ausschweifend den politischen Verhältnissen im England der zweiten Hälfte des 17. Jahrhundert zu, als unter Beteiligung des Dichters als Pamphletisten der politische Liberalismus aufkeimte.

 

Diese Epoche sollte Macaulay sein Leben lang beschäftigen. Immer wieder kreisten seine Gedanken und Erörterungen um die Zeit der „Großen Rebellion“ von 1649 und der „Glorreichen Revolution“ von 1688, in der mit der „Habeas Corpus- Akte“ und der „Bill of Rights“ die Rechte der Krone eingeschränkt und damit die Grundlagen des englischen parlamentarischen Systems und der Menschenrechte gelegt wurden. Hier lagen für ihn die Wurzeln zum Verständnis der spezifisch englischen Zivilisation, deren wesentliches Kennzeichen er in einer prinzipiellen Reformierbarkeit des politischen Systems und der daraus resultierenden relativen Mäßigung der politischen Leidenschaften sah. Die Revolution von 1688, so schrieb er einmal im Hinblick auf die Reihe der Revolutionen, welche den Kontinent in der Zeit von 1789 bis 1848 erschütterten, sei die gewaltloseste und segensreichste aller Revolutionen gewesen und ihr größtes Lob sei, dass sie – und das gilt noch heute – die letzte in England gewesen sei. Macaulays Lebenswerk war dem Bestreben gewidmet, diese politischen Grundüberzeugungen in der Vergangenheit zu verankern, um ihnen im traditionsbewussten England das Gewicht zu verschaffen, welches sie im politischen Tageskampf der Gegenwart und in der Zukunft benötigten. Bei seinen Landsleuten stieß er damit auf große Resonanz. Bestärkt durch die beispiellosen wirtschaftlichen und weltpolitischen Erfolge Englands im 19. Jahrhundert berauschten sie sich an Macaulays fortschrittsgewisser Formel, dass ihre Generation dank der spezifisch englischen Lösung des Macht- und Führungsproblems die „aufgeklärteste des aufgeklärtesten Volkes aller Zeiten“ sei.

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Aufstieg und Fall in Burma – Der Kolonialabenteurer Felipe de Brito e Nicote

 

Am 30. März 1613 wurde der Portugiese Felipe de Brito e Nicote in der Hauptstadt des von ihm gegründeten Königreiches in Burma als Usurpator und Tempelschänder öffentlich gepfählt. Damit endete ein Leben, das nicht weniger spektakulär war als sein Tod. Das Schicksal dieses Kolonialabenteurers, das hierzulande nicht bekannt ist, war einer jener unglaublichen Lebensläufe, wie sie Zeiten des Umbruchs hervorbringen können, Zeiten, in denen auch derjenige, dem das Schicksal wenig oder gar Widriges in die Wiege gelegt hat, aus scheinbar fest zementierten gesellschaftlichen Verhältnissen ausbrechen und unerwartet in die größten Höhen der Macht aufsteigen kann.

De Britos Erwartungen, an der großen Macht teilzuhaben, konnten kaum sehr hoch sein. Es war die Zeit, in der sich in Europa die Karten des Spieles um die Macht fest in den Händen einer kleinen Clique befanden. Zwar mischte man die Karten ohne Unterlass, um Krieg zu spielen. Aber man achtete sorgfältig darauf, dass sich der Kreis der Spieler nicht erweiterte. Durch die Entdeckungen der Seefahrer aber waren neue Karten ins Spiel der Macht gekommen, so viele, dass die europäischen Potentaten sie unter sich kaum verteilen konnten. Das war die Chance für Naturen wie De Brito, der es vom Schiffsjungen zum König brachte.

Natürlich suchten die etablierten Protagonisten möglichst auch die neuen Karten in ihre Hände zu bekommen. Danach, ob sie ein Recht darauf hatten, wurde nicht lange gefragt. Es war eine Zeit, in der die Europäer Wahrnehmen und Inbesitznehmen nicht zu trennen pflegten. Nur mühsam kaschierte man die Gier nach Macht und Gold mit dem Motiv, den Heiden das Christentum bringen zu wollen. Eilig sicherten sich die ersten Entdeckermächte, Spanien und Portugal, mit Hilfe des – spanischen – Borgia-Papstes Alexander VI die Beute der Entdeckungsfahrten. Bereits zwei Monate nach der Rückkunft des Kolumbus von seiner ersten Amerikareise erliess der Papst das Edikt „Inter caetera“, das die Basis des unglaublichsten Vertrages wurde, den die Weltgeschichte kennen dürfte. Im Vertrag von Tordesillas teilten Spanien und Portugal 1494 die Welt kurzerhand in zwei Hälften. Alles was östlich einer Linie, die man in der Nähe der Kapverdischen Inseln schön übersichtlich von Pol zu Pol zog, an unchristlichem Land gefunden werden würde, sollte den Portugiesen gehören, das westlich davon gelegene Land den Spaniern. Jeder sollte in seiner Region auch das Monopol des Handels haben. Ein Verstoß dagegen galt als besonders sündhaft und hatte, laut päpstlichem Edikt, die automatische Exkommunikation zur Folge.

So ging jeder in seine Richtung und bediente sich nach Kräften. Die Spanier überfielen Amerika und gingen bekanntlich nicht sehr christlich mit denen um, die ihnen im Weg standen. Die Portugiesen segelten um Afrika nach Osten und suchten vor allem die sagenhaften Pfefferinseln. Es stellte sich schon bald heraus, dass die Beute wesentlich größer war, als erwartet und dass ein kleines Land wie Portugal sie kaum verkraften konnte. Die Portugiesen begnügten sich daher zunächst damit, eine Reihe von befestigten Hafenplätzen an den Küsten Süd- und Ostasiens zu besetzen, um auf diese Weise den Osthandel in den Griff zu bekommen. Nicht nur der Pfeffer, der seinerzeit in Gold aufgewogen wurde, sondern auch andere Waren aus den hochentwickelten Ländern Asiens, wie Seide und Porzellan, erfreuten sich in Europa großer Beliebtheit und erbrachten besten Gewinn, seit man, der Absicht der Entdeckungsfahrten entsprechend, die diversen nah- und fernöstlichen Zwischenverdiener ausgeschaltet hatte.

Dreh- und Angelpunkt der portugiesischen Kolonialpolitik waren starke Forts, die mit wenigen Leuten und vor allem mit Kanonen leicht gegen die schlechter bewaffneten Einheimischen zu verteidigen waren. Es ist heute kaum mehr glaublich, mit welch‘ geringem Aufwand die Portugiesen sich zu Herrschern über den ganzen Osthandel machen konnten. Ihre wichtigsten Stützpunkte waren tausende Kilometer voneinander entfernt. In Südasien etwa klaffte eine riesige Lücke zwischen Goa an der Westküste des indischen Subkontinents und Malakka auf der Malayischen Halbinsel. Dies war das Betätigungsfeld von Abenteurern wie De Brito, die hier, angeregt durch die Großen wie Albuquerque, auf eigene Faust ihr Glück suchten.

De Brito stammte aus ärmlichen Verhältnissen. Er war der vermutlich illegitime Sohn eines Franzosen und einer portugiesischen Mutter. Sein Vater war offenbar der französische Botschafter in Portugal Jean Nicot, nach dem, da er als erster Tabak nach Frankreich brachte, der Wirkstoff Nikotin benannt ist. Geboren wurde De Brito im Jahre 1550 in Lissabon. Es wird berichtet, dass er bereits im Alter von 10 Jahren als Schiffsjunge auf die damals außerordentlich lange Fahrt nach Asien gegangen und schon früh mit Burma in Kontakt gekommen sei. Über seine ersten 50 Lebensjahre ist wenig bekannt. Er betätigte sich zunächst als Salz- und möglicherweise auch als Kohlenhändler im Golf von Bengalen. Das Vermögen, das er dabei verdiente, hätte an sich für einen geruhsamen Lebensabend zu gereicht. Wie die meisten seiner Landleute, die es in diese Breiten verschlagen hatte, begab er sich aber auch in die gutbezahlten Dienste der lokalen Fürsten. Diese glaubten, die Fremden mit ihren Wunderwaffen bei ihren endlosen und höchst blutigen Streitigkeiten um Länder und Throne gebrauchen zu können und setzten sich dabei die Läuse in den Pelz, die sie nur noch mit Mühe oder überhaupt nicht mehr loswurden. De Brito hatte allerdings noch Höheres im Sinn. Als sich in seinem 50. Lebensjahr Gelegenheit bot, beschloss er, sich im Spiel um die Macht nicht länger mit der Nebenrolle des Königsmachers zu begnügen, sondern eine Hauptrolle zu übernehmen.

Die Gelegenheit ergab sich, als in den letzten Jahren des 16. Jahrhunderts das burmesische Großreich von Pegu zusammenbrach und in mehrere kleinere Königreiche zerfiel, die sich um die Erbschaft von Pegu stritten. Das Land war nach verheerenden Kriegen, an denen De Brito als Offizier und Berater des Königs von Arakan tatkräftig beteiligt war, verwüstet und die Bevölkerung dezimiert. „Es ist eine beklagenswerter Anblick“ schrieb der Jesuit Andreas Boves, der De Brito im März 1600 durch das südburmesische Deltagebiet begleitete, „die Ufer des Flusses zu sehen, an denen man jetzt allenthalben die Ruinen von vergoldeten Tempeln und vornehmen Gebäuden sieht; die Wege und Felder sind voll Schädel und Knochen der unglücklichen Bewohner von Pegu, die getötet wurden oder verhungert sind.“ Am Entstehen dieses Zustandes war De Brito nicht unbeteiligt, denn er hatte dem König des burmesich-begalischen Grenzlandes Arakan als hoher Offizier bei der Eroberung und Plünderung der Reichshauptstadt Pegu wichtige Dienste geleistet.

Mit der Zerstörung des einst mächtigen Reiches von Pegu war die Mündung des Pegu-Flusses in den Rangunfluß, der wichtigsten Verbindung Burmas zum Meer, dem Zugriff frei. Als guter Portugiese erkannte De Brito die handelspolitische und strategische Bedeutung der Flussmündung, an der später die heutige burmesische Hauptstadt Rangun entstehen sollte, und beschloss, sich hier festzusetzen. Er brachte den König von Arakan, der sich ihm verpflichtet fühlte, dazu, ihm die Verwaltung des Hafens von Syriam unweit der Mündung des Pegu-Flusses zu überlassen. Dann überzeugte er ihn davon, dass hier eine Zollstation errichtet werden müsse, wobei er dem König vorgauckelte, er könne sich damit die Mittel verschaffen, die ihn zum Herrscher über ganz Burma und damit zum Erben des Reiches von Pegu machen würden.

Im Jahre 1600 begann De Brito im Auftrag des Königs ein Zollhaus zu erstellen. Aus der Zollstation wurde, was der König zu spät bemerkte, ein regelrechtes Fort, wie sie die Portugiesen zu bauen pflegten. Auch befestigte De Brito die Stadt Syriam, als handele es sich um eine Hauptstadt. Gleichzeitig stellte er, die Rivalitäten der burmesischen Volksstämme nutzend, um einen Kern von 60 Portugiesen eine Armee aus 3 000 Einheimischen auf und warf damit den Vertreter des Königs aus der Stadt. Als dem König von Arakan klar wurde, dass sein einstiger Vertrauter dabei war, sich in Syriam festzusetzen, war es zu spät. De Brito war bereits auf dem Weg nach Goa, um sich vom portugiesischen Vizekönig den Plan absegnen zu lassen, von Stützpunkt Syriam aus Niederburma zu erobern. Zuvor hatte er allerdings den Thron von Pegu, den er selbst ersteigen wollte, an mehrere weitere Fürsten gegen das Versprechen verkauft, während seiner Abwesenheit Ruhe zu bewahren.

Viel Ruhe hatte die Garnison von Syriam freilich nicht. Mit immer neuen Heeren und Flotten versuchten die Könige von Arakan und Taungu, die Stadt einzunehmen. Die wenigen Verteidiger, so wird berichtet, sollen sich aber selbst gegen eine Flotte von 1200 Schiffen und ein Heer von 40 000 Mann haben halten können. Schließlich fuhren die Burmesen, die die Größe der Gefahr offensichtlich erkannt hatten, großes Belagerungsgerät auf und brachten die Portugiesen in arge Bedrängnis. De Brito’s Vertreter musste die portugiesischen Schiffe verbrennen, um Desertionen seiner Leute zu verhindern. Am Ende kamen zu Gunsten der Belagerten aber die Sterne ins Spiel. Ein großer Meteor soll die Verteidiger aus ihrer verzweifelten Lage gerettet haben. Die Belagerer sahen in dem nächtlichen Feuerstrich ein himmlisches Zeichen und zogen sich unter Hinterlassen ihres gesamten Belagerungsgerätes zurück.

De Brito stieß beim portugiesischen Vizekönig in Goa mit seinen Eroberungsplänen auf großes Interesse. Die schönen Tage von Tordesillas waren vorbei. Das Spiel um die Macht in den neuen Welten begann unübersichtlicher zu werden. Inzwischen hatte die Reformation stattgefunden und die Christenheit war – auch in ihren kommerziellen Interessen – gespalten. Die protestantischen Holländer – soeben dem Joch Spaniens, das Portugal in Personalunion regierte, entkommen – kümmerten sich weder um den Vertrag mit seinen symetrisch-klaren Spielregeln für die Weltpolitik, noch um päpstlichen Segen und Bannstrahl. Als besonders unangenehmen Spielverderber mussten die iberischen Weltaufteiler den Holländer Jan Huyghens van Linschoten ansehen. Er hatte in den Jahren 1586-92 – ausgerechnet und bezeichnenderweise beim Erzbischof von Goa, dessen Sekretär und Buchhalter er war – in aller Stille Nachrichten über die sorgsam geheimgehaltenen Seewege nach Osten und den Asienhandel sammeln können und dieselben 1596 unter den Titel „Itinerario“ veröffentlicht. Das Werk wurde eine kolonialer Bestseller und sofort in mehrere Sprachen übersetzt. Es enthielt genaue Angaben über Handelsplätze und Waren sowie Küsten, Inseln, Proviantstellen und sogar Meeresuntiefen. Kaum waren die Holländer im Besitz dieser Informationen, sandten sie Handelsflotten nach Asien aus. Auch im – ebenfalls unkatholischen – England entzündete van Linschoten’s „wegweisendes“ Werk den Geist der Konkurrenz. Dort wurde im Jahre 1600 die später berüchtigte englische Ost-Indien-Kompangnie gegründet und von Königin Elisabeth mit Privilegien ausgestattet, die Portugal als äußerst störend empfinden musste. Zur Sicherung der portugiesischen Macht erschien es dem Vizekönig daher, nun da die Karten aufgedeckt waren, durchaus sinnvoll, die bloße Stützpunktpolitik zu Gunsten des Versuches aufzugeben, sich eine territoriale Basis im Hinterland der asiatischen Staaten zu verschaffen. Er ernannte De Brito zum Kapitän von Portugal sowie zum General der Eroberung von Pegu, stellte ihm 6 Kriegsschiffe und 3 000 Soldaten zur Verfügung und gab ihm zur dynastischen Absicherung seine uneheliche Tochter zur Frau, die aus einer – offensichtlich kolonialen – Verbindung mit einer Javanerin stammte. Damit konnte sich De Brito offiziell in den exklusiven Kreis der Spieler um die Macht aufgenommen fühlen, eine Gesellschaft, in der er seine Rolle alsbald mit Bravour zu spielen begann.

Kaum war De Brito zurück in Syriam, ließ er sich mit Unterstützung der Mon, einer burmesich-siamesischen Volksgruppe, die durch die Kriege um Pegu entwurzelt worden war, zum König von Niederburma ausrufen. Sein Ansehen bei den Mon scheint anfangs groß gewesen zu sein, denn die Zahl seiner Untertanen wuchs zunächst beträchtlich. Die Erfolge der Portugiesen bei der Verteidigung von Syriam und ihr augenscheinlich gewordener guter Draht zu den Sternen – ein in Burma außerordentlich wichtiger Faktor – hatten die Einheimischen so beeindruckt, dass sie sich danach drängten, unter seinen Schutz zu kommen. Auch die lokalen Fürsten suchten jetzt, da er der offizielle Repräsentant einer gefürchteten Weltmacht war, um seine Freundschaft nach, so auch der König von Arakan, der sich mit einem reichen Geschenk ruhigstellen ließ.

Als getreuer Untertan seiner katholischen Majestät baute De Brito in Syriam eine Kirche, deren Reste man noch heute sehen kann, und begann mit Hilfe einiger Mönche seine Untertanen zu christianisieren. Über die Methoden, die er hierbei anwandte, gibt es unterschiedliche Darstellungen. Burmesiche Chronisten heben seine rücksichtslose Unduldsamkeit hervor und sprechen von zwangsweiser Katholisierung. Sie beklagen vor allem, dass er – mit Zustimmung der Mönche, die den Erzbischof von Goa vertraten – die reichen buddistischen Tempel geplündert, alle goldenen Ornamente und Bildnisse eingeschmolzen und die bronzenen Glocken zu Kanonen gegossen habe. Ältere portugiesischen Schriftsteller sehen in der Zerstörung der Tempel hingegen das konsequente Ausrotten des Aberglaubens. De Brito’s gewaltsamer Tod hat ihm bei diesen folgerichtig den Titel eines Märtyrers für den Glauben eingebracht. Realistischerweise dürften seine missionarischen Aktivitäten, dem allgemeinen Brauch entsprechend, der mehr oder weniger bewussten – bei ihm eher mehr als weniger bewussten – Tarnung seiner kommerziellen Interessen gedient haben. Denn sein Hauptaugenmerk richtete er darauf, seiner Zollstation Geltung zu verschaffen. Er verordnete, dass alle Schiffe, die Niederburma anlaufen wollten, ihre Waren im Hafen von Syriam zu verzollen haben. Schiffe, die sich diesem selbstgesetzten Zollmonopol widersetzten, zwang er mit Hilfe seiner Kriegsschiffe in den Hafen oder beschlagnahmte sie, wobei er manchen guten Fang machte. Schon bald kontrollierte er fast den gesamten Seehandel Burmas, was nicht nur sehr einträglich, sondern auch deswegen nützlich war, weil er dadurch den Waffenerwerb seiner Feinde steuern konnte. Hilflos mussten sie zusehen, wie ihre Karten immer schlechter wurden.

De Britos fiskalischen Erfolge waren so bedeutend, dass der König von Arakan zu bedauern begann, sich mit einem bloßen Geschenk zufrieden gegeben zu haben. Er kündigte die erzwungene Freundschaft mit einer Flotte von 700 Schiffen auf, die er gegen Syriam sandte. Auch dieser Versuch der Rückeroberung sollte ihm jedoch teuer zu stehen kommen. De Brito konnte die Angreifer nicht nur zurückschlagen, ihm fiel auch der Sohn des Königs in die Hände, den er erst nach Zahlung einer gewaltigen Lösegeldsumme und Abtretung einer Insel, auf der sich sehr ertragreiche Salinen befanden, wieder herausgab.

Die Geschichte der nächsten Jahre ist so undurchsichtig und verschlungen wie der Dschungel, in dem all dies stattfand. De Brito ging immer wieder neue Bündnisse mit einheimischen Fürsten ein und brach oder erneuerte sie nach Bedarf. Er schloss Blutsbrüderschaft mit dem einen König, verheiratete seinen Sohn mit der Tochter eines anderen, half diesem bei der Eroberung, jenem bei der Verteidigung einer Hauptstadt und machte gemeinsame Sache mit anderen portugiesischen Abenteurern und Piraten. Was es im einzelnen mit all diesen Verwicklungen auf sich hatte, bei denen immer viel Blut floss und zahlreiche Schiffe zu Bruch gingen, lässt sich kaum mehr aufklären. Am Ende, so wird berichtet, war De Brito im Besitz von großen Goldschätzen. Einige Geschichtsschreiber wollen wissen, dass sich sein privates Vermögen auf 13 Millionen Goldmünzen belief. Man wird nicht weit von der Wahrheit sein, wenn man vermutet, dass die verwirrenden Spielzüge viel mit diesen Schätzen zu tun hatten.

Auch de Brito musste in all diesen Intrigen gelegentlich schweren Tribut entrichten. Die Unverfrorenheit, den König von Arakan ein weiteres Mal übertölpeln zu wollen, bezahlte er mit dem Leben seines Sohnes. Diesen hatte er unter dem Vorwand, einen Vertrag über eine Handelsniederlassung abschließen zu wollen, mit einigen Schiffen in die Stadt Dianga, die zu Arakan gehörte, gesandt. Der König von Arakan argwöhnte, wohl nicht zu Unrecht, dass De Brito nur beabsichtigte, einen weiteren Fuß in die Tür zu seinem Königreich zu zwängen. Er lud den Sohn samt seinen Kapitänen in seinen Palast und ermordete sie. Auch ließ er alle Schiffsbesatzungen und bei dieser Gelegenheit die 600 Portugiesen von Diango, die dort seit längerem ansässig waren, umbringen.

Einige Jahre scheint De Brito auch in relativem Frieden gelebt zu haben, weshalb er sich Dingen zuwenden konnte, die seinen Bewunderern als Beweis seiner staatsmännischen Fähigkeiten galten. Er baute zerstörte Städte wieder auf und fand Musse, sich als Geschichtsschreiber zu betätigen. Die von ihm verfasste Geschichte der Belagerung der Stadt Syriam im Jahre 1607 durch die Könige von Arakan und Taungu, die interessante Einblicke in die Seele eines Eroberers ermöglichen dürfte, liegt leider noch unveröffentlicht in der Bibliothek des Königs von Spanien.

Am Schluß hat er jedoch zu hoch gepokert. Er trieb es so weit, dass der König von Ava schwor, De Brito ins Meer zu werfen. Auch dieser König hatte die Absicht, wieder ein grossburmesiches Reich zu schaffen und hatte zu diesem Zweck schon einen großen Teil seiner Widersacher beseitigt. Sein Bruder, der König von Taungu, der früher mit dem König von Arakan gegen De Brito gekämpft hatte, war aber mit der untergeordneten Rolle, die ihm dabei zugedacht war, nicht zufrieden. Daraus ergab sich einer der blutigen Familienkämpfe um die Macht, die die Geschichte Burmas durchziehen, und der, folgt man einheimischen Geschichtsschreibern, auf merkwürdige Weise mit einer der großen burmesischen Romanzen verwoben war.

Der genannte König von Taungu hatte nämlich eine berühmte Schönheit zur Frau, zu der er auf Grund etwas seltsamer Umstände gekommen war. Angeblich hatte er sich in sie verliebt, als er ihr vom Tod ihres ersten Mannes, der sein Cousin war, in einer Schlacht berichtete. Sein Vater verbot ihm aber die ersehnte Ehe, weil die Schöne 6 Jahre älter war als er. Die Folge waren zahlreiche Liebesgedichte – sie werden zu den schönsten der burmesischen Literatur gezählt -und der Schwur, die Angebetete zur Königin von ganz Burma und dementsprechend sich selbst zum König desselben zu machen. Während sich der junge Mann, der übrigens auch philosophische Essays verfasste, wieder einmal in einer Schlacht befand, heiratete ein anderer Cousin die schöne Frau. Dieser – er gehörte zu einem verfeindeten Familienzweig – hatte das Pech, bei der Eroberung von Pegu in Gefangenschaft auf der Seite des Gedichteschreibers zu kommen, wo ihn derselbe heimlich im Gefangenenlager aufsuchte und erschlug. Nachdem auch sein strenger Vater gestorben war, heiratete der heißblütige Liebhaber, der nunmehr König von Taungu war, die doppelte Witwe.

Nun galt es noch den Rest des Schwures zu verwirklichen, nämlich König von ganz Burma zu werden, und da es hierbei Schwierigkeiten gab, verbrüderte sich der flexible Herrscher mit seinem früheren Feind De Brito. Die Schwierigkeiten beruhten darauf, dass er inzwischen von seinem Bruder, dem nicht minder ehrgeizigen König von Ava, überfallen und zu dessen Vasallen degradiert worden war. De Brito sollte ihm helfen, die Schmach zu tilgen (dass er ihm dadurch auch helfen sollte, die Krone von ganz Burma zu erlangen, musste er natürlich verschweigen, denn dazu musste er De Brito am Ende selbst aus dem Land werfen). Er forderte den Portugiesen also auf, Taungu vom Joch seines Bruders zu befreien. Es kam zur Belagerung von Taungu, wobei die Stadt allerdings zerstört und des Königs schöner Palast in Flammen aufging – ob versehentlich oder weil De Brito die Machenschaften seines Blutsbruders durchschaute, ist ungeklärt. Daraufhin begab sich der König von Taungu mit De Brito nach Syriam.

Dieser Eingriff in die Familienangelegenheiten war nun der Anlass für den bereits erwähnten weiteren Schwur in der königlichen Familie. Der König von Ava beschloss, mit dem portugiesischen Spuk in Syriam endlich Schluss zu machen. Zu diesem Zweck soll er vor den Toren von Syriam ein Heer von 150 000 Mann und 15 000 Reitern sowie eine Flotte von 3 000 Schiffen zusammengezogen haben. Auch wenn diese Zahlen, wie auch andere in den Berichten über De Brito, tropische Wucherungen enthalten und weniger Tatsachen als die Größe des Problems beschreiben dürften, das der freche Portugiese in Burma darstellte, kann kein Zweifel daran bestehen, dass es De Brito diesmal mit einem äußerst entschlossenen Gegner zu tun hatte. Seine nur 100 Portugiesen und 3000 Einheimischen hatte alle Hände voll zu tun, die Mauern von Syriam zu verteidigen.

Am Ende soll De Brito im wahrsten Sinne des Wortes sein Pulver verschossen haben, weshalb er seine Kanonen und damit seine wichtigste Waffe nicht mehr zur Verteidigung jener Mauern einsetzen konnte, mit denen alles angefangen hatte. Der Bote, den er mit einer Menge Geld nach Bengalen geschickt hatte, um für Nachschub zu sorgen, verhielt sich wie sein Auftraggeber. Er dachte an seinen eigenen Vorteil und verschwand mit dem „Pulver“.

De Brito versuchte nun Zeit zu gewinnen, denn er erwartete Unterstützung aus Goa, wohin er einen Hilferuf gesandt hatte. Eine Zeitlang war es auch noch möglich, die Angreifer mit heißem Pech und Öl zurückzuhalten. Nach einer Belagerung von mehr als drei Monaten konnte er jedoch nicht mehr verhindern, dass die Burmesen unter den Mauern, denen ihre schwachen Geschütze nichts hatten anhaben können, einen Tunnel durchstießen und in die Stadt und die „Zollstation“ eindrangen. Als einen Tag danach Hilfe aus Goa eintraf, war das Spiel bereits aus.

Das Nachspiel war, wie gesagt, bitter. Der König von Ava soll seinem Bruder die Brust haben aufschlitzen lassen. De Brito sah man, anders als im christlichen Portugal, als gemeinen Tempelplünderer an, weswegen er die dafür übliche Strafe erhielt. Er wurde im Angesicht seiner Leute und seiner Mauern auf Eisenpfähle gespießt.

Die Berichte über De Brito’s grausamen Tod – und übrigens auch über andere Details aus seinem bewegten Leben – unterscheiden sich auf merkwürdige Weise. Die Angaben über die Länge seines Todeskampf etwa schwanken auffällig zwischen einem und drei Tagen, wobei jeder der Berichterstatter den Eindruck erweckt, als sei seine Version gesichert. Es scheint, als sei der Bericht der Geschichtsschreiber davon beeinflusst, welche Strafe sie für seine Taten als angemessen erachten. Jedenfalls behaupten seine Bewunderer, dass er bereits nach einem Tag gestorben sei, während burmesiche Geschichtsschreiber angeben, seine öffentliche Qual habe drei Tage gedauert. Diejenigen Historiographen aber, die den Anspruch erheben, objektiv zu berichten, halten sich in der Mitte und geben an, dass er nach zwei Tagen gestorben sei.

Die Herabkunft des Ganges – Wasserkulturen des indischen Raumes

 

Wasser spielt im Süden und Südosten Asiens eine besondere Rolle. Wer über den indischen Subkontinent fliegt, bemerkt einerseits riesige Stromsysteme, welche sintflutartige Wassermengen abführen können, andererseits unzählige „Tanks“, Wassersammelstellen, mit deren Hilfe man das lebenspendende Nass im ständigen Kampf gegen die verzehrende Sonne Südasiens über die Trockenzeit zu retten versucht. Besonders in Indien hängen Wohl und Wehe vom Kommen und Gehen des Monsuns ab. Wie elementar das Problem des Wassers hier ist, zeigt der besondere Schutz, den die „Tanks“ genießen. Ihre Beschädigung ist von Alters her mit schweren Strafen bedroht. Nach dem Arthashastra, dem altindischen Staatslehrbuch aus dem 4. Jahrhundert v. Chr., stand auf der Zerstörung eines mit Wasser gefüllten „Tanks“ die Todesstrafe. Der Täter wurde in dem „Tank“ ertränkt, gegen den er gefrevelt hatte. Das Wasser bedachte man mit allen Insignien der Verehrung. Wo es einer Quelle entsprang, baute man aufwendige Brunnen, zu denen häufig ein Tempel gehörte. In Nordwesten Indiens etwa schuf man riesige, nicht selten wunderbar dekorierte Treppenanlagen, über die man zu den Quellen gelangte, die meist tief unter der Erdoberfläche lagen. Bedeutende Tempel wurden an Seen oder wichtigen Kreuzungspunkten des Wassers gebaut. Haridwar etwa, die Stelle, an der Ganges aus dem Himalaya in die Ebene tritt, ist einer der heiligsten Orte Indiens. Alle 12 Jahre findet dort das Kumbb Mela, das „Wasserfest“ statt, an den mehrere Millionen Pilger teilnehmen. Generell gehört zu einem Tempel möglichst ein rechteckiger Tank, dessen unter Umständen gewaltige Ausmaße sich nach der Bedeutung des Tempels richten.

 

Wasser, das ist im indischen Raum allerdings nicht bloß die physische Lebensgrundlage von mehr als einer Milliarde Menschen, die weitgehend von der Wasserpflanze Reis leben. Wasser hat die indische Zivilisation auch in einem tieferen Sinn geprägt. Das unfeste Element ist ohne Zweifel eine wesentliche Ursache für das Fließende und eigentümlich Bewegliche, welches mehr oder weniger alle Erscheinungsformen der originären Kulturen des indischen Raumes charakterisiert.

 

Bleiben wir zunächst bei den geographischen Grundlagen. Dies sind in erster Linie die großen Flüsse, allen voran die sieben Ströme, die ihren Ursprung im Himalaja haben. Diese Flüsse, die so gigantisch sind wie das Gebirgsmassiv, dem sie entstammen, liefern nicht nur einen wesentlichen Teil des Wassers, ohne das sich eine höhere Zivilisation nicht entwickeln kann. Sie sind schon deswegen Grundlage der indischen Zivilisation, weil die Hochkulturen des Subkontinentes weitgehend auf dem fruchtbaren Schwemmland entstanden sind, welches die großen Flüsse vom Dach der Welt gespült haben.

 

Die drei großen Ströme Vorderindiens entspringen in unmittelbarer Nachbarschaft im Zentrum des Himalaja. Der Indus wählt den Weg nach Westen, gräbt sich tausend Kilometer hinter der Hauptkette des Gebirges durch und wendet sich nach einer großen Schleife durch Kaschmir südwärts dem arabischen Meer zu. Der Fluss, der mit seinem Namen, der nichts anderes als Fluss bedeutet, den ganzen Subkontinent repräsentiert, ist der Altvater der Hochkulturen des indischen Raumes und die Lebensader des fruchtbaren Fünfstromlandes, einer Region, in der sich vor fast 5000 Jahren mit der Induskultur eine der ersten Stadtzivilisationen der Erde entwickelte. Ebenfalls hinter der Hauptkette des Himalaja entspringt der Brahmaputra. In bemerkenswerter Symmetrie umfängt er, spiegelbildlich zum Indus, den östlichen Teil des Himalaja. Nach einer Schleife durch Assam wendet auch er sich nach Süden, wo er sich mit dem Ganges zu einem gemeinsamen Delta vereinigt. Das bengalische Delta, das größte der Erde, ist gleichfalls uraltes Siedlungsgebiet. Heute leben auf seinem labilen Schwemmland die Menschen in größerer Dichte als auf jedem anderem Fleck des Globus. Der Ganges schließlich fließt ohne Umschweife in die Ebene, die seinen Namen trägt. Mit seinen zahlreichen Nebenflüssen bildet er die Seele des indischen Kernlandes am Fuße des Himalaja. An seinem Ufer lag einst Patalipuram, die Hauptstadt des Maurya-Reiches, die der griechische Gesandte Megastenes Ende des 4. Jh. v. Chr. als die prächtigste Metropole der Welt beschrieb.

 

Auch die gewaltigen Ströme Hinterindiens sind anfangs vereint. In einmaliger Engführung fließen vier Flüsse, nur durch eine Bergkette voneinander getrennt, wie durch parallel geführte Rinnen vom Dach der Welt, um schließlich tausende Kilometer voneinander entfernt ins Meer zu münden. Der Irawadi, der die zentralburmesische Ebene zu einem der reichsten Reisanbaugebiete der Welt macht, strebt zum Golf von Bengalen. Dort endet auch der Saluen, ein hierzulande kaum bekannter Fluss, der Burma im Osten entwässert und immerhin noch mehr als doppelt so lang wie Deutschlands größter Fluss, die Elbe, ist. Der dritte im Bunde ist der Mekong, was „Mutter der Gewässer“ bedeutet. Er durchzieht auf seinem 4.500 Kilometern langen Lauf die chinesische Provinz Yünnan sowie Laos und Kambodscha, um schließlich im Süden Vietnams in einem weiten Delta ins südchinesische Meer zu münden. Der vierte schließlich ist niemand geringeres als der Jangtsekiang, einer der längsten Flüsse der Erde. Vom osttibetanischen Flussstreff kommend durchquert er das chinesische Riesenreich, bis er sich bei Schanghai in den stillen Ozean ergießt. Ähnlich lang ist die Reise des Gelben Flusses, der in der Nachbarschaft der genannten vier Ströme entspringt, sich allerdings gleich nach Osten wendet, um nach einer großen Schleife durch den Norden Chinas südlich von Peking in das Gelbe Meer zu fließen.

 

Bei so viel Wasser ist es nicht verwunderlich, dass sich, zumal angesichts eines begünstigenden Klimas, am und um das nasse Element einige außerordentliche menschliche Lebensformen entwickelt haben.

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Indische Tatsachen – Fälschung der Geschichte – Geschichte der Fälschung

Im südindischen Mahabalipuram wird der Besucher in einem nahe den berühmten altindischen Felsbauten befindlichen Hotel, das durch seinen Baustil und allerhand Ausstellungsstücke an die Kolonialzeit erinnert, an der Theke mit folgendem Text konfrontiert:

„Ich habe Indien der Länge und der Breite nach bereist und habe keinen einzigen Bettler und keinen Dieb gesehen. Ich habe in diesem Land einen solchen Reichtum, solch` hohe moralische Werte und Menschen von solchem Format gefunden, dass ich nicht glaube, dass wir dieses Land jemals erobern können, wenn wir nicht das eigentliche Rückrad dieser Nation brechen, nämlich ihr spirituelles und kulturelles Erbe; und daher schlage ich vor, dass wir ihr altes und altertümliches Bildungssystem, ihre Kultur verdrängen; denn wenn die Inder denken, dass alles Ausländische und Englische gut und besser als ihr Eigenes ist, werden sie ihre Selbstachtung verlieren, ihr angeborenes Selbstverständnis, und sie werden dass sein, was wir wollen, eine wirklich beherrschte Nation.“

Der Unterschrift nach handelt es bei dem Text um eine Passage aus einer Rede, welche der große englische Schriftsteller und Politiker Lord Thomas Babington Macaulay am 2.2.1835 im britischen Parlament gehalten hat.

 Man braucht kein besonderer Kenner der Figur Macaulays zu sein, um sich darüber zu wundern, dass sich der profilierte Lord derart unverblümt zur Kolonialpolitik geäußert hätte. Verwunderlich ist dies schon deswegen, weil Macaulay diese Sätze im Parlament und damit in seiner Eigenschaft als Politiker gesagt haben soll. Politiker aber, zumindest die demokratischer Staaten, pflegen eventuelle zweifelhafte Absichten in aller Regel in kunstvoller Verpackung zu präsentieren. Wenn eben möglich versuchen sie, dieselben als Wohltat oder jedenfalls als unabweisbare Notwendigkeit darzustellen. Hinzu kommt, dass die Kolonialpolitik als prinzipiell fragwürdiges Geschäft ein geradezu paradigmatischer Fall für die Notwendigkeit derartiger Verpackungskünste war. Zu ihrer Rechtfertigung hat man daher in der Regel einen besonders hohen Ton angeschlagen. Meist hieß es, dass man den zurückgebliebenen Völkern die Segnungen der Zivilisation oder des Christentums bringen wolle oder gar müsse. Dass ausgerechnet ein Formulierungskünstler wie Macaulay in einer so prekären Frage fundamentale Gesetze der politischen Kommunikation völlig außer Acht gelassen haben sollte, wäre schon für sich Grund genug, der genannten Textpassage mit Misstrauen zu begegnen.

Man braucht auch keine besonders guten Kenntnisse über Macaulay und die indischen Verhältnisse, um sich am Inhalt des Textes zu stoßen. Der extreme Kontrast seiner Grundpositionen erinnert reichlich auffällig an die plakative Charakterzeichnung der Figuren in indischen Dramen und in Bollywood Filmen, wo ganz Böse gerne ganz Guten gegenübergestellt werden. Die alte indische Sozialkultur wird eingangs des Textes derart rosig dargestellt, dass man sogleich spürt, dass der Satz in einem üblen Kontrapunkt enden soll. Tatsächlich wird dem englischen Lord denn auch ein Zynismus und eine Skrupellosigkeit und Gemeinheit unterstellt, wie man sie aus schlechten Filmen oder allenfalls noch von Psychopathen oder Verbrechern kennt. Zur Spezies der letzteren, der sicher manche Politiker angehören, wurde Macaulay allerdings bislang gerade nicht gezählt. Er gilt geradezu als das Muster eines Gentleman.

 

Ebenfalls schon auf den ersten Blick fällt auf, dass in dem Text mit der übermäßigen Wertschätzung des (Westlich)Ausländischen und dem Beklagen eines Mangels an heimischer Tradition ein Topos aus der aktuellen indischen Gesellschaftsdiskussion angesprochen wird. Das Thema treibt neben Traditionalisten und Außenhandelsstatistikern nicht zuletzt die einheimischen Warenproduzenten um, die auf dem indischen Markt möglichst wenig Konkurrenz durch die Produkte ausländischer Anbieter haben möchten, welche die Inder zum Bedauern der einheimischen Produzenten aber meist attraktiver finden. Dass Macaulay der Ansicht gewesen sein soll, in Indien eine Vorliebe für Ausländisches mit einer Bildungsreform erzeugen zu können, klingt nicht sonderlich überzeugend. Man wird daher bei dieser Behauptung den Verdacht nicht los, dass mit ihr einem Geschehen, das tatsächlich eingetreten ist und von Manchen nicht geschätzt wird, nachträglich eine passende Ursache unterschoben werden soll. Dies gilt umso mehr, als sich ein ähnlicher Wertschätzungsbonus des Westlich-Ausländischen auch in anderen – nicht zuletzt unterentwickelten – Ländern findet, darunter auch solchen, deren Bildungssystem gerade nicht von England geprägt ist.

 Wer nähere Kenntnisse über Macaulay hat, stellt außerdem schnell fest, dass der Lord im Jahre 1835 gar keine Rede im britischen Parlament gehalten haben kann. Macaulay befand sich 1835 nicht in England. Er war von 1834 bis 1838 in Indien.

 Der Kenner Macaulays weiß im Übrigen, dass Gedanken, wie sie in dem genannten Text enthalten sind, weder mit seiner privaten noch mit seiner politischen Biographie in Einklang zu bringen sind. Macaulay stammte aus einem Elternhaus, das sich ganz dem Kampf gegen die Exzesse des Kolonialismus verschrieben hatte. Sein Vater, den er hoch verehrte, gehörte der legendären Clapham Sect an, die unter mit ihrem politischen Frontman Lord Wilberforce nach zahlreichen Anläufen im Jahre 1807 das Verbot des Sklavenhandels und 1833 schließlich auch das Verbot der Sklaverei durchsetzte –  der Vater wurde dafür sogar mit einer Gedenkstätte in Westminster Abbey geehrt. Die Einstellung, die hinter diesem Engagement stand, hat Macaulay stark geprägt. Er war davon überzeugt, dass der soziale und politische Fortschritt, für den er in seinem Heimatland kämpfte, auch und gerade bei den kolonisierten Völkern möglich sei. Der prominente Liberale war zwar wesentlich an der Gestaltung der englischen Kolonialpolitik betreffend Indien beteiligt. Er war mehrere Jahre im politischen Aufsichtsrat der „East India Company“, die Indien damals regierte, und war in den genannten vier Jahren von 1834 bis 1838 sogar Mitglied der indischen Kolonialregierung. Seine Auffassungen über Kolonialpolitik und insbesondere über das Verhältnis von England und Indien waren aber bei weitem nicht so einfach oder gar so finster, wie es das genannte „Zitat“ suggeriert. Macaulay sah den Zweck seiner Mission keineswegs nur darin, die Interessen Englands durchzusetzen. Er setzte sich im Gegenteil mit großem Engagement dafür ein, die Rechte der riesigen einheimischen Mehrheit zu stärken und die ausufernden Ansprüche der wenigen englischen Siedler zu begrenzen (was ihn bei letzteren alles andere als beliebt machte). In einer Rede, die er am 10. Juli 1833, also noch vor seiner Abreise nach Indien, im Rahmen der Aussprache über ein neues Regierungsstatut für Indien tatsächlich im britischen Parlament hielt, hat er etwa über die Rolle der englischen Siedler, die unter Berufung auf ihre politische Freiheit eine ausschließlich für sie zuständige Gerichtsbarkeit verlangten, Folgendes gesagt: „Niemand liebt die politische Freiheit mehr als ich. Aber ein Privileg, dessen sich nur wenige Individuen erfreuen können, inmitten einer Bevölkerung, die dieses Privileg nicht hat, kann nicht Freiheit genannt werden. Es ist Tyrannei.“ Und er fügte mit Blick auf die indische Rechtstradition, die er übrigens mit einem egalitären Strafgesetzbuch beendete, hinzu, es sei bereits „das schlimmste aller Rechtssysteme, eine mildes Strafgesetz für die Brahmanen“ zu haben, „die aus dem Kopf des Schöpfers entsprungen sind und ein strenges Gesetz für die Sudras, die aus seinen Füssen stammen. Indien hat schon genug unter der Kastentrennung gelitten und unter den tief wurzelnden Vorurteilen, welche diese Trennung erzeugt. Gott bewahre, dass wir es mit dem Fluch einer neuen Kaste überziehen, dass wir ihm neue Brahmanen schicken, die berechtigt wären, die gesamte einheimische Bevölkerung als Parias zu behandeln!“ Er kam in dieser Rede, in der er das außerordentlich komplizierte Geflecht der englisch-indischen Beziehungen brilliant analysierte, zu dem Schluss, es wäre „der stolzeste Tag der englischen Geschichte“ (!), wenn Indien als Folge der englischen Kolonialpolitik eines Tages in die Lage versetzt würde, sich selbst gut zu regieren. „Niemals“, so fügte er hinzu „würde ich versuchen, dies zu verhindern oder zu verzögern.“ Macaulay war also ganz im Gegensatz zu dem Eindruck, den das „Zitat“ vermitteln will, so etwas wie der erste Propagandist einer (künftigen) Freiheit Indiens – wobei er die Bedingungen, unter denen diese über hundert Jahre später tatsächlich eintreten sollte, erstaunlich genau voraussah.

 

Schließlich kann, das zeigen bereits die Auszüge aus der genannten Rede, derjenige, der sich kundig machen will, leicht feststellen, dass Macaulay die sozialen Verhältnissen im Indien seiner Zeit alles andere als positiv einschätzte. Er hielt die Grundlagen der indischen Gesellschaft vielmehr für ziemlich unzivilisiert, weitgehend sogar für barbarisch und unmoralisch und die Inder für ränkevoll und falsch. Dass er die indischen Verhältnisse in einer Weise gelobt hätte, wie dies eingangs des genannten Textes der Fall ist, ist daher auszuschließen.

 

Angesichts all dieser Ungereimtheiten ist klar, dass der genannte Text nicht von Macaulay stammen kann. Es handelt sich offensichtlich um eine Fälschung.

 

Die normale Reaktion auf eine derart plumpe Fälschung wäre eigentlich, sie nicht zu beachten. Dass sie dennoch unser Interesse und unseren Jagdinstinkt weckt, liegt zum einen darin, dass sie in Indien seit dem Jahre 2002, als sie erstmals auftauchte, eine erstaunliche Resonanz erfahren hat. Das „Zitat“ hat nicht nur den Hoteldirektor von Mahabalipuram so überzeugt, dass er es an prominenter Stelle platzierte. Es wurde auch in zahlreichen Internetseiten kolportiert. Binnen kurzem fand es Eingang in ein offizielles Dokument der Planungskommission der indischen Regierung. Selbst der indische Staatspräsident hat es in einer Rede vom 2.9.2004 verwendet.

 

Interessant ist die Fälschung außerdem, weil sie alles andere als geschickt ist. Der Fälscher hat nicht nur reichlich dick aufgetragen. Er hat sich auch nicht die Mühe gemacht, die offenkundigen Unstimmigkeiten bei der Datierung des „Zitates“ zu vermeiden. Im Gegenteil, er hat die Fälschung auch noch kurzerhand mit einem Datum versehen, unter dem Macaulay tatsächlich eine berühmte (und berüchtigte) Stellungnahme zur indischen Bildungspolitik abgegeben hat, die „minutes“ vom 2.2.1835, die allerdings für die indische Kolonialregierung geschrieben wurden. Den Fälscher hat also weder gestört, dass man so grundlegende Tatsachen, wie die, ob Macaulay 1835 in England war, mittlerweile in Sekundenschnelle per Mausklick überprüfen kann. Es war ihm auch egal, dass man leicht feststellen kann, was Macaulay seinerzeit zur Bildungspolitik gesagt hat (tatsächlich findet in den „minutes“ vom 2.2.1835 natürlich nichts, was in die genannte Richtung geht). Es stellt sich daher die Frage, wieso sich der Fälscher so wenig um Plausibilität bemüht hat, insbesondere, wieso er nicht, wie alle guten Fälscher, die Nähe der Tatsachen wenigstens so weit gesucht hat, wie dies möglich war oder sich von Tatsachen, die leicht zu überprüfen waren, möglichst fern gehalten hat. Die Vermutung liegt nahe, dass er glaubte, sein Ziel auch ohne derartige Vorsichtsmaßnahmen erreichen zu können. Er hatte offensichtlich nicht nur keine Ehrfurcht vor der Wahrheit, sondern auch keine Furcht vor den Tatsachen. Er muss also davon ausgegangen sein, die Tatsachen würden seinen Zwecken auch dann nicht schaden, wenn sie, was zu erwarten war, bekannt würden.

 

All dies reizt dazu, zu fragen, wie es zu einer solchen Fälschung kommen konnte, wer der Fälscher war, was ihn antrieb und wieso er sich für die gewählte Vorgehensweise entschied. Nun, wer genau der Fälscher war, können wir nicht sagen. Er hat aber einige Spuren hinterlassen, die Rückschlüsse auf seine Gedanken und sein Weltbild zulassen.

 

Die geschilderte laxe Einstellung gegenüber den Tatsachen deutet zunächst einmal darauf hin, dass der Fälscher mit einer unkritischen Akzeptanz seiner Behauptungen bei denen rechnete, an die sich die Fälschung richtete. Eine solche Haltung konnte er naturgemäß am ehesten voraussetzen, wenn er annehmen konnte, dass die Adressaten des Textes ein Interesse an falschen Tatsachen oder kein Interesse an ihrer Widerlegung hatten. Wir können also nähere Erkenntnisse über den Fälscher erwarten, wenn wir fragen, welches Interesse Inder vom Anfang des 21. Jh. daran haben können, einen englischen Lord aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhundert so heftig zu denunzieren.

 

Man könnte zunächst einmal vermuten, dass ein solches Interesse das Resultat des Traumas ist, welches die Unterwerfung einer uralten Hochkultur unter eine Fremdherrschaft hinterlassen musste. Macaulay wäre hierfür eine durchaus die geeignete Projektionsfigur. Er war, wie gesagt, nicht nur ein maßgeblicher Protagonist der englischen Kolonialpolitik. Er gilt auch als Vater der Anglisierung und damit der Europäisierung des Subkontinents, wobei die „minutes“ vom 2.2.1835 eine wichtige Rolle gespielt haben. Wie die Erwähnung des Datums in der Unterschrift des „Zitats“ und das angesprochene bildungspolitische Thema zeigen, war dies unserem Fälscher bekannt (und hat ihm offensichtlich nicht gefallen). Macaulay verfasste die Stellungnahme vom 2.2.1835 im Zusammenhang mit einem Streit über die Ausrichtung des höheren indischen Bildungssystems, der in der indischen Kolonialregierung seit Anfang des 19. Jahrhunderts schwelte. Es ging dabei darum, ob die einheimische Führungselite wie bislang orientalisch, das heißt in Sanskrit, Arabisch und Persisch, oder in englischer Sprache zu erziehen sei. Für beide Standpunkte gab es gute Argumente, die von gewichtigen Persönlichkeiten höchst engagiert vertreten wurden. Es war der kulturhistorisch weit ausholenden Argumentation und der suggestiven Rhetorik des renommierten und routinierten Essayisten Macaulay in seinen „minutes“ zu verdanken, dass sich der damalige Generalgouverneur von Indien, Lord Bentinck, für die anglizistische Lösung entschied. Die Bedeutung dieser Weichenstellung war außerordentlich. Sie gab der Entwicklung des Subkontinents den Impuls in Richtung Westen, Demokratie, Aufklärung und Verwissenschaftlichung, den der Fälscher und seine Anhänger offensichtlich bedauern. Der englische Lord ist daher die geborene Reizfigur für alle Altindien-Nostalgiker. Dies gilt umso mehr, als er sich für die Rolle des kulturellen Bösewichts besonders gut eignet. Macaulay litt nicht nur nicht an mangelndem Selbstbewusstsein, sondern pflegte sich auch sehr plastisch auszudrücken. Und er hielt, wie angedeutet, mit seiner mangelnden Begeisterung für die indische Kultur nicht hinter dem Berg. In den „minutes“ vom 2.2.1835 finden sich Formulierungen und Vergleiche, die aus der Sicht seiner Kritiker wunderbare Angriffspunkte bieten, etwa wenn er zur Begründung der Überlegenheit der westlichen Kultur unangefochten eurozentrisch feststellte, ein einziges Bücherbrett in einer guten europäischen Bibliothek sei so viel wert, wie die ganze einheimische Literatur Indiens und Arabiens; oder wenn er behauptete, die gesamte historische – und das war aus damaliger Sicht weitgehend die sozial relevante – Information, die in all den asiatischen Büchern stecke, befände sich schon in den dürftigsten Kurzausgaben, welche man in den englischen Vorschulen benutze.

 

Die Massivität, mit welcher der Fälscher versucht, den Ruf Macaulays zu ruinieren, deutet allerdings darauf hin, dass es ihm nicht nur darum geht, längst geschlagene Schlachten noch einmal aufzurollen. Sein Interesse an Macaulay, das zeigt nicht zuletzt die Tatsache, dass er mit der Überbetonung des Ausländischen ein Problem des heutigen Indien anspricht, hat offensichtlich auch einen sehr gegenwärtigen Grund. Wir können daher erwarten, dass sich uns dieser Grund offenbart, wenn wir uns näher mit Macaulays Gedanken über Indien befassen.

 

Macaulay war ein aufgeklärter Demokrat. Schon in seinem Heimatland kämpfte er in den legendären Redeschlachten über die „Reform Bill“ von 1830 für die Verbreiterung der demokratischen Basis durch Ausweitung der Wahlberechtigung auf die bürgerlichen Schichten der Städte. Ein politisches System nach englischem Muster schwebte ihm auch für Indien vor. Er ging jedoch realistischerweise davon aus, dass das Land hierfür mangels einer modernen Denkweise noch nicht reif sei. Sein Bestreben ging daher dahin, zunächst einmal die Grundvoraussetzungen für ein demokratisches Steuerungsmodell zu schaffen. Als ein wesentliches Hindernis erschien ihm dabei die traditionelle Struktur der indischen Gesellschaft, wonach die Menschen in Gruppen von gänzlich unterschiedlicher Wertigkeit eingeteilt waren. Er kam ihm daher darauf an, in Indien erst einmal ein Bewusstsein von der prinzipiellen Gleichheit der Menschen zu schaffen. Als fortschritts- und büchergläubiger Liberaler mit einem Faible für historische Parallelen meinte er, dieses Ziel sei dadurch zu erreichen, dass man in Indien einen ähnlichen Prozess in Gang setzt, wie ihn Europa ab dem 15. Jahrhundert durchlaufen hatte. Schon in der Unterhausrede vom 10. Juli 1833 vertrat er die Ansicht, Indien sei nach dem Zusammenbruch des Reiches der Großmoghulen, welche die Engländer vorfanden, in einer Lage vergleichbar derjenigen gewesen, in welcher sich Europa nach dem Zusammenbruch des Weströmischen Reiches befunden habe. Hier wie dort sei auf die Auflösung der alten Strukturen eine dunkle Periode gefolgt, in Europa das Mittelalter, in Indien staatliche Zersplitterung und der daraus resultierende Verlust der Unabhängigkeit. So wie Europa den Weg aus seiner dunklen Periode über die Wiederentdeckung der griechischen und römischen Literatur gefunden habe, würde Indien seinen Weg in eine aufgeklärte Zukunft über die englische Sprache und der darin verfassten Literatur nehmen, in der nun einmal das beste Wissen der Welt zusammengetragen sei. Wie in Europa würde sich in Indien dann die Vorstellung von der prinzipiellen Gleichheit der Menschen und letztendlich auch die Demokratie einstellen.

 

Macaulays Hoffnungen haben sich, wie wir heute wissen, insofern verwirklicht, als westliches Gedankengut nicht zuletzt über die englische Sprache tatsächlich in hohem Maße Eingang nach Indien gefunden hat. In der Folge wurden viele soziale Missstände beseitigt. Das diskriminierende Kastensystem etwa ist offiziell abgeschafft. Das Land hat heute eine demokratische Verfassung, deren Vater, Bimrao Ambedkar, sogar ein Unberührbarer war.

 

Dass Macaulay weiterhin aktuell ist, hat seinen Grund nun aber darin, dass der Fortschritt in der Praxis bei weitem nicht so groß ist, wie es der Lord in seiner mechanistischen Denkweise erwartet hatte. Der erstrebte Kulturtransfer scheiterte weitgehend an der Veränderungsresistenz der kulturellen Grundlagen Indiens, die in drei Jahrtausenden auch die gewaltigsten politischen Turbulenzen und Systemänderungen überstanden haben und welche die gesellschaftlichen Verhältnisse weiterhin bis in die feinsten Verästelungen bestimmen. Insbesondere das Kastensystem einschließlich der Ausgrenzung der Kastenlosen wird allen offiziellen Parolen zum Trotz noch immer weitgehend praktiziert. Für diejenigen, die unter diesem System leiden, gilt daher Macaulay heute als derjenige, der das Tor öffnete, durch welches ein Denken nach Indien einströmte, welches, wenn überhaupt irgend etwas, diese Grundlagen weiter erschüttern könnte. Der lange verstorbene englische Lord ist insbesondere für die intellektuellen Köpfe der Dalits, jenen 200 bis 250 Millionen Indern, die nach traditioneller indischer Vorstellung als Kastenlose außerhalb der regulären Gesellschaft stehen, so etwas wie ein Schutzheiliger geworden. Macaulay wird, zumal er auch die Unabhängigkeit Indiens voraussah, geradezu als eine frühe Inkarnation Mahatma Gandhis angesehen, der die Dalits, zweifellos unter dem Einfluss westlicher sozialer Vorstellungen zu „Kindern Gottes“ (Harijans) erklärte, ein Begriff, der schon im christlichen Westen Träger des Gleichheitsgedankens war. Einige Führer der Dalits, die in Indien inzwischen als Macaulayts bezeichnet werden, gehen sogar so weit, ihren Schutzpatron als einen der größten Philosophen zu bezeichnen, den unser Planet je hervorgebracht hat (was zumindest zeigt, dass das Problem, welches sie belastet, als außerordentlich groß empfunden wird).

 

Damit sind wir dem Motiv für die Fälschungstat ein wesentliches Stück nähergekommen. Es liegt auf der Hand, dass sich die indischen Traditionalisten davon, dass sich die Dalits zur Untermauerung ihrer Forderung nach Gleichheit ausgerechnet auf einen englischen Lord berufen, nicht nur als Hindus sondern auch Vertreter der indischen Nation herausgefordert fühlen. Wir dürfen unseren Fälscher daher in diesen Kreisen vermuten. Er und seine Adressaten haben ein Interesse daran, Macaulays Ruf in den Schmutz zu ziehen. Das Interesse aber ist eines der wichtigsten Elemente des Tatmotivs. Tatsächlich gilt Macaulay vor allem den Hindunationalisten neben den drei anderen „Ms“ – Moslems, Marxisten und Missionare – als einer der großen Zerstörer der altindischen Kultur, die sie sich – damit schließt sich der Kreis – wie am Anfang des „Zitates“ angedeutet, ohne all die Übel vorstellen, welche sie in der heutigen indischen Gesellschaft beklagen. Sinnigerweise können sie sich dabei nicht zuletzt auf die Schilderungen einiger früher Indienbesucher berufen, die, was Reisende gelegentlich tun, in ihren Berichten möglicherweise auch etwas dick aufgetragen haben, so der Grieche Megastenes, der Indien um 320 v. Chr. besuchte und die Wahrheitsliebe, Ehrlichkeit und Gerechtigkeit seiner Einwohner rühmte oder der Chinese Yuan Chwang, der im 6. Jh. nach Chr. berichtete, die Inder kennten keine List und keinen Trug.

 

Es bleibt noch die Frage, warum der Fälscher meinte, so plump vorgehen zu können. Der Grund hierfür ist offenbar, dass er nicht nur von einem mangelnden Interesse seiner Adressaten an den Tatsachen ausgegangen ist, sondern auch von einer begrenzten Fähigkeit, mit ihnen umzugehen. Er scheint geglaubt haben, dass seine Leser nicht ohne weiteres in der Lage seien, Tatsachen von Behauptungen zu unterscheiden, dass also Tatsachen ihre Meinungen in besonders geringem Ausmaß beeinflussen. Dies führt uns zu einem Problem, das Indienbesuchern schon immer aufgestoßen ist und das sie nicht wenig verwirrt hat. Wer Indien der Länge und der Breite nach bereist der wird – und zwar schon bei ganz alltäglichen Dingen – in einem Ausmaß, das für einen Europäer schwer fassbar ist, mit Verhaltens- und Denkweisen konfrontiert, welche von der Vernachlässigung oder Missachtung von Tatsachen zeugen. Die Tatsachen bzw. die Behauptung derselben sind in einem für uns völlig ungewohnten Ausmaß mit Bedeutung aufgeladen. Sie scheinen weitgehend ein Instrument zur Gestaltung sozialer Beziehungen zu sein, was naturgemäß immer dann besonders störend ist, wenn Nützlichkeitserwägungen im Spiel sind. Vor allem europäische Beobachter haben sich über diesen Umgang mit den Tatsachen daher enttäuscht, meist sogar entrüstet geäußert (und die Schilderung dieses Phänomens gerne zur Demonstration ihrer eigenen Wahrheitsliebe verwendet).

 

Für Macaulay war diese Eigenart des indischen Denkens ein weiteres grundlegendes Hindernis auf dem Weg zu einer modernen Gesellschaft. Die Ursache hierfür sah er nicht zuletzt in der traditionellen indischen Literatur, die bis dato dem höheren Unterricht zu Grunde gelegt wurde, und in der es in der Tat ungewöhnlich tatsachenfremd zugeht. In den „minutes“ vom 2.2.1835 stellte er fest, dass in Indien medizinische Lehren herrschten, die einem englischen Pferdearzt zur Schande gereichen würden, eine Astronomie, die bei Mädchen eines englischen Internats Gelächter hervorrufen würde, eine Geschichtsdarstellung, die voller Könige von 30 Fuß Größe sei, deren Herrschaft 30.000 Jahre andauerte, und eine Geografie, die Seen aus Butter und Syrup kenne. Oberste Priorität war daher für ihn, in Indien eine wissenschaftliche, das heißt an Tatsachen orientierte Denkweise zu etablieren. Er war überzeugt davon, dass die traditionelle Denkweise Indiens, die der Europas im Mittelalter ähnlich sei, durch die Einführung moderner europäischer Literatur ebenfalls bald überwunden werde.

 

Der Lord mit der Neigung zur geistigen Koloniegründung hat sich über die Möglichkeiten des Kulturtransfers auch hier gewaltig getäuscht. Er hat nicht gesehen – und als eurozentrischer Rationalist vermutlich auch nicht sehen können – wie sehr europäisch unsere Art des Interesses an den Tatsachen ist und wie tief das Desinteresse daran in der indischen Kultur verwurzelt ist. Ein Denkgebäude, das den indischen Geist besonders gut zum Ausdruck bringt, ist etwa die Philosophie des Avaita Vedanta, die Schankara, der als der größte Denker Indiens gilt, im 8. Jahrhundert nach Chr. auf ihren Höhepunkt geführt hat. Nach dieser Philosophie, die sich unmittelbar auf die altindischen Texte der Upanishaden bezieht, ist die Welt der Tatsachen mit ihren kausalen Verhältnissen nur scheinbar wirklich. Sie verhülle wie ein täuschender Schleier, den die Inder Maya nennen, die eigentliche Wirklichkeit. Das wahre Interesse der menschlichen Erkenntnis sei darauf gerichtet, den Schleier der Maya zu durchstoßen und zum eigentlichen Sein durchzudringen, in dem alle Unterscheidungen und Kausalitäten und auch alle moralischen Bewertungen keine Rolle mehr spielen. Es versteht sich, dass es die Tatsachen in einer Kultur, die von solchen Gedanken beherrscht wird, nicht gerade einfach haben.

 

Nun hat Indien sicherlich nicht das Monopol für Tatsachenwidrigkeit. Die „Falschheit“ ist eine Grundfunktion des menschlichen Geistes, dem freilich in Indien eine besondere dominante Rolle zugewiesen ist. Nietzsche stellte sogar einmal fest, nichts sei unbegreiflicher, als wie unter den Menschen ein ehrlicher und reiner Trieb zur Wahrheit aufkommen konnte. Man kann sich auch des Eindrucks nicht erwehren, als gewönne die Tatsachenwidrigkeit in einer Zeit, in der die Medien eine immer größere Rolle bei der Vermittlung der Tatsachen spielen, gerade auch in unserer angeblich so tatsachenorientierten Kultur zunehmend an Boden. Der Fall Macaulay geht aber über dieses allgemeine Problem hinaus. Er ist symptomatisch dafür, welche Hemmnisse dem Export einer Tatsachenorientierung und Wissenschaftlichkeit europäischer Genese, die wir wie Macaulay gerne als universelles Prinzip ansehen, in anderen Kulturen entgegenstehen. Es ist von geradezu symbolischer Bedeutung, dass ausgerechnet ein Mann wie der indische Präsident Kalam das falsche Macaulay-Zitat verwendete. Kalam ist ein Mann der Wissenschaft. Er hat als Vater des indischen Raketenprogramms wesentlich dazu beigetragen, dass das Land in einem wichtigen Bereich des technologisch-wissenschaftlichen Denkens zur Weltspitze aufschließen konnte. Jahrelang war er der oberste Wissenschaftsberater der indischen Regierung. Er müsste also eigentlich ein Mann der Denkart sein, wie ihn sich Macaulay für Indien gewünscht hatte. Dennoch ist ihm nicht aufgefallen, dass an dem „Zitat“ des Mannes, der die Genauigkeit des Denkens nach Indien bringen wollte, nichts mit den Tatsachen übereinstimmen kann.

(Näheres zu Person und Leben Macaulays findet sich im dem Essay „Politischer Kopf“ in diesem Blog – vgl.  Inhaltsverzeichnis IV, 13)

 

 

<!–[if !supportFootnotes]–>

<!–[endif]–>

<!–[if !supportFootnotes]–>[1]<!–[endif]–> I have travelled across the length and breadth of India and I have not seen one person who is a beggar, who is a thief. Such wealth I have seen in this country, such high moral values, people of such calibre, that I do not think we would ever conquer this country, unless we break the very backbone of this nation, which is her spiritual and cultural heritage, and, therefore, I propose that we replace her old and ancient education system, her culture, for if the Indians think that all that is foreign and English is good and greater than their own, they will lose their self-esteem, their native self-culture and they will become what we want them, a truly dominated nation.