Monatsarchiv: April 2010

Auf der Suche nach dem verlorenen Paradies –Tagebuch einer Rucksackfamilienreise durch Malaysia im Jahre 1985 – Teil 17

Der vollständige Text befindet sich auf der Seite IX Reisetagebuch Malaysia 1985

Wir schlendern durch die Gassen mit ihren aneinandergebauten kleinen Häusern. Hübsche Fassaden finden sich hier und dort. In der Nähe der Tempel kommen wir an einer chinesischen Sargschreinerei vorbei. Die großen geschwungenen Behältnisse aus massivstem Holz – Hauptteil und Abdeckung bestehen jeweils aus einem Stück – sind auf der Straße gestapelt. Sie sind so schwer, dass man mehrere Personen benötigt, um sie auch nur anzuheben. Mancher Urwaldriese landet so auf einem chinesischen Friedhof.

Unerwartet stehen wir vor einem Komplex von rot getünchten Gebäuden. Ein Hauch von Heimat weht um diesen Platz. Hier befand sich das alte holländische Verwaltungszentrum aus dem 17. Jahrhundert. In rötlicher Eintracht stehen "Palast" und Kirche, die Insignien kolonialer Macht, nebeneinander. Von diesem bescheidenen Platz, der sich in einer europäischen Kleinstadt befinden könnte, wurde einst das riesige hinterindische Kolonialreich regiert, ein Reich, das um vieles größer war als das des jeweiligen "Mutterlandes". Es liegt eine merkwürdige Ironie in der Vorstellung, dass die großen Entdecker und Eroberer von einem solchen Provinzstädtchen träumten, wenn sie an Gewürzinseln und Fernosthandel, ja an die Herrschaft über ganz Südostasien dachten. Nur zu deutlich zeigt die idyllische Beschränktheit dieses Machtzentrums, mit welcher Arglosigkeit die Einheimischen den europäischen Welteroberern begegneten. Und sie legt die ganze Schamlosigkeit bloß, mit der sich die "Langnasen" fremden Eigentums bemächtigten.

Wir betreten den verschachtelten ehemaligen Verwaltungspalast. Er ist eher spartanisch eingerichtet. Heute befindet sich dort eine erstaunlich großmütige Ausstellung über die Epoche europäischer Hypertrophie, in der Wahrnehmen und In-Besitz-Nehmen nur schlecht getrennt wurden. Auch vom vorkolonialen Malakka ist einiges zu sehen, vor allem Darstellungen des alten Sultanspalastes, der eine wahre Apotheose malakkischer Spitzgiebeligkeit gewesen sein muss. Man kann düstere Spekulationen darüber anstellen, warum von ihm nichts mehr übrig ist.

Spätestens diese Ausstellung hat ein Problem verdeutlicht. Mit dem Anwachsen des kulturellen und historischen Angebotes beginnt die Interessenlage von Erwachsenen und Kindern auf dieser Reise erstmals deutlich auseinanderzudriften. Erstaunlicherweise findet sich eine Lösung, die beiden "Parteien" gerecht wird. Malakka hat ein Schwimmbad. Ich nehme zur Abkühlung der Gemüter den heißen Gang zurück in die Stadt in Kauf, um im Hotel die Badesachen zu holen. Dann gehen die Kinder einem kühlen Schwimm- und die Eltern einem weniger kühlen Besichtigungsvergnügen nach.

Man muss in Malakka das älteste "europäische" Gebäude Asiens gesehen haben – eine Festung – mit dazu gehörender Kirche versteht sich. Viel ist von der einst mächtigsten portugiesischen Festung im fernen Osten nicht übrig, im Wesentlichen ein prächtiges Tor und die Ruine der Kirche. Albuquerque, der große portugiesische Welteroberer der ersten Generation, ließ das Bollwerk Anfang des 16. Jahrhunderts bauen, nachdem er im Jahre 1511 die schon damals bedeutende Handelsstadt mit nur 800 Portugiesen "eingenommen" hatte. Die Festung war der vorläufige Schlussstein im neuen Weltreich des kleinen europäischen Seefahrervolkes.

Man brauchte damals nicht viel, um ein Weltreich aufzubauen. Eine Festung in Mozambique, die eine oder andere in Indien, eine weitere in Malakka und der Segen des Papstes – das war die Grundlage für die Herrschaft über die Hälfte der – neuen – Welt. Diese hatte Portugal anno domini 1494 – Amerika war gerade entdeckt – im Vertrag von Tordesillas vom Papst zur Aneignung erhalten. Auf westlich-rationale Weise zog man in diesem wohl erstaunlichsten Vertrag der Weltgeschichte in der Nähe der Kapverdischen Inseln kurzerhand einen geraden Strich von Pol zu Pol und teilte so die neue Welt gerecht zwischen den "Findern" Spanien und Portugal. Fünfunddreißig Jahre später, als die "Parteien" dieses Vertrages zu Lasten Dritter nähere Kenntnis von der Lage und dem ungeheuren Umfang der Beute hatten, präzisierten sie die Grenzziehung noch einmal im Vertrag von Saragossa. Bei der Auslegung des Vertrags von Tordesillas waren nämlich unerwartete Schwierigkeiten aufgetreten. Albuquerque hatte die molukkischen Gewürzinseln, um die sich die Welt damals drehte, 1512 von portugiesischer Seite, also von Osten kommend, entdeckt. Die Spanier hatten sie zehn Jahre später von Westen, also von ihrer Seite gefunden. Irgendwo in der Nähe der Molukken verschwimmen nun aber aus europäischer Sicht Ost und West, so dass die schöne klare Grenzziehung von Tordesillas ausgerechnet bei den heißbegehrten Gewürzinseln ins Wanken geriet. Darüber hinaus stritten die ehrenwerten Finder um den „rechtsgültigen“ Aneignungsmodus. Albuquerque hatte die Inseln zwar als Erster entdeckt, er hatte aber – ein unverzeihlicher Fehler für einen rechten Eroberer – vergessen, sie in der erforderlichen förmlichen Weise in Besitz zu nehmen. Das wiederum hatten die verspäteten Spanier nicht versäumt. (wahrscheinlich haben sie eine Fahne in den Strand gesteckt und ein paar hohe Worte in den Wind gesprochen). Nachdem, wie man sieht, beide gute Gründe für ihren Anspruch auf die Inseln hatten, einigte man sich unter Gentlemen. Die Portugiesen bekamen die ostasiatischen Kleinode. Spanien musste sich mit dem unförmigeren amerikanischen Kontinent trösten, was ihm, wie bekannt, nicht sonderlich schwer gefallen ist.

Eine Hinterlassenschaft aus dieser Zeit, ist auch die Portugiesische Siedlung. Wir fahren mit dem Bus einige Kilometer die Küste entlang und schlendern durch die Straßen dieser menschlichen Insel. Hier wohnt, 350 Jahre nach der Vertreibung der Portugiesen durch die Holländer, eine zirka 2000 Personen starke Kolonie, die Traditionen aus der portugiesischen Zeit beibehalten hat. Die Portugiesen hatten keine Einwendungen gegen eine Vermischung der Rassen. Noch heute soll man hier, wenn man genau hinsieht europäische Gesichtszüge feststellen können (man muß in der Tat ziemlich genau hinschauen). Die handvoll Mischlinge, die übrig geblieben ist, hat sich über die Jahrhunderte nicht nur den christlichen Glauben, sondern auch die portugiesische Sprache erhalten, was angesichts der gänzlich andersartigen Umgebung und der völligen Abkoppelung vom "Mutterland" wie ein soziales Wunder erscheint. In der Siedlung, die einen gewissen Wohlstand ausstrahlt, sind allenthalben Hinweise auf christliche Gebräuche zu sehen. Wahrscheinlich ist das, was von der portugiesischen Sprache übrig geblieben ist, eine Fundgrube für Sprachhistoriker.

Es herrscht eine entspannte Abendstimmung in der lebhaften kleinen Kolonie. Zahlreiche Kinder spielen auf der Straße. Alle scheinen aufgeräumt den lauen Abend zu genießen.

In der anbrechenden Dämmerung laufen wir ein gutes Stück in Richtung Stadt zurück. Den Rest fahren wir mit dem Bus. Ein gesprächiger Inder will wissen, welche Früchte wir in Malaysia kennen gelernt haben. Wärmstens empfiehlt er uns die Eierfrucht, ein stachliges Riesengewächs in der Form eines überdimensionalen Schwartemagens, das hier überall in den Läden zu haben ist. Sie ist vermutlich die größte Baumfrucht, die die Welt kennt, kann mehr als einen halben Meter lang sein und über 10 Kilogramm wiegen. Wehe wem das Obst auf den Kopf fällt.

Fröhlich kommen uns am Schwimmbad die ausgetobten Kinder entgegen. In der Nähe des Strandes essen wir in einer geradezu unasiatisch ordentlichen Ansammlung von Straßengarküchen. Der Nachtisch wird im Hotel in Form eines Ananaswettessens gereicht. Die Kinder meinen, jeder eine ganze Ananas essen zu können. Die Augen sind aber größer als die Mägen.

Wir spazieren noch ein wenig durch die abendlichen Gassen. Gegenüber dem Tempel dringt aus einem Haus lautes Trommeln. Wir schauen in den Eingang hinein und werden Zeugen der Probe für einen wilden Drachentanz. Junge Leute hantieren mit einer furchterregenden Drachenmaske, die von zwei Personen im textilen Körper des langen Ungetiers getragen wird. Der Drache soll sich zu ohrenbetäubenden Trommelschlägen aufbäumen, wozu der eine Träger blitzschnell auf die Schultern des anderen klettern muss. Man ist mit großem Eifer und beachtlicher Akrobatik bei der Sache. Auch die Kleinen – sie sind höchstens 6 bis 8 Jahre alt – dürfen sich beteiligen. Sie versuchen sich an den komplizierten Rhythmen der Trommel, was sie mit Verve und Bravour bewerkstelligen.

Beim letzten Gang durch die Stadt – die Kinder sind bereits im Bett – treffen wir in einer Seitengasse auf eine kleine Halle, die zur Straße hin offen ist. Darin befindet sich eine große Zahl von Chinesen, die nach einem offensichtlich strengen Ritual im Kreis gehen. Die ernsten Mienen und die schwarze Kleidung deuten auf eine Trauerzeremonie. Im hinteren Teil des Raumes ist eine Art Altar aufgebaut, an dem ein Priester hantiert. Nach einiger Zeit schließt er sich dem Marsch der Trauergemeinde an. Ein junger Mann tritt auf die Straße, legt verschiedene Gegenstände aus Papier in die Regenrinne und zündet sie an. Im Raum ist ein ganzer Tisch voller Papiergeschenke für den Toten, darunter Stühle und ein Auto. Nachdem der Marsch beendet ist, hebt im hinteren Teil des Raumes ein lautes Kreischen an. Klageweiber stimmen ein herzerweichendes Geheul an. Danach beginnt sich die Trauergesellschaft zu verlaufen. Man geht seiner Wege, so als habe man die Erfüllung einer Pflicht abgeschlossen. Bei aller Ernsthaftigkeit ist während der ganzen Zeremonie immer Distanz zu spüren gewesen. Das Leid wurde offensichtlich durch das Ritual gebändigt. Es gab keine unkontrollierten Gefühlsausbrüche. Selbst das vehemente Klagegeheul hatte etwas Formales. Nie hatte man den Eindruck, dass der Tod auch für die Lebenden eine Tragödie sei.

Auf unserem Gang durch die Stadt geraten wir in eine schmale Straße, in der sich prächtige Häuserfassaden finden, einige davon sind geradezu palastartig. Wie Reihenhäuser stehen sie unmittelbar aneinander, jede Fassade in einem anderen Stil. Die Palette reicht von klassisch-chinesisch bis zum europäischem Klassizismus. Die Straße bedarf dringend der Nachbearbeitung bei Tageslicht.

Den Rest des Abends verbringen wir in einem größeren Gartenrestaurant, in dem sich das bescheidene Nachtleben von Malakka zu konzentrieren scheint. Junge Leute fahren mit Autos und Motorrädern vor. Sonst tut sich nicht viel. In der Nacht genießen wir unsere Klimaanlage.

Der vollständige Text befindet sich auf der Seite IX Reisetagebuch Malaysia 1985

Auf der Suche nach dem verlorenen Paradies – Tagebuch einer Rucksackfamilienreise durch Malaysia im Jahre 1985 Teil 16

Der vollständige Text befindet sich auf der Seite IX Reisetagebuch Malaysia 1985 

3.4.1985

Abfahrt von K-L. Früh raus, keine Zeit für ein richtiges Frühstück, Rucksäcke auf und zum riesigen Busbahnhof, wo schon großes Gedränge herrscht. Der Bus nach Malakka ist ohne Kühlung, es steht also eine heiße Reise bevor. Die Fahrt durch die Vorstädte von Kuala Lumpur zeigt, dass das Reihenhauszeitalter auch im dünnbesiedelten Malaysia angebrochen ist. Es folgen palmenumrandetes Land, Felder, Plantagen. Irgendwo am Straßenrand, wo der Bus anhält, versuchen wir vergebens, unser mageres Frühstück nachzubessern.

Mit der Annäherung an Malakka ändert sich der Stil der Häuser. Immer häufiger finden sich romantisch anmutende geschweifte Dächer mit spitzen Giebeln, die sich wie Schiffsschnäbel in die Höhe recken. Bei neueren Bauten sind gelegentlich ganze Dachorgien aufeinandergetürmt. Überhaupt ist eine deutliche Betonung des spielerischen Elementes in der Architektur festzustellen, hübsche Schnitzereien finden sich, Erker, prächtige Eingangstreppen. Dazu sind die Häuser malerisch in Palmenhainen verstreut. Die Fahrt durch diese üppige Kulturlandschaft ist eine einzige Freude voller Abwechslung. Irgendwo verlassen wir die stark befahrene Nord-Süd Straße und nähern uns auf kleineren Straßen der alten Hafenstadt Malakka.

Der Name Malakka hat einen großen Klang. Es schwingt etwas von Seefahrtabenteuern darin, Pfeffer ist im Spiel, Piraten und Weltpolitik. Die Stadt beherrschte einst die wichtige Meeresstraße zwischen der malayischen Halbinsel und Sumatra und war Zentrum eines mächtigen Reiches. Ihr Ruhm war so groß, dass man nicht nur dieses Meerestor nach Ostasien, sondern auch die ganze riesige Halbinsel nach ihr benannte.

Der erste Eindruck dieser Stadt von einst welthistorischer Bedeutung ist nicht eben bedeutend. Der Bus hält – unmotiviert, wie es scheint – auf einem kleinen Platz in einem nichtssagenden modernen Viertel. Weit und breit ist nichts von Piraten und Pfefferkontoren zu sehen. Dazu kommt, dass der Versuch, unseren inzwischen mächtig angewachsenen Hunger zu stillen, fehlschlägt. Vergeblich laufen wir die Umgebung der Bushaltestelle nach einem geöffneten Restaurant ab. Es ist zwei Uhr. In einem ordentlichen Büroviertel ist die Mittagszeit dann wohl vorbei.

Ein Passant, den wir nach Hotels gefragt haben, versucht uns – wieder einmal – davon zu überzeugen, dass für uns ein solches nur in den modernen Teilen der Stadt, also in der Nähe der Bushaltestelle, in Frage kommen könne. Als wir uns dennoch auf den Weg ins alte Zentrum begeben, läuft er uns nach, um uns darauf aufmerksam zu machen, dass wir die falsche Richtung eingeschlagen hätten. Wir bleiben unserer antiquarischen Linie aber treu. Der Erfolg scheint uns schon bald recht zu geben.

Ein erster Hauch von fernöstlicher Seeromantik zieht vorbei. Wir überqueren einen kleinen Fluss, in dem einige abenteuerlich anmutende Holzdschunken liegen. Das war es aber dann auch schon. Jenseits des Flusses tut sich eine Kleinstadtidylle auf, enge Gassen mit niedrigen Häusern, in deren Untergeschoß sich chinesische Läden befinden, in denen Allesmögliche verkauft wird – das Ganze ziemlich geordnet und nicht gerade exotisch. Eine kleine Moschee von merkwürdig "unislamischem" Aussehen fällt auf. Mit ihrem grünen Dach und den gedrungenen Proportionen sieht sie irgendwie tropisch aus – hier muss Sumatra im Spiel sein. Die riesige Nachbarinsel – sie ist fast viermal so groß wie der malaysische Teil der Halbinsel Malakka – gehörte einmal fast ganz zum Reich von Malakka. Ihr Einfluss spiegelt sich auch in den "fremdländischen", weil nicht-arabischen Formen der großen Moschee wieder, in deren Nähe wir ein Quartier suchen.

Wir finden "unser" Hotel – in einem typischen Altstadtgebäude mit blumengeschmücktem Innenhof. Es gelingt uns sogar, den erhöhten zivilisatorischen Ansprüchen gerecht zu werden, die wir nach allgemeiner lokaler Meinung stellen sollen. Erstmals leisten wir uns den Luxus von air conditioning. Mitenthalten im Preis – er beträgt für uns fünf etwa so viel wie für eine Person in Deutschland – ist auch ein Bad, überflüssigerweise mit heißem Wasser.

Schon kurze Zeit nach dem Einzug in unser kühles Luxusgemach fällt auch ohne Bad oder Dusche alle Klebrigkeit von uns ab. Die Lebensgeister, die von Hitze und Hunger danieder geworfenen waren, erheben sich wieder. Aber wir sind nicht nach Malakka gekommen, um uns an heimatlichen Temperaturen in einem Hotelzimmer zu erfreuen. Also machen wir uns wieder auf den Weg. Beim Verlassen unseres Zimmers wird nun umso deutlicher, welche Verhältnisse draußen herrschen. Feucht-heiße Luft schlägt uns entgegen, dass es uns fast den Atem verschlägt. Nach einiger Zeit hat man sich aber daran wieder gewöhnt.

Was hat Malakka zu bieten? Zunächst hoffentlich etwas zu Essen. Schon wenige Meter von unserem Hotel entfernt, findet sich eine kleine chinesische Spelunke, die wir zum Erstaunen der Einheimischen betreten. Man schenkt uns darob besonders freundliche Aufmerksamkeit und bereitet uns ein sehr schmackhaftes Mahl. Dann kommen andere Köstlichkeiten. In der gleichen Straße befindet sich, nicht weit von der eher bescheidenen großen Moschee, der alte chinesische Tempel, ein wirklich "großes", originales Bauwerk aus einer Zeit, lange bevor die Engländer die Vorfahren der heutigen malaysischen Chinesen als Arbeiter für Plantagen und Zinnminen ins Land holten. Der Tempel wurde Anfang des 18. Jahrhunderts von einem großen chinesischen Baumeister gebaut und soll einer der schönsten außerhalb Chinas sein. Ein ganz anderes und ganz neues malaysisches Abenteuer beginnt.

Nach all der Natur und der nur nachempfundenen religiösen Architektur im jungen Malaysia stehen wir erstmals vor dem gewachsenen Bauwerk einer fernen alten Hochkultur: außen geschweifte Dächer, dezent geschmückt mit feinen, lackierten Szenerien, an der geschwungenen Giebelwand eine Reihe locker hingeworfener Fresken; im Innern raumschaffende Balkenkonstruktionen, Betonung der Breite mehr als der Tiefe, schwarze und tiefrote Farben, durchsetzt mit Gold, überall elegante Schnitzereien; alles sehr ehrwürdig. Viel Betrieb herrscht um den Tempel nicht. Der Mangel an steifer Würde und Weihe fällt auf. Die einheimischen Besucher bewegen sich mehr wie an einem Ort, an dem man zu Hause ist. Eine Frau – sie gehört offenbar zu den Tempelbetreuern – schenkt den Kindern getrocknete Pflaumen, die man wohl im Tempel verspeisen soll. Ganz unbefangen streichelt sie den Kindern über die Blondschöpfe. Im Tempel verrichten Chinesen rituelle Handlungen. Man schüttelt aus einer Blechdose, in der sich ein Bündel dünner Stäbchen befindet, geräuschvoll ein einzelnes Stäbchen heraus. Scheitert der Versuch, der einige Geschicklichkeit erfordert, fällt also mehr als ein Stäbchen auf den Steinboden, wird das Ganze ohne einen Anflug von Peinlichkeit wiederholt. Andere werfen kleine abgerundete Hölzer auf den Boden und lesen sie wieder auf. Es scheint sich um so etwas wie himmlische Glücksspiele zu handeln, eine Mischung von aktiver Zukunftsgestaltung und Schicksalsergebenheit, die, wiewohl sie auch für andere Religionen nicht untypisch ist, hier besonders ins Auge fällt.

Draußen im Hof des Tempels befinden sich einige Blechtonnen, in denen Feuer lodert. Wir beobachten eine alte Frau, die gerade dabei ist, Gegenstände aus Papier zu verbrennen, darunter, wie sich bei näherem Hinsehen erweist, Papierhemden. Mit dieser Beobachtung löst sich ein Rätsel, das sich uns auf dem Weg zum Tempel gestellt hat. In einigen Läden haben wir eine Menge ziemlich fragil erscheinender Bekleidungsstücke gesehen. Vor allem die Schuhe schienen – bei aller Preisgünstigkeit – reichlich leicht gebaut. Sie sind, was uns jetzt klar wird, ebenfalls aus Papier und werden, wie die Hemden, verbrannt, um die Bedürfnisse der Ahnen im Jenseits zu befriedigen. Das gleiche gilt für alle anderen Waren in diesen Geschäften. Liegestühle, Schränke, Betten und Geschirr – der gesamte angebotene Hausrat ist von Papierqualität, was uns, wie offenbar den Ahnen, zunächst auch nicht aufgefallen war. Es scheint, dass die Chinesen bei den Ahnen Bedürfnisse vermuten, die weit über das hinausgehen, was nach unseren Vorstellungen durch himmlische Notwendigkeiten bedingt sein könnte. Sie begnügen sich daher nicht damit, die Ahnen mit Segenswünschen und Fürbitten auszustatten, sondern gewähren ihnen greifbaren Komfort. Erstaunlicherweise lassen sie die Vorfahren sogar am technologischen Fortschritt teilnehmen. Via Verbrennung schicken sie ihnen auch Gegenstände, die ihnen zu Lebzeiten noch nicht bekannt sein konnten. Es gibt Kameras aus Papier, Radios, Videorecorder und Fernsehgeräte. Dabei haben die Fernsehgeräte ein erfrischend kühles Bild von den Schweizer Alpen auf dem Schirm, dem Wunschtraum eines jeden Bewohners der Tropen, die es offenbar auch im Jenseits gibt.

Größere Gegenstände wie Autos und Häuser bieten die Ahnenfachgeschäfte praktischerweise in verkleinerter Form an. Es scheint, dass die Dimensionen im Jenseits variabel sind (eine Vorstellung, an der Einstein seine Freude gehabt hätte). Im Übrigen kann man für wenig Geld Banknoten kaufen. Die riesigen Nennwerte lassen auf eine jenseitsmäßige Inflation schließen, was bei dieser Art der Geldschöpfung freilich kein Wunder ist.

Man kommt nicht umhin, sich zu fragen, nach welchen Kriterien sich ein Chinese für ein Geld- oder Sachgeschenk entscheidet. Denn wenn man Geld schenken kann, dann muss es im Jenseits ja auch etwas zu kaufen geben. Sieht man von den erwähnten relativistischen und politökonomischen Problemen ab, kann man davon ausgehen, dass es nach der Vorstellung der Chinesen im Jenseits ziemlich irdisch zugeht. Ihnen fehlt offenbar unser abstrakter Begriff von der ewigen Glückseeligkeit, unter der sich bei uns ja auch niemand so recht etwas vorstellen kann. Tatsächlich haben ja auch die chinesischen Kultfiguren, – etwa die allgegenwärtigen Löwen und Drachen – etwas Handfestes und Unideales.

Angesichts dieser chinesischen Vorstellungswelt kommt man unweigerlich ins Grübeln über den Ursprung und die Folgen der Abstraktion im Religiösen. Jetzt fehlt mir Kulit. Wir hätten uns sicher stundenlang darüber unterhalten, ob die religiösen Abstraktionen, insbesondere die Vorstellung von einem unsichtbaren Gott und einem abstrakten Paradies, welche sich in einer Ecke des östlichen Mittelmeerraumes entwickelte, die in abstrakten Dingen generell recht fruchtbar war, die Suche des Abendlandes nach den unsichtbaren Gesetzen der Wissenschaft und der Technologie provozierte, die später zu der stupenden Durchsetzungsfähigkeit der westlich-rationalen Kultur über alle anderen Kulturen der Welt führen sollte, zu Welteroberung und Kolonialismus, am "Ende" aber auch zu politischer Freiheit und zur "Entdeckung" der Menschenrechte.

In unmittelbarer Nachbarbarschaft dieses Tempels findet sich noch ein weiterer chinesischer Tempel. Den Bürgern von Malakka war das prächtige alte Gebäude offenbar nicht gut oder nicht modern genug. So bauten sie in neuester Zeit gleich daneben mit großem Aufwand einen noch größeren Tempel, dessen weite Hallen nur so von Marmor blitzen. Neben dem ehrwürdigen alten Bauwerk wirkt er neureich und hat keine Atmosphäre.

Wir schlendern durch die Gassen mit ihren aneinandergebauten kleinen Häusern. Hübsche Fassaden finden sich hier und dort. In der Nähe der Tempel kommen wir an einer chinesischen Sargschreinerei vorbei. Die großen geschwungenen Behältnisse aus massivstem Holz – Hauptteil und Abdeckung bestehen jeweils aus einem Stück – sind auf der Straße gestapelt. Sie sind so schwer, dass man mehrere Personen benötigt, um sie auch nur anzuheben. Mancher Urwaldriese landet so auf einem chinesischen Friedhof.

Der vollständige Text befindet sich auf der Seite IX Reisetagebuch Malaysia 1985 

Auf der Suche nach dem verlorenen Paradies – Tagebuch einer Rucksackfamilienreise durch Malaysia im Jahre 1985 – Teil 15

2.4.1985

K L. Vom Hotel aus laufen wir im Schatten der schmalen Laubengänge durch die Reste des Chinesenviertels mit seinen überquellenden Läden. Irgendwo geraten wir in einen chinesischen Tempel mit weitläufigen Haupt- und Nebenräumen, alle mit rot-schwarzem Gebälk und reichen Goldornamenten ausgestattet. Dann kommen Viertel aus neuerer Zeit. Leider fehlen hier die erprobten Laubengänge – vermutlich weil diese Art internationaler Architektur hier genauso wie in Toronto aussehen muss, wo man keiner Laubengänge bedarf. Es wird also heiß.

Eine Zeitlang suchen wir Schutz in einem supermodernen riesigen Bankgebäude. In der weiten Schalterhalle herrscht vielrassige Geschäftigkeit. Nonnenhaft verhüllte islamische Malayinnen arbeiten neben Chinesinnen, die nach dem letzten Schick herausgeputzt sind, wahre Paradiesvögel die einen, trocken prosaisch die anderen, dazwischen Inderinnen, modern und mit dem traditionellen Sari gekleidet. Die Männer geben sich modisch und hell. Es ist das bunte Bild einer jugendlich fühlenden Gesellschaft in Aufbruchstimmung. Von Abkapselung und Intoleranz, die Malaysia schon einige Unruhe beschert haben, ist nichts zu spüren.

Erholt von diesen kühlen Hallen begeben wir uns ins "alte" Zuckerbäckerviertel um den Bahnhof. Türmchen und Erkerchen, Dachhelme und Hufeisenbögen – an den kolonialen Verwaltungsgebäuden ist die ganze Pracht islamisch-asiatischer Formen aufgeboten. Dazwischen fällt der Blick auf die neuen Betongebirge, die den Charme von Tafelbergen ausstrahlen. Aus neuerer Zeit ist auch die Nationalmoschee, ein antizuckerbäckerischer Geradlinienbau, der nicht viel mehr als eine beachtliche Ausdehnung und teure Materialen zu bieten hat. Zur Besichtigung müssen wir uns eine dunkle Robe überwerfen. Darunter können wir ermessen, welche heiße Prüfungen Allah für die Ungläubigen bereit hält.

Nach dem religiösen Nationalmonument folgt das weltliche. Wir sind wieder am Ölfirmengebäude. Diesmal gehen wir hinein – schon weil es darin kühl ist. Drinnen glänzt und blitzt es von poliertem Marmor und Messing. Zum vollständigen Klischee von der geldtriefenden Ölbranche fehlt eigentlich nur noch, dass der „Dallas“-Filmbösewicht J. R. Ewing, der hierzulande ein großes Publikum hat, aus einem der Aufzüge tritt. In dem geschäftigen Gebäude herrscht die Reinlichkeit des Kampongs, allerdings multipliziert mit der Anzahl der Stockwerke des Büroturmes. Zwei Frauen gehen ständig mit überdimensionalen Staubwischern über den ohnehin schon spiegelblanken Steinboden der Eingangshalle.

Nicht weit von diesem Geldtempel befindet sich mitten im Stadtzentrum der Cricket-Club, eine naiv-ländliche Kolonialidylle im Tudorstil mit einem ziemlich platzgreifenden saftig grünen Rasen, das Ganze umragt von Wolkenkratzern.

Wir schlendern durch das traditionelle Geschäftsviertel, bewundern die prächtigen indonesischen Batiken mit ihren sattbraunen Farben auf hellem Untergrund und staunen über Korkschnitzereien aus China, haarfeinen Gebilden, die in immer neuen Variationen luftige Pavillons mit geschweiften Dächern zeigen, die in knorrigen, durchweg von zwei Störchen bevölkerten Landschaften stehen. Am Eingang eines jeden Geschäftes sind Verkaufsstände für die vielfältigen technischen Kleinwaren, die in Süd- und Ostasien hergestellt werden, Taschenrechner, Computerspiele, Billigquarzuhren und Ähnliches. Wir decken uns mit Reisemitbrinseln ein. Die Hitze ist auf dem Höhepunkt angekommen. Deswegen suchen wir in den Kaufhäusern vornehmlich die Nähe der Düsen, aus denen die klimatisierte Luft strömt. Manche der berüchtigten tropischen Erkältungen hat darin ihre Ursache.

Mittagsrast – der Schweiß fließt dabei in besonders ergiebigen Strömen. Wir lassen uns in einem jener Restaurants am Straßenrand nieder, in denen die Einheimischen zu essen pflegen, bestehend aus dem überdachten Gang entlang eines Gebäudes, Tischen und Stühlen in dessen Schatten und einer Reihe improvisierter Küchen, die sich halb auf der Straße befinden. Aus den Gasflaschen strömen mit großem Druck die Flammen, mit denen in zahlreichen Kesseln und Pfannen so heftig gekocht und gebraten wird, dass kaum ein magenturburlierendes Bakterium eine Chance auf Überleben haben dürfte. Die ohnehin durch drangvolle Enge und Menschenmassen wohltemperierte Umgebung wird dadurch noch zusätzlich aufgeheizt. Eine jener köstlichen Nudelsuppen, nahe dem Siedepunkt serviert, tut bei stehender Luft ein Übriges, um unseren Flüssigkeitshaushalt in Bewegung zu halten.

Es ist Mittagszeit. Von überall kommen die Berufstätigen und lassen sich in dem engen Gang nieder. Die chinesischen Köche hantieren mit der Fingerfertigkeit von Taschenspielern in ihren Kochgefäßen. Elegant befördern sie die vorbereiteten Zutaten aus zahlreichen Tellern und Schalen in die brodelnden Töpfe und zischenden Pfannen. In wenigen Minuten sind die schmackhaftesten Gerichte hergestellt. Man darf sich allerdings nicht daran stören, dass dazu auch rohe Fischaugen von der Größe einer mittleren Glasmurmel gehören können.

Wir brechen zur großen Batu-Höhle auf. Einer der vielen Kleinbusse bringt uns in mühsamer, immer wieder von Staus unterbrochener Fahrt an den Rand der Stadt. Er hält vor einem steilen Berg, an dessen Fuß umfangreiche Anlagen zum Empfang größerer Publikumsmassen zu sehen sind. Eine lange steile Treppe – schon ihr bloßer Anblick erzeugt Schweißausbrüche – führt in die riesige Höhle. Der Ort ist wahrlich wildromantisch. Oben am Eingang der Höhle hängen Felsspitzen, die wie in Gustav Dore’s Höllenbildern gewissermaßen mit der Schwerkraft nach unten gewachsen zu sein scheinen. Die Höhle – 50 bis 80 Meter hoch und breit und mehr als doppelt so lang – ist eine heilige Stätte der Hindus. In ihrer bizarren Wildheit scheint sie wie geschaffen für die hinduistische Mystik, die zum Düsteren neigt und daher das Höhlenleben liebt. In einigen Felsnischen sind Brahmanen mit nacktem Oberkörper und weißen Streifen im Gesicht, die mit rußigen Flammen hantieren. Man kann in den dunklen Ecken der Höhle die Spuren größerer Brandopfer sehen. Es fällt nicht schwer, sich das große Hindufest vorzustellen, das hier jedes Jahr stattfindet: Zehntausende, in bunte Tücher gehüllt, füllen dann den Felsendom, allenthalben steigt dunkler Rauch auf, Messingschlagwerk erklingt in eintönigen Rhythmen, gelegentlich hebt ohrenbetäubender Lärm von plärrenden Blasinstrumenten an, der im hohen Gewölbe wiederhallt.

Nach hinten öffnet sich die Höhle wieder. Man findet sich am Boden einer kraterartigen Öffnung. Kreisrunde Wände steigen etwa 50 Meter senkrecht in die Höhe, wo man einen Ausschnitt des Himmels sieht. In den Wänden tummeln sich zahlreiche kleine und kleinste Affen. Auf abenteuerliche Weise bewegen sie sich flink in der steilen Wand und meistern gelassen schier unüberwindlich scheinende Klüfte und Überhänge – möglichst noch mit einem Affenbaby am Bauch. Das Vertrauen der Affen in die Beherrschung ihres Körpers scheint unbegrenzt zu sein.

In Sachen Sozialmoral sind die Affen weniger vorbildlich. Wir haben einige Bananen bei uns, die wir an kleinere Affen und eine Mutter mit Kind verteilen wollen – nach dem Motto: erst die Kinder, dann die Frauen und Mütter etc. Dieses Motto wird vom Anführer der Gruppe allerdings nicht geteilt. Schon durch seine bloße Ankunft schlägt er die Mitglieder seiner Horde, welche wir bevorzugen, in die Flucht. Denen, die nicht genügend Abstand halten, macht er durch wildes Nachsetzen klar, wem die Bananen zuerst zustehen. Als es uns – es ist schwierig genug – gelingt, ein paar Bananenstücke an ihm vorbei in die Mäuler seiner hungrigen Untertanen zu schmuggeln, setzt es Hiebe. In wilder Jagd geht es durch die ganze Felswand, wobei erst richtig klar wird, wozu die Affen ihre phänomenale Geschicklichkeit benötigen. Auch gegenüber den Schenkern lässt es der bärbeißige Alte an der nötigen Höflichkeit missen. Er stiehlt den verschreckten Kindern die Bananen geradezu aus der Hand. Ungenügend befriedigten Forderungen versucht er durch Zähnefletschen und Fauchen Nachdruck zu verleihen. Tioman und Taman Negara waren tatsächlich das Paradies. Die Affen hielten sich versteckt, statt den Menschen den Spiegel vorzuhalten.

Wir verlassen dieses Wunderwerk der Natur und fahren mit dem Bus zurück zum Hotel. Gerade haben wir uns vom Schmutz des Tages befreit, da steht Kulit in der Tür, zwei Stunden vor der verabredeten Zeit. Er hätte halt die zwei Stunden gewartet, wenn wir noch nicht da gewesen wären, meint er – asiatische Zeitbegriffe.

Gemeinsam machen wir die Probe auf`s malaysische Modernitätsexempel. Wir haben die Absicht, ein Telefongespräch nach Hause zu führen, um den Zeitpunkt unserer Rückkunft mitzuteilen. Zuerst gilt es, das Auslandsfernamt ausfindig zu machen. Sehr bekannt scheint es nicht zu sein. Dort wo es nach Kulit’s Ansicht sein soll, findet es sich nicht, wo uns Passanten hinschicken ebenso wenig und wo es sein könnte, ist Dienstschluss. Nach einer Odyssee durch Hinterhöfe treten wir schließlich durch eine nicht näher gekennzeichnete Tür, steigen ein schäbiges Treppenhaus hinauf und landen in einem kahlen Wartesaal, welcher das Tor zur Welt darstellt.

Offensichtlich haben wir das alte Malaysia eingeholt. Das weitere Geschehen hat wenig mit den Glitzerfassaden der Bankpaläste und Ölwolkenkratzer zu tun. Es heißt, Formulare ausfüllen; Warten bis die internationale Leitung frei ist; Aufruf, die Kabine zu betreten; erneutes Abfragen der gewünschten Nummer; wieder Warten auf die internationale Leitung; keine Verbindung, weil die Nummer falsch verstanden wurde (warum haben wir eigentlich das Formular ausgefüllt?); Anschluss in Europa angeblich besetzt; Warten; wieder in die Kabine; nochmaliges Abfragen der Nummer; Warten auf die Leitung (gibt es nur eine?); besetzt (vielleicht führt Mutter daheim Dauergespräche); weiter Warten; noch mal in die Kabine; immer noch besetzt (so lange sind ihre Gespräche nun auch wieder nicht); Warten, Warten, Warten. Stunden verrinnen, Hunger breitet sich aus. Soll man lieber ein Telegramm schicken? Machen wir erst noch einen Versuch bei den Nachbarn, besetzt (auch dort Dauergespräche?); es folgen weitere Versuche. Judi verlässt das Telefonlokal, um die Kinder zu füttern. Kulit, in all den technologischen Wirren eine unerschütterliche Stütze unserer Fassung, bleibt mit mir für einen letzten Versuch. Entnervt brechen wir diesen ab. Zweifel kommen auf, ob wir jemals über Kuala Lumpur hinaus gekommen sind. Wir schicken ein Telegramm und verlassen eiligst diese unrühmliche Zentrale internationaler Kommunikation.

Ausgehungert eilen wir dem Rest der Familie nach. Wir treffen ihn im nächsten Sraßenrestaurant beim Kampf mit chinesischen Suppen an, die sich wegen ihrer hohen Temperatur dem Heißhunger verweigern.

Als die todmüden Kinder im Bett sind, ist der Abend weitgehend vorbei. Wir versuchen den Rest, den uns das technologische Desaster noch für philosophische Gespräche übrig gelassen hat, in einem der einfachen Restaurants zu verplaudern. Zu der vorgerückten Stunde werden wir daran aber durch die Redseeligkeit und ausufernde Gastfreundschaft nicht mehr ganz nüchterner Gaststättenbesucher gehindert, die uns immer wieder zum Trinken animieren wollen. Wir ziehen uns daher wieder auf das bereits erprobte Mäuerchen vor unserem Hotel zurück. Kulit berichtet von seinen Plänen, den Betrieb seines Onkels, bei dem er bislang noch wohnt, zu übernehmen. Von den Erlösen will er dann seine Insel kaufen.

Abschied von Kulit mit großer Herzlichkeit. Natürlich tauschen wir Adressen, sprechen gegenseitige Einladungen aus. Wir spüren jedoch, dass wir ihn nie wiedersehen werden. Wir werden wohl nie erfahren, ob er seine Insel im Tropenmeer bekommt oder ob sie und die Orang Asli eines Tages von einer Frau ersetzt werden, die seinen Hang teilt, über den Ursprung der Dinge zu spekulieren.

1791 Wolfgang Amadeus Mozart (1756-1791) Konzert für Klarinette und Orchester A-Dur KV 622

Die meisten Musikliebhaber dürften sich schon einmal gefragt haben, welche Musik wir von Mozart noch bekommen hätten, wenn er weitere zwanzig oder gar vierzig Jahre gelebt hätte. Die Frage stellt sich insbesondere angesichts der singulären Werke, welche dieser scheinbar grenzenlos kreative und entwicklungsfähige Musiker in seiner späten Schaffensphase komponierte. Vor allem die Werke seines letzten Lebensjahres verleiten zu Spekulationen darüber, wie es wohl weiter gegangen wäre. Denn nicht nur in der „Zauberflöte“ hört man neue Töne, etwa in der Art Harmonieführung in den Terzetten der drei Damen und der drei Knaben. Auch das Requiem, das in seiner Unvollendetheit wie ein Symbol für das plötzlich abgebrochene Schaffen Mozarts dasteht, lässt neue Perspektiven der Ausdruckskraft erahnen. Und schließlich ist da das Klarinettenkonzert, welches Mozart zwei Monate vor seinem Tod vollendete.

Mit dem Konzert für Klarinette hat Mozart das Referenzwerk für dieses Instrument und eines seiner beliebtesten und eindrucksvollsten Stücke überhaupt geschaffen. Bis heute ist es das Klarinettenkonzert schlechthin. Vor allem in dem inzwischen legendären langsamen Satz hat Mozart die emotionalen und atmosphärischen Möglichkeiten des Instrumentes maßstabsetzend ausgelotet. Ein vergleichbar bedeutendes Werk für dieses Instrument ist nur noch das Klarinettenquintett von Johannes Brahms, das genau 100 Jahre später entstand.

Die Klarinette war damals ein noch sehr junges Instrument. Ihre heutige Form bildete sich erst um die Mitte des 18. Jh. heraus. Mozart lernte die Klarinette 1778 in Mannheim kennen. Begeistert schrieb er seinerzeit an seinen Vater: „Ach wenn wir nur clarinetti hätten! – sie glauben nicht was eine sinfonie mit flauten, oboen und clarinetten einen herrlichen Effekt macht.“ Noch im Mannheim schrieb er seine Konzertante Symphonie für Bläser, bei der die Klarinette als Soloinstrument eingesetzt ist. Fortan integrierte er die Klarinette schrittweise in seine Kompositionen.

In Wien lernte Mozart dann den Klarinettisten Anton Stadler kennen, mit dem er nicht nur in musikalischen Dingen verbunden war. Stadler war offenbar eine labile Persönlichkeit, trank und ging dem Glückspiel nach und pumpte ausgerechnet Mozart, dessen finanzielle Verhältnisse selbst nicht eben geordnet waren, um erhebliche Mengen Geld an. Aber er war auch ein ausgezeichneter Musiker. Bekannt war er vor allem dafür, dass er die tiefen Register der Klarinette beherrschte. Um den Tonraum zu erweitern, ließ er das Instrument sogar durch Verlängerung zur Bassetklarinette weiterentwickeln. Mozart schrieb für ihn zwei bedeutende Werke, 1789 das Klarinettenquintett und 1791 eben das Klarinettenkonzert, beide wohl für die Bassetklarinette.

Der Plan für die Komposition des Konzertes war vermutlich in Prag entstanden, wohin Mozart Ende August 1791 mit seiner Frau und seinem Adlatus Franz Xaver Süßmayr gereist war, um an der Uraufführung seiner Oper „Titus“ im Rahmen der Krönungsfeierlichkeiten für Kaiser Leopold II. teilzunehmen. Dort traf er mit Stadler zusammen, der an der Aufführung mitwirkte. Offenbar sagte er ihm dabei die Komposition des Konzertes zu, das bei einer Benefizveranstaltung am 16. Oktober 1791 in Prag aufgeführt werden sollte. Mitte September kehrte Mozart zurück nach Wien und hatte noch zwei Wochen, um die letzten Teile der „Zauberflöte“ zu schreiben und deren Uraufführung am 30. September vorzubereiten. Eine Woche danach berichtete er nach der Rückkunft aus dem Theater seiner Frau Constance, die in Kur war, brieflich begeistert vom Erfolg der Oper, die täglich gespielt wurde. Zur Feier des Tages, schreibt er, „ließ ich mir …..schwarzen koffé hollen, wobey ich eine herrliche Pfeiffe toback schmauchte; dann instrumentierte ich fast das ganze Rondo vom Stadler“ (gemeint ist der letzte Satz des Klarinettenkonzertes, der, bedenkt man Mozarts Arbeitspensum bis zur Uraufführung der Zauberflöte, wohl nach dieser entstanden sein dürfte, was die gute Stimmung erklären könnte, die in ihm herrscht). Acht Tage später war, wie gesagt, die Aufführung des Konzertes angesetzt. Bis dahin mussten die Stimmen noch ausgeschrieben und nach Prag geschickt werden. Stadler muss das nicht eben einfache Werk also praktisch vom Blatt gespielt haben, was zeigt, wie gut er gewesen ist.

Im gleichen Brief finden sich übrigens interessante Bemerkungen über Stadler und Süßmayr. Mozart schreibt, er sehe nun ein, „dass er [Süßmayr] ein Esel ist – versteht sich, nicht der Stodla [wienerisch für Stadler], der ist nur ein bissel ein Esel, nicht viel – aber der [Süssmayr] – Ja der ist ein rechter Esel.“ Der Hintergrund dieser Bemerkung ist nicht bekannt. Mozart  war sich aber offenbar darüber im Klaren, dass Stadler nicht ganz seriös war, scheint aber, da auch er Künstler und zugleich (Billiard)Spieler war, ein gewisses Verständnis für ihn gehabt zu haben. Dass Stadler nicht sonderlich zuverlässig war, zeigt denn auch die Tatsache,  dass er das Autograph des Konzertes alsbald versetzte, wodurch es verloren gegangen ist. Bis heute weiß man daher nicht sicher, ob das Konzert tatsächlich, wie allgemein angenommen, für Stadlers Bassetklarinette geschrieben ist.

Das Klarinettenkonzert sollte Mozarts letztes Instrumentalwerk bleiben. Danach beschäftigte er sich im Wesentlichen nur noch mit „seinem“ Requiem, das der brave Süßmayr, für den Mozart offenbar weniger Verständnis hatte, nach dem Tod des Meisters, der  am 5.12.1791 eintrat, sehr achtbar vollendete.

Weitere Texte zu Werken Mozarts und rd. 70 weiterer Komponisten siehe Komponisten- und Werkeverzeichnis