Wie groß der Reichtum der europäischen Musiklandschaft ist, zeigt nicht zuletzt die Tatsache, dass man in ihr immer wieder Komponistenpersönlichkeiten entdeckt, die im Laufe der Musikgeschichte aus dem Blick geraten sind. Es handelt sich oft um Musiker, die von den landschaftsbestimmenden Großmeistern verdeckt oder relativiert wurden. Meist hat man sie als deren Vorläufer oder Epigonen eingeschätzt und angesichts der großen Anzahl herausragender Wahrzeichen, die die Musiklandschaft ohnehin aufweist, als vernachlässigbare Größen behandelt.
Dieses Schicksal hatte auch Heinrich von Herzogenberg. Bis vor wenigen Jahren war der gebürtige Grazer allenfalls denen bekannt, die sich näher mit der Biographie von Johannes Brahms beschäftigten. Sein umfangreiches Werk, das mehr als 150 Werke vieler Gattungen umfasst, spielte in der Musikpraxis keine Rolle. Herzogenberg galt als der Hauptvertreter des Brahmsepigonentums.
Zu diesem Ruf beigetragen hat sicherlich, daß Herzogenberg seine Formmodelle, wie Brahms, in der Musikgeschichte suchte. Hinzu kam die außerordentliche Verehrung und Anhänglichkeit, die er für den Großmeister hatte. Herzogenberg übersandte Brahms regelmäßig seine neuesten Werke und wartete sehnsüchtig auf dessen Äußerung. Als Brahms im Jahre 1884 seine Ouartette lobte, schrieb er an seinen Freund, den großen Bachbiographen Philipp Spitta: „Zwanzig Jahre sehnte ich mich nach einem herzlichen und anerkennenden Wort von ihm – ich bin überzeugt, daß mich diese Erwartung jung hielt – endlich kommt es und macht mich so gesund und froh und tapfer, wie ich`s gar nicht beschreiben kann“. Zwölf Jahre später schrieb er an Joseph Joachim: „Seit 35 Jahren“ frage ich mich, bei jedem Notenkopf: was wird Brahms dazu sagen? Der Gedanke an ihn und an sein Urteil hat aus mir gemacht soviel eben wurde; er war mein Fleiß, mein Ergeiz, mein Muth“:
Nicht förderlich für das Ansehen Herzogenbergs war ohne Zweifel, daß Brahms, der ihn durchaus schätzte, sich über dessen Werke später distanziert oder gar nicht mehr äußerte. 1895 schrieb Brahms an Clara Schumann in Hinblick auf drei umfangreiche neue kirchenmusikalische Werke Herzogenbergs („Requiem“, „Geburt Christi“ und „Messe“): “Die einzige frohe Empfindung (dabei) ist, wenn man, wie ich, meint, Gott danken zu dürfen, daß er einen vor der Sünde, dem Laster oder der schlechten Angewohnheit des bloßen Notenschreibens bewahrt hat.“
Diese Äußerung, die auf dem Hintergrund von Brahms` Neigung zum Sarkasmus gesehen werden muß, wirft die Frage auf, ob Herzogenberg mit dem Etikett „Brahmsepigone“ richtig charakterisiert ist. Das Desinteresse und Unverständnis, das Brahms Herzogenberg gegenüber teilweise an den Tag legte, kann auch als Folge des Umstandes verstanden werden, daß die Wege der beiden Komponisten im Laufe der Zeit auseinander gingen. Tatsächlich hat Herzogenberg die rasante Entwicklung in Richtung auf Verdichtung und Intellektualisierung des Stiles nicht mitvollzogen, die Brahms – allen historisierenden Tendenzen zum Trotz – weit ich Richtung Moderne fortschreiten ließ. Über das Klaviertrio Op. 87 von Brahms etwa äußerte er, es habe ihm weh getan. „Du kannst Dir denken“, schrieb verwirrt an einen Freund, „in welche Confusion der Gefühle ein Auch-Komponist gestürzt wird, dessen Pythia chinesisch zu reden anfängt“. Gemessen an Brahms musste Herzogenberg daher als zurückgeblieben erscheinen.
Es ist ein kaum zu vermeidendes Schicksal eines Komponisten, daß seine Größe in der musikalischen Landschaft zunächst einmal relativ zu der seiner Zeitgenossen wahrgenommen wird. So gesehen war es das Pech Herzogenbergs, dass er dem Riesen Brahms zu nahe stand. Mit zunehmendem zeitlichen Abstand verlieren aber sowohl solche Relationen als auch die Frage nach der Epochengerechtigkeit eines Kunstwerkes an Gewicht. Heute etwa interessiert niemanden mehr, daß der späte Bach völlig unzeitgemäß war. Wichtig ist schließlich nur noch, ob das Werk als solches Qualität hat. Dies dürfte der Grund dafür sein, dass die Kompositionen Herzogenbergs neuerdings wieder ins Blickfeld sowohl der Musikwissenschaft als auch der Musikpraxis rücken.
Beachtung hat insbesondere das umfangreiche kirchenmusikalische Werk Herzogenbergs gefunden. Dies liegt nicht zuletzt daran, dass er einige dankbare Exemplare zu den Werkgattungen beisteuerte, die von Kirchenchören geschätzt werden. Diese Werke sind nicht zuletzt durch Herzogenbergs zwölf Jahre währenden Aufenthalt in Leipzig (1872 – 1884) geprägt, wo er sich in Zusammenarbeit mit seinem Freund Philipp Spitta, dem großem Bachbiographen, intensiv mit Bachs Kirchenmusik beschäftigte.
Die Messe Op. 87 schrieb Herzogenberg im Jahre 1894 binnen weniger Wochen. Sie entstand unter dem Eindruck des Todes von Philipp Spitta, dessen Angedenken sie auch gewidmet ist. Daraus erklärt sich, daß das Werk streckenweise – besonders deutlich wird dies am Schluß – den Charakter eines Requiems annimmt. Kennzeichnend für die höchst eindrucksvolle Komposition ist ein dichter Satz, ein großer Reichtum an Modulationen und die enge Verzahnung von Soli, Chor und Orchester. Bis vor kurzem glaubte man, daß die Noten des Werkes, von dem nur noch ein Klavierauszug existierte, im zweiten Weltkrieg verschollen seien. Mitte der 90-er Jahre des 20. Jahrhunderts fanden sich die Noten und die einiger weiterer kirchenmusikalischer Werke des Komponisten jedoch im Archiv eines Leipziger Verlages. Inzwischen ist die Messe – erstmals – gedruckt worden. Die erste Aufführung nach dem zeitweiligen Verschwinden der Noten fand im Jahre 1997 in Mainz statt.