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1886 Camille Saint-Saens (1835 – 1921) – Orgelsymphonie

Es gibt nur wenige Komponisten, die sich schon zu Lebzeiten einer Verehrung erfreuen konnten wie Camille Saint-Saens. Schon dreißig Jahre vor seinem Tod konnte er in Dieppe ein Museum mit seiner Hinterlassenschaft eröffnen. Wenige Jahre danach wurde in dieser seiner Wahlheimatstadt auch noch seine Statue aufgestellt. Die hohe öffentliche Resonanz, deren sich Saint-Saens meist sicher sein konnte, spiegelt sich auch in den außerordentlich guten Honoraren, die er nicht nur als Komponist sondern auch als gefeierter Pianist verlangen konnte. Als Saint-Saens im Jahre 1921 im Alter von 86 Jahren starb, sagte sein Freund und Schüler Gabriel Fauré an seinem Grab. „Er war der kompletteste Musiker, den wir hatten, ein Mann von unbegrenztem Wissen, wunderbarer Technik, klarer und ausgesuchter Sensibilität und Integrität, der eine erstaunliche Menge und Vielfalt von Werken hervorbrachte.“

 Wenige Jahre nach Saint-Saens Tod hatte sich das Blatt allerdings gründlich gewendet. Der Mann, den man einmal als den Mozart seiner Zeit bezeichnet und wegen seiner umfassenden Bildung und vielfältigen Produktivität mit Voltaire und Goethe verglichen hatte, wurde plötzlich heftig geschmäht. Ein führender französischer Kritiker schrieb seinerzeit, man müsse Mut haben, sich zu Saint-Saens zu bekennen. Er wäre froh, dessen gesamtes Werk gegen eine einzige Seite von Bachs Matthäus-Passion hingeben zu können. Bemängelt wurde nun, dass man hinter dem kompositorischem Werk den Schöpfer nicht erkenne. Saint-Saens Schaffen sei eklektizistisch und ohne Entwicklung, seine Werke seien (nur) routiniert und im immer gleichen Stil geschrieben und hätten eine kühle, geradezu mathematisch-logische Struktur. Sie würden damit nicht in das 19. Jh. passen, wo jedes Kunstwerk mit dem Herzblut seines Schöpfers getränkt gewesen sei.

 Darüber, ob diese Sicht Saint-Saens gerecht wird, wird noch heute gestritten. Richtig ist wohl, dass der Musiker mehr ein Bewahrer und Vollender als ein Neuerer war; außerdem dass er, anders als manche Exponenten des künstlerischen Fortschritts im 19. Jh., seine Person und die Wallungen seines Herzblutes nicht sonderlich in den Vordergrund stellte. Es gibt bei ihm weder eine unsterbliche Geliebte noch eine blaue Blume und auch kaum Anekdoten. Ob damit allerdings die Behauptung gerechtfertigt ist, er sei kein echter Repräsentant des 19. Jh., ist zweifelhaft. Dieses Jahrhundert kannte neben den Kräften, die mit forcierter Subjektivität vorwärts strebten, in hohem Maße auch Tendenzen der Selbstvergewisserung, des Zusammenfassens und Konservierens, die sich – besonders deutlich ist dies in der Architektur – gerade auch in der wiederholten aber souveränen Verfügung über die tradierten stilistischen Mittel manifestieren. Saint-Saens, der sich viel im Orient aufhielt und die europäische Welt auch aus der Außenperspektive zu sehen gelernt hatte, hätte auf diese Kritik wohl das geantwortet, was er als Präsident der Akadémie des Beaux Art im Jahre 1901 vor Rompreis Stipendiaten sagte: „Der Westen macht sich gern über das orientalische Phlegma lustig; der Orient könnte ihm das mit gleicher Münze heimzahlen und seinerseits über die Wechselhaftigkeit des Westens spotten, über sein Unvermögen, eine Form oder einen Stil über eine Zeitlang beizubehalten, über seine Manie, um jeden Preis das Neue zu suchen, ohne Ziel und ohne Grund. Je mehr man sich darum bemüht, modern zu sein, desto schneller altert man.“

 Möglicherweise wegen der heftigen Kritik, die Saint-Saens im 20 Jh. erfahren hat, sind heute nur wenige seiner insgesamt über 300 Kompositionen im öffentlichen Bewusstsein präsent. Eines dieser Werke ist die Orgelsymphonie, die im Jahre 1886 geschrieben wurde.

 Das Werk entstand im Auftrag der Philharmonischen Gesellschaft in London. Dessen Vorstand fragte im Herbst 1885 bei Saint-Saens zunächst an, ob er im Frühjahr 1886 sein 4. Klavierkonzert mit dem Orchester des Vereins spielen könne. Saint-Saens verlangte dafür ein Honorar von 40 Pfund. Da die Philharmonische Gesellschaft, wie ähnliche Vereinigungen noch heute, mit dem Penny rechnen musste, wies der Vorstand Saint-Saens dezent darauf hin, dass es sich bei der Gesellschaft um eine „Non- Profit“ – Institution handele und bat um seine Zustimmung zu einem Honorar von 30 Pfund. Gleichzeitig machte er dem verwöhnten Star die Zumutung mit dem Angebot schmackhaft, für das Konzert auch noch ein neues Werk zu komponieren. Saint-Saens sagte zu und machte sich alsbald ans Werk. Nach einigen Monaten schrieb er nach London, er sei mitten in der Arbeit an der Symphonie, die Furcht erregend werde. „Inzwischen ist dieses Teufelsweib von einer Symphonie um einen halben Ton in die Höhe gegangen. Sie wollte nicht in h-moll bleiben und ist jetzt in c-moll“. Und er fügte, als wolle er Enttäuschungen vorbeugen, hinzu: “Es wird mir ein Fest sein, diese Symphonie zu dirigieren. Wird es auch ein Fest für die Zuhörer? Das ist die Frage. Sie haben sie gewollt, ich wasche meine Hände in Unschuld.“ Gleichzeitig teilte er eine Besetzung für das Werk in einem Umfang mit, die den sparsamen Vereinsvorstand, nicht anders als heute, dazu veranlassen musste, sich noch einmal gründlich mit der Kostenkalkulation zu befassen. Im übrigen bat er darum, dass ihm neben der Generalprobe noch eine weitere Probe eingeräumt werden möge. Im Mai begab sich Saint-Saens dann zur Aufführung nach London. Nach der ersten Probe schrieb er an seinen Verleger: „Wir haben die Symphonie dechiffriert. Sie ist in der Tat furchtbar. Ich hatte Recht. Glücklicherweise habe ich es mit einem Orchester allererster Klasse zu tun“. Nach der Uraufführung am 19.5.1886 schrieb er allerdings an seinen Verleger. „Die Symphonie  war ein kolossaler Erfolg, der noch durch eine Opposition ausgeschmückt wurde, die gerade so stark war, um ihn noch intensiver zu machen.“ Die Prinzessin und der Prinz von Wales, die unter den Zuhörern gewesen seien, hätten sich allerdings bestimmt fürchterlich gelangweilt.

Entgegen dem Anschein, den Saint-Saens lakonische Äußerungen erwecken, ist in die Orgelsymphonie einiges an Herzblut des Komponisten geflossen. Das zeigt schon die Tatsache, dass Saint-Saens darüber später sagte: „Ich habe hier alles gegeben, was ich konnte … so etwas wie dieses Werk werde ich nie wieder schreiben“ (tatsächlich hat Saint-Saens, der bis kurz vor seinem Tod komponierte, in den verbleibenden 35 Jahren seines Lebens auch kein weiteres größeres symphonisches Werk mehr geschrieben). Darauf, dass im Hintergrund des Werkes ziemlich grundlegende Fragen standen, deutet auch die Tatsache, dass das Grundmotiv der Symphonie, welches in allen vier Sätzen präsent ist, aus den Anfangstönen des gregorianischen Dies Irae besteht. Hinzu kommt, dass sich Saint-Saens mit diesem Werk aus einer Schaffenskrise befreite, die nicht zuletzt aus Auseinandersetzungen zwischen den führenden Komponisten Frankreichs um den Kurs der Musik ihres Landes resultierte. Saint-Saens, der sich dabei von den Anhängern César Franks, der „Schola“, wie er sagte, angegriffen fühlte, sah sich in dieser Auseinandersetzung übrigens als Neuerer. Im Hinblick auf die d-moll Symphonie von Frank, die dessen Anhänger als Meilenstein des musikalischen Fortschritts feierten, schrieb er: „Wenn überhaupt eine Symphonie die Ehre beanspruchen darf, die Form der Symphonie erneuert zu haben, dann wäre das  – auf Grund ihrer Form (gemeint ist vor allem die in zwei Sätzen „versteckte“ Viersätzigkeit) und der Verwendung der Orgel – meine Symphonie in C. Sie hat freilich einen Rang in der Musikwelt erobert, der den Gläubigen der Schola den Schlaf raubt.“

 Auf die ungewöhnliche Idee, eine Orgel in einer Symphonie zu verwenden, dürfte Saint-Saens wohl nicht zuletzt durch Franz Liszt´s Symphonische Dichtung „Hunnenschlacht“ gebracht worden sein, in der die Orgel eingesetzt ist. Darauf deutet nicht zuletzt, dass Saint-Saens die Symphonie Liszt widmete, den er sehr verehrte und der den Franzosen mit der Weimarer Uraufführung seiner Oper „Samson und Delilah“, einem weiteren seiner Werke, das sich im Repertoire hielt, sehr behilflich war. Allerdings spielt die Orgel, obwohl sie der Symphonie den Namen gab, bei Saint-Saens anders als bei Liszt keine herausragende Rolle. Sie ist eine, mitunter mächtige Farbe in einem erweiterten Klangspektrum, zu dem im übrigen auch ein von vier Händen zu spielendes Klavier gehört.