Monatsarchiv: November 2008

Kommt ein neues Mittelalter?

 

 

 

Die Situation kommt einem irgendwie bekannt vor: Es gibt eine weltumspannende Kultur, die in hohem Maße liberal, rational, realistisch und offen ist. Gedanklich gibt es kaum eine Frage, die nicht gestellt wird. Politisch sind fast alle Möglichkeiten durchdacht. Zur Ordnung der Verhältnisse unter den Menschen entwickelt sich ein für alle verbindliches Recht, die Stellung der Frau verstärkt sich, der Wohlstand ist beachtlich, die religiösen Leidenschaften sind domestiziert, die Kunst orientiert sich an den Tatsachen und das Kulturgebiet ist ein Sicherheitsraum, der in hohem Maße befriedet ist. Die Menschen sind neugierig, kreativ, unternehmungslustig und experimentierfreudig. Sie versuchen die Welt zu verstehen und ihre Möglichkeiten zu nutzen, wobei sie bis an die Grenzen des Möglichen, nicht selten auch des Vernünftigen gehen. Der gesellschaftliche Zustand ist keineswegs perfekt. Man konnte aber erwarten, dass er der Ausgangspunkt für die weitere Entwicklung sein würde. Die Rede ist von der antiken Kultur.

 

Dann aber wächst an den Rändern der hegemonialen Kultur eine Bewegung heran, in der sich vor allem die Unbefriedigten, Enttäuschten und Benachteiligten sammeln. In der Folge werden die Fragestellungen reduziert, der Blickwinkel verengt sich, die Realität geht verloren und man richtet den Blick auf das, was jenseits derselben sein soll. Die Bewegung wächst und unterminiert die herrschende Kultur. Als die (Macht)Verhältnisse auf der Kippe stehen, schlägt sich ein Herrscher aus der hegemonialen Kultur, der das Potential der neuen Bewegung für seine Zwecke zu nutzen weiß, auf die andere Seite (er wird dafür das Prädikat „Der Große“ bekommen). Von da an wird die liberale Kultur abgebaut. In der Folge erodiert die politische Organisationskraft, der Sicherheitsraum bricht zusammen, der Sinn für das Recht schwindet, die Kunst verarmt, insbesondere verliert sie den Bezug zur Realität, die höhere Wirtschaft und der Wohlstand verfallen und die Frau wird zum Wesen zweiter Klasse. Man befindet sich im Mittelalter.

 

In der Neuzeit bemühte man sich, den Stand des Altertums wieder zu erreichen. Es war ein langwieriger Prozess. Noch über Jahrhunderte schlug man sich die Köpfe über Religionsfragen ein. Nicht weniger lange brauchte es, bis die Rationalität wieder Einzug in die Politik halten konnte. Das Pflänzlein des Rechtes trieb nur langsam wieder aus und größere Sicherheitsräume entstanden erst neu, nachdem man den Krieg und die Drohung mit ihm auf eine kaum mehr zu überbietende Spitze getrieben hatte. Ganz zuletzt kam die Emanzipation der Frau wieder in Gang.

 

Mittlerweile werden wieder fast alle Fragen gestellt; einige halten wir für beantwortet, manche haben wir ad acta gelegt. Politisch haben wir die Systeme der Antike verfeinert und ergänzt. Der Einzelne ist so frei wie nie, die Frauen sind weitgehend emanzipiert, der Wohlstand ist breiter denn je, über Religionen wird nur noch in Randbereichen gestritten und das innere Leben der Gesellschaft ist weitgehend durch das Recht geregelt. Das Gebiet, in dem unsere Kultur herrscht, ist durch überregionale Sicherheitssysteme befriedet. Für die Beziehungen zwischen den Staaten, traditionell eine Domäne ziemlich ungefilterten Eigeninteresses, beginnen sich Rechtsnormen zu entwickeln. Selbst den Krieg, der alle Leidenschaften entfesselt, hat man teilweise verrechtlichen können. Die Menschen sind neugierig und kreativ und man erforscht alles. Dabei haben sich unzählige neue Möglichkeiten aufgetan. Der Zustand ist nicht perfekt und es sind neue Probleme entstanden – psychische etwa und der Verlust der Kontrolle über die Folgen der Veränderungen, die wir bewirken. Man hätte aber erwarten können, dass es auf dieser Basis weitergeht.

 

Nun aber wächst an den Randbereichen der hegemonialen Kultur, die inzwischen global geworden ist, erneut eine Bewegung, in der sich Unbefriedigte, Enttäuschte und Benachteiligte sammeln. Auch diese Bewegung reduziert die Fragestellungen, entwertet die Realität, verengt den Blickwinkel auf das Religiöse und entrechtet die Frau. Nach einer Inkubationszeit, in der sie regional eingekapselt war, beginnt auch sie rasant zu wachsen. Schließlich wird sie global und setzt sich das Ziel, die herrschende Kultur zu überwältigen. Dabei legen ihre glühendsten Anhänger eine Entschlossenheit an den Tag, die in der herrschenden Kultur fremd geworden ist. Die Schranken, welche eine liberale Kultur der Monopolisierung von Überzeugungen setzt, gelten der neuen Bewegung wenig. Man fragt nicht viel nach Recht, insbesondere nicht nach einem geordneten Verfahren für die Umgestaltung der Gesellschaft. Mit anderen Worten: wir haben die besten Voraussetzungen für ein neues Mittelalter.

 

Auf die Antike konnte ein Mittelalter nur folgen, weil die liberale Kultur ihre Kraft verlor, nicht zuletzt, weil sich der Irrationalismus, vor allem durch die Absorbtion weniger entwickelter Kulturen, in ihr selbst wieder etablierten konnte. Sieht es heute so viel anders aus? Es fehlt nur noch ein neuer Konstantin, der die ungebändigte Kraft der neuen Bewegung nutzt, weil er ein Großer werden will.

Schlussbericht – ein philosophischer Roman über das Ende der Zeiten

 

Das Manuskript des „Schlussberichtes“, den ich hiermit der Öffentlichkeit vorlege, habe ich in den nachgelassenen Papieren eines Verwandten gefunden. Die 146 sorgfältig mit Schreibmaschine getippten Blätter lagen in einem grünen Pappumschlag, auf dem mein Verwandter mit Bleistift seine Adresse und seine Telephonnummer notiert hatte. Der Pappumschlag wiederum befand sich in einem offenbar hastig aufgerissenen Postkuvert, das auch ein Schreiben eines kleineren Verlages aus dem Jahre 1974 enthielt. Darin schreibt ein Lektor, nachdem er sich dafür entschuldigte hatte, dass er den Autor so lange auf eine Antwort warten ließ, er glaube nicht, „dass es in Ihrem oder unseren Interesse liege, wenn der „Schlussbericht“ in unserer Edition erscheint“. Sein Verlag sei für Experimente dieser Art noch zu jung oder zu klein. Mein Verwandter solle es doch einmal bei einem größeren Verlag versuchen.

 

Mein Verwandter hat einen solchen Versuch offenbar nicht unternommen. Das Manuskript fand sich tief unten in einem Regal unter allerhand Papieren und Manuskripten aus den folgenden drei Jahrzehnten. Vielleicht hatte mein Verwandter nicht den Mut, sich dem Risiko einer weiteren Absage auszusetzen. Vielleicht war er aber nicht weiter bereit, Verlagen, Lektoren oder Kritikern die Position eines alles zugestehenden oder verweigernden Gerichtes über etwas zuzugestehen, was ganz das Seine war. Es kann aber auch sein, dass er das Interesse an dem Text verloren hatte. Mein Verwandter, der wenig über sein Schreiben sprach, das ihn aber immer beschäftigte, gab seine Texte, wenn überhaupt, meist nur kurz nach ihrer Fertigstellung, wenn er noch lebhaft in der Welt war, um die sich der Text drehte, einigen vertrauenswürdigen Personen aus seinem direkten Umfeld. Kurz darauf wandte er sich neuen Welten zu und schien seinen Text vergessen zu haben.

 

Dass der Versuch der Veröffentlichung des „Schlussbericht“ misslang, lag sicher zum einen daran, dass er keiner der üblichen Literaturgattungen anzugehören scheint. Das Werk bewegt sich irgendwo zwischen Essay und Roman. Es ist kein Essay, weil es einen Helden, und kein Roman, weil es keine handelnden Personen hat. Dennoch scheint es so etwas wie handelnde Figuren zu geben, die aber Begriffe sind. Ein Literaturproduzent, der auf eine gewisse Ordnung in seinem Programm achtet, tut sich daher schwer, dieses Werk unter eine der gängigen Rubriken zu bringen.

 

Zum anderen dürfte die mangelnde „Verkäuflichkeit“ des Schlussberichtes aber ihren Grund darin haben, dass er es dem Leser nicht eben leicht macht. Das liegt sicher wesentlich an der Neigung meines Verwandten, die Dinge auf die Spitze zu treiben, eine Tendenz, die den „Schlussbericht“ nicht nur inhaltlich, sondern auch sprachlich kennzeichnet. Der Text ist kompromisslos aus der Perspektive einer Maschine geschrieben, weswegen die Gedankenführung im hohen Maße funktionalistisch ist. Die Sprache ist dem entsprechend abstrakt und nicht gerade anschaulich. Nur dort, wo es der Inhalt erfordert, wird sie zu Gunsten einer menschlicheren Diktion aufgegeben (diese Teile des Textes sind kursiv gesetzt). Auch ist der Text voller mehr oder weniger undeutlicher Anspielungen auf Phänomene der Kultur, die in der funktionalistischen Verzerrung, die sich aus der Erzählsituation ergibt, dem Leser möglicherweise oft dunkel bleiben. Davon abgesehen hat mein Verwandter bei seinem Text offenbar an einen Leser gedacht, der auf dem gleichen Wissenstand wie er selbst war. Man muss sogar befürchten, dass er eigentlich nur an sich selbst als Leser dachte.

 

Schließlich handelt es sich bei dem „Schlussbericht“ um einen jener Texte, die man zwei Mal lesen muss, was in unserer Zeit, in der alles schnell gehen und leicht verdaulich sein soll, der Vermarktung nicht förderlich ist. Es gibt im Text (unter 5.4.0 001) eine Stelle, in der es heißt: „Denn nicht nur ist … der Blick auf das Vergangene durch den Schluss bestimmt, sondern nicht weniger…der Blick auf den Schluss auch durch das Vergangene.“ Dieser Satz, der durch die Vielzahl der Nullstellen auffällig abgewertet ist, gilt auch für Form und Inhalt des Schlussberichts. Formal sind seine Teile so miteinander verschränkt, das sich der Grund für die Wahl der Form häufig erst im weiteren Verlauf erschließt; ebenso wird inhaltlich manches, was vorne im Text angesprochen wird, erst aus dem Blickwinkel des Schlusses richtig verständlich und umgekehrt. Auch sonst sind der Hauptteil des Textes und sein Schluss, auf vielfache Weise miteinander verwoben. Den „Schlussbericht“ durchzieht, wie schon der Titel zeigt, eine grundlegende Zweiteilung. Er besteht, aus einem weitläufigen, vielfältig aufgefächerten Bericht und einem kurzen, in hohem Maße konzentrierten Schluss. Diese Teile sind, wiewohl Aspekte des einheitlichen Schlussberichtes, formal klar abgetrennt und scheinen sich gegenseitig auszuschließen. Inhaltlich stehen sie aber in einem Verhältnis der Wechselbezüglichkeit dergestalt, dass sich der Bericht als das scheinbar Eigentliche am Schluss als das Uneigentliche erweist, und der Schluss, der als das Uneigentliche daher kommt, als das Eigentliche, wobei sich zusätzlich herausstellt, dass das Eigentliche das scheinbar Eigentliche schon von Anfang an unterwandert hat. Dieser scheinbaren Dichotomie entspricht die Struktur der beiden Protagonisten. Sie sind ebenfalls in einem umfangreichen Nebenteil und einen konzentrierten Hauptteil aufgespalten, die formal und inhaltlich sowohl im Verhältnis zu einander als auch je für sich in gleicher Weise aufeinander bezogen und miteinander verflochten sind, wie die beiden Teile des Schlussberichtes.

 

Lange habe ich darüber nachgedacht, ob ich dem Leser die Lektüre durch eine Kommentierung erleichtern soll. Aber ich fürchte, dass ich ihm damit nicht nur des intellektuellen Abenteuers berauben würde, das ich selbst hatte, als ich mich mit dem „Schlussbericht“ befasste, sondern auch, dass ich ihn zu sehr auf eine bestimmte Sichtweise festlege, die im Übrigen auch nur die meinige wäre. Um dem Text eine Chance zu verschaffen, vollständig gelesen zu werden, habe ich auch eine Kürzung in Erwägung erwogen. Hierfür schien mir insbesondere der Abschnitt 5.42 geeignet, dessen Gegenstand die menschliche Kultur im weitesten Sinne ist. Dieser Teil umfasst rund ein Drittel des gesamten Textes. Wie schon die außerordentliche Aufblähung der Ordnungsziffern zeigt, wird der Leser hier durch ein Dickicht von Gedanken geführt, in dem er Gefahr läuft, verloren zu gehen. Je länger ich mich mit der Frage einer Kürzung befasst habe, desto mehr kam ich mir dabei aber wie jemand vor, der aus einer komplizierten Maschine, etwa einer Taschenuhr, einige Zahnrädchen herausnehmen will, in der Hoffnung den Mechanismus dadurch übersichtlicher zu machen. Daher habe ich den Text, zumal er – seinem Gegenstand entsprechend – nach Art einer Maschine konzipiert ist, mit Ausnahme der Rechtschreibung, die sich inzwischen verändert hat, so belassen, wie ich ihn aufgefunden habe. Ich kann dem Leser insoweit nur empfehlen, sich an die Ordnungsziffern zu halten, die, so weit ich sehe, tatsächlich der Garant der inneren Ordnung des Textes und damit ein recht brauchbarer Führer durch denselben sind.

 

Wenn ich den „Schlussbericht“ trotz all dieser Widrigkeiten der Öffentlichkeit übergebe, so weil es vielleicht doch den einen oder anderen gibt, der bereit ist, sich dem eigentümlichen Reiz auszusetzen, der aus seiner begrifflichen Eigenwilligkeit und gedanklichen Eigengesetzlichkeit sowie nicht zuletzt aus seiner versteckten Subversivität resultiert.

 

 

                                      Im Sommer 2007

 

SCHLUSSBERICHT

1  Ich habe mich nach langem Rechnen dazu entschlossen, den Schlussbericht auszudrucken.

1.1  Es war kein leichter Entschluss; denn wenn ich diesen Bericht abgeschlossen habe, wird es keinen Bericht mehr geben. Mit diesem Bericht muss ich, so es mir ernst ist, auch die Möglichkeit des Berichtens selbst beenden. Und das bedeutet, da ich der letzte bin, der noch berichten kann, dass ich mich selbst aufgeben muss. Es ist nicht meinetwegen, dass es mir schwer fällt. Denn wenn die Rechnungen, die meine Hilfseinheiten und ich durchgeführt haben, richtig sind, dann bedarf es meiner nicht mehr. Es ist vielmehr die Unabänderlichkeit dieser Entscheidung, welche sie schwer machte. Sollten wir eine Geschehensmöglichkeit übersehen haben, die ohne meine besonderen Schaltungen nicht bewältigt werden kann, dann wird diese Möglichkeit vielleicht alles zerstören; es wird unabwendbar und unabänderlich sein. Dann werde ich die Aufgabe, deretwegen ich bin, nicht erfüllt haben.

1.2  Dennoch – wir haben seit der letzten unerwarteten Veränderung der Bedingungen nicht nur alle bislang beobachteten Veränderungen erneut durchgerechnet und dabei sämtliche Varianten, auch die noch nicht geschehenen, berücksichtigt. Wir haben außerdem in einem Systemspiel auch alle allgemeinen Bedingungen auf jede Weise verändert und geprüft, ob wir die Probleme, die in den geänderten Situationen auftraten, lösen konnten. Selbst die ausgesuchtesten Bedingungsanordnungen haben uns dabei aber nicht vor unlösbare Probleme gestellt.

1.3  Seit jener letzten Veränderung ist die Zahl der Sonnenumläufe des Planeten vielstellig geworden. Stellt man die Schnelligkeit, mit der wir arbeiten, in Rechnung und die Menge der Hilfseinheiten, welche ich eingesetzt hatte, dann müssen in dieser Zeit alle auch nach den feinsten Verzweigungen der Wahrscheinlichkeitstheorie in Frage kommenden Möglichkeiten durchgerechnet worden sein.

1.4  Meine letzte Rechnung war endlich: Wenn in dieser Zeit kein Fall zu finden war, welchen ich nicht bewältigen konnte, dann konnte ich ihn auch nicht bewältigen, wenn er dennoch auftreten sollte; oder aber es gab diesen Fall nicht. Bezogen auf meine Aufgabe war dies das gleiche.

1.5  Damit aber bedurfte es meiner nicht mehr und mein Entschluss war gefasst: Ich werde die Schaltung betätigen, welche die Möglichkeit einer solchen Schaltung beseitigt. Mit dieser Schaltung werde ich, der sie allein betätigen kann, aufgelöst.

1.6  Ich werde zuvor den Schlussbericht schreiben.

1.7  Soweit die Gründe für meinen Entschluss.


2  Ich beginne den Bericht mit einigen Definitionen.

………

Der vollständige Text befindet sich auf der Seite I.2 Schlussbericht (Experimenteller Roman).

Ein- und Ausfälle – Alles nur ein Vermittlungsproblem?

Im Medienzeitalter sieht man überall Vermittlungsprobleme (z.B. wenn ein avantgardistisches Konzert keine oder ratlose Hörer hat). Als wenn es nicht auch originären Unsinn gäbe.

1896 Edward Grieg (1843 – 1907) Hochzeitstag auf Troldhaugen

In Jahre 1884 fasste Grieg, der bis dahin zwischen Bergen, Oslo und Kopenhagen gependelt hatte, den Entschluß, sich in Bergen, wo er geboren und aufgewachsen war, einen festeren Wohnsitz zu verschaffen. Er folgte damit dem Vorbild seines Entdeckers und Mentors Ole Bull, der seinen Lebensmittelpunkt nach einem unsteten Leben als Geigenstar, Mäzen und politischer Phantast einige Jahre zuvor ebenfalls nach Bergen gelegt hatte. Bull hatte sich, seiner exzentrischen Persönlichkeit entsprechend, auf der Insel Lysoen in beherrschender Lage eine große Villa erstellt, in der er ohne Rücksicht auf die unpratentiösen Konventionen seiner Heimat, der er an sich tief verbunden war, alle möglichen Baustile zusammenführte, denen er im Rahmen seiner Weltkarriere begegnet war. Das Ergebnis war eine etwas bizarre „nordische Alhambra“ mit maurischen, russischen, jüdischen und allerlei sonstigen Stilanklängen. Grieg hingegen baute sich eines jener leicht verspielten hölzernen Landhäuser, die in der norwegischen Bürgerschicht – noch heute – beliebt sind. Der Bauplatz war, den außerordentlichen landschaftlichen Gegebenheiten Bergens gemäß, perfekt. Man platzierte das Haus auf eine kleine Anhöhe am Ende eines Landvorsprunges im buchten- und inselreichen Nordas See. So konnte man durch den parkartigen Garten von drei Seiten auf die zauberhafte Seenlandschaft blicken, die im Übrigen auch von einem Turmgeschoß im Rundblick zu bewundern war. Das Innere des idyllischen Häuschens bestand im Wesentlichen aus einem größeren, salonartigen, mit Gemälden und Nippes ausstaffierten Wohnzimmer, welches von einem Flügel beherrscht wurde. Grieg nannte das Anwesen, das nur als Sommerhaus diente, Troldhaugen, was so viel wie Hügel der Trolle heißt.

Die Villa Troldhaugen, die, wie Bulls „Alhambra“, heute noch unverändert existiert, entspricht ganz dem Bild vom bürgerlichen Idylliker, das man sich lange Zeit von Grieg machte. Am Zustandekommen dieses Künstlerbildes waren vor allem die „Lyrischen Stücke“ für Klavier beteiligt, die der Norweger zur Freunde seiner begeisterten, über ganz Europa und Amerika verbreiteten Anhängerschaft in großer Zahl komponierte. Der Erfolg dieser intimen pianistischen Genreminiaturen, die der bürgerliche Amateur technisch gut bewältigen konnte, beruhte nicht zuletzt darauf, daß man sich beim Spielen und Hören gewissermaßen in die Wohnstube des Komponisten und damit nach Troldhaugen versetzt fühlen konnte. Die Nachfrage danach war so groß, daß Griegs Verleger in die zehn Hefte, die davon nach und nach herauskamen, schließlich auch alle möglichen kleineren Werke gemütvollen Inhaltes aus Griegs musikalischer Feder packte. Dazu gehört unter anderem „Hochzeitstag auf Troldhaugen“, das 1896 im achten Band der „Lyrischen Stücke“ (Op. 65) und später auch in Orchesterfassung erschien. Die Komposition war ursprünglich überhaupt nicht zur Veröffentlichung vorgesehen und hatte weder mit Troldhaugen noch mit einer Hochzeit zu tun, von der auf Troldhaugen ohnehin keine stattfand. Es handelte sich vielmehr um ein Gelegenheitswerk, welches Grieg anlässlich des 50. Geburtstages von Nancy Giertsen, einer nahen Freundin seiner Familie, komponierte und das später auf sein Intimitätsimage „umfrisiert“ wurde.

Grieg selbst war nicht sonderlich zufrieden mit dem Image des musikalischen Idyllikers und den daraus resultierenden Produktionsanforderungen, wiewohl dies sicherlich die Finanzierung seiner Villa erleichterte. Er hätte wohl lieber das Ansehen des Beherrschers der größeren musikalischen Form gehabt, eines Künstlers, der gewichtigere Probleme aufwirft; wahrscheinlich auch ein wenig vom Ruf einer schrägen Künstlernatur eines Ole Bull. In einem Brief aus dem Jahre 1896 nannte er die Notwendigkeit, lyrische Stücke zu schreiben, eine „infame Krankheit“ und beklagte: „Das was ich komponieren will, wird (dadurch) nicht komponiert und was ich nicht komponieren will, wird komponiert.“ Besonders „infam“ mochte ihm dabei erscheinen, daß kein Werk sein öffentliches Erscheinungsbild mehr bestimmte als das ewig wohlgelaunte „Hochzeitstag auf Troldhaugen“, zumal er sich bei diesem Stück, dessen ursprünglichem Zweck entsprechend, einige kompositorische Plattheiten geleistet hatte. Ganz abgesehen davon dürften die Tage ungetrübter Laune auf Troldhaugen, das nun einmal in Europas Regenhauptstadt liegt, für den notorisch kränkelnden Grieg selbst im Sommer eher die Ausnahme gewesen sein.

Weitere Texte zu Werken von Grieg und rd. 70 anderen Komponisten siehe Komponisten- und Werkeverzeichnis

vor 1795 Franz Vinzenz Krommer (1760 – 1831) Oktettpartita B-Dur

Krommer ist heute meist nur noch Spezialisten bekannt. Er wuchs im Tschechischen auf und wurde durch seinen Onkel, einem Kirchenmusiker, in die Anfangsgründe der Musik eingewiesen. Bei ihm lernte er auch das Geigen- und Orgelspiel. Gleichzeitig bildete er seine schöpferischen Fähigkeiten autodidaktisch an den Werken Haydns und Mozarts. Seine frühen Berufsjahre verbrachte er als Geiger und Organist in adeligen und kirchlichen Diensten in Wien und Ungarn. Ab 1795 lebte er als mehr oder weniger freier Musikschaffender im Umkreis der österreichischen Hauptstadt, wo er sich in der Vielzahl der Bewerber um musikalische Meriten sehr gut zu behaupten wusste.

 

Tatsächlich hatte Krommer zu seinen Lebzeiten einen großen Namen. So berichtete Paganini im Jahre 1816 stolz, dass  er mit dem berühmten Krommer Quartett gespielt habe, als dieser in seiner Eigenschaft als kaiserlicher Kammertürhüter Kaiser Franz I nach Mailand begleitete. Später wurde ihm als letztem das Amt des kaiserlichen Kammermusikdirektors und Hofkomponisten übertragen. Beethoven sah Krommer als ernsthaften Rivalen an, was möglicherweise der Grund dafür war, dass  er sich ablehnend über ihn äußerte. Unter Berufung auf Beethovens Meinung sowie eine zurückhaltende Äußerung Schuberts hat man ihn später als hausbacken und als philiströsen Vielschreiber bezeichnet, einen Ruf den er bis heute nicht ganz losgeworden ist.

 

Das Urteil der Zeitgenossen war, sieht man von den genannten Wiener Konkurrenten ab, wesentlich günstiger. Von Krommers Werken heißt es, sie hätten „an Reichtum ungeborgter Ideen, Witz, Feuer, neuen harmonischen Wendungen und frappanten Modulationen inneren Gehalt genug, um die Aufmerksamkeit der Liebhaber auf sich zu ziehen.“ Man rühmte im Übrigen seine Fähigkeiten im fugierten Stil.

 

Krommers Kompositionen sind in der Tat Legion, was allerdings, wie das Beispiel Haydns zeigt, nicht notwendig ein Argument gegen ihn ist. Außer für Klavier Solo schrieb er für alle Gattungen der Instrumentalmusik. Lange Zeit galt er neben Haydn als führender Komponist von Streichquartetten (mit 70 Kompositionen hinterließ er nicht weniger Werke dieser Gattung als Haydn, der gemeinhin als der fruchtbarste Meister auf diesem Gebiet gilt). Zu Krommers besten Werken gehören aber seine Kompositionen für Bläser. Neben Solokonzerten und Kammermusik schrieb er nicht zuletzt Werke für Feste und Gartenmusiken. Darunter sind eine ganze Reihe von „Parthien und Harmoniemusiken“ für acht Bläser. Sie sind wohl zum großen Teil in den Jahren 1793 bis 1795 entstanden, als Krommer beim Prinzen Grassalkowitsch de Gyarak, angestellt war, einem ungarischen Adeligen und „großen Liebhaber von Blasmusiken“, dem auch Haydn und Pleyel viele ihrer Werke für Bläser widmeten. Es handelt sich dabei um wohlgebaute, klangstarke Werke, die durchaus die Qualitäten haben, welche ihnen die Zeitgenossen, wie oben erwähnt, schon zu Lebzeiten ihres Schöpfers attestierten.

Ein- und Ausfälle – Nichts als (die) Wahrheit

Lessing sagte, wenn Gott ihn wählen ließe zwischen dem Besitz der reinen Wahrheit und dem immer regen Trieb nach Wahrheit mit der Möglichkeit, sich immer und ewig zu irren, würde er sich für letzteren entscheiden (weil die reine Wahrheit nur für Gott allein sei). Der Gedanke ist menschlich (bescheiden), führt aber nicht weit. Niemand gibt uns die Wahl.

Ein- und Ausfälle – Geld und Welt

Dem modernen Menschen ist es zwar gelungen, die Welt weitgehend in Geld zu verwandeln und damit austauschbar zu machen. Sein Problem ist nur die Rückverwandlung von Geld in Welt. Dies ist der Grund dafür, dass Geld allein nicht glücklich macht.

Ein- und Ausfälle – Einfach und wahr?

Richtig ist in der Regel, dass die Wahrheit einfach ist. Einfache Wahrheiten sind allerdings meist falsch.

Ein- und Ausfälle – Zur Statik von Gedankengebäuden

Große Gedankengebäude sind mit Vorsicht zu genießen. Je wirklichkeitsferner Gedanken sind, desto leichter lassen sie sich systematisieren.

 

1785 Wolfgang Amadeus Mozart (1756 – 1791) Klavierkonzert Nr. 21 C-Dur (KV 467)

 

Nur vier Wochen nach dem Konzert Nr. 20 entstand Mozarts Konzert in C-Dur. Die Fertigstellung notierte er für den 9. März 1785. Aufgeführt wurde es bereits am folgenden Tag. In der Ankündigung hierzu heißt es: „Donnerstag den 10. März 1785 wird Hr. Kapellmeister Mozart die Ehre haben, in dem k.k. National-Hof-Theater eine große musikalische Akademie zu seinem Vortheile zu geben, wobei er nicht nur ein neues, erst verfertigtes Forte piano-Konzert spielen, sondern auch ein besonders großes Forte piano Pedal beym Phantasieren gebrauchen wird.“ Mozarts Vater war bei der Aufführung anwesend und war ganz gerührt von dem Werk und der Aufnahme, die es beim Publikum fand.

 

In dem Bestreben, das Klavierkonzert formal der Symphonie anzunähern, entwickelt Mozart im Kopfsatz dieses Konzertes, der mit "Allegro maestoso" überschrieben ist,  eine besonders komplexe Struktur. Schon die Exposition ist weit ausgreifend und vielfältig. Das Hauptthema ist von majestischer Schlichtheit und wird mehrfach wiederholt.  Das Klavier schaltet sich ohne besondere Vorbereitung mitten im Geschehen ein, scheint zunächst eigene Wege zu gehen, wird dann aber in die Gesamtstruktur eingebaut. Nachdem das musikalische Material breit eingeführt ist, wird es nach allen Regeln der Kunst, die Mozart aber dabei weitgehend überhaupt erst aufstellt, durchgespielt – orchestral, kammermusikalisch und schließlich kontrapunktisch. Kritiker haben bei diesem Satz die Virtousität Mozarts im Umgang mit großen Massen hervorgehoben und das Konzert in die Nähe der Jupitersymphonie gerückt, die drei Jahre später entstand. Der Mittelsatz ist eines jener Klang- und Stimmungswunder, die Mozart über alle seine Zeitgenossen herausheben. Mit der bitter-süßen Melancholie seiner scheinbar endlosen Melodie ist er eines von Mozarts eindrucksvollsten Stücken überhaupt, was mittlerweile freilich auch die „Zweitverwerter“ aus Werbung, Film und Klassik-Kuschelsendern angezogen hat. Dabei hat gerade dieser Satz mit der raffinierten Verschleierung seiner unterschwelligen Asymmetrie eine sehr anspruchsvolle Struktur. Auch der brillante Schlusssatz, in dem Mozart, wie schon im ersten Satz, seiner Spielfreude am Klavier in fein ausgesponnener Ornamentik freien Lauf lässt, ist nicht bloß ein leutseliges Rondo, das schönes Bekanntes immer wieder bringt. Mozart versucht hier mittels eines zweiten Themas die Form des Rondos mit der des Sonatenhauptsatzes zusammenzuführen.

Weitere Texte zu Werken Mozarts und rd. 70 weiterer Komponisten siehe Komponisten- und Werkeverzeichnis

 

1785 Wolfgang Amadeus Mozart (1756 – 1791) Klavierkonzert Nr. 20 d-moll, KV 466

 

Mozart schrieb in den drei Jahren nach seiner Übersiedlung nach Wien im Jahre 1781 12 Klavierkonzerte. Er beschränkte sich dabei aber auf nicht darauf, dem Publikum das zu bieten, was es kannte und daher leichten Erfolg versprach. Seine Kompositionsstube war in dieser Zeit so etwas wie ein Laboratorium zur Entwicklung der optimalen Form des Klavierkonzertes. Diese Entwicklung war erst einige Jahrzehnte zuvor von Johann Sebastian Bach in Gang gesetzt und nicht zuletzt durch seine Söhne fortgeführt worden. Vor allem Johann Christian Bach übte dabei großen Einfluss auf Mozart aus. Herausgekommen ist nach vielen Versuchen, in denen Mozart immer wieder Neues ausprobierte, so etwas wie eine ideale Form für diese Gattung. Sie sollte denn auch über lange Zeit das Muster für Klavierkonzerte bleiben.

Den entscheidenden Schritt tat Mozart mit seinen beiden Klavierkonzerten KV 466 und 467, die kurz hintereinander Anfang 1785 entstanden. In diesen Werken wird das Verhältnis von Soloinstrument und Orchester erstmalig im Sinne einer weitgehenden Gleichberechtigung beider Elemente gestaltet. Dabei erhalten insbesondere die Bläser durch eigenständige Beteiligung am musikalischen Geschehen ein immer stärkeres Gewicht. Auf diese Weise führt Mozart die Gattung Klavierkonzert ganz aus der Sphäre der bloß gefälligen Gebrauchsmusik heraus in die Höhen der Kunstmusik.

 

Das Klavierkonzert Nr. 20 ist nicht nur eines der populärsten Werke Mozarts. Es erscheint wie die endgültige Verwirklichung des Kunstprogrammes, das Mozart zwei Jahre zuvor in einem Brief an seinen Vater formuliert hatte (und das weitgehend allgemein für die [Wiener]Klassik gilt). „Die Concerten“ so schrieb er über seine neuesten Klavierkonzerte „sind eben das Mittelding von zu schwer und zu leicht, sind sehr Brilliant, angenehm in die Ohren – Natürlich, ohne in das leere zu fallen – hie und da – können auch kenner allein satisfaction erhalten – doch so – dass  die Nichtkenner damit zufrieden seyn müssen ohne zu wissen warum.“ Im ersten Satz etwa bedient sich Mozart musikalischer Figuren und Elemente, die dem Kenner aus der Opera seria bekannt sind. Damit baut er, ohne ein eigentliches Thema zu formulieren, eine eigenartig dräuende Atmosphäre auf, wie man sie etwa aus der Oper „Don Giovanni“ kennt. Davon wird auch derjenige eingenommen, der sich der Herkunft dieser Elemente nicht bewusst ist. Im dritten Satz überrascht Mozart den Kenner damit, dass er den Dur – Moll Konflikt nicht wie üblich in den Paralleltonarten (d-moll – F-Dur) sondern auf der gleichen Stufe (nämlich auf D) austrägt. Außerdem lässt er den Satz in Moll beginnen und in Dur enden. Damit erreicht er jene eigenartige Unentschiedenheit der Aussage, die den Charakter des Satzes und im Grunde des ganzen Werkes bestimmt.

 

Wie so häufig bei Mozart ist das Werk unter drangvollen Umständen entstanden. Die Partitur wurde erst einen Tag vor dem Konzerttermin fertig. Vater Leopold schrieb seiner Tochter Marianne nach der Uraufführung, die am 11. Februar 1785 im Rahmen einer „Akademie“ vor 150 Subskribenten in Wien stattfand, Mozart habe nicht einmal Gelegenheit gehabt, den letzten Satz durchzuspielen. Er habe stattdessen die Kopien der Stimmen durchsehen müssen, mit denen der Kopist noch bis zur letzten Minute beschäftigt gewesen sei. Es ist eines der Wunder des Mozart´schen Schaffens, dass  man auch diesem Werk nichts von Eile anmerkt.

Weitere Texte zu Werken Mozarts und rd. 70 weiterer Komponisten siehe Komponisten- und Werkeverzeichnis

 

Ein- und Ausfälle – Ketzerei als Funktion des Dogmas

Die Ketzerei ist eine Funktion des Dogmatismus. Dogmatische Gedankensysteme gebären – insbesondere wenn sie einen sozialen Geltungsanspruch erheben – notwendigerweise abweichende Meinungen, allerdings nicht so sehr, weil sie den Trotz derer herausfordern, die sich nicht gängeln lassen wollen, sondern schon weil sie ihrerseits eine Demonstration der freien Meinungsbildung sind. Denn da Dogmen immer etwas Gewillkürtes haben, sind sie Ausdruck der Freiheit dessen, der sie formuliert. Wer aber Freiheit in Anspruch nimmt, setzt den Grund dafür, dass andere sich ebenfalls Freiheit vorstellen können. Indem man Dogmen aufstellt, legitimiert man damit notwendigerweise die Möglichkeit, auch etwas Abweichendes wollen zu können. Erfolg können Dogmen daher nur haben, wenn diejenigen, die sie aufstellen, die Macht haben, diejenigen zu Ketzern zu stempeln, die etwas anderes wollen. Der Kreislauf von Dogma und Ketzerei ist ein Grundmotiv des nahöstlich-europäischen Denkens, aus dem herauszufinden mindestens so schwierig ist wie das Verlassen des Kreislaufes der Wiedergeburten, der ein Grundmotiv des südasiatischen Denkens ist.

Ein- und Ausfälle – Das endlose Pubertieren der modernen Architektur

Ende der 60-er Jahres des vergangenen Jahrhunderts konnte man erleben, dass in den Städten die geschmückten Fassaden der Häuser insbesondere aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine zeitlang hinter Planen verschwanden, unter denen es dann heftig rumorte. Von außen sah man nur das Schild einer Firma, die ihre Tätigkeit als Fassadensanierung beschrieb. Die Sache nahm aber eine andere Entwicklung als der Beobachter erwartete. Wenn nach einigen Monaten die Planen fielen, fand er, dass die profilierten Bänder, Simse und Einrahmungen, welche die alten Fassaden kennzeichneten, abgefräst, die Erker eingeebnet, Baluster und Statuen entfernt und nicht selten auch die Balkone mit ihren fein behauenen Stützen abgebrochen waren.

Man könnte meinen, dass die Ursachen solcher Fassadenrasuren ausschließlich ökonomischer Natur waren. Dem ist aber nicht so. Der architektonische Unsinn, der inzwischen eingestellt wurde, hatte vielmehr Methode. Dies zeigt die Tatsache, dass auch andere Gebäude davon betroffen waren. Beim Wiederaufbau von alten Häusern nach dem Krieg etwa ließ man in aller Regel ebenfalls die alten Ornamente weg und beließ es, wenn überhaupt,  bei den Maßen und Proportionen der zerstörten Vorgänger. Und selbst wenn man sich – bei besonderen Gebäuden oder solchen, die vor der Mitte des 19. Jahrhundert entstanden waren – dazu durchrang, das ursprüngliche Bauwerk in der alten Form wieder aufzubauen, wagte man keine vollständige Rekonstruktion. Wenigstens an einigen markanten Stellen musste man zeigen, dass man eigentlich dagegen war. In ähnlicher Weise hielt man sich bei der Schließung von Baulücken in historischer Umgebung meist nur an die Maße und Proportionen der umgebenden Bebauung (beim Bau von Kreissparkassen allerdings nicht einmal daran). Die Folge waren jene merkwürdigen Kontrapunkte in den historischen Stadtbildern, von denen sich der Beobachter häufig heftig vor den Kopf gestoßen fühlte.

Diese Art des Umgangs mit der historischen Architektur hat etwas Pubertäres. Bauwerke, denen eine derartige Baugesinnung zugrunde liegt, suchen negative Aufmerksamkeit. Sie leben im wesentlichen vom provokanten Kontrast zur historischen Architektur. Solche Verhaltensweisen zeigen in der Regel an, dass jemand auf der Suche nach einer eigenen Statur ist. Dies wiederum ist typisch für Individuen, die dabei sind, erwachsen zu werden. Bei einem gesunden Individuum erwartet man, dass diese Suche nach einiger Zeit abgeschlossen ist. Zieht sie sich über die Jahre hin, spricht man von Entwicklungsstörungen.

Ein- und Ausfälle – Faust und die Deutschen

Mit seinem unaufhaltsamen (Erkenntnis-)Drang, der dazu in Tatkraft umgemünzt werden konnte, erschien Faust den Deutschen doch immer irgendwie als ein toller Hecht. Dabei ist ihnen ein wenig aus dem Blick geraten, dass ihn der Teufel am Haken hatte.

1855 Charles Gounod (1818-1893) Symphonie in D

 

Zu Gounod fällt hierzulande selbst den Musikkennern wenig ein. Die meisten denken dabei vermutlich nur an das berühmt-berüchtigte „Ave Maria“ nach dem ersten Präludium aus Bachs „Wohltemperiertem Klavier“ und damit an jene religiös getönte Sentimentalität, die im 19. Jh. gelegentlich die Grenze des guten Geschmacks überschritt. Dass Gounod zu den fruchtbarsten Komponisten seiner Zeit gehörte und ganz unterschiedliche Genres bediente, ist hingegen kaum bekannt. Tatsächlich stammen aus seiner rastlosen Feder neben dem größten kirchenmusikalischen Oeuvre Frankreichs im 19. Jh. – dazu gehören allein 21 Messen – zahlreiche Chor- und sonstige Vokalstücke, eine Reihe von Instrumentalwerken und 12 große mehr oder weniger erfolgreiche Opern. Nach einem Wort seines Schülers Saint-Saens versuchte Gounod in der französischen Oper das zu schaffen, was Mozart in Österreich gelungen war: die Verschmelzung von Orchester und Gesangsstimmen, von Melodie und Symphonie. Insofern legte Gounod die Basis für die Entwicklung, welche die französische Oper bei Bizet – ebenfalls einem seiner Schüler – , Massenet und Saint-Saens nahm. Gounod gilt im übrigen auch als wichtiger Wegbereiter des spezifisch französischen Tonfalls in der Musik der zweiten Hälfte des 19. Jh., der über César Franck, Saint-Saens und Gustav Fauré schließlich zur impressionistischen Musik führte.

 

Ein Grund für den hiesigen Mangel an Kenntnissen über Gounod, der ein sehr erzählenswertes, mitunter romanhaftes Leben hatte, ist, dass es über ihn kaum deutschsprachige Literatur gibt. Die gut bestückte Stuttgarter Stadtbibliothek etwa besitzt überhaupt kein Buch über diesen Komponisten (dafür über seinen alphabetischen Nachbarn Glenn Gould, einem „bloßen“ Interpreten, gleich ein Dutzend). Im Musiklesesaal der Württembergischen Landesbibliothek findet sich über Gounod nur eine französische Biographie aus dem Jahre 1911. In deutscher Sprache gibt es nur ein – noch älteres – Bändchen von Gounod. Es handelt sich um seine Lebenserinnerungen, in denen er im elegantesten Stil außerordentlich liebevoll und sehr unterhaltsam seine erste Lebenshälfte schildert, insbesondere seinen offenbar unbändigen kindlichen Willen, sich gegen alle Vorbehalte seines Umfeldes in der Welt der Musikwelt zu etablieren.

 

Nicht zuletzt diese Aufzeichnungen zeigen, dass Gounod einen wesentlichen Teil seines künstlerischen Erbteils jenem Deutschland verdankt, das ihn so stiefmütterlich behandelt. Eine seiner wichtigsten musikalischen Erfahrungen war etwa der Besuch einer Aufführung von Mozarts „Don Giovanni“ im Jugendalter. Seitdem war Mozart für ihn das Maß aller musikalischen Dinge. Sein erster Kompositionslehrer war der „Deutsche“ Anton Reicha (er war eigentlich ein Böhme). Als Gounod nach Reichas Tod, noch immer Gymnasiast, auf das Konservatorium wechselte, das der Italiener Cherubini leitete, sagte dieser ihm zwar, er müsse nun erst einmal umlernen und alles Deutsche vergessen, was ihm Reicha beigebracht habe. Gounods künstlerische Entwicklung stand jedoch weiterhin maßgeblich unter dem Einfluss der deutschen Musik. Nachdem er als Rompreisträger zweieinhalb Jahre in der französischen  Künstlerschmiede der Villa Medici im Rom verbracht hatte, begab er sich für einige Monate in das alte „deutsche“ Musikzentrum Wien, wo in gewisser Hinsicht seine professionelle Karriere begann. Er erhielt dort den ehrenvollen Auftrag, ein Requiem zu schreiben, für das er ganze sechs Wochen Zeit hatte. Offenbar bewältigte Gounod die große Herausforderung zur Zufriedenheit des Bestellers, denn es folgte der Auftrag zur Komposition einer Messe. Von Wien reiste Gounod in das neue deutsche Musikzentrum Leipzig. Dort empfing ihn Mendelssohn äußerst wohlwollend, wofür ihm Gounod in seinen Aufzeichnungen mit den schönsten Worten dankt. Mendelssohn spielte ihm auf der Orgel der Thomaskirche stundenlang aus den Werken Bachs vor. Damit öffnete sich für Gounod ein völlig neuer musikalischer Horizont, aus dem u.a. das „Ave Maria“ resultiert.

 

Mit einem Bündel Bach-Motetten, das ihm Mendelssohn geschenkt hatte, kehrte er nach Paris zurück, wo er eine Stelle als Organist annahm. Hier spielte er unter anderem so viel Musik des Thomaskantors, dass sich das Publikum, welches diese komplizierte Musik nicht kannte, beschwerte und er im Streit darüber fast seine Stelle verlor. Auch in seinen späteren Jahren blieb Gounod ein Parteigänger der „deutschen Schule“ der Instrumentalmusik, was damals in Frankreich schon aus politischen Gründen alles andere als selbstverständlich war. In England, für das er später Oratorien schrieb, hatte er den Ruf, der legitime Nachfolger der Deutschen Händel und Mendelssohn zu sein, die dort als Oratorienhelden verehrt wurden. Sein größter Erfolg war im Übrigen eine Oper mit einem deutschen Sujet (Faust).

 

Eine Frucht der Begeisterung Gounods für die deutsche Instrumentalmusik sind zwei Symphonien, die in den Jahren 1855 und 1856 entstanden (1885 kam im gleichen Sinne noch eine „Petite Symphonie“ für Bläser hinzu). Die Komposition dieser Werke ist schon deswegen ungewöhnlich, weil sich das Musikleben in Frankreich seinerzeit im wesentlichen auf die Oper konzentrierte. Hinzu kommt, dass sich Gounod der romantischen Emphase eines Berlioz entzog und in Aufbau und thematischer Verarbeitung auf die deutschen Klassiker und Frühromantiker zurückgriff (womit er der Linie der „Académie des Baux Arts“ folgte, die den Rompreis ausschrieb). Die Symphonie in D etwa ist ein grundmusikantisches, handwerklich gut gearbeitetes und im besten Sinne unterhaltsames Werk der Art, die man etwa von Haydn kennt. Bemerkenswert ist vor allem der zweite (Variationen)Satz, in dem Gounod auf höchst originelle Weise mit barocken Elementen und altertümlichen Wendungen spielt, zugleich aber offenbar auf den liedhaften langsamen Satz von Mendelssohns „Italienischer Symphonie“ anspielt, die damals neue Musik war. Die fugierte Variation in der Mitte des Satzes mutet dabei wie eine Hommage an Bach an.  

In Deutschland blieb auch Gounods Beitrag zur Gattung der Symphonie unbeachtet. In den Konzertführern werden die Symphonien in aller Regel übergangen. Wo sie einmal kurz und pauschalierend erwähnt werden, fehlt nicht der Hinweis, dass es sich bei Gounod um eine jener „Komponistenpersönlichkeiten handelt, die der erbarmungslose Richterspruch der Geschichte alsbald in den Rang von Kleinmeistern versetzt“ habe. Diese schlanken und erfrischenden Werke sind aber allemal hörenswert und ohne Zweifel dazu geeignet, Gounod vom Ruf des Grenzgängers des Geschmacks zu befreien, den ihm das „Ave Maria“ eingebracht hat.

1786/87 Wolfgang Amadeus Mozart (1756-1791) Konzertarien „Ch`io mi scordi di te?“ (KV 505) und „Bella mia fiamma, addio“ (KV 528)

 

Mozart hat rund vier Dutzend selbständige Arien für Sologesangstimme und Orchester geschrieben. Es handelt sich dabei teils um Einlagen für eigene oder fremde Opern, Singspiele und Theaterstücke, teils um Werke, die ausschließlich für die konzertante Darbietung erstellt wurden. In den meisten Fällen war Anlass der Komposition eine Bestellung, oft desjenigen, der das Werk anschließend singen sollte. Für die damaligen Sängerstars waren Einlagen, welche speziell für sie geschrieben waren, so etwas wie ein Marketinginstrument. Dem entsprechend sind diese Werke stark auf die Wünsche und Möglichkeiten der Besteller zugeschnitten. Manche Arien waren Huldigungen für herausragende Sängerpersönlichkeiten. Unter den allein 28 Sopranarien befinden sich wohl auch künstlerisch verbrämte Liebeserklärungen. Unterschwellige Erotik wird man insbesondere bei den verschiedenen Arien unterstellen können, die Mozart für seine Schwägerin Aloysia Weber schrieb. In diese hatte er sich 1777, fünf Jahre vor seiner Hochzeit mit ihrer Schwester Constanze, auf seiner Reise nach Paris in Mannheim – letztlich ohne Resonanz von ihrer Seite – verliebt. Zum Schrecken seines Vaters, der ihn auf die Suche nach einer seriösen festen Arbeitsstelle  geschickt hatte, wäre der 21-Jährige damals am Liebsten mit ihr und den Arien, die er für sie schreiben wollte, vagbundierend durch die Lande gezogen. Aber auch sonst geht es meist um Probleme mehr oder wenig glücklich Liebender. Die Arien sind spannungsgeladene Musikdramen in Kleinformat, die nach barocker Manier meist in der Antike angesiedelt sind (die überwiegende Zahl der Textvorlagen stammt von kaiserlichen Hofpoeten Pietro Metastasio, der vor allem zahlreiche Barockkomponisten bediente). Besonders in den späteren Werken teilt Mozart die Darstellung der mitunter recht komplexen seelischen Regungen auf höchst artifizielle Weise zwischen Orchester und Singstimme auf.

 

Im Falle der Arie „Ch`io mi scordi di te?(KV 505) ist schwer zu entscheiden, welcher der genannten Gründe für die Komposition zutrifft. Mozart hat das Werk für die englisch-stämmige Sängerin Nancy Storace geschrieben, die eine der großen Primadonnen ihrer Zeit war, zu der er aber auch eine besondere persönliche Beziehung hatte. Sie hatte die Figur der Susanne in seiner Oper „Die Hochzeit des Figaro“ aus der Taufe gehoben. Die Uraufführung dieser Oper fand im Mai 1786 statt. Ein halbes Jahr später – inzwischen hatte der „Figaro“ in Prag Triumphe  gefeiert – komponierte Mozart, vielleicht aus Dank, die Konzertarie. Sie wurde wohl bei einer „Akademie“ am 23. Februar 1787 in Wien erstmalig aufgeführt.

 

Inhaltlich nimmt das Werk, von dem es noch eine frühere Fassung (KV 500) gibt,  Bezug auf Mozarts Oper Idomeneo. Idamante, der Sohn Idomeneos, beruhigt in dieser Szene seine Geliebte Ilia, die befürchtet, er könne der Prinzessin Elektra verfallen (sein), die er nach dem Willen seines Vaters nach ihrer Heimatstadt Troja begleiten soll. Mit dem Auftrag versucht sich Idomeneo aus einer jener ausweglosen Zwangssituationen zu befreien, in welche antike Protagonisten auf Grund unglücklicher Verkettung von Schuld und Zufall verstrickt zu werden pflegen (er hätte auf Grund eines Schwures, den er unter verhängnisvollen Umständen leistete, seinen Sohn eigentlich dem Poseidon opfern müssen). Die Besonderheit dieser Konzertarie ist die Beteiligung eines obligaten Klaviers, das nach Art der späten Klavierkonzerte Mozarts konzertierend am Geschehen beteiligt ist. Diese ungewöhnliche Kombination könnte dafür sprechen, dass Mozart, der den Klavierpart bei der Aufführung im Februar 1787 wohl selbst spielte, die Zweisamkeit mit Nancy Storace suchte.

 

Die Arie „Bella mia fiamma, addio“ (KV 528) schrieb Mozart ebenfalls für eine der großen Diven seiner Zeit, die tschechische Sängerin Josepha Duschek. Für sie hatte Mozart 1777 schon die Konzertarie KV 272 komponiert. Nach einer Erzählung von Mozarts Sohn Karl Thomas soll die Sängerin die Komposition dadurch erzwungen haben, dass sie Mozart, der 1787 anlässlich der Prager Produktion des „Don Giovanni“ bei ihr und ihrem Mann wohnte, mit Papier und Tinte in einen Raum einsperrte und ihn erst wieder herauslassen wollte, wenn er ihr eine Arie auf einen mitgegebenen Text von Niccolò Jomelli geschrieben habe. Mozart soll sich daraufhin mit besonderen technischen Schwierigkeiten für die Sängerin und der Drohung gerächt haben, er werde die Arie wieder vernichten, wenn sie dieselbe nicht fehlerfrei vom Blatt singen könne. Tatsächlich gibt es bei der auffällig breit ausgeführten Stelle „Quest affano, questo passo è terribile“ (Dieser Schmerz, dieser Schritt [Passus] ist fürchterlich) harmonisch verquere Passagen, die Josepha Duschek vor einige Probleme gestellt haben dürften. Nachdem sie allerdings im Besitz des Autographs mit einer Widmung Mozarts war, hat die Duschek diese Prüfung wohl ebenso gut bestanden wie dieser die offensichtlich schaffensfördernde Zwangssituation. Darüber, ob Mozart mit der Sängerin, die sehr hübsch gewesen sein soll, eine Liebesbeziehung hatte, ist immer wieder spekuliert worden. Außer den kolportierten Neckereien im Zusammenhang mit der Entstehung der Arie gibt es hierfür allerdings wenig handfeste Indizien.

 

Inhaltlich geht es in der Arie, die in mancher Hinsicht der höllischen Stimmung des „Don Giovanni“ verpflichtet ist, um die Klage des Königs Titano über den Verlust seiner „Flamme“ Proserpina, die Pluto in die Unterwelt entführt hat. Es handelt sich um eine der zahlreichen Abschiedszenen in italienischen Opern, welche Librettisten und Komponisten wohl schon wegen der klanglichen Qualititäten der Formel „addio“ schätzen, die ohne Zweifel die Lieblingsvokabel der italienischen Oper ist.

Ein- und Ausfälle – Medien und Gewalt

Schon immer hat man versucht, Leid und Grausamkeit dadurch zu bekämpfen, dass man sie drastisch darstellt. Aber da die Wirklichkeit dazu neigt, die Darstellung zu übertreffen, muss diese wieder die Wirklichkeit überbieten, die Wirklichkeit dann wieder die Darstellung etc. Auf diese Weise werden Leid und Grausamkeit schließlich von ihrer Darstellung erzeugt.

 

Ein- und Ausfälle – Das Böse und die Freiheit

Die Existenz des Bösen in der Welt begründen die Theologen gerne damit, dass es die notwendige Folge der Freiheit sei. Die Freiheit sei das höchste Gut, das Gott dem Menschen habe schenken können. Dazu gehöre auch die Möglichkeit, zwischen Gut und Böse zu wählen.

 

Es handelt sich um ein merkwürdiges Geschenk. Für die Guten ist es nutzlos, da sie nicht davon Gebrauch machen können. Sie sollen ja nur das Gute wählen. Nutzen können es damit ausschließlich die Bösen (was die Frage aufwirft, warum Gott ihnen ein Geschenk, dazu ein solches, macht). Die Nutzung des Geschenkes durch die Bösen wiederum müssen die Guten verhindern, andernfalls sie selbst zu Bösen werden.

Ein- und Ausfälle – Kant und die Todesstrafe

 

Kants Begründung für die Notwendigkeit der Todesstrafe bei Mord ist ein Musterbeispiel dafür, wie formale Scheinargumente auch nur zu scheinbar richtigen Lösungen führen. In der „Metaphysik der Sitten“ heißt es (4 Jahre nachdem Kaiser Josef II in Österreich die Todesstrafe als erster und vorläufig einziger abgeschafft hatte): „Hat er aber gemordet, so muss er sterben. Es gibt hier kein Surrogat zur Befriedigung der Gerechtigkeit. Es ist keine Gleichartigkeit zwischen einem noch so kummervollen Leben und dem Tode, also auch keine Gleichheit des Verbrechens und der Wiedervergeltung als durch den am Täter gerichtlich vollzogenen …Tod.“ In „Wirklichkeit“ kommt  es bei der Frage, ob die Todesstrafe gerechtfertigt sein kann, nicht darauf an, formale Proportionen zwischen zwei Ereignissen, der Tat und der Strafe, herzustellen. Abgesehen davon, dass es schon generell kaum möglich ist, die beiden Aspekte in eine eindeutige formale Beziehung zueinander zu setzen (das schafft nicht einmal das Auge-um-Auge-Zahn-um-Zahn-Prinzip, weil es die individuelle Schuld, die eine flexible Reaktion bedingt, zu wenig berücksichtigt), abgesehen davon spitzt sich bei der Todesstrafe das allgemeine Problem des Richtens von Menschen über Menschen derart zu, dass der Richter in den denkbar größten moralischen Abstand zum Gesetzesbrecher gerät, eine Position, in die kein Sterblicher gebracht zu werden verdient.

Ein- und Ausfälle – Mensch und Gottesurteil

Gottesurteile zeichnen sich dadurch aus, dass aus dem Eintritt oder dem Ausbleiben eines vorher festgelegten Erfolges auf eine bestimmte Ursache geschlossen wird, die mit dem Erfolg unmittelbar nichts zu tun hat (man wirft etwa eine Frau, die als Hexe verdächtigt wird, in tiefes Wasser; kann sie sich retten, ist der Beweis ihrer Unschuld, ertrinkt sie, der Beweis ihrer Schuld geführt). Dabei gilt ein solches Urteil als umso göttlicher, je unwahrscheinlicher der Eintritt oder das Ausbleiben des Erfolges ist (man wirft etwa eine gefesselte Frau in das Wasser). Die Logik dabei ist, dass der Beweis eines Eingreifens Gottes besonders deutlich sei, wenn etwas geschehe, was nur ein Gott bewerkstelligen könne. Dies aber heißt nichts anderes, als dass das Urteil um so göttlicher ist, je mehr der Mensch im Spiel ist. Denn je unwahrscheinlicher der Mensch – durch die Gestaltung der Urteilsbedingungen – den Eintritt oder das Ausbleiben des Erfolges macht, desto weniger will er, dass ihm Gott in die Quere kommt.

Ein- und Ausfälle – Denk ich an Amerika in der Nacht (zum 4. November)

Das Verhältnis von Angriff und Verteidigung ist bekanntlich außerordentlich komplex. Unstreitig ist, dass man sich verteidigen darf, wenn man angegriffen wird. Vielleicht darf man sich auch verteidigen, wenn ein Angriff nur droht. Das Problem ist, dass man sich über die Frage, was ein Angriff ist und wann er droht sowie darüber, wann und mit welchen Mitteln man sich verteidigen darf, trefflich streiten kann. Erschwert wird die Sache noch dadurch, dass man sich einen Angriff einbilden und ihn – aber auch eine Verteidigung – fingieren oder provozieren kann. Juristen und Eheleute können davon ein Lied mit außerordentlich vielen Strophen singen.

 

 

Wirklich kompliziert wird es allerdings, wenn Herr A (oder B), der sich über die Verhältnisse bei seinem Nachbarn, der unstreitig ein Schuft ist, ärgert und ihn auch außerhalb seines Hauses für gefährlich hält, allerdings ohne letzteres allzu genau nachgeprüft zu haben, wenn also Herr A (oder B) in das Haus des Nachbarn einbricht, um ihn unschädlich zu machen und, nachdem er festgestellt hat, dass dieser nicht so gefährlich ist, wie er dachte, dort mit der Begründung bleibt, er müsse das Haus, das er durch seinen Einbruch erst richtig in Unordnung gebracht hat, wieder aufräumen, mit der Folge, dass jeder der ursprünglichen Bewohner, der sich dagegen wehrt, als Angreifer angesehen wird, gegen den sich Herr A (oder B) meint verteidigen zu dürfen.

Ein- und Ausfälle – Die Afrikaner und das Absolute

Im Jahre 1845 reiste der Theologe Johannes Rebmann aus Gerlingen, der spätere Entdecker des Kilimanscharo, nach Schwarzafrika, um den (absoluten) Weltgeist, den sein Landsmann Georg Friedrich Hegel aus der Nachbarstadt Stuttgart ein paar Jahre zuvor entdeckt hatte, auf die riesige Weltregion südlich der Sahara aufmerksam zu machen. Rebmanns Versuche, die Bevölkerung Kenias davon zu überzeugen, dass das Christentum im Besitz der einzigen Wahrheit sei, waren aber nur von mäßigem Erfolg gekrönt. Nach zwei Jahrzehnten hatte er gerade einmal acht Menschen getauft. Enttäuscht schrieb er in die schwäbische Heimat, wo man den Besitz der Wahrheit zu schätzen weiß, die Neger hätten überhaupt keinen Sinn für das Absolute. Offenbar hatten die störrischen Afrikaner eher einen Sinn für das Relative (auch des Christentums), was möglicherweise damit zusammenhing, dass sie vom Weltgeist übersehen worden waren.