Monatsarchiv: März 2015

Gioachino Rossini (1792 – 1868) Ouvertüre zur Oper „Die Italienerin in Algier“

Rossini schrieb die Oper „Die Italienerin in Algier“ im Jahre 1813 für das Teatro Fenice in Venedig. Viel Zeit hatte er dafür nicht. Mit dem Werk sollte die Lücke gefüllt werden, welche dadurch entstanden war, dass eine andere Oper nicht fertig wurde. Rossini, der damals 21 Jahre alt war,  hatte sich offenbar schon den Ruf erworben, derartige Eilaufträge erledigen zu können. Immerhin hatte er bis dato bereits zehn Opern komponiert. Tatsächlich gelang es ihm, das Werk, das seine erste Erfolgsoper werden sollte, innerhalb der Frist von vier Wochen fertig zu stellen, die ihm zur Verfügung stand.

Die Handlung der Oper bedient das Orientgenre, das durch Napoleons ägyptische Expedition in  den Jahren 1798-1801 einen neuen Schub bekommen hatte. Dabei geht es wieder einmal um die Abwehr exzessiver Besitzsprüche testeronübersättigter orientalischer Potentaten gegenüber – nicht zuletzt europäischen – Frauen, wie wir sie etwa aus Mozarts „Entführung aus dem Serail“  oder aus „Tausend-und-eine-Nacht“ kennen.

Anders als die Opernouvertüren nach Webers „Freischütz“, der neun Jahre nach der „Italienerin in Algier“ entstand, haben Rossinis Opernouvertüren nicht viel mit dem Stoff der Oper oder deren musikalischem Material zu tun. Sie dienen nur als effektvolle Vorhangöffner. Ihre Struktur folgt einem Muster, das Rossini für viele seiner insgesamt 39 Opern verwendete. Nach einer feierlichen langsamen Einleitung folgt die Gegenüberstellung zweier Themen ohne Durchführung. Danach strebt alles einem fulminanten Schluss zu. Dieser ähnelt der sog. Mannheimer Walze, eines in der „Mannheimer Schule“ im 18. Jh. entwickelten Orchestercrescendos, das durch Sequenzierung kurzer Motive auf einen Höhepunkt zuläuft. Während im Falle der Mannheimer Walze die kontinuierliche Steigerung der Dynamik durch ein in Stufen aufsteigendes Motiv über einem ostinaten Bass erfolgt, eskaliert der Strom der Musik in Rossinis Ouvertüren durch die stetige Wiederholung eines zwei- oder viertaktigen Motivs, wobei die Intensivierung der Dynamik vor allem durch die Veränderung der Instrumentation erreicht wird.

Juan Crisóstomo de Arriaga (1806 – 1826) Sinfonia a gran orquesta

Der Baske Arriaga, mit vollem Namen Juan Crisóstomo Jacobo Antonio de Arriaga y Balzola, war ähnlich wie Mozart eine außerordentliche musikalische Frühbegabung, weswegen man ihn als baskischen Mozart bezeichnete. Über sein Leben weiß man nur wenig. Bekannt ist, dass sein Vater ihn angesichts seiner erstaunlichen Fähigkeiten, die in seiner Heimatstadt Bilbao nicht weiter gefördert werden konnten, im Alter von 16 Jahren ausgestattet mit einer Amati-Geige zur weiteren musikalischen Ausbildung nach Paris brachte. Dort nahm ihn Luigi Cherubini unter seine Fittiche, der zunächst gar nicht glauben konnte, dass die kompositorischen Talentproben, welche der junge Mann ihm vorgelegte, von diesem stammten. In Paris schuf Arriaga im Alter von 16 Jahren drei Streichquartette, die als seine wichtigsten Werke gelten. Sie sind von einer Reife des Ausdrucks und Dichte des Satzes, dass man die Skepsis Cherubinis nachvollziehen kann und geneigt ist, dahinter einen geübten größeren Meister zu vermuten. Leider fand bei Arriaga, wie im Falle Mozarts, mit dem er im Abstand von genau einen halben Jahrhundert den Geburtstag teilt, eine musikalische Entwicklung, von der man sich noch viel versprechen konnte, ein viel zu frühes Ende. Er starb bereits im Alter von 19 Jahren an der Schwindsucht. Zu den, teilweise verschollenen Werken, welche Arriaga fertig stellen konnte, gehört auch die „Sinfonia a gran orquesta“ aus dem Jahre 1824, die in einer Weise zwischen D-Dur und d-moll changiert, dass man nicht so recht weiß, in welcher Tonart sie steht. Auch dieses Werk zeigt eine erstaunliche Versiertheit im Umgang mit dem musikalischen Material und einen sehr spezifischen Tonfall, den manche als baskisch charakterisiert haben. Das Werk, das formal die klassische viersätzige Form mit langsamer Einleitung hat, steht stilistisch zwischen Klassik und Frühromantik. Es weist jene melancholisch gefärbte elegante Haltung auf, welche die Werke Arriagas allgemein charakterisiert.

Clara Schumann (1819 – 1896) Konzert für Klavier und Orchester a-moll

Clara Schumanns Klavierkonzert präsentiert ein solches Feuerwerk an originellen Ideen und eine so versierte Verbindung derselben, dass man schlicht nicht glauben kann, dass es das Werk einer Vierzehn- bzw. Fünfzehnjährigen sein soll. Unwillkürlich fragt man sich, wie es möglich ist, dass dieser Teenager das komplexe musikalische Material in so erstaunlicher Weise beherrschte und zugleich derart souverän mit den Elementen des musikalischen Zeitgeistes umzugehen wusste. Das Werk enthält alle Ingredienzien der nachklassischen Musikepoche  – hohe harmonische und rhythmische Flexibilität, fließende Formen, hintergründige Aussagen und Stimmungen, innige Emotionalität  und stupende Virtuosität.

Die Selbstsicherheit, welche Clara Schumann in diesem Werk demonstriert, beruht ohne Zweifel zunächst einmal auf den außerordentlichen Erfolgen, auf welche sie seinerzeit schon zurückblicken konnte. Auf dem Hintergrund einer jener symbiotischen Vaterbeziehungen, welche Kinder dazu bringen können, ihre ganze unbändige Kraft auf eine Sache zu konzentrieren, zeigte sie schon im zarten Alter ganz außerordentliche pianistische Leistungen. Hinzu kam, dass sie früh auch viele Größen der damaligen musikalischen Welt und ihre Werke kennen lernte, nicht zuletzt die Künstler, welche seinerzeit an vorderster Front dabei waren, den neuen Zeitgeist auszuformulieren, Pianisten wie Kalkbrenner, Thalberg, Hiller, Chopin und Liszt, Geiger wie Paganini und Spohr sowie Komponisten wie Moscheles, Hummel, Berlioz und Mendelssohn. Gut vertraut war Clara Schumann auch mit den Werken der italienischen Opernkomponisten des Bel Canto Bellini, Donizetti und Rossini, deren Werke sie in ihren Konzerten in Klavierbearbeitungen spielte. Auf diese Weise hatte sie bewusst und intuitiv all die Elemente der Musikform absorbiert, die man den „Brillianten Stil“ nennt. Mit Werken diesen Stils reisten seinerzeit zahllose Virtuosen durch Europa in der Absicht, das Publikum mit der Meisterung ungeahnter technischer Schwierigkeiten und mit romantischen Gefühlsexzessen in Erstaunen und Rührung, wenn nicht gar in Ekstase zu versetzen. Diesem Stil ist auch das Klavierkonzert verpflichtet.

Abgesehen von der Übernahme der allgemeinen Stilelemente ihrer Zeit hat sich die junge Komponistin, wie nicht weiter verwunderlich, auch ganz konkret an einigen ihrer Zeitgenossen orientiert. Von Chopin, den sie, als sie zwölf Jahre alt war, auf einer Konzertreise nach Paris kennen gelernt hatte, übernahm sie offenbar die Satzeinteilung ihres Konzertes. Wie in dessen 1. Klavierkonzert, das drei Jahre zuvor entstanden war, ist der erste Satz ein Allegro maestoso, der zweite eine Romanze und liegt dem dritten ein polnischer Tanzrhythmus zu Grunde. Nicht anders als bei Chopin tritt das Orchester auch nicht mehr nach klassischem Muster in einen Wettstreit mit dem Solopart. Es hat vielmehr die Aufgabe, dem Solisten die Bühne zu bereiten und ihn ins rechte Licht zu rücken, was Chopin der Bel Canto Oper abgeschaut hatte. Auch die reichlich ausgebreiteten, hoch virtuosen chromatischen Arabesken und Läufe sowie die emotionalen Zuspitzungen erinnern an den polnischen Klavierspezialisten und den Bel Canto. Mendelssohn, den Clara Schumann von ihrer Heimatstadt Leipzig kannte, dürfte mit seinem 1. Klavierkonzert, das zwei Jahre zuvor komponiert wurde, das Modell dafür geliefert haben, die drei Sätze ohne Pause ineinander übergehen zu lassen. Auch der Verzicht auf ein ausführliches Orchestertutti zu Anfang des Konzertes und die Integration auskomponierter Kadenzen in den Verlauf der Musik – , ebenfalls Brüche mit der klassischen Tradition  –  finden sich in Mendelssohns Konzert (wie auch noch in seinem späten Violinkonzert). Es liegt auch nahe, dass sich die Komponistin vom improvisatorischen Charakter des Mendelssohn-Konzertes zu der episodenhaften Struktur ihres Werkes inspirieren ließ. Das Konzert ist eine lockere, improvisatorisch anmutende Mischung aus dialogischer Konzertform und meist bravourösen Episoden des Klaviers, die in keine hergebrachte Form passt.

Den Entschluss, ein Klavierwerk mit Orchesterbegleitung zu schreiben, fasste Clara Schumann bereits im Alter von dreizehn Jahren. Geplant war zunächst nur ein Konzertsatz, mit dem sie sich als ernst zu nehmende Pianistin vorzustellen gedachte. Diese Komposition, die schließlich zum dritten Satz des Konzertes wurde, war im November 1833 fertig und wurde von Clara Schumann im Mai des folgenden Jahres in Leipzig aufgeführt. Niemand anderes als ihr späterer Mann Robert Schumann, der damals Schüler von Klaras Vater Friedrich Wieck war und zeitweilig in dessen Haus wohnte, hatte die Instrumentierung übernommen. Die beiden anderen Sätze und die Gesamtkonzeption entstanden in den folgenden Monaten. Die Uraufführung des ganzen Werkes fand am 9. November 1835 im Leipziger Gewandhaus unter der Leitung von Mendelssohn mit der nunmehr 16-jährigen Komponistin am Klavier statt und war, wie bei einem derart effektvollen Stück nicht anders zu erwarten, ein großer Erfolg. Robert Schumann verhielt sich dazu, wiewohl er an der Entstehung beteiligt war und sich zwischen ihm und Clara gerade zarte Bande entwickelten, eher distanziert. Möglicherweise als Reaktion darauf, dass Vater Wieck die Beziehung zwischen ihm und Clara zu unterminieren versuchte, weigerte er sich, das Werk selbst in der „Neuen Zeitschrift für Musik“ zu besprechen, die er 1834 unter anderem mit Friedrich Wieck gegründet hatte. Hinzu kam vielleicht noch, dass er auch kein Freund des brillianten Stils und des Virtuosenwesen war, das er für oberflächlich hielt. Er beauftragte daher seinen Mitarbeiter Becker mit der Rezension mit der Bemerkung, dass eine halbe Seite genug sei. Becker tat das Werk, was Robert Schumann gebilligt haben muss, als unbedeutend unter Verweis darauf ab, dass es von einer Frau stamme. Leider hat Clara Schumann, die unbestreitbar nicht nur eine interpretatorische sondern auch eine werkschöpferische Begabung hatte, diese Wertung nach anfänglicher Enttäuschung mehr oder weniger verinnerlicht und hat sich im Laufe ihres langen Musikerlebens nur mehr wenig auf das Feld der Komposition begeben. Sie beschränkte sich vielmehr weitgehend darauf, die Werke der Herren der Schöpfung zu fördern, allen voran die ihres Mannes Robert und ihres Vertrauten Johannes Brahms.

Ignaz Holzbauer (1711 – 1783) Missa in C für Soli, Chor und Orchester

Holzbauer war einer der führenden Vertreter der Mannheimer Schule, die ab der Mitte des 18. Jahrhunderts die Entwicklung der mitteleuropäischen Orchestermusik entscheidend prägte. Geboren und aufgewachsen in Wien hielt er sich in seiner Frühzeit längere Zeit in Italien auf, was prägenden Einfluss auf seine Musiksprache hatte, der man nachsagte, sie weise eine glückliche Mischung aus italienischer Sinnlichkeit und deutschem Ernst auf. Im Jahre 1750 kam Holzbauer nach Süddeutschland, zunächst nach Stuttgart, wo er aber nicht recht glücklich wurde, und 1752 nach Mannheim. Dort verbrachte er hoch geachtet und erfolgreich die restlichen fast drei Jahrzehnte seines Lebens als Leiter des dortigen Orchesters, das in seiner Zeit europäische Berühmtheit erlangte. Unter Holzbauers Leitung erreichte der spezifische Mannheimer Stil seinen Höhepunkt, zu dem eine ausgeprägte Kontrastdynamik, eine starke Betonung des Crescendos und des Diminuendos sowie eine Reihe besonderer Effekte, die sog. Mannheimer Mannieren, gehörten. Wie eine Reihe weiterer  Mitglieder des Mannheimer Orchesters, darunter Johann Stamitz, Christian Cannabich, Georg Josef Vogler und Franz Xaver Richter, war auch Holzbauer ein fruchtbarer Komponist. Er schrieb zahlreiche Werke für alle Gattungen. Bei den Symphonien dürfte er mit über 200 Werken sogar den weltweiten Spitzenplatz einnehmen. Mozart, der Holzbauer bei seinem Aufenthalt in Mannheim im Jahre 1777 kennenlernte, schrieb darüber an seinen Vater: „Die Musick von Holzbauer ist sehr schön. […] am meisten wundert mich, daß ein so alter Mann wie holzbauer, noch so viell geist hat; denn das ist nicht zu glauben was in der Musick für feüer ist.“ Recht umfangreich ist auch Holzbauers kirchenmusikalisches Oeuvre, zu dem allein 26 Messen gehören. Dazu sagte Mozart:  „Er schreibts sehr gut. einen guten kirchen-styl, einen guten saz der vocal-stimmen und instrumenten; und gute fugen“. All dies findet sich in der Missa in C, die um 1770 entstand, und von der gesagt wurde, sie sei „eine der bedeutendsten Messkompositionen der Vorklassik und zugleich eines der frühesten Zeugnisse des ‚Mannheimer’ symphonischen Kirchenstils.“

 

Münchhausens und Rudolf Erich Raspes Abenteuer und Reisen

Ein digitaler Spaziergang durch das literarische Leben des 18. Jahrhunderts

Auf dem Flohmarkt habe ich den „Münchhausen“ erworben. Es ist eine jener Prachtausgaben, welche im 19. Jahrhundert beliebt waren, mit einem weinroten, fein ornamentierten geprägtem Einband, auf dem eine goldene Vignette in der Form eines Adelswappen prangt. Herausgegeben hat sie der umtriebige Stuttgarter Verleger und Multiunternehmer Eduard Hallberger, der nicht zuletzt mit derart großartigen, in alten Stilen drapierten illustrierten Büchern eine Menge Geld verdient haben muss – nach seinem Tod konnte sich seine Tochter, die einen Sproß der verarmten fränkischen Adelsfamilie Reitzenstein geehelicht hatte, jedenfalls von seiner Hinterlassenschaft unmittelbar bevor die gute alte Zeit zu Ende ging, welche die Prachtausgaben ermöglichte, auf den Höhen der schwäbischen Metropole allen Behauptungen über die Sparsamkeit ihrer Bewohner und über ihre Neigung zur Verschleierung ihres Wohlstandes zum Trotz eine dem neuen Stand gemäße Prachtvilla  samt immenser Bibliothek in jener schön unechten Manier bauen, die man mit einem etwas abfälligen Unterton den zweiten oder den historistischen Stil nennt. Die Residenz, Villa Reitzenstein genannt, kommt so grandios neobarock daher, wie die Prachtausgaben, die Hallberger verlegte. Heute ist dieses größte Herrenhaus Stuttgarts, das mehr oder weniger unbeschadet durch die Verwüstungen des zweiten Weltkriegs und der nachfolgenden, den alten Stilen nicht eben günstige Zeit kam, nichts weniger als der Sitz des lokalen Landesherren.

Meine Ausgabe des „Münchhausen“, um in die Niederungen der kleinen alten Gebrauchtwaren zurückzukehren, ist zwar mit all dem handwerklichen Aufwand und der meisterlichen Liebe zum dekorativen und buchtechnischen Detail gefertigt, die beim Büchermachen nicht anders als bei allen anderen Gebrauchsgegenständen seinerzeit noch üblich waren. Sie hatte aber in den so außerordentlich unruhigen rund eineinhalb Jahrhunderten, welche sie durchlebt und irgendwie überstanden hat, offenbar nicht weniger als die Welt im Allgemeinen durchgemacht. Das Buch war in einem beklagenswerten Zustand. Der Rücken war zerfetzt und hing nur noch an ein paar Fäden am Buchblock, derselbe war in Auflösung begriffen, das Rot des Einbandes zu einem schmutzigen Grau geworden, die goldene Vignette verblasst und der Titel, der darin kunstvoll eingearbeitet war, gänzlich unleserlich geworden. Es schien, als habe das Buch lange in einem feuchten Keller gelegen und sei danach auf Flohmärkten Wind und Wetter ausgesetzt gewesen, weil sich seines Zustandes wegen niemand dafür interessierte. Wegen eben dieser Verfassung hat es offenbar auch niemand einmal aufgeschlagen. Und so hat scheinbar keiner bemerkt, dass es von Innen recht gut erhalten war, vor allem aber, dass es mit den wundervollsten Illustrationen ausgestattet ist. Die Vorlagen dazu hat niemand geringeres als Gustav Doré geliefert, der größte und fruchtbarste Vertreter der großen Illustratorenzunft des 19. Jahrhunderts. Kunstfertige Holzschneider aus Hallbergers angesehener Xylographischer Anstalt haben aus Dorés Zeichnungen feine Holzstiche gefertigt, die sich fast auf jeder Seite des Prachtwerkes finden. Sie sind im dem wild-skurilen Stil der Frühzeit des französischen Meisters gezeichnet, der nur zu gut zu den exzentrischen Geschichten des Freiherrn von Münchhausen passt. In diesem Stil sind auch die Illustrationen zu den „Tolldreisten Geschichten“ von Balzac, Dorés fulminatem Erstlingswerk, sowie die Bebilderungen des „Gargantua“ von Rabelais und Cervantes’ „Don Quichote“ gehalten, die neben einigen Prachtwerken wie der Bibel oder Dantes „Göttliche Komödie“ aus Dorés späterer Zeit, welche nach Art des späten 19. Jahrhunderts. ähnlich wie die Villa Reitzenstein zum Monumentalen neigen, bereits seit längerem Teil meiner Sammlung antiquarischer Bücher sind, wo sie neben zahllosen weiteren Hervorbringungen der inzwischen ausgestorbenen Kunst des Holzstiches eine plünderungssichere Heimstatt gefunden haben.

Das schäbige Müchnhausen-Buch, für das der Verkäufer nur ein paar Euro verlangte, litt in meiner Bibliothek zunächst das Schicksal des hässlichen Entleins, dessen Geschichte der Märchenerzähler Hans Christian Andersen ein paar Jahre vor dieser Ausgabe veröffentlicht hatte. Es lag längere Zeit missachtet unter einem Stoß unbearbeiteter alter Bücher. Irgendwann übermannte mich das Mitleid mit dem armen zerschlissen Stück. Ich besorgte mir Buchbinderleim und machte mich daran, die losen Teile zusammenzukleben. Nachdem der Rücken wieder befestigt war, sah das Buch schon wesentlich ansehnlicher aus. Mit einem feuchten Tuch wischte ich dann auch noch den Moder vom Einband, wodurch seine vornehme weinrote Farbe und die goldene Vignette wieder etwas zum Vorschein kamen. Nach dieser Prozedur war das hässliche Entlein zwar nicht zu einem blütenweißen stolzen Schwan geworden, konnte sich aber sehen lassen.

Bei dieser Gelegenheit schaute ich auch einmal näher in das Buch hinein. Hier fiel zunächst das Frontispiz ins Auge, das die Abbildung der Büste eines Mannes von abenteuerlicher Physiognomie zeigte, mit  monströser Hakennase, wild hoch gezwirbeltem Schnurrbart und jeweils drei schillerllockenartigen Haarrollen, die in prekärer Statik rechts und links einer Glatze angebracht waren. Vor der Büste, die mit dem Namen Canova und der Jahreszahl 1766 gezeichnet war, ein Zeitpunkt, zu dem dieser berühmteste Bildhauer des 18. Jahrhunderts freilich erst neun Jahre alt war, stand ein Wappenschild mit dem Motto „Mendace veritas“, eine verquere Kombination des italienischen Wortes „mendace“, was so viel wie falsch oder lügenhaft, in seinem lateinischen Ursprung „mendax“ aber auch nachgemacht bedeutet, und mit dem lateinischen Begriff für Wahrheit, den man etwa aus dem auch nicht unbedingt tatsachennahen Weinspruch „in vino veritas“ kennt, zusammen gelesen also lügenhafte Wahrheit, oder vielleicht auch Wahrheit in der Lüge. Ich las dann das mit einer imposanten Holzschnittinitiale beginnende Vorwort, welches in jenem freundlich plaudernden Stil verfasst war, in dem man im 19. Jahrhundert Bücher vorstellte. Der Text stammte von einem Redakteur des seinerzeit beliebten Wochenblattes „Über Land und Meer“, welches  der wackere Schwabe Hallberger reich illustriert mit Holzstichen aus seiner Xylographischen Anstalt ebenfalls herausgab und das ihm wohl einen Gutteil seines so ansehnlichen Vermögens einbrachte. Was ich in diesem Vorwort las, erregte sofort meine Neugier. Es erwies sich nämlich, dass das weltberühmte Werk eine Geschichte hatte, die nicht weniger schmuddelig, unfest und verwinkelt war, als die des Buchexemplars, welches sich nun in meinem Besitz befand.

Schon die Tatsache, dass das Werk, welches erstmals im Jahre 1785 erschien, von einem deutschen Autor in englischer Sprache veröffentlicht wurde, um dann von dem  renommierten deutschen Dichter Gottfried August Bürger nebst eigenen Zutaten zurück ins Deutsche übersetzt zu werden, war ziemlich merkwürdig. Hinzu kam, dass man lange Zeit den Autor verschwieg. Denn dieser war nicht etwa der Freiherr von Münchhausen, der in dem Werk als Ich-Erzähler auftritt. Einen solchen Herrn, er war freilich ein Baron, hat es zwar realiter gegeben und er soll auch ein ziemlicher Aufschneider beim Erzählen der Jagd- und Kriegsgeschichten gewesen sein, welche er im Kreis seiner Bekannten gerne zum Besten gab. Auf die Ehre, für den Urheber der Lügengeschichten des schnell bekannt gewordenen Werkes zu gelten, hätte der extrovertierte Adelsherr allerdings wohl gerne verzichtet, da dies seinem Namen nicht eben förderlich war. Denn nicht nur wurde, wie im Vorwort meiner Prachtausgabe zitiert, aus dem jovial-weltmännischen Gesellschaftslöwen, der er offenbar war, ein Erzähler, welcher seine Stories „mit weit aus dem Kopf tretenden funkelnden Augen, immer röter werdendem Gesicht, Schweißtropfen auf der Stirn und mächtig herumfechtenden Augen“ präsentierte. Bald sollten Münchhauseniaden neben Eulenspiegeleien und Donchichoterien auch zum „geflügelten Namen für bewusste und unbewusste Narrheit, Abenteuerlichkeit und Lüge“ werden.

Der wirkliche Autor des „Münchhausen“ war ein gewisser Rudolf Erich Raspe, von dem ich, wiewohl ich glaubte, mich in derartigen Dingen einigermaßen auszukennen, noch nie etwas gehört hatte. Man vermutete, dass er zum Kreis der Zuhörer des Barons gehörte, dessen Gastfreundlichkeit er mit der Veröffentlichung des „Münchhausen“ dann aber ziemlich missbraucht haben würde. Raspe trat als Verfasser des Werkes aber nicht in Erscheinung. Er war so wenig vorzeigbar, dass er sich zeitlebens nicht zu seinem Bestseller bekannte und auch von Herausgebern und Bearbeitern des Werkes nicht als Autor genannt wurde. In Deutschland hielt man vielmehr Bürger für den Autor. Erst dreißig Jahre nach Raspes Tod, der 1794 starb, stellte Bürgers Biograph Karl von Reinhard klar, wer der Verfasser war.

Besondere Neugier musste bei mir, der ein Berufsleben lang mit Menschen krummen Lebensverlaufs zu tun hatte, die Bemerkung im Vorwort des Prachtbandes erregen, wonach sich dieser Rudolf Erich Raspe nach England abgesetzt hatte, um sich einer Verhaftung zu entziehen. Ich warf sofort meinen Computer an, um Näheres zu erfahren. Natürlich wurde ich alsbald fündig. Raspe, den man in alten Lexika vergeblich sucht und der in neueren Nachschlagewerken nur mit wenigen Zeilen bedacht wird, war im Netz kein Unbekannter. Damit begann ein ausgedehnter Spaziergang durch die Kulturgeschichte des 18. Jahrhunderts, wie er erst im digitalen Zeitalter möglich geworden ist.

Dieser Raspe, geboren 1736, war, wie ich nun bei Wikipedia erfuhr, selbst eine ziemlich abenteuerliche Figur. Von Haus aus war er Jurist, bestätigte aber von Anfang an die gängige Vorstellung, dass ein Jurist zu allem Möglichen fähig sei. Er befasste sich nicht nur schriftstellerisch mit den unterschiedlichsten Themen, sondern übte auch eine Vielzahl von Berufen aus.

Seine Berufslaufbahn begann Raspe als Bibliotheksschreiber und Bibliothekar in Hannover, wo er sich zuerst durch eine in Latein geschriebene Abhandlung über Geologie hervortat, ein Wissensgebiet für das er als Sohn eines Bergbaubeamten zeitlebens ein Faible hatte. Dazu angeregt wurde er durch das Erdbeben von Lissabon im Jahre 1755, das Ereignis, welches, wie ein schneller Blick in den entsprechenden, in Wikipedia verlinkten Artikel bestätigte, die Fundamente des christlichen Weltbildes durch die kritische Frage erschütterte, wie ein guter Gott ein solches Desaster zulassen konnte. Verwirrung hatte damals vor allem der Umstand erzeugt, dass das Erbebeben im christlichen Lissabon viele Kirchen zerstört, ausgerechnet aber das Rotlichtviertel verschont hatte. Die Diskussion darüber hatte die gängigen naiven Annahmen über die Qualitäten und Möglichkeiten Gottes in Frage gestellt und der Aufklärung einen wesentlichen Schub gegeben.

In der Bibliothek von Hannover entdeckte Raspe dann diverse bis dato unbekannte Schriften von Gottfried Wilhelm Leibnitz, der, wie der Klick auf dessen Wikipedia Artikel ergab, einer seiner Vorgänger in hannoverschen Bibliotheksdiensten und ebenfalls ein Jurist und Polyhistor, letzteres freilich in noch größerem Maße als Raspe war. Mit der Veröffentlichung der Leibnitztexte im Jahre 1765 erzielte Raspe erstmals eine größere Wirkung im geistigen Raum. Denn sie leitete eine Renaissance dieses universellen Denkers ein, dessen Ruf zuletzt durch den satirischen Roman „Candide“, der 1759 (Klick) erschien, ramponiert worden war, in dem Voltaire, ohne sich zu erkennen zu geben, das Leibnitz’sche Postulat, wonach die vorhandene Welt die beste aller Welten sei, in Hinblick auf das Lissaboner Unglück durch den Kakao zog. Die Leibnitztexte, welche Raspe herausgab, haben etwa den jungen Immanuel Kant dazu veranlasst, seinen philosophischen Ansatz neu zu fassen.

Bald darauf war Raspe erneut an der Speerspitze der geistigen Entwicklung. Kurz nach dem Erscheinen der ersten Gedichte, welche der Schotte Macpherson unter dem Namen Ossian veröffentlicht hatte, stellte Raspe den angeblichen altgälischen Barden dem Deutschen Publikum vor und trug damit wesentlich zum Aufkommen der Ossianbegeisterung bei, welche die Sturm und Drang Bewegung befeuern und die deutschen Klassiker erfassen sollte. Ein Klick und ich befand mich im Artikel über diese Fälschungsgeschichte, die nicht nur inhaltlich eine wahre Münchhauseniade ist, sondern auch was die Verschleierung des Autors betrifft Parallelen zum „Münchhausen“ hat. In Hannover beschäftigte sich Raspe noch mit manch anderen Themen. Unter anderem verfasste er ein umfangreiches Versepos, das als die erste Romanze der deutschsprachigen Literatur gilt. Er hatte Kontakt zu allerhand in- und ausländischen Geistesgrößen, darunter Benjamin Franklin, Winkelmann und Herder, auf deren Artikel zu klicken ich mir aber versagte, um mich nicht ganz in der unendlichen Weite des digitalen Raumes zu verlieren.

Im Alter von einunddreißig Jahren wurde Raspe nach Kassel berufen, um die Kunst- und Münzsammlungen des Landgrafen von Hessen-Kassel zu ordnen und zu verwalten. Für diese erstellte er in der Folge einen 12-bändigen Katalog der 15.000 Objekte, welche der Adelsmann mit sicher nicht immer zweifelsfreien Methoden zusammengetragen hatte. Außerdem wurde er dort zum Professor für Altertümer ernannt. Daneben trieb er weitere Forschungen auf den Gebieten der Geologie und Erdgeschichte und schrieb eine Abhandlung über die Mammuts, die ihm eine Mitgliedschaft in der Royal Society Englands einbrachte. Dazu übersetzte er das Werk des italienischen Kunstkenners Francesco Algarotti „Versuch ueber die Architectur, Mahlerey und musikalische Opera“ ins Deutsche, was mich per Mausklick kurz in die Tafelrunde Friedrichs des Großen versetzte, zu der wie Voltaire auch Algorotti gehörte, welch letzterer als arbiter elegantiarum nicht nur den jungen Musenfeund Friedrich, sondern auch den Dresdener Hof in Fragen der Kunst und des Aufbaus der entsprechenden berühmten Sammlungen beriet. Daneben verfasste er noch ein Werk über den Vulkanismus in Deutschland, mit dem er en passant die Vulkanologie begründete. Nicht genug –  Raspe gab auch noch zusammen mit dem hugenottischen Aufklärer Mauvillon, dessen Artikel ich ebenfalls einen Besuch abstattete, den „Casselitischen Zuschauer“ heraus, in dem er sich unter anderem über strafrechtliche Fragen, nicht zuletzt, fachkundig wie er nun einmal war, über Hochstapelei ausließ. Er schrieb auch über Musikinstrumente und eine Reihe weiteren Themen, darunter laut Wikipedia auch über Lithographie, die aber – wiederum laut Wikipedia – erst 1796, also zwei Jahre nach Raspes Tod von Alois Senefelder erfunden wurde, was zeigt, dass auch im virtuellen Raum offensichtlich manches auf schwankendem Grund steht.

In der Kasseler Zeit bekam Raspes Biographie jenen Knick, der dazu führte, dass er Deutschland verließ. Hintergrund war, dass das Gehalt, welches er in Hannover und Kassel erhielt, auch nicht annähernd dazu ausgereicht hatte, seinen Lebensstil zu finanzieren. Bei diesem hatte er sich offenbar zu sehr an seinen Auftraggebern orientiert, die sich bekanntlich mit Herkules verglichen, dessen bombastische Statue sie samt monumentalen Wasserspielen unter Missachtung kleinlicher Sparsamkeitserwägungen auf den Höhen über der hessischen Metropole wie Madame Reitzenstein ihre Villa über Stuttgart platziert hatten. Womöglich inspirierte der antike Kraftprotz und Alleskönner Raspe zu dem Versuch, den Augias-Stall seiner Finanzen dadurch auszumisten, dass er den Strom der landgräflichen Reichtümer ein wenig durch seine eigenen Taschen leitete. Offensichtlich in der Annahme, dass es bei der Menge der Pretiosen, welche der Landgraf, wozu auch immer, angesammelt hatte, nicht weiter auffallen würde, wenn einige fehlten, nahm er eine beachtliche Anzahl der wertvollen Münzen an sich. Als dies herauskam, war er gerade auf dem Absprung nach Italien, um im Auftrag seines fürstlichen Arbeitgebers in Venedig diplomatische Verhandlungen zu führen und neue Artefakte zu aquirieren, wurde zurückgerufen und verhaftet, konnte aber entfliehen und setzte sich 1775 über Holland nach England ab. Hier war man von dem zwielichtigen Flüchtling zunächst „not amused“ und strich ihn aus dem Verzeichnis der Mitglieder der „Royal Society“. Seitdem galt er vielen als Spitzbube und notorischer Schwindler, was ihn zum geborenen Verfasser des „Münchhausen“ machte. In Deutschland setzte man noch eins drauf, indem man ihn in seiner Kasseler Freimaurerloge in den Status civiliter mortuus, zu Deutsch des bürgerlichen Todes versetzte.

In England setzte Raspe seine literarische Tätigkeit dennoch fleißig fort, was ihm dann doch noch den Ruf eines „man of merit and reputation“ einbrachte. Er übersetzte sein Werk über den Vulkanismus in Deutschland in die englische Sprache. Umgekehrt half er dem deutschen Weltwanderer Georg Forster, der gerade von einer dreijährigen Erdumsegelung mit James Cook zurückgekommen war, den Bericht über diese Reise ins Deutsche zu übersetzen, womit er, wie ein Klick in dessen Artikel ergab, Hebammendienste bei der Zwillingsgeburt der modernen deutschen Reiseliteratur und der Ethnologie leistete – Wieland bezeichnete Forsters Buch, das eine mir nicht unvertraute Mischung aus Reisebericht, ethnologischer Beobachtung und philosophischer Reflektion enthält, als das bemerkenswerteste Buch seiner Zeit. Bei dieser Gelegenheit konnte ein Exkurs in die ebenfalls ziemlich verschlungene Biographie Forsters nicht ausbleiben, der am Ende seines kurzen Lebens in der Stadt Mainz, für die ich nicht nur wegen meiner dort verbrachten Schulzeit, sondern auch in meiner Eigenschaft als Bücherliebhaber Heimatgefühle empfinde, führend an den revolutionären Prozessen beteiligt war, welche das Ende des 18. Jh. und der ganzen Geschichtsepoche einleiteten, die in ihm kulminierte. Dies hatte viel mit dem Medium Buch zu tun, dessen weltverändernde Karriere in Mainz begann. Gutenberg leistete hier mit der Erfindung des Buchdrucks einen wichtigen Beitrag zur Literarisierung der Welt und damit auch dazu, die Ideen der Aufklärung zu verbreiten, die etwa auch Raspe per Buch verbreitete, eine Entwicklung, die heute in der Herausbildung des weltumspannenden digitalen Netzes eine Fortsetzung findet, welche so Vieles in Bewegung gesetzt hat und ins Unabsehbare zu führen  scheint.

Auch in England, um in die Niederungen von Raspes Leben zurückzukehren, habe dieser, wie es in seinem Wikipedia-Artikel weiter heißt, einige wichtige literarische Entdeckungen getätigt. So soll er in der Universitätsbibliothek von Cambridge das Manuskript des mittelalterlichen deutschen Mönchs Theophilus Presbyter über die Maltechniken des Mittelalters gefunden haben, mit dem der Beweis geführt werden konnte, dass die Ölmalerei schon drei Jahrhunderte vor den flämischen Malern Hubert und Jan van Eick praktiziert wurde, die man bis dato für die Erfinder dieser Technik hielt – auch zu diesen musste ich natürlich noch schnell einen Abstecher machen. Eine kleine elektronische Abzweigung in den Artikel über Theophilus Presbyter zeigte freilich erneut, dass im digitalen Raum nicht alles fest mit den Tatsachen verlinkt ist. Dort hieß es nun, dass Lessing das Manuskript entdeckte habe, und zwar in der berühmten Bibliothek von Wolfenbüttel, wo dieser Aufklärer, wie ein Klick in seinen Artikel ergab, zu der Zeit Bibliothekar war, in der Raspe das Presbyter-Manuskript in Cambridge gefunden haben soll. Bei dieser Gelegenheit fand ich auch noch – alles scheint irgendwie mit allem vernetzt zu sein -, dass Raspe Lessings „Nathan“ noch vor der Berliner Erstaufführung im Jahre 1783 ins Englische übersetzt hat, ein Stück, das, wie ein Klick in einen Artikel zur Rezeptionsgeschichte dieses Werkes ergab, wegen der Fortschrittlichkeit seiner aufklärerischen Toleranzbotschaft seinerzeit höchst umstritten war und zu Lebzeiten des Autors nicht aufgeführt werden konnte. Nur am Rande sei erwähnt, dass ich hierbei darauf stieß, dass sich auch Lessing mit dem Erbeben von Lissabon beschäftigte, worüber ich in eine über 700 Seiten starke theologische Dissertation mit dem Titel „Lissabons Fall – Europas Schrecken“ aus dem Jahre 1999 geriet, die aber auf so tolldreiste Weise das Gebot der Verständlichkeit außer Acht ließ, dass ich mich wie weiland Münchhausen am eigenen Schopf aus dem weichen Sumpf abenteuerlicher Begrifflichkeiten herausziehen musste und die Flucht zurück zu Wikipedia antrat.

In England geriet Raspe erneut finanziell auf die schiefe Bahn, weswegen er auf Antrag eines Schneiders in Haft genommen wurde. Daraus hat ihn der exzentrische englische Schriftsteller, Kunstsammler und Politiker Horace Walpole, Sohn eines Premierministers seiner britischen Majestät, freigekauft, der eine so ungerade Persönlichkeit wie Raspe zu schätzen wusste – auch hier konnte ich mich eines Klicks nicht enthalten, der mich tief in die englische Politik und in die bemerkenswerte Lebensweise des englischen Establishments führte. Walpole war ebenfalls ein deviationistischer Trendsetter. Er war mit seinem Roman „Schloß Otranto“, für den sein eigenes, auf ziemlich bizarre Weise in unechter Gotik ausgestattetes Herrenhaus „Strawberry Hill“ Pate stand, der Begründer des englischen Schauerromans, der Gothic Novel. Außerdem leitete er mit der Gestaltung seines Gartens den Wechsel vom barocken, französisch-geometrischen zum englisch-asymmetrischen Landschaftsgarten ein, der bald den ganzen Kontinent erobern sollte. Walpole holte Raspe nicht nur aus der Haft, sondern stellte ihm auch Mittel für die Veröffentlichung einiger Kunstschriften zur Verfügung.

Seine letzten Lebensjahre verbrachte der unruhige Deutsche weiter auf den britischen Inseln, wo er sich, alter Leidenschaft folgend, hauptsächlich mit dem befasste, was sich unter dem Boden findet, auf dem wir einen so festen Stand zu haben glauben. Er betätigte sich im Bergwerkswesen, unter anderen als Explorateur und Minenleiter. Auch hier finden wir ihn wieder im Umfeld der Spitze einer gesellschaftlichen Entwicklung, die das Ende eines Zeitalters und den Beginn eines gänzlich neuen einleitet. Er arbeitete für Mathew Boulton, einen Pionier der industriellen Revolution (Klick), der mit James Watt (Klick) Dampfmaschinen entwickelte, welche bald die Welt revolutionieren sollten. Seinen Beitrag zur industriellen Revolution leistete er durch die Erfindung der Härtung von Stahl durch Wolfram, was große Bedeutung für das aufkommende Maschinenzeitalter haben sollte. Nebenbei katalogisierte er als ausgewiesener Medaillenkenner noch die 16.000 Objekte umfassende Gemmen- und Kameensammlung eines schottischen Medaillenherstellers.

Raspe scheint dann aber wieder seiner Neigung zum „Spitzbuben und notorischem Schwindler“ nachgegeben zu haben, indem er einen schottischen Magnaten dazu veranlasste, viel Geld in Voruntersuchungen zum Abbau von Mineralien zu stecken, deren Vorhandensein er dadurch vorgetäuscht haben soll, dass er Erze in die Moore einbrachte, in denen die Mineralien gefunden werden sollten. Als dies herauskam, zog er es wieder vor, sich zu verdrücken. 1793 ging er nach Irland, wo er einen Landgutbesitzer in Sachen der dortigen Kupferminen beriet. Hier starb er im Jahre 1794 und wurde in einem anonymen Armengrab bestattet.

Bei all diesen Aktivitäten fand der literarisch-naturwissenschaftliche Tausendsassa noch die Zeit, sein einziges Projekt durchzuführen, das auch wirtschaftlich einigen Erfolg hatte: die Herausgabe des „Münchhausen“. Geschützt durch den Ärmelkanal lud Raspe dafür zum einen ungeniert einige Episoden aus den Erzählungen des realen Baron von Münchhausen mit wüsten Übertreibungen auf. Im Übrigen bediente er sich der Collectaneen, auf welche er bei seinen Wanderungen durch die Bibliotheken Deutschlands und Englands gestoßen war, angefangen von der über eineinhalbtausend Jahre alten ersten großen Lügengeschichte der abendländischen Literatur, der „Wahren Geschichte“ des Lucian – hier brauchte ich nicht zu klicken, da mir dieser „Voltaire der Antike“ nur zu gut bekannt ist – bis zu seinem Zeitgenossen Georg Christoph Lichtenberg, dem skurilen Göttinger Gedankendrechsler und Spötter, dessen Link ich, da auch er zu meinen Favoriten zählt, ebenfalls auslassen konnte.

In seiner ersten Fassung von 1785 war der „Münchhausen“ noch eher schmal. Es kamen aber in schneller Folge weitere Auflagen heraus, sodass zwei Jahre später bereits die fünfte Auflage erschien. Während die erste Fassung Reise- und Jagdgeschichten enthielt, die in Russland spielten, wo der reale Baron in Militärdiensten gestanden hatte, fügte Raspe für den Markt der englischen Seefahrernation in den weiteren Auflagen noch zehn Seeabenteuer hinzu, darunter, in Anlehnung an Lucian zwei Reisen zum Mond und eine Fahrt in den Bauch eines Wales, der – wenn schon lügen, dann richtig –  mit einem Schluck so viel Wasser einsaugte, wie der ganze Genfer See enthielt. 1792 folgte noch ein zweiter Band.

In den Ausgaben, welche diesseits des Ärmelkanals bald herauskamen, wucherte die Geschichte fröhlich weiter. Schon Bürger machte sich den Umstand zu nutze, dass der Autor nicht schützenswert war, um Ergänzungen eigener Erfindung hinzuzufügen. Andere Übersetzer und Herausgeber fabulierten, einmal von der Schwerkraft der Tatsachen befreit, ebenfalls nach Lügenlust und Laune darauf los. So wurde das Werk zu einem herrenlosen Objekt, das sich jeder Freund unfester Verhältnisse aneignen konnte. Sein als schmuddlig geltender eigentlicher Schöpfer aber geriet in Vergessenheit. Noch heute wird er nicht allgemein als der Verfasser des „Münchhausen“ anerkannt. Im Wikipedia-Artikel über Bürger etwa ist zu lesen, dass Raspe nur das Werk eines unbekannten Autors in Englische übersetzt und bearbeitet habe.

Nach diesem virtuellen Spaziergang durch eine mehr oder weniger feste, seit Raspes Zeiten zunehmend immer unfester werdende Welt, bei dem ich in ein paar Stunden eine Strecke zurückgelegt hatte, für die man früher Tage, wenn nicht Wochen benötigt hätte, war Raspe für mich erst mal von dem Schutt befreit, der ihn verdeckte. Das hässliche Entlein war vielleicht nicht zu einem blütenweißen Schwan geworden – wo gibt es den unter den Menschen schon, –  hatte sich aber doch zu einem ziemlich interessanten Vogel gemausert, der sich in meiner Sammlung kultureller Besonder- und Absonderlichkeiten gut sehen lassen konnte, die sich, allen Tendenzen zum sich beschleunigenden Verlust des Sinns für Hergebrachtes zum Trotz auf einer Nebenhöhe der schwäbischen Metropole eingerahmt von ungeraden, nämlich gedrechselten neobarocken Säulen und überdacht von einer schön unechten, das heißt lügenhaften oder nachgemachten Kassettendecke im nunmehr dritten (Renaissance)Stil   zusammengefunden hat.