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1866 Peter I. Tschaikowski (1840 – 1893) – Symphonie Nr. 1 (Winterträume)

Tschaikowski war nicht in der Wiege gesungen, dass er einmal einer der ganz Großen seiner Zunft werden sollte. Es fiel zwar schon in seiner Kindheit auf, dass er eine starke Affinität zur Musik hatte. Auch erhielt er regelmäßigen Musikunterricht. Niemand dachte jedoch daran, dass er Musiker werden könnte. Die Eltern bestimmten ihn vielmehr für eine Beamtenkarriere. Schon im Alter von 11 Jahren schickten sie ihn auf die renommierte St. Petersburger Rechtsschule, die er auch bis zum Abschluss besuchte. Daneben pflegte Tschaikowski allerdings immer auch seine musikalischen Neigungen. Er nahm Klavierunterricht bei dem deutschen Pianisten Rudolf Kündiger, leitete Chorproben und besuchte häufig die Oper. Sein Vater, der die besondere Liebe seines Sohnes zur Musik durchaus registrierte, fragte Kündiger schließlich, ob für seinen Sohn eine Musikerlaufbahn in Frage komme, was dieser jedoch verneinte. So trat Tschaikowski 1859 im Alter von 19 Jahren eine Stelle im Justizministerium in St. Petersburg an. Weder die Bürotätigkeit noch der stutzerhafte Lebensstil der Beamten konnte ihn jedoch recht befriedigen. Im Familienkreis sprach man daher immer wieder davon, ob er nicht doch noch Musiker werden könnte. Tschaikowski war aber voller Selbstzweifel. 1861 schrieb er an seine Schwester: „Selbst wenn ich Talent haben sollte, wird es wohl kaum noch zu entwickeln sein. Man hat aus mir einen Beamten gemacht, aber einen schlechten“.  Als der Pianist Anton Rubinstein dann ein Jahr später aber das Petersburger Konservatorium eröffnete, schrieb sich Tschaikowski dennoch ein. Im folgenden Jahr gab er mit dem Segen seines Vaters die sichere Beamtenstelle auf und widmete sich ganz der Musik.

 

Zweifel und Bestätigung sollte den Komponisten noch lange, ja sein ganzes Leben begleiten. Nach der Aufführung seiner Studienabschlussarbeit, einer Kantate über Schillers „Ode an die Freude“, schrieb César Cui, das meinungsstarke Sprachrohr der akademiefeindlichen Musikervereinigung des „Mächtigen Häufleins“, zu dem Mussorgski, Rimski-Korsakow und Borodin gehörten: „Der Komponist des Konservatoriums, Herr Tschaikowski, ist ganz unfähig. … Wenn er Talent hätte, so hätte er in seinem Werk irgend einmal die Fesseln der Schule abgestreift.“ Tschaikowskis Studienkamerad Hermann Laroche – später ein bekannter Kritiker, der noch viel über ihn schreiben sollte – äußerte in einem Brief an den Komponisten über das gleiche Werk: „Diese Kantate ist das größte musikalische Ereignis Russlands nach der ‚Judith’ (einer Oper) von Serov“. Und er fügte mit erstaunlicher Prophetie hinzu: „Ich sage es Ihnen offen, dass Sie das größte musikalische Talent des gegenwärtigen Russland sind. In Ihnen erblicke ich die größte – oder noch besser gesagt – die einzige Hoffnung unserer musikalischen Zukunft.“

 

Von seinen musikalischen Fähigkeiten müssen auch Tschaikowskis akademische Lehrer überzeugt gewesen sein. Anfang 1866 wurde er – unmittelbar nach Abschluss seiner Studien – zum Kompositionsprofessor am neugegründeten Konservatorium in Moskau berufen, wo er den Rest seines Lebens verbringen sollte. 

 

Kaum dort angekommen, im Alter von 26 Jahren, machte sich Tschaikowski daran, seine Fähigkeiten mit der Komposition einer Symphonie unter Beweis zu stellen. Dieses Unterfangen war schon deswegen außergewöhnlich, weil es in Russland bis dato keine Symphonietradition gab. Das erste und einzige Werk dieser Gattung hatte hier ein Jahr zuvor der damalige Marinekadett Rimski-Korsakow herausgebracht. Tschaikowski, der bislang nur einige kürzere Orchesterstücke geschrieben hatte, tat sich denn auch nicht leicht mit der anspruchsvollen Form, zumal er eine westlich-schulmäßige und zugleich spezifisch russische Version derselben anstrebte. Der Schaffensprozess zog sich über eineinhalb Jahre hin und war von schmerzhaften Rückschlägen begleitet. Da Tschaikowski tagsüber mit seiner Lehrtätigkeit stark ausgelastet war, verlegte er die Arbeit an der Symphonie anfangs weitgehend in die Nachtstunden. Aufgewühlt von der kreativen Arbeit fand er danach aber kaum richtigen Schlaf, weswegen er unter massiven Erschöpfungszuständen litt. Als sich auch noch Halluzinationen und Angstzustände einstellten, suchte er schließlich einen Arzt auf, der ihm attestierte, dass er „am Rande des Wahnsinns“ sei und ihm die Nachtarbeit verbot.

 

Erste Skizzen übergab Tschaikowski seinen Petersburger Lehrern Anton Rubinstein und Zaremba im Sommer 1866 zur Begutachtung. Sie stellten harsch fest, dass das Werk nicht zur Aufführung geeignet sei. Daraufhin überarbeitete Tschaikowski die Komposition und legte sie Rubinstein erneut vor. Die Antwort war wiederum entmutigend. Rubinstein hielt nur die beiden Mittelsätze für aufführungswürdig. Tatsächlich wurde dann sogar zunächst nur das Scherzo gespielt (im Dezember 1866 in Moskau). Drei Monate spätere spielte man in Petersburg dann die beiden Mittelsätze, die aber, dergestalt aus dem Zusammenhang gerissen, keine rechte Resonanz fanden. Die erste vollständige Aufführung fand nach weiteren Überarbeitungen am 3. Februar 1868 in Moskau statt und war ein voller Erfolg. Nach dem Bericht des Musikkritikers Kaschkin soll Tschaikowski im Anschluss an die Aufführung vor lauter Freude alle Anwesenden abgeküsst und dann alle Gläser zerschlagen haben, „damit nach einem solchen Wohl niemand mehr aus diesen Bechern trinken könne.“ Dennoch unterzog der Komponist das Werk im Jahre 1874 noch einmal einer gründlichen Revision. Unter anderem fügte er im ersten Satz das gesangliche zweite Thema ein, was natürlich Auswirkungen auf die ganze Satzkonstruktion hatte. In dieser dritten Fassung ist die Symphonie auf uns gekommen.

 

Die Werk zeigt überall das Bestreben Tschaikowskis auf der Basis der tradierten (viersätzigen) Form ein eindeutig russisches Werk zu schaffen. Schon mit der Übertitelung „Winterträume“ spricht er einen spezifischen Topos des winterlastigen Landes an. Der erste Satz, der mit „Träumerei auf winterlicher Fahrt“ überschrieben ist, ist geradezu ein Lehrstück für die Verbindung der Grundformen des Sonatenhauptsatzes mit  russischer Programmatik. Der Kenner musiktechnischer Feinheiten wird seine Freude an der durchsichtigen Verarbeitung des thematischen Materials und der gekonnten Instrumentierung haben. Vor allem wird ihm die originelle Rückführung zur Reprise auffallen, wo die Bläser über 22 Takte „die Doppelpunktwirkung der Leittonspannung“ aufrechterhalten, um schließlich den Lösungston „g“ und von dort im Wege der „Tonspaltung“ über die Mollterz „b“ auf geradezu zwingende Weise wieder die Grundtonart g-moll zu erreichen. Wer träumen will, mag sich beim Hören dieses Satzes als Beobachter oder Teilnehmer einer Schlittenpartie sehen, an der auch allerhand unruhige Naturgeister beteiligt zu sein scheinen. Beim geschmeidigen ersten Themas könnte man sich das mühelose Gleiten im Schnee vorstellen, beim seinem stark rhythmisierten Nebengedanken das lockere Klappern von Pferdehufen. Die immer wiederkehrenden harmonischen und dynamischen Ausrutscher sowie die plötzlichen Temposteigerungen ließen sich dann damit erklären, dass sich die rastlose Schlittengesellschaft auf glattem Terrain befindet.

 

Besonders deutlich wird das russische Element in den beiden Mittelsätzen. Im langsamen zweiten Satz, der mit „Rauhes Land, Land des Nebels“ überschrieben ist, macht sich russische Schwermut breit. Hier findet sich bereits die melancholische Umspielung des Hauptthemas durch die Flöte, welche 25 Jahre später in Tschaikowskis letzter Symphonie wiederkehrt. Der dritte Satz, ein Scherzo, scheint uns in einen jener Ballsäle zu versetzen, in denen (sich) die russische Oberschicht den Winter vertrieb. Das musikalische Material der Eckteile hat Tschaikowski aus dem Scherzo einer posthum veröffentlichten Klaviersonate genommen, das wiederum auf einem Scherzo aus Schumanns Sonate Op. 22 basiert. Hinzugefügt hat er einen opulenten Walzer. Es handelt sich um den ersten Orchesterwalzer aus seiner Feder, dem bekanntlich noch viele berühmte folgen sollten. Tiefsinnig kehrt er gegen Ende des Satzes in moll verfremdet zurück. Im vierten Satz will der Komponist offensichtlich zeigen, was er (vom Westen) alles gelernt hat. Hier finden sich, für Tschaikowski eher untypisch, allerhand fugierte Elemente.

 

Alles in allem ist Tschaikowskis symphonischer Erstling ein Werk, in dem sich allenthalben der  spätere Meister ankündigt. Bedeutungsschwere Sentimentalität und wilde Temperamentsausbrüche sind bereits ebenso zu finden, wie große und pathetische Gesten, lang gezogene Kantilenen, exquisite harmonische Wendungen, tänzerische Eleganz und ein turbulenter, gelegentlich lärmender Schlusssatz.