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Anton Bruckner (1824 – 1896) Symphonie Nr. 9 d-moll

Künstlerische Torsi sind in vieler Hinsicht dazu geeignet, die Phantasie des Betrachters anzuregen. Bei einem Werk, das der Schöpfer bewusst unvollendet gelassen hat, kann sich der Kunstrezipient in der Werkstatt des Künstlers wähnen und sich gedanklich am Schöpfungsprozess und dessen möglicher Beendigung beteiligen. Von diesem Kunstgriff machen insbesondere die bildenden Künstler Gebrauch. Ist ein Werk, das vollendet wurde, teilweise zerstört worden, kann man in melancholische Gedanken über die Vergänglichkeit der menschlichen Hervorbringungen oder ein memento mori verfallen. Dies war Gegenstand der Ruinenmalerei des 17. und 18. Jahrhunderts. Und ist ein Werk nicht fertig geworden, liegen Spekulationen über das Scheitern, allzu hoch gesteckte Ziele oder schicksalhafte Fügungen nahe. Wenn es Hinweise darauf gibt, wie sich der Schöpfer die Vollendung seines Werkes vorgestellt haben könnte, fühlen sich bei einem Musikwerk die Ke(ö)nner dann nicht selten dazu berufen, das Werk nicht nur, wie im ersten Fall, gedanklich, sondern auch tatsächlich zu Ende zu bringen. Musterfälle hierfür sind Bachs Kunst der Fuge, Mozarts Requiem und Mahlers 10. Symphonie.

In diese illustre Reihe gehört auch Bruckners 9. Symphonie. Der Komponist hat nur drei der vier geplanten Sätze vollendet. Den letzten Satz hatte er bis zu seinem Tod zwar weitgehend skizziert. Anders als im Falle von Mozart wurde der Kompositionsprozess aber nicht mangels Zeit abgebrochen. Bruckner hat das Werk, das ihm – vielleicht aber auch weil es ihm – in besonderem Maße am Herzen lag, nicht vollenden können, obwohl zwischen der Fertigstellung der drei ersten Sätze und dem Tod des Komponisten zwei Jahre liegen. Es handelt sich offenbar um einen Fall des Scheiterns an der Größe des Projektes, wohl auch auf dem Hintergrund alters- und krankheitsbedingt nachlassender Kräfte. Anders als Mozart, der bei seinem Requiem sicher nicht an das Ende seiner schöpferischen Aktivität dachte, hatte Bruckner offenbar die Absicht mit der 9. Symphonie – wie Beethoven – ein finales Opus Magnum zu schaffen, welches sein Lebenswerk krönt. Derartige Großprojekte aber können die Schöpferkraft lähmen. Beispiele dafür gibt es in der Kulturgeschichte zu Hauf.

Im Falle von Bruckners letzter Symphonie deutet bereits die Länge des gesamten Schaffensprozesses auf einen besonders hohen Anspruch hin. Mit den ersten Arbeiten an der Symphonie begann der Komponist unmittelbar nach der Fertigstellung seiner 8. Symphonie im Jahre 1887. Er war somit bis zu seinem Tode im Jahre 1896 über rund neun Jahre mit diesem Werk befasst. Allerdings stagnierten die Arbeiten auch deswegen, weil Bruckner, der zeit seines Lebens mit der Vervollkommnung seiner Werke rang, gleichzeitig einige seiner früheren Symphonien und eine Messe erheblich überarbeitete und zwei Kompositionsaufträge für Chorwerke mit Orchester erhielt. Auch die Dimensionen der drei fertig gestellten Sätze zeigen den besonderen Vorsatz. Schon deren Aufführung nimmt rund eine Stunde in Anspruch. Mit einem vierten Satz, der sich an den Vorgaben der vorangegangenen Sätze orientierte, wäre das Werk noch um einiges umfangreicher geworden als Bruckners sonstige Symphonien, die bereits außerordentliche Dimensionen aufweisen. Schließlich hatte Bruckner mit der 9. Symphonie offensichtlich auch die Absicht, nicht nur sein Gesamtwerk sondern womöglich auch die bisherige musikgeschichtliche Entwicklung zu überhöhen. Insbesondere harmonisch gilt das Werk in vielen Teilen als avantgardistisch. Mit ihm, so heißt es, habe Bruckner das Tor zur Moderne aufgestoßen und den Weg zu den Symphonien Gustav Mahlers gelegt. Auf das besondere Anliegen dieser Komposition deutet auch die Antwort, welche Bruckner auf die Frage nach dem Widmungsträger gemacht haben soll. Nach dem Bericht seines Arztes äußerte der Komponist, er habe zwei seiner Symphonien bereits irdischen Majestäten gewidmet, dem König Ludwig von Bayern als dem Förderer der Künste (7. Symphonie) und dem Kaiser als der höchsten irdischen Macht (8. Symphonie). Die 9. Symphonie widme er nun der Majestät aller Majestäten, dem lieben Gott.

Ganz im Sinne eines derart fundamentalen Anspruchs herrscht zu Beginn des Werkes denn auch eine Stimmung wie am ersten Schöpfungstag. In so etwas wie einer ersten Setzung treten die acht Hörner aus einem fahlen, unendlichen und gleichförmigen (Klang)Raum, den die Streicher und Holzbläser bilden, mit einem Motiv von elementarster Einfachheit hervor. Nach dessen allmählicher Erweiterung breitet sich – fiat lux – alsbald strahlendes Licht aus und es beginnt in immer wieder auflaufenden „Bruckner’schen Wellen“ jenes erhabene Spiel mit Harmonie und Form, welches typisch für das gesamte symphonische Schaffen des tiefsinnigen Österreichers ist. Mit dem vergleichsweise kurzen zweiten Satz, der mit „Scherzo“ überschrieben ist, hat der Bruckner lange gerungen. Er war erst mit der dritten Fassung zufrieden. Hier verlässt der Komponist die Pfade, die er bislang regelmäßig eingeschlagen hat. Insbesondere verzichtet er im dreiteiligen Trio auf die Beruhigung des Geschehens durch Ländlertänze, die er an dieser Stelle sonst gerne einführt. Vielmehr lädt er die Stimmung, die er mit dem robust hämmernden Hauptthema angeschlagen hat, noch bis zur Groteske weiter auf. Der dritte Satz, Adagio, ist ein spätromantisches Nachtstück von außerordentlicher emotionaler Intensität. Hier wird die Tonalität bis an ihre Grenzen geführt. An den neuralgischen Punkten scheut Bruckner auch vor den härtesten Dissonanzen nicht zurück. Auf den Höhepunkt werden in einer Art orchestralem Orkan gleich sieben Töne der Oktave aufeinander gesetzt. Von da war es nur noch ein kurzer Schritt bis zu Anton Schönbergs ersten Versuchen mit der Atonalität, die zehn Jahre nach Bruckners Tod begannen. Der Satz, der etwa die gleichen Ausmaße wie der Kopfsatz hat, ist im Übrigen getönt vom weichen Klang der vier Wagnertuben, die hier an die Stelle von vier Stimmen des Hornoktetts treten. Dem entsprechen Anklänge an Wagners Musik, insbesondere an Passagen aus dessen Oper  Parsifal.

Die stimmungsvollen Wagnertuben hatte Bruckner auch für den vierten Satz vorgesehen. Diesen hatte Bruckner, wie gesagt, weitgehend skizziert. Noch an seinem Todestag soll er daran gearbeitet haben. Es gab eine durchgehende vorläufige Partitur, in der die Streicherstimmen ausformuliert und die – bei Bruckner allerdings in besonderem Maße konstitutiven – Bläserstimmen ab der Durchführung angedeutet sind. Von diesem Manuskript ist nur noch etwa die Hälfte vorhanden, da sich nach Bruckners Tod die Trophäensammler an seinem Nachlass bedient haben. Die verschwundenen Partiturteile sind möglicherweise weit verstreut. Darauf deutet der Umstand, dass in neuerer Zeit einige einzelne Blätter aus Privatbesitz wieder aufgetaucht sind. Darüber hinaus gibt es umfangreiche Skizzen zu Vorarbeiten. Dieser relativ reichhaltige Bestand an Spolien hat eine ganze Reihe von musikalischen (Re)Konstrukteuren dazu veranlasst, den vierten Satz im vermuteten Sinne Bruckners, zum Teil aber auch unter Berücksichtung der weiteren musikgeschichtlichen Entwicklung zu vervollständigen oder zumindest in eine spielbare Fassung zu bringen. Die Spekulationen darüber, welche großen Dinge Bruckner, der persönlich so zurückhaltend, künstlerisch aber Grenzen sprengend war, in diesem Satz noch vorgehabt könnte, gehen sehr weit. Unter anderem wurde vermutet, dass Bruckner im Finalsatz nicht nur, wie teilweise in seinen anderen Symphonien, die Hautthemen des gegenständlichen Werkes, sondern in monumentaler Weise auch noch die wichtigsten Themen früherer Symphonien übereinander schichten wollte (wofür einige Zitate in den fertig gestellten Sätzen sprechen, etwa die wiederholte Anspielung auf eine Passage aus dem ersten Satz seiner 7. Symphonie im Kopfsatz, und was im Übrigen gut zu der These passen würde, dass Bruckners symphonisches Werk überhaupt so etwas wie eine große Gesamtarchitektur sei). Bruckner selbst hat von einer Vervollständigung durch fremde Hand auf der Basis seiner Vorarbeiten offenbar nichts gehalten. Er schlug vor, an Stelle des vierten Satzes sein Te Deum in C-Dur  zu spielen, das er besonders liebte. Dies deutet, da es sich dabei um ein Werk für Gesangssoli, Chor und Orchester handelt, darauf hin, dass Bruckner bei seiner 9. Symphonie an Beethovens finales Werk dieser Gattung dachte. In der Praxis sind inzwischen zahlreiche Varianten ausprobiert worden einschließlich der möglicherweise beeindruckendsten Lösung, im Anschluss an den gewichtigen dritten Satz und seinem verlöschenden Ausklang nach dem Motto „Der Rest ist Schweigen“ zu verfahren.

Über die Kompositionsweise Bruckners, die sich den zu seinen Lebzeiten gängigen Vorstellungen von Zielgerichtetheit, formaler Konsistenz und innerem Zusammenhang weitgehend entzieht, ist viel geschrieben und gestrittenen worden. Dabei erscheint Bruckner mal als ein ungelenker „bäuerlicher Exzentriker“ und mal als ein mehr oder weniger unbewusster Wegbereiter der Wiener Moderne. Selbst der von Bruckner hoch verehrte Richard Wagner, dem er seine dritte Symphonie widmete, wusste nicht, was er von diesem „armen Organisten“ (Cosima Wagner) halten sollte. Über die „Empörung“ wegen der vielen Generalpausen, der ungeführten Übergänge und der „unverschämten Länge“ (Clara Schumann) ist dabei gelegentlich aus dem Blick geraten, wie intensiv sich Bruckner mit den tradierten Formen der Symphonie auseinandergesetzt und sie weiterentwickelt hat. Dieser Aspekt ist allerdings in erster Linie für den Musiktheoretiker interessant, dem Bruckner tatsächlich genügend Material zur formalen Analyse bietet. Wer Bruckners Musik ohne den Anspruch auf enge Führung hört, wird ihre Länge nicht als etwas empfinden, was „dem geduldigsten Gemüt zur Qual wird“, wie der seinerzeit führende Wiener Kritiker Eduard Hanslick anmerkte. Er kann vielmehr nur das Ende dieses variantenreich hin- und herpendelnden mal kontemplativen, mal pathetischen aber auch wieder energischen hohen Spiels dieser Symphonie und natürlich ihres Schöpfers bedauern.

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