Archiv der Kategorie: Musikalische Moderne

Sándor Veress (1907 – 1992) Hommage á Paul Klee – Fantasia für zwei Klaviere und Streichorchester

Die europäische Kunstmusik ist über Jahrhunderte weitgehend eine Kulturerscheinung der südlichen und westlichen Länder des Kontinentes. Im  Osten entwickelte sich eine eigenständige Kunstmusik meist erst im 19. Jh. im Zuge der Entwicklung des Nationalbewusstseins der östlichen Völker. Ausgangspunkt war dabei häufig die Volksmusik. In Ungarn war es die Tanzmusik, die von Zigeunerkapellen vorgetragen wurde. Durch Verschmelzung mit Musikformen des Westens entstand das kunstmusikalische Idiom, das bis heute als typisch ungarisch gilt. Musik dieser Färbung schufen etwa Franz Liszt und in seiner Nachfolge Johannes Brahms. Vor allem als Operettenmusik lebte sie fort bis in das 20. Jh. Im engeren Sinne ungarisch war diese Musik allerdings nicht. Ungarn und seine Nachbarländer verfügten vielmehr über eine eigenständige und sehr vielfältige Volksmusik. Diese Musik begannen ungarische Musikethnologen gegen Ende des 19. Jh. zu erforschen und zu sammeln. Entscheidende Beiträge hierzu leisteten Zoltán Kodály und Béla Bártok. Sie führten die ungarische Kunstmusik von dieser Seite in ganz eigenständiger Weise in den Entwicklungsstrom der modernen europäischen Musik. Ihre Schüler und Nachfolger waren dann bereits in der vordersten Front der europäischen Avantgarde des 20. Jh., so György Kurtág und György Ligeti.

Zur Generation zwischen diesen Großmeistern der neueren ungarischen Musik gehört Sándor Veress. Er war Schüler von Kodály und Bártok und Lehrer von Kurtág und Ligety. Veress arbeitete zunächst in der Volksmusikforschung, darunter vier Jahre als Assistent von Bartok. Dies prägte seine umfangreiche kompositorische Tätigkeit. Er hielt den Kontakt zur Volksmusik und mied avantgardistische Zuspitzungen. Veress befasste sich durchaus auch mit der Reihentechnik der europäischen Moderne. Zur Unzufriedenheit der Hüter der reinen Lehre behielt bei ihm aber im Zweifel die Melodie den Vorrang über die Konstruktion. Darüber hinaus hielt er an der Tonalität als harmonischem Grundgerüst fest. Über sein kompositorisches Credo sagte Veress einmal, dass er «die Zusammenfassung von Tradition und Gegenwart zu einer grossen Synthese … für die einzige mögliche Lösung im Schadenzeitalter des intellektuellen und antiintellektuellen Barbarismus» halte.

Wie Ligeti verließ Veress Anfang der 50-er Jahre politisch enttäuscht sein inzwischen kommunistisch gewordenes Heimatland. Er lebte danach vierzig Jahre in der Schweiz, wo er zu einer wichtigen Figur des dortigen Musiklebens wurde. Nicht anders als in Ungarn entfaltete er auch hier eine fruchtbare Lehrtätigkeit. Zu seinen Schülern gehörten viele bekannte schweizer Komponisten, darunter Heinz Holliger.

Eine moderate kompositorische Haltung kennzeichnet auch Veress’ Fantasia für zwei Klaviere aus dem Jahre 1951. Es ist eine Hommage an den Maler und Zeichner Paul Klee, dessen Bilder er kurz zuvor im Hause des bedeutenden Baseler Kunstsammlerehepaares  Müller-Widmann kennen gelernt hatte. Jedem der sieben Sätze liegt ein abstraktes Bild des Malers zu Grunde (Zeichen in Gelb – Feuerwind – Alter Klang – Unten und Oben – Grün in Grün – Steinsammlung – Kleiner Blauteufel).  Das Werk scheint Klees kleinteilig-unprätentiöse, anscheinend absicht- und entwicklungslose Arbeitsweise in spielerischer und mitunter meditativer Weise nachzuzeichnen.

Klee war ausgebildeter Geiger und hochmusikalisch. Dies mag der Grund dafür sein, dass seine Werke als musikalisch empfunden wurden und eine ganze Reihe von neueren Musikern zu Kompositionen angeregten. Im Falle des Bildes „Alter Klang“ ist die musikalische Assoziation sogar explizit vorgegeben. Klee selbst, der offen für die neuesten Strömungen in der Kunst war, hatte allerdings wenig Verständnis für die Musik seiner Zeit. Selbst die Musik der Romantik schätzte er nicht sonderlich. Seine Hausgötter waren Bach und Mozart, deren Werke er vorbildlich gespielt haben soll.

1906 Charles Ives (1874-1954) – The Unanswered Question

Die musikalische Moderne begann merkwürdig gleichzeitig an verschiedenen Orten. Als sei die Zeit reif für eine gründliche Umwälzung stellten um die Wende vom 19. zum 20. Jh. Debussy in Paris, Bartok in Budapest, Janacek in Brünn, Schönberg in Wien und Ives in New York die hergebrachten Parameter der europäischen Kunstmusik ganz unabhängig voneinander in Frage. Eine besonders interessante Figur ist dabei Ives, der seinen Beitrag zur Moderne gewissermaßen im stillen Kämmerlein erbrachte.

Charles Ives war eine außerordentlich komplexe Persönlichkeit. Er war Traditionalist und Pionier, Esoteriker und Großstadtmensch, Kapitalist und Sozialromantiker, erfolgreicher Selfmade-Geschäftsmann und zurückgezogener Musiker. Als Musiker erhielt Ives eine gediegene Ausbildung in einer Zeit, als man Dvorak nach Amerika holte, um musikalisch gegenüber Europa aufzuholen. Mit einem Bein seiner künstlerischen Persönlichkeit steht daher auch Ives auf dem Fundament der europäischen Musiktradition. Schon früh regte sich bei ihm aber amerikanischer Pioniergeist und die Lust am Experimentieren. Ganz aus sich heraus befasste er sich mit Kompositionstechniken, die später typische Merkmale der musikalischen Moderne werden sollten: Polytonalität, Polyrhythmik, freie Dissonanzen, Collagen, Zufallseffekte und Raummusik.

Fast alle diese Merkmale finden sich in embryonaler Form schon in „The Unanswered Question“ aus dem Jahre 1906. Das Stück ist nicht nur die reflektierte, im vorliegenden Fall höchst philosophische Grundhaltung gekennzeichnet, die typisch für Ives ist. Er stand dem Denken des transzendentalistischen Concord-Kreises um Ralf Waldo Emerson, dem „Propheten der amerikanischen Religion“ nahe. Das Werk zeigt vor allem die Neigung Ives, etwas ganz Neues zu versuchen. Schon die Besetzung ist ungewöhnlich – in der Originalfassung eine Trompete, Streichquartett und vier Flöten; eine Orchesterfassung folgte 30 Jahre später. Noch ungewöhnlicher ist der musikalische Aufbau des Stückes. Vor dem Hintergrund von lang gezogenen choralartigen Streicherakkorden, die Ives als „Das Schweigen der Druiden“ beschrieb, „die nichts wissen, nichts hören und nichts sehen“, intoniert eine Trompete immer wieder ein fragendes Motiv, die „ewige Frage der Existenz“. Darauf antworten die vier Bläser sechsmal dissonant und zunehmend ungeduldiger und schroffer, bis die Frage am Schluss unbeantwortet stehen bleibt. Die drei Gruppen agieren nach Art einer Collage gänzlich unabhängig von einander in einem jeweils eigenen Zeitmaß und mit je eigener Rhythmik und Harmonik.

Ives künstlerische Aktivität war zu seinen Lebzeiten zunächst kaum bekannt. Das lag nicht zuletzt daran, dass er mit seiner Musik nicht sonderlich an die Öffentlichkeit drängte. Ives entschied sich nach Abschluss seines Musikstudiums auf gut amerikanische Weise, seinen Lebensunterhalt durch unternehmerische Tätigkeit zu verdienen. Er zog nach New York und gründete eine sehr erfolgreiche Versicherungsagentur. Die Musik war für ihn eine Freizeitbeschäftigung, was aber der Ernsthaftigkeit seines Bemühens keinen Abbruch tat. Erst in seinem letzten Lebensjahrzehnt begann man, ihn etwas mehr zur Kenntnis zu nehmen. Wegen seiner Experimentierfreudigkeit und der nicht immer eingängigen Harmonik bestanden gegen seine Musik zunächst aber erhebliche Vorbehalte. Inzwischen hat sich die Einschätzung der Kritik allerdings deutlich geändert. Vielen gilt er heute als der bedeutendste amerikanische Komponist überhaupt. Seine Werke, darunter sechs anspruchsvolle Symphonien, werden allerdings noch immer selten gespielt.

„The unanswered question“ ist einzige der Werke von Ives, das einen hohen Bekanntheitsgrad erlangte. Wie bei allen seinen Kompositionen wurde aber auch dieses Stück erst sehr spät zur Kenntnis genommen. Die erste Aufführung fand 40 Jahre nach seiner Entstehung in New York statt. Die Originalfassung wurde gar erst 30 Jahre nach dem Tod von Ives erstmals gespielt.

1938 Francis Poulenc (1899 – 1963) – Konzert für Orgel, Streicher und Pauke, g-moll

Konzerte für Orgel und Orchester sind eine Rarität. Mit Ausnahme von Händel und dem frühen Haydn hat sich keiner der großen klassischen Komponisten mit dieser reizvollen Kombination befasst. Selbst eine ausgewiesene Orgelgröße wie Johann Sebastian Bach hat kein Konzert für die Königin der Instrumente hinterlassen. Das Gleiche gilt für Anton Bruckner, dessen Liebe zu diesem Instrument gar so weit ging, dass er einen Raum direkt unter der Orgel des Stiftes St. Florian für seine letzte Ruhestätte wählte. Der merkwürdige Mangel an Orgelkonzerten mag ursprünglich damit zu tun gehabt haben, dass sich die alten Orgeln wegen ihres regelmäßigen Standortes in Kirchen wenig für die Konzertaktivität eigneten, welche sich eher im weltlichen Rahmen der Paläste und Konzerthallen abspielte. Durch die Neuerungen des großen französischen Orgelbauers Cavaillé-Coll, insbesondere der Einführung von Instrumentalstimmenregistern, entwickelte sich die Orgel dann im 19. Jh. auch noch selbst zu einem pseudo-orchestralen Instrument. Dies führte zwar verstärkt zu einer weltlichen Orgelmusik, welche – ausgehend von César Franck – gerade in Frankreich in den gewaltigen „symphonischen“ Orgelwerken von Vierne, Widor und Dupré gipfelte. Angesichts ihrer eigenen Ausdrucksmöglichkeiten glaubte man nun aber auch umso mehr, dass die Königin der Instrumente sich selbst genug sei. Zusätzlich von einem Orchester begleitete Konzerte blieben die große Ausnahme. Daran änderte sich zunächst auch nichts, nachdem die Orgel ab Ende des 19. Jh. immer mehr in Säle und Salons auswanderte.

Auch Francis Poulenc hatte mit der Orgel als Konzertinstrument eigentlich wenig im Sinn. Dass er sein Orgelkonzert schrieb, beruhte eher auf einem Zufall. Die Idee zu einem solchen Werk stammte von der Prinzessin Edmond de Poliniac. Die „Prinzessin“ war eine von zwanzig Kindern des reichen amerikanischen Nähmaschinenfabrikanten Singer. Sie unterhielt mit dem Prinzen Edmond de Poliniac, mit dem sie in „Lavendelehe“ verbunden war, in Paris einen musikalischen Salon, in dem sich alles traf, was in Frankreich künstlerisch etwas zu sagen hatte (Marcel Proust fand hier weitgehend den Stoff für seinen Roman „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“). Die Amerikanerin war eine große Mäzenin des französischen Musiklebens zwischen den Weltkriegen. Als solche beauftragte sie im Jahre 1934 Jean Francaix mit der Komposition eines Orgelkonzertes. Francaix war aber mit Filmmusik voll beschäftigt und schlug Poulenc als „Aushilfe“ vor, der für die Prinzessin gerade sein burleskes Konzert für zwei Klaviere geschrieben hatte.

Poulenc begann mit der Komposition im Jahre 1936, tat sich damit aber ziemlich schwer. Einer programmatischen Forderung von Jean Cocteau entsprechend komponierten er und seine Gesinnungsgenossen von der „Groupe des six“ in einem lockeren, ironischen und häufig ins Surreale führenden antiromantischen Stil mit allerhand Anklängen an die Unterhaltungsmusik vom Jazz über das Vaudeville bis zum Jahrmarkt. Typisch dafür waren unter anderem „falsche Noten“, Töne, welche neben den Tönen liegen, die man nach der gewohnten Harmonik erwarten konnte, gleichzeitig aber so nah, dass man die richtigen Töne noch erahnen kann. Dieser Stil schien Poulenc für ein Orgelkonzert aber nicht geeignet, zumal er sich unter dem Eindruck des Todes eines nahen Freundes inzwischen dem Katholizismus und damit ernsteren Themen zugewandt hatte. Im Mai 1936 schrieb er an die Prinzessin: „Das Konzert hat mir viel Schmerz bereitet … Es ist nicht vom gefälligen Poulenc des Konzerts für zwei Klaviere, sondern eher vom Poulenc auf den Weg ins Kloster, sehr nach Art des 15. Jh., wenn man so will.“  Auf der Suche nach einem geeigneten Zugang blieb die Komposition ein Jahr liegen. Als Poulenc das Werk im Jahre 1938 abschloss, schrieb er an die Prinzessin: „Endlich erhalten Sie Ihr Konzert. Das Wort „endlich“ resümiert für mich die Freude darüber, dass ich mit meinem Gewissen gänzlich im Reinen bin, mehr noch, mit meinem künstlerischen Gewissen, denn das Werk ist jetzt wirklich auf den Punkt gebracht – niemals seit ich Musik schreibe, habe ich solche Probleme gehabt, meine Ausdrucksmittel zu finden.“

Die erste Aufführung des Werkes fand am 16. Dezember 1938 im Palais „Singer-Poliniac“ in Paris unter der Leitung der großen Dirigentin und Musiklehrerin Nadia Boulanger statt. Ein halbes Jahr später erfolgte die erste öffentliche Präsentation im Salle Gaveau in Paris. Die öffentliche Reaktion war nicht besonders gut. An Nadia Boulanger schrieb Poulenc danach enttäuscht: „Die Franzosen hassen die Orgel.“  Noch im Jahre 1947 bemerkte er anlässlich einer Aufführung des Werkes durch Charles Munch, der das Werk in Amerika populär machte: „Publikum und Kritik schätzen das Werk nicht sonderlich. Man hat sicher eine Sintflut von falschen Noten erwartet.“

Poulenc selbst, der von sich sagte, er kenne künstlerisch „sowohl das Milieu der Pfarrer  als auch das der Taugenichtse“, räumte dem Konzert einen wichtigen Platz in seinem oft als janusköpfig charakterisiertem Gesamtwerk ein. „Wenn man eine genaue Vorstellung von meiner seriösen Seite haben will“, so schrieb er, „muss man sich dieses Werk anschauen, ebenso wie meine religiösen Werke.“ Kirchenmusik im eigentlichen Sinne ist das Orgelkonzert allerdings nicht. Dafür steht es dem Jahrmarkt, auf den Poulenc auch hier nicht ganz verzichten wollte, dann doch wieder zu nahe. Die Analytiker haben in dem Werk im Übrigen allerhand Anklänge an die niederländische Polyphonie des 15. Jh. und an barocke Musik von Buxtehude bis Bach, aber auch an Tschaikowsky und Strawinsky gefunden. Dies entspricht durchaus der Neigung Poulencs, vorhandenes musikalisches Material aus seinem ursprünglichen Kontext zu nehmen und damit gewissermaßen „falsche Zitate“ zu erzeugen, ein Verfahren, das seine Kritiker gerne als eklektisch etikettieren, das man aber auch als den Versuch verstehen kann, sich im allgemeinen kulturellen Kontext zu platzieren.

Der Bewertung des Orgelkonzertes hat wie die des ganzen kompositorischen Schaffens von  Poulenc im Laufe der Zeit eine interessante Wandlung erlebt. In der zweiten Hälfte des 20. Jh. wurde die Musik von Poulenc, der keine reguläre akademische Ausbildung genossen hatte, vor allem wegen seiner konsequenten Weigerung, die Errungenschaften der radikalen musikalischen Avantgarde zu übernehmen, gerne als „amateurhafte Nettigkeit ohne intellektuelle, innovative Ambition“ angesehen. Man konstatierte einen Mangel an „linguistischer Komplexität“ und nahm den Komponisten, ähnlich wie im Falle von Francaix, nicht richtig ernst. Mit dem Verblassen der avantgardistischen Errungenschaften hat sein Gesamtwerk in neuerer Zeit eine gänzlich andere Einschätzung erfahren. Inzwischen halten maßgebliche Autoren Poulenc für die wichtigste französische Musikerpersönlichkeit zwischen Impressionismus und Moderne.

In Deutschland hat sich die Bedeutung Poulencs und des Orgelkonzertes noch nicht überall herumgesprochen. In den gängigen Konzertführern wird der Komponist meist nur am Rande und pauschal mit seinen zeitweiligen Mitstreitern von der „Groupe des six“ gewürdigt. Das Orgelkonzert wird dabei nicht besonders erwähnt. Sogar ein neueres Handbuch der Orgelmusik erlaubt sich, das Orgelkonzert zu übergehen. In der Musikpraxis und bei den Hörern gewinnt das Werk von Poulenc hingegen zunehmend an Beliebtheit. Eines seiner populärsten Werke ist dabei inzwischen das Orgelkonzert, was abgesehen von der originellen Besetzung sicher auch mit seinem Mangel an „linguistischer Komplexität“ zu tun hat.