Monatsarchiv: November 2009

Ein – und Ausfälle – Das Konkrete als illegitimes Kind des Allgemeinen

Die Emanzipation des Individuums von übermäßig einschränkenden Bindungen durch das Allgemeine, die als wesentliches Merkmal der Moderne gilt, ist auf merkwürdige Weise mit eben diesem Allgemeinen verbunden. Der Gedanke vom eigenständigen Wert des Individuums gilt als eine (Spät)Frucht der christlichen Vorstellung, dass der Mensch Kind und Abbild Gottes sei. Jeder einzelne Mensch wird damit als Ableger des monotheistischen und unsichtbaren Gottes aufgefasst, der einerseits Person zugleich aber der Prototyp des Allgemeinen ist. Die Lage ist ähnlich wie in den Naturwissenschaften, wo die Entdeckung der wirklichen Eigenschaften des Konkreten, welche ebenfalls in der Moderne stattfand, auch weitgehend eine Folge des Denkens in allgemeinen (Natur)Gesetzlichkeiten ist.

 

So richtig im Sinne des Erfinders (des Allgemeinen) war diese Entwicklung allerdings nicht. Zum Individuum gehört die Freiheit, sich gegebenfalls von gewissen allgemeinen Bindungen und Verpflichtungen, darunter auch vom Glauben (an den großen Allgemeinen) lösen zu können. Und in der Naturbetrachtung, in welcher in der Umbruchszeit zur Moderne noch das Allgemeine dominierte, das die Denker der Antike formuliert hatten, weswegen man sie als Naturphilosophie bezeichnete – in der Naturbetrachtung war eine „unvoreingenommene“ Erkenntnis des Konkreten erst möglich, nachdem diese Allgemeinheiten entmachtet worden waren (man denke etwa an die ganz aus allgemeinen Erwägungen abgeleitete „Lehre“ von den vier Elementen und den entsprechenden Körpersäften, die ein Jahrtausend lang das europäische Denken beherrschte). Das Verhältnis des Individuums zum Allgemeinem ist also ambivalent. Das Konkrete scheint so etwas wie ein illegitimes Kind des Allgemeinen zu sein.

Auf der Suche nach dem verlorenen Paradies – Tagebuch einer Rucksackfamilienreise durch Malaysia im Jahre 1985 Teil 3

Der vollständige Text befindet sich auf der Seite IX Reisetagebuch Malaysia 1985 

22.3.1985

Faulenzen am Strand. Die Kinder sind in ihrem Element. Man spricht mit Reisenden, darunter einem polnischen Offiziellen, vermutlich aus dem auswärtigen Dienst. Beim Zitronensaft in Nazir’s Restaurant stoße ich auf zwei Deutsche, die im Flugzeug nach Singapur neben mir gesessen hatten. Auch andere europäische Träume richten sich auf die ferne Tropeninsel. Man genießt die Ruhe und die Idylle.

Gegen Mittag machen wir einen Spaziergang entlang des Strandes, vorbei an malerisch verstreuten Kampongs, die zwischen allerlei blühenden Sträuchern unter Palmen stehen. Überall sehen wir freundlich lachende Gesichter.
Es herrscht  eine Atmosphäre weichen Friedens. Am späten Nachmittag unternehmen wir eine etwas längere Wanderung zum anderen Ende der Bucht. Alle 100 bis 150 Meter kommt ein Bach mit silbrig klarem Wasser aus dem Dschungel, über den kleine Holzbrücken führen.

Schließlich stoßen wir auf das Paradies. Es liegt am ABC-Strand. Malerisch hintereinander gestaffelt stehen hier einige A-förmige-Hütten in einem lockeren Palmenwald. Junge Leute liegen unter großen Bäumen in Hängematten am Strand, lesen, schreiben Tagebücher oder sinnieren über die Schönheit der Welt, eine stille und ausgeruhte Stimmung. Neben der kleinen Siedlung rauscht der unvermeidliche kleine Bach. Kurz vor seinem Austritt auf den Strand füllt er die Badewanne des Paradieses. Sie besteht aus einer Vertiefung in den glatten runden Felsblöcken, die groß genug ist, dass man im kühlen, rauschenden und kristallklaren Bergwasser untertauchen kann. Dazu plätschert die Paradiesdusche hinein, deren Wasser über Bambusrohre aus dem grünen Palmengewirr des Urwaldes geführt wird. Flugs ist die ganze Familie in der Dschungelbadewanne.

Derart erfrischt geht es dann in den Dschungel. Die Bucht endet hinter dem ABC-Strand mit einem Felsvorsprung aus aufgetürmten schwarzen Quadern. Dahinter führt ein schmaler Pfad steil in den dichtesten Wald hinein. Den Kindern wird es unheimlich, zumal es ziemlich dunkel ist. Cinque schimpft und vermutet überall Schlangen und sonstiges Ungetier, insbesondere Tiger. Zur Beruhigung muss ich zu drastischen Mitteln greifen. Ich verspreche jedem, der einen Tiger sieht 1000 DM. Das überzeugt. Die Kinder wissen gleich, dass die Wahrscheinlichkeit, einen Tiger zu finden, dann nicht sehr groß sein kann. Tatsächlich gibt es nicht einmal Moskitos in diesem Wald. So sind die Kinder denn auch bald beruhigt, schaukeln in den Lianen und klettern in den riesigen Baumwurzeln herum, unter denen der Weg durchführt.

Nach einigen hundert Metern beruhigt sich der Weg und führt steil hinunter zu einer kleinen Bucht. Ein Dschungelbach hat hier einige Dutzend Meter weißen Sand aus den Bergen gespült und zwischen den Felsen einen verwunschenen Strandwinkel geschaffen. Er gehört uns ganz alleine. Wir genießen die laue Abendsonne. Die Kinder stauen den Bach und lassen das Wasser danach mit großem Hallo wieder auslaufen. Leider zwingt uns der anbrechende Abend, den zauberhaften Ort alsbald wieder zu verlassen. In den Tropen wird es sehr schnell dunkel.

Der Weg durch den Wald ist inzwischen noch dunkler geworden. Als wir am ABC-Strand ankommen, ist es finster. Hier und da wird eine Hütte mit einer Petroleumlampe beleuchtet. Wir nehmen in dem einfachen Restaurant das Abendessen ein, das wir schon auf dem Hinweg bestellt hatten, Es gibt mehrere Gänge, Fisch, Reis mit Soße, Gemüse und Ananas, all das zu Preisen, die deutlich unter denen liegen, die Nazir verlangt. Die Kinder spielen mit einem jungen Affen, den sie mit Reiskörnern füttern. Er findet Gefallen daran und versorgt sich bald selbst. Sobald man ihm den Rücken kehrt, stibitzt er sich Reis vom Teller.

Wir gesellen uns zu „alten“ Bekannten von der gemeinsam durchlittenen Schiffsfahrt. Die Travellers haben meist eine Neigung zum Philosophischen und Kulturkritischen, genug Stoff also für angeregte Gespräche. So diskutiert man bis tief in die Dunkelheit über Travellerschicksale und über Gott und die Welt.

Durch diese Dunkelheit müssen wir schließlich den Heimweg über Brücken ohne Geländer und umgestürzte Bäume antreten. Diesmal haben wir überhaupt kein Licht. Die Nacht ist mondlos. Allein das Sternenlicht lässt den Saumpfad aufscheinen, der kaum mehr als ein Fuß breit ist. Wir machen die ungewohnte Erfahrung, dass auch solches Licht den Weg weisen kann. Wie viel Helligkeit die Sterne erzeugen, merkt man daran, dass wir vollkommen im Dunkeln tappen, wenn diese Lichtquelle unter dichten Bäumen oder Sträuchern ausfällt. Da hilft nur noch, den Wegrand mit den Füßen zu ertasten.

Nachdem die Kinder im Bett sind, gehen wir ein Stück zurück zum sogenannten blauen Restaurant. Dort treffen wir Dott, eine ältere amerikanische Lady mit verwittertem Gesicht voller Vitalität und Abenteuerlust, die ich bereits am Nachmittag am Strand kennen gelernt hatte. Sie ist mit ihrem Mann, einem Architekten, seit über einem halben Jahr auf Travellersweise unterwegs und bewegt sich unter lauter jungen Leuten. Begeistert erzählt sie von ihren monatelangen Trecks im Himalaya. Bei Dott sind eine junge englische Lehrerin, die in Singapur unterrichtet und eine Chinesin, ebenfalls aus Singapur. Alle sind sehr gesprächsfreudig. So entspinnt sich bis tief in die Nacht hinein – die müden Köche haben das Restaurant längst geschlossen – eine angeregte Diskussion, die von der Wirtschaftskriminalität bis zu allerlei Reiseerlebnissen verläuft. Mir gelingt es, die Chinesin, die demnächst eine Europareise antreten will, davon zu überzeugen, dass es in Europa abgesehen von der Schweiz, wo sie allein lohnende Reiseziele vermutete, noch andere Sehenswürdigkeiten gibt. Am Schluss findet ein allgemeiner Adressentausch statt. Fiona, die englische Lehrerin, lädt uns in ihr Haus nach Singapur ein. Wir haben die feste Absicht, dieser Einladung zu folgen.

Der vollständige Text befindet sich auf der Seite IX Reisetagebuch Malaysia 1985 

Auf der Suche nach dem verlorenen Paradies – Tagebuch einer Rucksackfamilienreise durch Malaysia im Jahre 1985 Teil 2

Der vollständige Text befindet sich auf der Seite IX Reisetagebuch Malaysia 1985 

21.3. 19 85

Provianteinkauf – es soll kein Obst auf Tioman geben – Bankgeschäfte etc. Dann geht es zum Hafen, wo großer Betrieb herrscht. Viele Holzboote liegen am Pier, aber auch ein „größeres“ Schiff, das vergleichsweise modern anmutet. Wir folgen den Travellers, die darin verschwinden. Die Überraschung liegt dahinter – eine kleine Holzschaluppe für uns, gerade groß genug, um zehn bis fünfzehn Leute aufzunehmen, die dazu noch auf dem Boden sitzen müssen. Tioman hat offenbar zwei Gesichter: Das größere Schiff fährt zum Luxushotel Merlin, die Travellers zu einen nicht näher benannten Strand mit dem Seelenverkäufer, der weit mehr als die doppelte Zeit braucht.

Die Fahrt geht durch den langen Flusshafen, dann vorbei an zahlreichen Inselchen vor der Küste, die mit Palmen bestanden und von kleinen weißen Strandbuchten umsäumt sind. Einsiedler- oder Paradiesträume kann man aber kaum pflegen. Die Inseln sind wohl zu klein, um Trinkwasser zu haben. Dann das offene Meer. Weit und breit ist kein Reiseziel zu erkennen. Erst nach längerer Zeit tauchen in der Ferne spitze, jähe Felsen auf – Tioman. Doch der Weg dahin ist erst noch durchzustehen. Die kleine Schaluppe schaukelt hilflos in den wachsenden Wellen. Brecher gehen über die Bordwand, bald auch mancher Mageninhalt. Auch mich hat es erwischt. Wellen und die Abgase des Schiffsmotors, die ohne Auspuff seitlich aus dem Schiff geführt werden, sind schließlich zuviel. Dann döst man stundenlang, auf verquere Weise zwischen allerhand Beinen und Gepäck auf dem Boden hingestreckt. Wann sind wir endlich in Tioman?

Die Kinder turnen indessen unbeeindruckt auf dem wackeligen Boot herum. Eigentlich sollte man besser auf sie aufpassen. Aber bei einigen Wellen hat man genug damit zu tun, sich selbst festzuhalten. Die Kinder unterhalten derweil einige weniger von der Seekrankheit befallene Mitreisende. Im Windschatten von Tioman beruhigt sich das Meer schließlich und gibt es etwas Erleichterung.

Das Boot tuckert noch eine ganze Weile an der Insel entlang. Vor uns breitet sich ein prächtiges Panorama aus: Strände mit Kokuspalmen, dahinter steil aufsteigend Berge mit dichtem Urwald, eine tiefgrüne Wand, aus der die weißen Stämme der Baumriesen herausblinken; über allem anfangs noch steile Felsen – hunderte von Metern hoch.

Nach über viereinhalb Stunden endlich Ankunft. Das Boot fährt in eine Bucht. Es gibt keinen Landesteg, man läuft direkt auf den Strand auf. Wir klettern über die Bordwand und waten mit erhobenem Gepäck durch das Wasser zum Ufer. Dort liegen bereits einige Travellers und pflegen der Muße auf dem Strand; es ist sehr einladend hier.

Kein Problem ist es, Unterkunft zu finden. Nazir, der Herr dieses Strandes mit offensichtlich gutem Draht zum Bootskapitän, erwartet uns bereits und bietet kleine A-förmige Hütten mit Palmdach unter Palmen an. Sie bestehen aus einem Raum, haben weder Wasser noch Möbel und natürlich keinen Strom. Wir nehmen zwei Hütten, keine zwanzig Meter vom Strand zum Preis von je 5 DM pro Nacht. Der Blick aus der „Tür“ geht auf das Meer und auf die weiter draußen liegenden Inseln.

Während die Kinder baden, gibt es reichlich Gelegenheit, sich von der strapaziösen Schiffsreise auszuruhen. Es herrscht totale Ruhe. Auf der Insel gibt es keine Autos. Die Bucht ist etwa einen Kilometer breit und nur wenige hundert Meter tief. An ihren beiden Enden türmen sich schwarze Felsquader und riegeln sie von den Nachbarbuchten ab. Kein Bedarf also für Fahrzeuge, man geht zu Fuß. Ein paar dutzend Malayen, die hauptsächlich von der Bewirtung der Travellers leben, wohnen hier in ihren Kampongs. Treffpunkt der Travelers ist Nazir’s Restaurant, das eine kleine Palette einfacher Mahlzeiten und – allerdings nur bis gegen Mittag – kühle Getränke bietet. Unser Strand wird nach dem touristischen Allroundunternehmer, der ihn beherrscht,  Nazir’s Beach genannt.

Gegen Abend gehen wir mit einigen jungen Deutschen in die Hauptbucht, wo sich Tekek befindet, mit wenigen hundert Einwohnern der Hauptort der Insel. Der Weg dauert etwa vierzig Minuten. Hier fahren gelegentlich Mopeds auf den schmalen Wegen. In einem bunt beleuchteten Restaurant verspeisen wir einen ebenso so bunten, weil mit allerlei Früchten dekorierten Fisch von beachtlicher Größe.

Der Heimweg wird zu einer nächtlichen Expedition. Es ist vollkommen düster. Der schmale Weg, der nur mit Mühe zu erkennen ist, führt über einige ziemlich schiefe, teilweise schon halb eingesunkene Brücken. Um die Dinge nicht allzu sehr zu erleichtern, fehlen immer wieder mal ein paar Bohlen. Wir behelfen uns zur Vermeidung eines ungewollten nächtlichen Bades in den sicherlich erfrischenden Dschungelbächen mit einer dürftigen Taschenlampe, die einer unser deutschen Begleiter mit sich führt, ansonsten mit Streichhölzern. Gelegentlich hilft der Schein einer Glühbirne von einem malayischen Haus. In der totalen Finsternis blendet allerdings selbst eine schwache Birne, sodass wir in unmittelbarer Nähe der Häuser überhaupt nichts mehr sehen. Die Birne wird, wie wir kurz darauf feststellen, von einem kleinen „Kraftwerk“ gespeist, das von einem Dieselmotor betrieben wird. Es arbeitet nur abends, was der Grund dafür ist, dass es auf der Insel kalte Getränke nur spät abends und morgens gibt.

Dann muss auch noch der Felsvorsprung, der „unsere“ Bucht abtrennt, überwunden werden. Im Dunkeln scheint er geradezu alpine Qualitäten aufzuweisen. Hände, Füße und Hosenboden sind gefragt.

Vielleicht war es die aufregende Rückwanderung im Dunkeln – die Kinder jedenfalls fühlen sich in der lichtlosen Strandhütte nun doch nicht recht heimisch. So nutzen wir die Möglichkeit, die uns Nazir bietet, in das „moderne“ Haus hinter dem Strand überzuwechseln, wo es, wenn das Kraftwerk in Betrieb ist, Strom und sogar einen Ventilator, dazu einen eigenen Waschraum gibt. Es ist das neueste und modernste Gebäude weit und breit. Nazir baut offenbar immer wieder mal ein Stück an, sodass ein Gebäude ähnlich den altmalayischen Langhäusern entsteht. Der Teil, den wir bewohnen, ist gerade erst fertig geworden und gibt mit seinen sauberen „Polstermöbeln“ den Kindern ein wenig das Gefühl, in geordneten Verhältnissen zu leben. Nazir setzt offensichtlich auf Wachstum. Man kann nur hoffen, dass seine unternehmerischen Ambitionen vom malayischen Phlegma begrenzt werden.

Der Ausklang des Tages findet, während die Kinder schon schlafen, am stockdunklen Strand statt. Die brechenden Wellen erzeugen weiße Bänder, die rasend schnell den Strand entlanglaufen. Dann geht es ins Bett. Der Schlaf wird gegen 1 Uhr unterbrochen, als die Temperatur in unserer modernen Behausung schlagartig ansteigt. Der Ventilator hat seine Tätigkeit einstellt, weil das Kraftwerk der Bucht abgestellt worden ist.

Der vollständige Text befindet sich auf der Seite IX Reisetagebuch Malaysia 1985 

1857/58 Richard Wagner (1810-1883) Wesendonk-Lieder

Wagner, der in der Hauptsache Vokalmusik komponierte, schrieb die Texte für seine Musik in aller Regel selbst. Die wichtigste Ausnahme von dieser Regel sind die sogenannten Wesendonk-Lieder. Deren Textvorlagen stammen von Mathilde Wesendonk, der Frau des reichen Kaufmannes Otto Wesendonk, welcher den politischen Flüchtling Wagner nach seiner Flucht aus Sachsen im Schweizer Asyl finanziell unterstützte. Die Wesendonks, die an sich aus Deutschland stammten, führten in Zürich ein großes Haus und hielten literarisch-musikalische Gesellschaften ab, zu denen neben Wagner etwa auch Gottfried Keller und Gottfried Semper erschienen. Angeregt durch die Künstler, die in ihrem Haus verkehrten, schrieb Mathilde Wesendonk auch selbst Gedichte. Daß die schwärmerisch-schwermütigen Gelegenheitsdichtungen einer Dilettantin vom Jahrhundert-Musiker Wagner vertont wurden, hatte seinen Grund in der besonderen persönlichen Beziehung zum Komponisten, in der es ziemlich dramatisch zuging.

Ihren Höhepunkt erreichte die Beziehung als Wagner im Spätsommer 1857 der unmittelbare Nachbar der Familie Wesendonk wurde. Seinerzeit bezog der Komponist auf Einladung von Otto Wesendonk mit seiner Frau Minna das „Asyl“, ein älteres Fachwerkhaus, das auf dem Grundstück der imposanten Villa stand, die sich die Wesendonks auf einem „grünen Hügel“ im Stil der italienischen Renaissance erbauen ließen. Über das, was danach geschah, schreibt Wagner später in seiner Autobiographie „Mein Leben“: „Wir waren durch die ländliche Nachbarschaft so nahe gerückt, daß eine starke Vermehrung der Beziehungen bloß durch die einfache tägliche Berührung nicht ausbleiben konnte“. Im Klartext heißt dies, daß Wagner sich endgültig in die fast 20 Jahre jüngere Mathilde verliebte, Besuche, Billette, Botschaften und Briefe hin- und her wechselten, Eifersuchtsszenen in allen Kombinationen abliefen und eben auch Gedichte übergeben und vertont wurden. Welche Hochspannung zwischen Villa und Asyl herrschte, zeigt nicht zuletzt die Tatsache, daß auf dem Hintergrund der Beziehung zu Mathilde Wesendonk Wagners aufregendstes und revolutionärstes Werk, die Oper „Tristan und Isolde“, entstand, in der es um eine Dreiecksbeziehung mit „liebestödlichem“ Ausgang geht.

Das Drama „Richard und Mathilde“ freilich endete so prosaisch wie dies im richtigen Leben eher der Fall zu sein pflegt. An einem Abend im April 1857 diskutierten die beiden Protagonisten über die Frage, wie die Figur des „Faust“ bei Goethe zu beurteilen sei. In der ihm eigenen Art, Hochgeistiges und Persönliches zu vermischen, nutzte Wagner die Auseinandersetzung dazu, seine Eifersucht auf Mathilde Wesendonks jungen italienischen Sprachlehrer De Sanctis zu Ausdruck zu bringen. Dabei muß er ziemlich aus der Rolle gefallen sein. Am folgenden Morgen versuchte er die Scherben mittels eines Briefes zu kitten, den er mit „Morgenbeichte“ überschrieb. Das Schriftstück, das einige interpretationsfähige Formulierungen enthielt – unter anderem tauchte darin mehrfach das Wort „Liebe“ (mit „!“) auf -, wurde von seiner misstrauischen Ehefrau abgefangen. Sie ging damit postwendend zu Mathilde und machte ihr heftige Vorhaltungen. Die Folge war, daß das komplizierte, künstlerisch verbrämte Beziehungsgeflecht zwischen Villa und Asyl zusammenbrach. Wagner floh, Mathilde mit großer Geste entsagend, nach Venedig, wo er die unaufgelöste Liebesspannung in der Weiterführung des Jahrhundertkunstwerkes „Tristan“ sublimierte.

Die Lieder nach den Texten Mathilde Wesendonks sind menschlich und künstlerisch im Kleinen, was der „Tristan“ im Großen ist. Ihre Musik ist weitgehend vom Tonfall, insbesondere von der irisierenden Harmonik der Oper geprägt. Die Lieder „Im Treibhaus“ und „Träume“, die in ihrem schopenhauerischen Pessimissmus und ihrer buddhistisch angehauchten Allmystik der Gedankenwelt des „Tristan“ inhaltlich besonders nahe stehen, sind als Vorstudien zur Oper anzusehen. Wie wichtig der persönliche Hintergrund der Lieder war, offenbart sich nicht zuletzt darin, daß Wagner unter dem Einfluß offenbar noch immer glühender Gefühle – möglicherweise aber auch in weiterhin werbender Absicht – die Rangfolge der Werke seinerzeit auf den Kopf stellte. In einem „Tagebuch für Mathilde“, welches er in Venedig führte, schrieb er: „Besseres als diese Lieder habe ich nie gemacht, und nur sehr weniges von meinen Werken wird ihnen zur Seite gestellt werden können“.

Die Lieder, die zwischen Herbst 1857 und Sommer 1858 jeweils unmittelbar nach der Abfassung der Gedichte meist an einem Tag komponiert wurden, sind ursprünglich für Klavier und Sopran geschrieben. Instrumentiert wurden sie erst später von Felix Mottl. Die Rechtfertigung und das Modell für die Orchesterfassung lieferte Wagner selbst, indem er das Lied “Träume“ für acht Instrumente setzt.  Diese Fassung brachte er Mathilde am Morgen ihres 29. Geburtstages (23.12.1857) als Überraschungsständchen im Treppenhaus der Wesendonk-Villa dar, was beim Hausherrn, der sich auf Geschäftsreise in New York befand, zu einigen Irritationen und in der Züricher Gesellschaft zu allerhand Gerede führte.

Weitere Texte zu Werken Wagners, und rd. 70 weiterer Komponisten siehe Komponisten- und Werkeverzeichnis; zu Mathilde Wesendonk siehe insb. auch  https://klheitmann.com/2008/08/13/1870-richard-wagner-1813-1883-siegfried-idyll-2/

1833 Felix Mendelssohn-Bartoldy (1809 – 1847) – Hebriden-Ouvertüre (Fingalshöhle) Op. 26

Die im Jahre 1833 entstandene Ouvertüre ist die erste, kleinere Reminiszens an die Schottlandreise des Komponisten im Jahre 1829. Der Ouvertüre folgte zunächst kein Nachspiel. Erst neun Jahre später vollendete Mendelssohn seine große „Schottische Symphonie“, als deren Vorspiel man das schon meisterliche Frühwerk ansehen mag.

Die beiden Werke sind wie die Reise selbst der allgemeinen Schottlandbegeisterung geschuldet, die durch die Gedichte des vermeindlichen altnordischen Homers Ossian, die in Wirklichkeit der Schotte James Macpherson Mitte des 18. Jh geschrieben hatte, ausgelöst und durch die historischen Romane Walter Scotts in der ersten Hälfte des 19 Jh. auf den Höhepunkt getrieben worden war.  Mendelssohn war auf seiner Reise unter anderem auch auf der Hebrideninsel Staffa, wo sich eine von natürlichen Basaltsäulen getragene mächtige Meereshöhle befindet, in welche die romantische Phantasie die Wirkungsstätte von Ossians Vater Fingals projeziert hatte. Außerdem besuchte er Scott in Abbotsford, dem mit altschottischen Requisiten angefüllten und mit vielfachen geschichtlichen Anspielungen ausstaffierten nordischen Tusculum des unermüdlichen Romanverfassers, was den jungen Komponisten beeindruckt und in seinen historisierenden Neigungen bestätigt haben dürfte.

Die Ouvertüre schildert in stimmungsvollen Bildern die schottische Landschaft und das Meer. Der Hörer wird schließlich in die sagenumwobene Höhle Fingals geführt, wo der altgälische Held mit seiner Schar außerhalb der Gesellschaft und nach eigenen Gesetzen das der Jagd und dem Befreiungskrieg gewidmete Leben geführt haben mochte, von dem die Romantiker träumten.

Weitere Texte zu Werken Mendelssohns und rd. 70 weiterer Komponisten siehe Komponisten- und Werkeverzeichnis

1846 Felix Mendelssohn – Bartholdy (1809- 1847) – Elias

Nach dem überwältigenden Erfolg seines Oratoriums "Paulus", das beim Niederrheinischen Musikfest des Jahres 1836 in Düsseldorf uraufgeführt worden war, faßte Mendelssohn alsbald den Plan zu einem weiteren Werk dieser Gattung. Neben einem "Petrus" und einem "Saul" schwebte ihm dabei schon früh auch ein "Elias" vor. Mit dem Feuerwettstreit und dem – reichlich blutigen – Kampf gegen die Propheten und Anhänger Baals auf der einen, sowie der Gotteserscheinung und der wunderbaren Himmelfahrt auf der anderen Seite schien die Geschichte des streitbaren Gottesmannes die Mischung von Dramatik und Kontemplation zu enthalten, die ein Oratorium in der Nachfolge Händels erforderte. Mangels eines geeigneten Textbuches kam der Plan jedoch schon bald ins Stocken und blieb fast neun Jahre liegen.

Das Oratorienprojekt kam erst wieder in Gang als Mendelssohn im Sommer 1845 die Einladung erhielt, das Birmingham Musik Festival des Jahres 1846 zu dirigieren und hierbei ein eigenes größeres Musikwerk aufzuführen. Der Komponist nahm dies zum Anlaß, den lang gehegten Plan eines "Elias" in die Tat umzusetzen. Angesichts der Größe des Planes und des Anspruches, so etwas wie ein Opus maximum zu schreiben, geriet er dabei aber in erhebliche Zeitnot. Wegen anderer Verpflichtungen konnte er mit der Komposition des "Elias" erst im Februar 1846  beginnen. Ende Mai 1846 war der erste Teil des Werkes beendet. Am 27.6.1846, zwei Monate vor der Uraufführung, schrieb er an seine Schwester Fanny: "Ein ungeheuer großes Stück vom Elias ist noch aufzuschreiben und in England probieren sie schon am ersten Teile… deshalb schließe ich mich ein und muckse nicht eher wieder bis der Elias fertig ist, was aber noch gute drei Wochen dauern kann". Drei Wochen vor der Uraufführung teilte er nach England mit, daß der letzte Teil des Oratoriums abgeschickt sei und daß die Orchesterstimmen gerade kopiert würden. Eine Arie werde er noch persönlich mitbringen. Der letzte Chorstück traf neun Tage vor der Aufführung in England an.

Mendelssohn kam am 17.8.1846 nach London, wo er noch eine Klavierprobe mit den Solisten und eine Orchesterprobe leitete. Am 23.8.1846 fuhren alle Beteiligten einschließlich der "Gentlemen from the press" mit einem Sonderzug nach Birmingham. Dort fand nach zwei weiteren Proben am Morgen des 26.8.1846 im überfüllten Saal des Rathauses mit 396 Mitwirkenden, darunter 271 Sängern, die Uraufführung statt. Das Publikum war von dem Werk begeistert. Auf sein Verlangen mußten acht Stücke wiederholt werden. Die "Times" berichtete, daß "die letzte Note des Werks in lang anhaltendem einvernehmlichen Beifall, brüllend und taubmachend, ertränkt" worden sei.

Kurz nach der Uraufführung wurde das Werk, dessen Ruhm sich schnell über Europa verbreitete, noch mehrfach in England, darunter auch vor Queen Victoria und Prince Albert gespielt. In Holland bereitete man sofort Aufführungen in fünf Städten vor. Aus Österreich erhielt Mendelssohn das Angebot, das Werk möglichst noch im November 1846 mit 1000 Musikern aufzuführen. Der Komponist lehnte jedoch eine weitere Aufführung zunächst ab. Wie viele seiner Werke nahm er auch den "Elias" nach der Uraufführung noch einmal gründlich in die Werkstatt, wobei er einige Stücke anfügte und die dramatischen Partien überarbeitete. Die endgültige – deutsche – Fassung war schließlich im Februar 1847 fertiggestellt. Sie  kam in  Abwesenheit des Komponisten zuerst am 9. Oktober 1847 in Hamburg zu Gehör. Mendelssohn selbst wollte die neue Fassung erstmals im November 1847 in Wien dirigieren. Kurz davor erlitt er jedoch einen Gehirnschlag in dessen Folge er am 4. November 1847, wenige Tage vor der geplanten Aufführung, verstarb.

Das Textbuch des "Elias" folgt im wesentlichen der episodenhaften Schilderung des Lebens und Wirkens des Propheten Elias im alttestamentarischen Buch der Könige. Ausgangspunkt ist, daß das Volk Israel unter der Führung seines Königs Ahab von Jehova abgefallen war und sich dem Baal der Sidonier zugewandt hatte, von denen Ahabs Frau, Isebel, stammte. Gott strafte das Volk deswegen mit einer drei Jahre währenden Dürre, die Elias am Anfang des Oratoriums verkündet. Elias selbst wird gerettet, indem er von Raben am Bach Krith und, nachdem auch dieser ausgetrocknet war, von einer Witwe versorgt wird. Im Haus der Witwe findet das erste Wunder statt. Elias erweckt den verstorbenen Sohn der Witwe wieder zum Leben. Nach Ablauf der drei Dürrejahre fordert Elias, der einzige verbliebene Prophet Jehovas, König Ahab auf, die 450 Propheten Baals und ganz Israel auf dem Berg Kamel zu versammeln, wo man bei einem Opferwettstreit prüfen wolle, welcher der wahre Gott sei. Die Prüfung – beide Parteien hatten von ihrem "Gott" um Feuer für ihr Opfertier zu bitten – geht zu Gunsten Elias aus, der daraufhin die Propheten Baals am Bach Kison tötet. Die Szene ist der dramatische Höhepunkt des Oratoriums. Mit der Wiederkehr des Regens wird der erste Teil des Werkes beendet.

Im zweiten Teil wird die Auseinandersetzung zwischen Ahab und Elias weitergeführt. Isebel hetzt das Volk gegen Elias auf, worauf sich dieser resigniert in die Wüste zurückzieht. Dort fordern ihn Engel auf, den Berg Horeb zu besteigen. Nach einer Wanderung von 40 Tagen und Nächten gelangt Elias auf den Berg, wo ihm der Herr erscheint. Danach steigt Elias hinab in das Land Israel und nimmt den blutigen Kampf gegen den Götzendienst wieder auf, bei dem nur die 7000 Israeliten überleben sollten, die Jehova treu geblieben waren. Das Leben des Propheten endet damit, daß er mit einen feurigen Wagen, der von ebenso feurigen Rossen gezogen wird, in den Himmel auffährt. Am Schluß des Oratoriums werden Bezüge zum Neuen Testament und zum Kommen Christi hergestellt, als dessen Künder Elias erscheint.

Wie mit dem "Paulus" schuf Mendelssohn mit dem hochdramatischen "Elias" ein Oratorium für die Bedürfnisse seiner Zeit. Beide Werke knüpfen zwar an die barocke Oratorientradition an, führen diese jedoch in der Sprache der Frühromantik fort. Dem entsprechend wurden sie von den Zeitgenossen mit Begeisterung aufgenommen. Sie sollten in der Singbewegung des 19. Jahrhunderts eine herausragende Rolle spielen. Mit der Wiederentdeckung der großen barocken Oratorien insbesondere Bachs und Händels, an der Mendelssohn entscheidend beteiligt war, ließ das Interesse an den beiden Werken im späten 19. Jahrhundert nach. Weitgehend in Vergessenheit gerieten sie in Deutschland im Zuge des Aufführungsverbotes während der Zeit des Nationalsozialismus, um in den letzten Jahrzehnten eine um so machtvollere Renaissance zu erleben.

Weitere Texte zu Werken Mendelssohns und rd. 70 weiterer Komponisten siehe Komponisten- und Werkeverzeichnis