Was eine Milonga ist, erfuhren wir von Cristina. Wir lernten Cristina an einem heißen Sommertag in einem der Restaurants kennen, die sich um die prachtvolle gusseiserne Markthalle aus dem 19. Jahrhundert in der heruntergekommenen Altstadt von Montevideo angesiedelt haben. Sie saß am Nachbartisch und machte uns in gutem Englisch darauf aufmerksam, dass wir als Folge unserer begrenzten Kenntnisse der spanischen Sprache gerade eine in vollendeter Höflichkeit vorgetragene Einladung des Kellners zu einem kostenlosen Glas Wein abgelehnt hatten. Cristina schien irgendwo zwischen vierzig und fünfzig Jahre alt zu sein. Sie hatte schwarze Haare, war klein und zierlich und sah ganz so aus, wie man sich eine Argentinierin vorstellt (obwohl beileibe nicht alle Argentinierinnen so aussehen). Sie hatte die Figur einer Fünfzehnjährigen und trug entsprechend kurze, abgeschnittene Jeans. Mit ihr am Tisch saßen zwei ältere Herren, die sich sehr ernst über Politik unterhielten.
Im Laufe des Essens kamen wir mit Cristina ins Gespräch. Es stellte sich heraus, dass sie aus Buenos Aires war, wo wir gerade herkamen, und Urlaub im uruguayischen Nobelbadeort Punta del Este gemacht hatte, der uns, weil jeder davon schwärmte, als nächstes Reiseziel vorschwebte. Wie alle Argentinier wollte Cristina wissen, wie wir ihr Land und insbesondere wie wir Buenos Aires fanden. Und wie die meisten Argentinier gab sie uns bereitwilligst Hinweise darauf, was wir in ihrem Land unbedingt sehen oder erleben sollten. Dabei kamen wir, wie nicht anders zu erwarten, auch auf den Tango zu sprechen. Bei diesem Thema wurde Cristina noch lebhafter und offener als sie es ohnehin schon war. Tango, so begründete sie ihre Begeisterung, sei schließlich das einzige, was die Argentinier wirklich ganz ihr Eigen nennen können. Sie fragte uns auch, ob wir in Buenos Aires schon Tango gesehen hätten. Wir nannten Veranstaltungen, wie sie im wesentlichen den Touristen angeboten werden – unter anderem hatten wir ein Tango-Musical mit dem Namen „Passiones Argentinas“ in einem schönen alten Theater und eine Tango-Vorführung in einem Nebenzimmer des prachtvoll-altmodischen Café Tortoni besucht. Beide waren voller Kraft und Temperament, aber reichlich laut und mit Tanzeinlagen garniert, bei denen man sich gelegentlich fragte, wie es den Tänzern gelang, eine Verknotung ihrer Glieder zu vermeiden. Cristina meinte, das sei nicht der richtige Tango. Tango müsse man bei einer Milonga erleben. Dort träfen sich die Portenios, wie die Einwohner von Buenos Aires genannt werden, um ganz ohne Show nur für sich den klassischen Tango zu tanzen.
Einmal beim Thema Milonga angelangt, war Cristina kaum mehr zu bremsen. Mit allen Mitteln versuchte sie uns davon zu überzeugen, dass wir eine Milonga besuchen müssten. Gerade jetzt lohne sich dies, da dort zur Zeit in einer Art Wettbewerb die besten Tänzer der Stadt ermittelt würden. Für einen Fremden sei es allerdings nicht ganz einfach, diese Veranstaltungen zu finden, da sie jeden Abend an einem anderen Ort stattfänden. Wortreich versuchte sie uns zu klar zu machen, wo wir die nötigen Informationen zur Ermittlung der Lokalitäten erhalten könnten. Schließlich lief sie zu ihren Auto und holte daraus eine Zeitschrift mit dem Namen „Tango“, in der die Termine für die Milongas der kommenden Woche veröffentlicht waren. Sie strich die Veranstaltungen für den Tag, an dem wir wegen eines Fluges wieder in der Stadt sein mussten, an, und trug den Ort der Handlung unter zahlreichen Erläuterungen in unsere Stadtkarte ein. Am besten sei die Milonga im „Salon Canning“, wo es einfach zauberhaft sei. Die Veranstaltung beginne gegen elf Uhr abends. Wenn wir nicht wesentlich früher kämen, müssten wir einen Tisch reservieren.
Als wir uns von Cristina verabschiedeten, meinte sie, wir würden uns, wenn wir in den Salon Canning gingen, dort wahrscheinlich wiedersehen. Sie gehe zwei bis drei Mal in der Woche zu einer Milonga. Dann gab sie uns, für den Fall, dass wir noch Fragen hätten, ihre Visitenkarte. Darauf war als Berufsbezeichnung „Directora“ angeben. Auf unsere Frage, was dies bedeute, sagte sie beiläufig, sie sei Besitzerin einer Radiostation.
Drei Tage später waren wir wieder in Buenos Aires. Wir hatten den Plan einer Fahrt nach Punta del Este aufgegeben, nicht zuletzt weil der Ort nach der Schilderung Cristinas auch nicht viel anders sein sollte, als die bekannten Badeorte am Mittelmeer. Stattdessen hatten wir das ehemals portugiesische Städtchen Colonia am uruguayischen Ufer des Rio de la Plata besucht. In einer der malerischen Gassen der alten Schmugglerstadt sprach uns ein Mann aus Buenos Aires in der leutseligen Art der Argentinier an und fragte wieder einmal danach, wie wir sein Land fänden. Als wir zum Thema Tango kamen, meinte er, er möge diese Musik nicht besonders, sie sei ihm zu pessimistisch: einmal verliere jemand seine Geliebte, ein anderes Mal finde er keine, dann wieder sterbe einer Mutter das Kind weg und wenn dies nicht der Fall sei, sterbe gewiss die Mutter und hinterlasse ein Kind – es gebe einfach zu viele Schicksalsschläge. Dagegen lobe er die Brasilianer, die ihren Samba hätten, bei dem es immer fröhlich zugehe. Was der Mann sagte, stand ganz im Gegensatz zu dem, was wir von einem Anwalt aus Cordoba gehört hatten, den wir im Café Tortoni kennen gelernt hatten. Nachdem dieser das übliche Klagelied über die desolaten Verhältnisse der argentinischen Politik abgesungen hatte, geißelte er die mangelnde Ernsthaftigkeit seiner Landsleute und lobte die Brasilianer, weil bei ihnen nach vierzehn Tagen außerordentlich heftigen Karnevalsfeierns Schluss sei; in Argentinien hingegen sei das ganze Jahr über Karneval.
Von Colonia waren wir nicht, wie die meisten Reisenden, auf dem direkten Weg quer über den Rio de la Plata nach Argentinien zurückgekehrt. Vielmehr hatten wir uns der (Tango)Metropole in einem großen Bogen nach Nordwesten durch die weitläufige Inselwelt genähert, in der sich die riesigen Flüsse „Uruguay“ und „Paraná“ auflösen, bevor sie den gewaltigen Süsswassermeerbusen des Rio de la Plata bilden. Wir hatten den letzten Tag, an dem das Thermometer auf 37 Grad und das Hygrometer auf 100 Prozent stieg, im Delta des Paraná vor den Toren von Buenos Aires verbracht, an dessen weitverzweigten Kanälen die Sommerhäuser der wohlhabenderen Portenios inmitten von prachtvollen Gärten, hier und da allerdings auch gewaltige Schrotthaufen von abgewrackten Schiffen liegen. Dort schippert man mit dem Boot zu wunderbar gelegenen Gartenrestaurants, aus denen immer laute Musik schallt, oder trifft sich in den riesigen Yacht- und Ruderclubs, die im Stile venezianischer Paläste oder englischer Landhäuser gebaut sind.
Abends fuhren wir mit dem eleganten Küstenzug durch die Villenvororte der Stadt mit ihren wohlgepflegten, stilvollen kleinen Bahnhöfen. In Maipu wechselten wir in die wesentlich gewöhnlichere Vortortbahn, die durch endlose Hochhausviertel mit weniger stilvollen Haltestellen und entlang von Bahndammslums zum gigantischen Bahnhof von Retiro fuhr, der wiederum wie das Rathaus einer größeren französischen Stadt aussieht. Als wir in die glühende Altstadt kamen, zogen erste Gewitterwolken auf. Auf der „Avenida Florida“, der Einkaufsmeile der Stadt, tanzte vor der neobarocken Shoppingtherme des „Pacific“ ein Mann im dunklen Anzug mit einer spärlich bekleideten jungen Dame zum Vergnügen zahlreicher Passanten einen lasziven Tango, bis ein Regenschauer die Menge vertrieb. Tango dröhnte hier auch aus verschiedenen CD-Läden.
Gegen acht Uhr speisten wir- offenbar viel zu früh, denn wir waren die einzigen Gäste – in einem großen Restaurant der Altstadt mit dem Namen „Los Immortales“, der außen zwanzig Meter hoch in senkrechten Lettern an der Fassade des Gebäudes angebracht war. Innen waren die Wände mit Fotos von den „unsterblichen“ Tangogrößen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts geschmückt, gut aussehende Männer mit glatt gekämmten Haaren in mittleren Jahren, allen voran der ewig jugendliche Carlos Gardel, der, aus einfachsten – übrigens französischen – Verhältnissen kommend mit dem Tango Weltruhm erlangte. Er wurde durch seinen frühen Unglückstod im Jahre 1935 ähnlich unsterblich wie Argentiniens gute Fee Eva Peron, die Wohltäterin der Armen, die in noch jüngeren Jahren verstarb. Im Hotel zogen wir unsere verknitterten Ausgehkleider aus dem Rucksack und bestellten um zehn Uhr ein Taxi. Der Taxifahrer war erstaunt, als wir den „Salon Canning“ im gutbürgerlichen Stadtteil Palermo als Fahrziel nannten. Fremde, meinte er, würden kaum jemals dorthin hingefahren werden wollen.
Während der Fahrt durch die lebhaften Avenuen der Stadt benannte uns der Taxifahrer in einer holprigen Mischung aus Spanisch und Englisch die großen Gebäude, an denen wir vorbeikamen. Aus den eher feierlich-strengen, meist neobarocken oder neoklassizistischen Prachtbauten französischer Prägung ragte wie ein Solitär das farbenreiche Gebäude der städtischen Wassersorgung heraus, das einen ganzen Straßenblock einnimmt. Die Elemente der europäischen (Bau)Tradition sind hier so außerordentlich dicht und in immer neuen und überraschenden Variationen aufeinandergehäuft, dass man von einem architektonischen Tango sprechen könnte. Über einem Portal war die Jahreszahl 1887 eingemeißelt, was ungefähr dem Zeitpunkt entspricht, zu dem sich der Tango nicht zuletzt unter Geburtshilfe italienischer Einwanderer aus verschiedenen Vorgängertänzen entwickelte. Nach zwanzig Minuten hielt das Taxi vor einem nicht weiter auffälligen Haus. Wir glaubten zunächst, dass sich der Taxifahrer geirrt habe. Kein Mensch war zu sehen. Es war auch kein Salon zu erkennen. Wir befanden uns am Anfang eines langen schmucklosen Ganges. Vom anderen Ende war allerdings Tangomusik zu hören.
Das Etablissement, in das wir am Ende des Ganges nach Zahlung eines Obolus von rund zwei Dollar traten, hatte nichts vom Stil der repräsentativen Großbauten von Buenos Aires oder gar des Cafés Tortoni mit seinen prachtvollen Säulen, verspielten Lampen und leuchtenden Buntglasdecken. Es ähnelte eher einer Schulturnhalle, die zum Schulfest hergerichtet worden war. Im Grunde war es nicht mehr als ein schmuckloses Rechteck von etwa 30 auf 30 Metern, in dessen Mitte sich ein Parkettboden befand, über dem ein paar Lautsprecher hingen. Um diesen Parkettboden herum waren zwei Reihen Tische mit nicht sonderlich bequemen Caféhausstühlen aufgestellt, die alle leer waren. Immerhin war der Raum klimatisiert, was angesichts der Schwüle, die nach dem außerordentlich heißen Tag noch überall in der Stadt hing, einigermaßen erfrischend war. An den Wänden hingen großformatige, ziemlich skurile Gemälde aus neuerer Zeit, auf denen Figuren in allerhand verbogenen Stellungen zu sehen waren. Auf einem Bild konnte man Gardel ausmachen. Bei näherem Hinsehen zeigte sich, dass fast alle Tische reserviert waren. Wir bekamen – unmittelbar vor dem Platz, der für ein Orchester vorgesehen war – einen der wenigen Tische zugeteilt, die noch frei waren und harrten der Dinge. Diese waren einstweilen noch wenig aufregend.
Auf dem Parkett betätigten sich ein bis zwei Dutzend Paare in mehr oder weniger alltäglicher Aufmachung bei Musik aus den Lautsprechern nach den Anweisungen einer Lehrerin. Sehr meisterlich sah das Ganze nicht aus. Für den Tangolaien hatte es allerdings den Vorteil, dass man die komplizierten Schrittfolgen des Tanzes in sezierter Form präsentiert bekam. Außerdem wurden die subtilen Schwierigkeiten gerade dadurch deutlich, dass Manches misslang. Allerdings fürchteten wir, unsere Zeit und unser Eintrittsgeld für eine bloße Tanzstunde bezahlt zu haben, an der wir schon mangels entsprechender Vorkenntnisse, die, wie sich aus einem Aushang ergab, bei den Teilnehmern vorausgesetzt wurden, nicht hätten teilnehmen können.
Um elf Uhr allerdings verwandelte sich die Szene. Die Lehrstunde war beendet, weitere Gäste kamen und man fing an, ernsthaft zu tanzen. Und es sollte in der Tat ernsthaft werden. Nach Regeln, die wir einstweilen noch nicht durchschauten, trafen sich die Partner, um jeweils eine Anzahl von Tänzen zu bestreiten. Bevor es losging, lauschten die Paare, die Oberkörper aneinandergelehnt, schweigend eine paar Takte in die Musik hinein. Dann gab der Mann entschlossenen den Impuls zu den ersten Schritten, bei denen dann aber auch schon alles stimmte. In den Gesichtern der Tänzer spiegelte sich nun höchste Konzentration. Die Frauen schlossen die Augen und lehnten die Stirn an den Kopf des Mannes. Die Schritte beherrschten sie offensichtlich im Schlaf. Die Verantwortung für das Gelingen der Figuren und für die havariefreie Navigation über das Parkett lag allein beim Mann. Dementsprechend setzte dieser eine sehr ernste Miene auf. Gesprochen wurde während des Tanzes nicht. Allenfalls in den kurzen Pausen zwischen den einzelnen Tänzen wechselte man ein paar Worte. Was die Damen von den Herren hielten, ließ sich allerdings, insbesondere soweit es sich um Zustimmung handelte, an ihrer sehr beredten Körpersprache ablesen. Eine Dame mittleren Alters mit großer blonder Mähne und frischem Urlaubsbraun war gar so beigeistert, dass sie während der ganzen Tanzrunde die Zähne fast bis zu den Ohren freilegte.
Allen rhythmischen Raffinessen der Musik zum Trotz zelebrierten die Tänzer keine aufwendigen Figuren oder extreme Wendungen; höchstens dass die Dame einmal gemessen eine Kadenz ausdrehte und dabei die Beine anwinkelte oder sich stocksteif über das Parkett schleifen ließ. Die Musik war nicht annähernd so argentinisch passioniert und laut wie bei den Veranstaltungen, die wir zuvor besucht hatten. Sie hatte geradezu etwas Lässiges. Grosse Schicksalsschläge wurden offenbar nicht besungen. Der elegische Tonfall, den wir Europäer eher mit dem Tango verbinden, war allenfalls andeutungsweise zu hören. Die Tänze endeten meist urplötzlich, indem die Musik unvermittelt und ohne Schlusspunkt einfach zum Stillstand kam. Die Paare schien die nicht zu überraschen. Immer gelang ihnen ein vollkommen harmonisches Bremsmanöver. Nach einigen Tänzen tönte eine Art Sirene und es wurde eine Musik eingespielt, die völlig unpassend wirkte. Dann begab man sich getrennt an die Tische und hielt Ausschau nach einem Partner für die nächste Runde.
Die Damen betätigten dabei ihre Fächer und nippten an Sektgläsern. Die Herren tranken meist Wasser, das in Plastikflaschen serviert wurde, und blickten sehr aufmerksam in die Runde. Im Laufe der Zeit füllte sich der Raum und es kam mehr Bewegung in das gepflegte Treiben. Einige jugendliche Könner zeigten, dass man auch auf gemessene Weise spektakuläre Figuren hinlegen kann. Um Mitternacht waren alle Tische besetzt. Gegen ein Uhr war der „Salon“ voll. Viele der Anwesenden, die aus allen Altersgruppen stammten, waren miteinander bekannt. Man begrüßte sich mit großem Hallo. Unter den Ankömmlingen waren einige, die offensichtlich sehr angesehen waren. Dazu gehörten insbesondere einige ältere Herren. Sie lösten mit einer Aufforderung zum Tanz auch bei jüngeren Damen so etwas wie Verzückung aus.
Auf einmal war Cristina da. Wir hatten sie in ihrem schwarzen, hautengen Outfit zunächst gar nicht gesehen. Sie löste sich plötzlich von einem Tanzpartner und fiel uns um den Hals, als seien wir alte Bekannte. Mit argentinischem Überschwang drückte sie ganz ungebremst ihre Freude darüber aus, dass sie uns wiedersah. Dann wickelte sie noch den laufenden Tanz ab und ließ sich mit einer Freundin und einem Glas Sekt an unserem Tisch nieder. Von diesem Moment an bekamen unsere Beobachtungen Richtung und Sinn.
Zunächst erfuhren wir von Cristina, dass eine Tanzrunde immer aus drei Blöcken zu je vier Tänzen zusammengesetzt ist. Davon enthält nur einer Tangos. Die beiden anderen Blöcke bestehen aus – meist schnellen – Walzern und aus Milongas, einem – ebenfalls schnellen – Tanz mit afrikanischen Wurzeln, welcher der Veranstaltung den Namen gibt. Erst nach dieser Erläuterung fiel uns auf, dass die Figuren dieser Tänze anders als die des eigentlichen Tango waren – was aber insbesondere beim Walzer nichts daran änderte, dass es aus unserer Sicht immer noch ziemlich lateinamerikanisch, um nicht zu sagen tangoartig wirkte.
Erhellend war auch, was uns Cristina zum Problem der Kontrolle der erotischen Aspekte des Tanzes sagte, der ja als der erotischste aller Tänze gilt. Zu den eisernen Regeln einer Milongaveranstaltung gehöre, dass man an einem Abend nie mehr als drei Runden mit dem gleichen Partner tanze; ausgenommen davon seien nur Paare, die aber selten seien. Man gehe nicht mit seinem (Ehe)Partner zu einer Milonga, man suche aber auch keinen Partner für die Dauer. Auch der Körperkontakt sei streng begrenzt. Man berühre sich nur am Oberkörper, mit dem Mann im übrigen den Tanz steuere. Damit hatten wir die Erklärung für die merkwürdige Pyramidenform, welche die Tanzpaare bildeten.
Für die menschlichen Probleme, die mit der Partnerwahl verbunden sein können, hat sich eine argentinisch-weiche Lösung herausgebildet. Da man den Beteiligten möglichst die Peinlichkeit der Erklärung oder des Empfangs einer Absage ersparen wolle, verständige man sich zunächst über Augenkontakt. Mangelndes Interesse werde durch Verweigerung des Augenkontaktes signalisiert. Jetzt wurde uns klar, warum in den Pausen ein allgemeines Beäugen begann. Gleichzeitig war an der Art, in der die Protagonisten um sich schauten, zu erkennen, wer im Salon etabliert war und wer zu den Aufsteigern gehörte. Einige ältere Herren – sie waren an einem strategisch günstig gelegenen Tisch versammelt – hatten es nicht nötig, lange umherzuschauen. Sie wussten offensichtlich, dass sie immer zum Zuge kamen. Cristina erläuterte uns, dass dies die Tangohelden der Stadt seien. Jede Frau würde gerne von Ihnen aufgefordert werden. Es handele es sich häufig um Männer aus einfachen Verhältnissen, die aber, weil sie die alte Tango-Kultur repräsentierten und beim Tanz absolut sicher führten, auch bei den Damen der Gesellschaft hohes Ansehen genössen. Cristina deutete insbesondere auf einen glatzköpfigen Mann in schwarzer Kluft, der weit über siebzig Jahre alt sein musste. Er sei einer der bekanntesten Tänzer der Stadt, tanze aber, zumal er sehr krank sei, nur noch sehr wenig. Mit einem Anflug von Bescheidung meinte sie, sie habe noch nie die Ehre gehabt, von ihm aufgefordert zu werden. Kurze Zeit später bemerkte ich, wie der Mann mit einer jener jugendlichen Könnerinnen tanzte, die mir dadurch aufgefallen war, dass sie besonders brilliante Figuren auf das Parkett zauberte. Jetzt führte der alte Herr das junge Fohlen in höchstem Maße versammelt durch das Gedränge. Als besonders gute Tänzerin bezeichnete uns Cristina eine nicht mehr ganz junge Frau, die ganz in rot gekleidet war; sie sei Tangolehrerin. Diese Dame drehte ihre Kreise im Zustand überirdischer Entspannung. Einmal in den Armen eines Mannes schien sie in Trance zu fallen.
Unterdessen kam Cristina vor lauter Erläuterungen gar nicht dazu, sich in ausreichendem Maße an dem System des Signalisierens von Tanzbereitschaft zu beteiligen, das ein ständiges Beobachten der Lage erfordert. Wir mussten sie mehrfach auffordern, doch das tun, weswegen sie eigentlich hierher gekommen war. Auch ihre Freundin hatte schon bemerkt, dass die intensive Beschäftigung mit uns diesem Ziel zuwiderlief, weswegen sie unseren Tisch wieder verlassen hatte. Auf unsere Aufforderung schloss sich Cristina ihr an. Nach kurzer Zeit war sie aber wieder zurück und erklärte, sie habe gestern Abend schon von sieben bis ein Uhr getanzt, sie könne heute auch einmal Pause machen. So erfuhren wir noch einiges mehr über die Besonderheiten einer Milonga – und über Cristina.
Zu unserem Erstaunen erzählte uns Cristina, dass die Anzahl der Milonga-Tänzer in der Riesenmetropole Buenos Aires nicht sonderlich groß sei. Es sei ein relativ geschlossener Kreis, in dem man immer wieder die gleichen Personen treffe. Auch das Spektrum der Musik, das Verwendung finde, sei begrenzt. Man pflege den lockeren Stil der klassischen Zeit des Tango, im wesentlichen die Musik der vierziger Jahre des letzten Jahrhunderts, als sich der Tango endgültig aus Schmuddelvororten wie San Telmo oder Boca, wo er entstanden war, gelöst und, ähnlich wie hundert Jahre zuvor der Wiener Walzer, in der „besseren“ Gesellschaft (des Zentrums von Buenos Aires) etabliert hatte. Mit dem Tango Nuevo eines Astor Piazolla etwa, den man in Europa so schätzt, habe das nicht viel zu tun, da man auf diesen nicht tanzen könne. Im allgemeinen gehe es bei den Milongas nicht sonderlich großartig zu. Die meisten Lokalitäten, in denen sie abgehalten würden, seien deutlich weniger komfortabel als der „Salon Canning“. Meist gebe es kein Tanzparkett und keine Klimatisierung. Mir kamen dabei zwei einstmals prachtvolle Hotels in der Nähe von Cordoba in den Sinn, die wir zwei Wochen zuvor gesehen hatten. In La Falda steht in einem verwilderten Park das monumentale Hotel „Edén“, das einen großen, säulengestützten Tanzsaal besitzt, der heute düster und feucht wir eine altrömische Zisterne ist. Der Riesenbau ist im Verfall begriffen; nur in einem Flügel betreibt man heute noch ein ziemlich rustikales Café. Schlechter noch steht es mit dem weitläufigen „Sierra-Hotel“ im Höhenkurort Alta Gracia, wo sich in den dreißiger und vierziger Jahren die reichlich vorhandene Geldaristokratie des Landes zum einem offenbar immerwährenden Tanzvergnügen traf (auch der spanische Komponist Manuel De Falla verbrachte hier seine letzten Lebensjahre). Zu denen, die hier täglich bis zum Morgengrauen tanzten, gehörten auch die Eltern von Che Guevara, der unweit des Hotels aufwuchs, wobei er vermutlich erstes Anschauungsmaterial für seine sozialrevolutionären Ansichten gewann. Das Etablissement, dessen gepflegte Heiterkeit man heute noch ahnen kann, ist völlig verwaist; seine Kolonnaden sind leer, der Park ist vernachlässigt und der riesige Tanzsaal, der in einem eigenen Pavillon untergebracht war, ist eine Ruine, auf deren Boden zerbrochen die Ornamente liegen, welche in den goldenen Zeiten Wände und Decke schmückten.
Wir fragten natürlich nicht, wie eine Frau in Cristinas Alter dazu kommt, so häufig zu Milongas zu gehen. Cristina erzählte uns aber im Laufe des Abends einiges, was uns wie eine Erklärung für ihre Tanzleidenschaft vorkam. Sie berichtete, sie sei die Mutter von vier erwachsenen Kindern. Drei ihrer Kinder seien weit verstreut in der Welt. Ihr ältestes Kind, das bereits 32 Jahre alt sei, leide unter dem Down Syndrom und wohne – übrigens zu ihrer großen Freude – bei ihr. Mit einem Unterton von Selbstbehauptung sagte sie, dass sie vor drei Jahren – nach einer Ehe von fast drei Jahrzehnten – „aus dem ehelichen Haus gegangen“ sei. Begeistert sprach sie von ihrer Radiostation, bei der es sich um einen privaten Sender für Palermo handele, einem Stadtteil, der größer sei als die meisten großen Städte in Europa und um einiges größer als die Stadt, von der er seinen Namen bezogen habe. Über ihre Station würden mehr als siebzig Programme jeglichen Inhaltes ausgestrahlt. Für das Konzept des Senders, der privaten Interessenten gegen Entgelt Sendezeit zur Verfügung stelle, habe sie vor wenigen Monaten in Barcelona den renommierten Ondas-Preis verliehen bekommen. Stolz sagte sie, seinerzeit sei ihr Bild in allen Zeitungen des spanischen Sprachraumes zu sehen gewesen.
Zwischendurch wandte sich Cristina, da ihr das übliche Anbahnungsverfahren angesichts unserer Anwesenheit zu aufwendig war, einem einfach aussehenden Mann zu, der am Nachbartisch saß und der sich, sei es aus Mangel an Erfolg oder Desinteresse bisher wenig am Tanzgeschehen beteiligt hatte. Er ging sofort auf sie ein, übernahm auf dem Parkett alsbald die Führung und die beiden verschwanden in pyramidenförmiger Haltung im Gedränge. Hinterher erklärte uns Cristina, es sei ungewöhnlich, dass eine Frau den Mann zum Tanz auffordere. Darauf könne er nun stolz sein. Besonders stolz müsste er demnach darauf gewesen sein, dass er später noch für eine weitere Runde zum Zuge kam.
Während unserer Unterhaltung, bei der wir nie vergaßen, die jeweils neuesten Paarungskonstellationen und deren tänzerische Leistungen zu begutachten, begann man unmittelbar hinter uns damit, ein Tangoorchester aufzubauen. Schon vor Mitternacht werkelten einige Herren in schwarzen Anzügen an Mikrofonen, elektrischen Leitungen und Notenständern. Gegen ein Uhr war alles aufgebaut und die Mitglieder des Orchesters, vier Geiger, ein Pianist, ein Baßgitarrist und zwei Bandoneonspieler, waren einsatzbereit auf ihren Plätzen. Aus Gründen, die wir nicht erkennen konnten, kamen sie jedoch vorläufig nicht zum Einsatz. Immer wieder starteten neue Zwölferrunden aus dem Lautsprecher. Die Musiker, die sich, da die Temperatur im Saale ständig anstieg, inzwischen ihrer schwarzen Jacken und Krawatten entledigt hatten, wurden ungeduldig. Einige hielten ihre Finger dadurch warm, dass sie einfach in die Musik aus der Konserve hineinfingerten. Hier und da spielten sie die laufende Musik auch mit. Auch wir wurden langsam unruhig, zumal wir am nächsten Morgen ziemlich früh zum Flughafen mussten. Da wir uns aber das Erlebnis eines größeren Tango-Orchesters am Ort der Entstehung der Gattung nicht entgehen lassen wollten, warteten wir weiter ab.
Nach schier endlosen weiteren Tanzrunden wurde das Orchester mit einer kleinen Rede begrüßt und konnte loslegen. Es war inzwischen Viertel nach zwei Uhr. Die Herren in den weißen Hemden legten ein schwungvolles Anfangsstück auf und hatten das Publikum sofort auf ihrer Seite. Ohne große Pause ging es weiter mit dem nächsten Stück, auch dieses von großer Vitalität und Beweglichkeit. Und so folgte ein Tanz nach dem anderen. Im Mittelpunkt standen die beiden Bandoneonspieler, Herren um die sechzig Jahre alt, die sich lustvoll die Bälle zuwarfen. Sie beherrschten das Geschehen mal mit weitschwingenden Kantilenen, mal mit diffizilem Passagenwerk, dazwischen aber immer wieder mit unerbittlich präzisen Rhythmen und scharfen synkopischen Einwürfen, bei denen sie ihr Instrument leicht federnd oder kraftvoll auf die Knie schlugen. Die Geigen trugen fast nur rhythmisches Füllwerk und Unisono-Passagen bei, in denen mehr oder weniger das wiederholt wurde, was die Bandonieros schon vorgetragen hatten. Klavier und Bassgitarre unterstützten das Ganze mit Harmonietönen und gelegentlichen Solos. Das Spiel der zehn Herren wurde im Laufe der Zeit immer turbulenter. Sie steigerten sich in einen Rausch. Von der Sentimentalität oder Melancholie, die man dem Tango gerne nachsagt, war weder etwas zu sehen noch zu hören. Das Publikum, das nach der Musik offensichtlich bestens tanzen konnte, war begeistert und quittierte die Darbietungen des Orchesters mit immer lauteren Beifallskundgebungen.
Eine gute halbe Stunde nachdem man begonnnen hatte, war dann aber schon wieder alles vorbei. Nach einem rasanten Finalstück packten die Herren ihre Instrumente ein. Die Milonga im „Salon Canning“ ging ihrem Ende zu. Cristina sagte, die wahren Enthusiasten, zu denen sie – heute – aber nicht gehöre, da sie am nächsten Morgen wieder in ihre Radiostation müsse, gingen nun an einen anderen Ort und tanzten weiter bis zum Frühstück.
Auch wir brachen auf, kamen allerdings nicht weit. Draußen führte der argentinische Wettergott einen passionierten Tanz auf, als wolle er demonstrieren, dass er mit der Beendigung der Vorstellung nicht einverstanden sei. Die gewaltigen atmosphärischen Spannungen des Tages entluden sich in einem ebenso großen Gewitter. Durch die Straßenschluchten von Palermo zuckten die Blitze und krachten die Donnerschläge wie die synkopischen Einwürfe der Bandoneons im Salon. Der Regen schoss in solchen Mengen vom Himmel, dass es unmöglich war, zu einem Taxi am Straßenrand zu gelangen, ohne vollständig durchnässt zu werden. Vorläufig war ein Taxi allerdings auch nicht zu haben, da unter diesem Umständen unzählige nachtschwärmerische Portenios nach einem solchen Gefährt verlangten. Cristina versuchte mit ihrem Handy immer wieder vergeblich, die Taxizentrale zu erreichen.
Gemeinsam mit den Herren vom Orchester, die sehr aufgeräumt parlierten, und zahlreichen Tänzern warteten wir in dem Gang, der zum Salon führte in der Hoffnung, dass die Kraft des Wettergottes nachlasse. Dieser hatte sich aber die Ausdauer der Tangotänzer zum Vorbild genommen und legte, kaum dass man den Eindruck einer Abschwächung seiner Vitalität gewonnen hatte, immer wieder nach. Von einem unvermittelten Stillstand oder einem harmonischen Bremsmanöver wollte er nichts wissen. Als sich nach einer Stunde – mittlerweile war es vier Uhr – die Chance auf einen Transport bot, ergriffen wir die Gelegenheit, wobei uns und unserer Ausgehkleidung eine Vollwäsche (mit anschließender Körpertrocknung) zu Teil wurde. Cristina ließ es sich, obwohl sie wesentlich empfindlicher gekleidet war, nicht nehmen, uns zum Taxi zu begleiten und beteuerte, als ob ihre Einladung zum Tango und die Kapriolen des Wettergottes in einem Zusammenhang stünden, immer wieder, wie leid es ihr tue, dass wir durch sie in solche Kalamitäten geraten seien.
In den folgenden Tagen konnten wir fast eineinhalbtausend Kilometer weiter nördlich in tropischem Ambiente die Tänze erleben, welche die Wasser des Iguazu an der Grenze zu Brasilien aufführen, kurz bevor sie sich in den Paraná ergießen. Der breite Strom, der von den Zuflüssen vieler Landschaften lebt, bietet dort, wie der Tango, das seltene Phänomen der Teilung in tausend faszinierende Einzelerscheinungen. Er stürzt mal in wildem Strudel, mal in malerischen Kaskaden zu Tal, strömt hier wie ein breiter Rüschenvorhang an einer Wand herab, rieselt dort fein verästelt durch Hängepflanzen, schlängelt sich an wieder anderer Stelle in kleinen Nebenbächen davon und zerstäubt letztendlich in einer schwer zu bestimmenden Tiefe zu Tröpfchen, die in allen Farben des Regenbogens leuchten. So weit man schauen kann, ist lebhafteste Bewegung und glitzerndes Rauschen. Unten im Tal sammelt sich, was so vielfältig aufgelöst war, und bildet einen gewaltigen Strom, der wenig später ein Kraftwerk speist, das einstmals das größte der Welt war. Es gibt nur wenige Orte, an denen sich das fließende Element so unerschöpflich, so außerordentlich dicht und in immer neuen und überraschenden Variationen zeigt.