2.4.1985
K L. Vom Hotel aus laufen wir im Schatten der schmalen Laubengänge durch die Reste des Chinesenviertels mit seinen überquellenden Läden. Irgendwo geraten wir in einen chinesischen Tempel mit weitläufigen Haupt- und Nebenräumen, alle mit rot-schwarzem Gebälk und reichen Goldornamenten ausgestattet. Dann kommen Viertel aus neuerer Zeit. Leider fehlen hier die erprobten Laubengänge – vermutlich weil diese Art internationaler Architektur hier genauso wie in Toronto aussehen muss, wo man keiner Laubengänge bedarf. Es wird also heiß.
Eine Zeitlang suchen wir Schutz in einem supermodernen riesigen Bankgebäude. In der weiten Schalterhalle herrscht vielrassige Geschäftigkeit. Nonnenhaft verhüllte islamische Malayinnen arbeiten neben Chinesinnen, die nach dem letzten Schick herausgeputzt sind, wahre Paradiesvögel die einen, trocken prosaisch die anderen, dazwischen Inderinnen, modern und mit dem traditionellen Sari gekleidet. Die Männer geben sich modisch und hell. Es ist das bunte Bild einer jugendlich fühlenden Gesellschaft in Aufbruchstimmung. Von Abkapselung und Intoleranz, die Malaysia schon einige Unruhe beschert haben, ist nichts zu spüren.
Erholt von diesen kühlen Hallen begeben wir uns ins "alte" Zuckerbäckerviertel um den Bahnhof. Türmchen und Erkerchen, Dachhelme und Hufeisenbögen – an den kolonialen Verwaltungsgebäuden ist die ganze Pracht islamisch-asiatischer Formen aufgeboten. Dazwischen fällt der Blick auf die neuen Betongebirge, die den Charme von Tafelbergen ausstrahlen. Aus neuerer Zeit ist auch die Nationalmoschee, ein antizuckerbäckerischer Geradlinienbau, der nicht viel mehr als eine beachtliche Ausdehnung und teure Materialen zu bieten hat. Zur Besichtigung müssen wir uns eine dunkle Robe überwerfen. Darunter können wir ermessen, welche heiße Prüfungen Allah für die Ungläubigen bereit hält.
Nach dem religiösen Nationalmonument folgt das weltliche. Wir sind wieder am Ölfirmengebäude. Diesmal gehen wir hinein – schon weil es darin kühl ist. Drinnen glänzt und blitzt es von poliertem Marmor und Messing. Zum vollständigen Klischee von der geldtriefenden Ölbranche fehlt eigentlich nur noch, dass der „Dallas“-Filmbösewicht J. R. Ewing, der hierzulande ein großes Publikum hat, aus einem der Aufzüge tritt. In dem geschäftigen Gebäude herrscht die Reinlichkeit des Kampongs, allerdings multipliziert mit der Anzahl der Stockwerke des Büroturmes. Zwei Frauen gehen ständig mit überdimensionalen Staubwischern über den ohnehin schon spiegelblanken Steinboden der Eingangshalle.
Nicht weit von diesem Geldtempel befindet sich mitten im Stadtzentrum der Cricket-Club, eine naiv-ländliche Kolonialidylle im Tudorstil mit einem ziemlich platzgreifenden saftig grünen Rasen, das Ganze umragt von Wolkenkratzern.
Wir schlendern durch das traditionelle Geschäftsviertel, bewundern die prächtigen indonesischen Batiken mit ihren sattbraunen Farben auf hellem Untergrund und staunen über Korkschnitzereien aus China, haarfeinen Gebilden, die in immer neuen Variationen luftige Pavillons mit geschweiften Dächern zeigen, die in knorrigen, durchweg von zwei Störchen bevölkerten Landschaften stehen. Am Eingang eines jeden Geschäftes sind Verkaufsstände für die vielfältigen technischen Kleinwaren, die in Süd- und Ostasien hergestellt werden, Taschenrechner, Computerspiele, Billigquarzuhren und Ähnliches. Wir decken uns mit Reisemitbrinseln ein. Die Hitze ist auf dem Höhepunkt angekommen. Deswegen suchen wir in den Kaufhäusern vornehmlich die Nähe der Düsen, aus denen die klimatisierte Luft strömt. Manche der berüchtigten tropischen Erkältungen hat darin ihre Ursache.
Mittagsrast – der Schweiß fließt dabei in besonders ergiebigen Strömen. Wir lassen uns in einem jener Restaurants am Straßenrand nieder, in denen die Einheimischen zu essen pflegen, bestehend aus dem überdachten Gang entlang eines Gebäudes, Tischen und Stühlen in dessen Schatten und einer Reihe improvisierter Küchen, die sich halb auf der Straße befinden. Aus den Gasflaschen strömen mit großem Druck die Flammen, mit denen in zahlreichen Kesseln und Pfannen so heftig gekocht und gebraten wird, dass kaum ein magenturburlierendes Bakterium eine Chance auf Überleben haben dürfte. Die ohnehin durch drangvolle Enge und Menschenmassen wohltemperierte Umgebung wird dadurch noch zusätzlich aufgeheizt. Eine jener köstlichen Nudelsuppen, nahe dem Siedepunkt serviert, tut bei stehender Luft ein Übriges, um unseren Flüssigkeitshaushalt in Bewegung zu halten.
Es ist Mittagszeit. Von überall kommen die Berufstätigen und lassen sich in dem engen Gang nieder. Die chinesischen Köche hantieren mit der Fingerfertigkeit von Taschenspielern in ihren Kochgefäßen. Elegant befördern sie die vorbereiteten Zutaten aus zahlreichen Tellern und Schalen in die brodelnden Töpfe und zischenden Pfannen. In wenigen Minuten sind die schmackhaftesten Gerichte hergestellt. Man darf sich allerdings nicht daran stören, dass dazu auch rohe Fischaugen von der Größe einer mittleren Glasmurmel gehören können.
Wir brechen zur großen Batu-Höhle auf. Einer der vielen Kleinbusse bringt uns in mühsamer, immer wieder von Staus unterbrochener Fahrt an den Rand der Stadt. Er hält vor einem steilen Berg, an dessen Fuß umfangreiche Anlagen zum Empfang größerer Publikumsmassen zu sehen sind. Eine lange steile Treppe – schon ihr bloßer Anblick erzeugt Schweißausbrüche – führt in die riesige Höhle. Der Ort ist wahrlich wildromantisch. Oben am Eingang der Höhle hängen Felsspitzen, die wie in Gustav Dore’s Höllenbildern gewissermaßen mit der Schwerkraft nach unten gewachsen zu sein scheinen. Die Höhle – 50 bis 80 Meter hoch und breit und mehr als doppelt so lang – ist eine heilige Stätte der Hindus. In ihrer bizarren Wildheit scheint sie wie geschaffen für die hinduistische Mystik, die zum Düsteren neigt und daher das Höhlenleben liebt. In einigen Felsnischen sind Brahmanen mit nacktem Oberkörper und weißen Streifen im Gesicht, die mit rußigen Flammen hantieren. Man kann in den dunklen Ecken der Höhle die Spuren größerer Brandopfer sehen. Es fällt nicht schwer, sich das große Hindufest vorzustellen, das hier jedes Jahr stattfindet: Zehntausende, in bunte Tücher gehüllt, füllen dann den Felsendom, allenthalben steigt dunkler Rauch auf, Messingschlagwerk erklingt in eintönigen Rhythmen, gelegentlich hebt ohrenbetäubender Lärm von plärrenden Blasinstrumenten an, der im hohen Gewölbe wiederhallt.
Nach hinten öffnet sich die Höhle wieder. Man findet sich am Boden einer kraterartigen Öffnung. Kreisrunde Wände steigen etwa 50 Meter senkrecht in die Höhe, wo man einen Ausschnitt des Himmels sieht. In den Wänden tummeln sich zahlreiche kleine und kleinste Affen. Auf abenteuerliche Weise bewegen sie sich flink in der steilen Wand und meistern gelassen schier unüberwindlich scheinende Klüfte und Überhänge – möglichst noch mit einem Affenbaby am Bauch. Das Vertrauen der Affen in die Beherrschung ihres Körpers scheint unbegrenzt zu sein.
In Sachen Sozialmoral sind die Affen weniger vorbildlich. Wir haben einige Bananen bei uns, die wir an kleinere Affen und eine Mutter mit Kind verteilen wollen – nach dem Motto: erst die Kinder, dann die Frauen und Mütter etc. Dieses Motto wird vom Anführer der Gruppe allerdings nicht geteilt. Schon durch seine bloße Ankunft schlägt er die Mitglieder seiner Horde, welche wir bevorzugen, in die Flucht. Denen, die nicht genügend Abstand halten, macht er durch wildes Nachsetzen klar, wem die Bananen zuerst zustehen. Als es uns – es ist schwierig genug – gelingt, ein paar Bananenstücke an ihm vorbei in die Mäuler seiner hungrigen Untertanen zu schmuggeln, setzt es Hiebe. In wilder Jagd geht es durch die ganze Felswand, wobei erst richtig klar wird, wozu die Affen ihre phänomenale Geschicklichkeit benötigen. Auch gegenüber den Schenkern lässt es der bärbeißige Alte an der nötigen Höflichkeit missen. Er stiehlt den verschreckten Kindern die Bananen geradezu aus der Hand. Ungenügend befriedigten Forderungen versucht er durch Zähnefletschen und Fauchen Nachdruck zu verleihen. Tioman und Taman Negara waren tatsächlich das Paradies. Die Affen hielten sich versteckt, statt den Menschen den Spiegel vorzuhalten.
Wir verlassen dieses Wunderwerk der Natur und fahren mit dem Bus zurück zum Hotel. Gerade haben wir uns vom Schmutz des Tages befreit, da steht Kulit in der Tür, zwei Stunden vor der verabredeten Zeit. Er hätte halt die zwei Stunden gewartet, wenn wir noch nicht da gewesen wären, meint er – asiatische Zeitbegriffe.
Gemeinsam machen wir die Probe auf`s malaysische Modernitätsexempel. Wir haben die Absicht, ein Telefongespräch nach Hause zu führen, um den Zeitpunkt unserer Rückkunft mitzuteilen. Zuerst gilt es, das Auslandsfernamt ausfindig zu machen. Sehr bekannt scheint es nicht zu sein. Dort wo es nach Kulit’s Ansicht sein soll, findet es sich nicht, wo uns Passanten hinschicken ebenso wenig und wo es sein könnte, ist Dienstschluss. Nach einer Odyssee durch Hinterhöfe treten wir schließlich durch eine nicht näher gekennzeichnete Tür, steigen ein schäbiges Treppenhaus hinauf und landen in einem kahlen Wartesaal, welcher das Tor zur Welt darstellt.
Offensichtlich haben wir das alte Malaysia eingeholt. Das weitere Geschehen hat wenig mit den Glitzerfassaden der Bankpaläste und Ölwolkenkratzer zu tun. Es heißt, Formulare ausfüllen; Warten bis die internationale Leitung frei ist; Aufruf, die Kabine zu betreten; erneutes Abfragen der gewünschten Nummer; wieder Warten auf die internationale Leitung; keine Verbindung, weil die Nummer falsch verstanden wurde (warum haben wir eigentlich das Formular ausgefüllt?); Anschluss in Europa angeblich besetzt; Warten; wieder in die Kabine; nochmaliges Abfragen der Nummer; Warten auf die Leitung (gibt es nur eine?); besetzt (vielleicht führt Mutter daheim Dauergespräche); weiter Warten; noch mal in die Kabine; immer noch besetzt (so lange sind ihre Gespräche nun auch wieder nicht); Warten, Warten, Warten. Stunden verrinnen, Hunger breitet sich aus. Soll man lieber ein Telegramm schicken? Machen wir erst noch einen Versuch bei den Nachbarn, besetzt (auch dort Dauergespräche?); es folgen weitere Versuche. Judi verlässt das Telefonlokal, um die Kinder zu füttern. Kulit, in all den technologischen Wirren eine unerschütterliche Stütze unserer Fassung, bleibt mit mir für einen letzten Versuch. Entnervt brechen wir diesen ab. Zweifel kommen auf, ob wir jemals über Kuala Lumpur hinaus gekommen sind. Wir schicken ein Telegramm und verlassen eiligst diese unrühmliche Zentrale internationaler Kommunikation.
Ausgehungert eilen wir dem Rest der Familie nach. Wir treffen ihn im nächsten Sraßenrestaurant beim Kampf mit chinesischen Suppen an, die sich wegen ihrer hohen Temperatur dem Heißhunger verweigern.
Als die todmüden Kinder im Bett sind, ist der Abend weitgehend vorbei. Wir versuchen den Rest, den uns das technologische Desaster noch für philosophische Gespräche übrig gelassen hat, in einem der einfachen Restaurants zu verplaudern. Zu der vorgerückten Stunde werden wir daran aber durch die Redseeligkeit und ausufernde Gastfreundschaft nicht mehr ganz nüchterner Gaststättenbesucher gehindert, die uns immer wieder zum Trinken animieren wollen. Wir ziehen uns daher wieder auf das bereits erprobte Mäuerchen vor unserem Hotel zurück. Kulit berichtet von seinen Plänen, den Betrieb seines Onkels, bei dem er bislang noch wohnt, zu übernehmen. Von den Erlösen will er dann seine Insel kaufen.
Abschied von Kulit mit großer Herzlichkeit. Natürlich tauschen wir Adressen, sprechen gegenseitige Einladungen aus. Wir spüren jedoch, dass wir ihn nie wiedersehen werden. Wir werden wohl nie erfahren, ob er seine Insel im Tropenmeer bekommt oder ob sie und die Orang Asli eines Tages von einer Frau ersetzt werden, die seinen Hang teilt, über den Ursprung der Dinge zu spekulieren.