Weltgeist – punktuell versammelt – Die jüdischen Künstler und Intellektuellen im Wien der Jahrhundertwende

Es gibt Zeiten, in denen sich der Weltgeist an einem Ort zu versammeln scheint. Unversehens finden sich außergewöhnlich viele große Begabungen und wirksame Geister in einer Stadt oder einer Landschaft ein und schaffen in kurzer Zeit neue Welten und Werte. Anschließend sind Generationen, ja nicht selten Jahrhunderte, damit beschäftigt, ihre Hinterlassenschaft zu verstehen und aufzuarbeiten. 

Solche Brutstätten des Geistes sind das Athen des 4. Jh. v. Chr., Florenz und Rom in der Renaissancezeit, Weimar um 1800 und gelegentlich die großen europäischen Metropolen. Eine der letzten großen Versammlungen des Weltgeistes fand um die Wende des 19. zum 20. Jh. inWien statt. Die Besonderheit dieser Veranstaltung, in der unter anderem wesentliche Grundlagen der Moderne gelegt wurden, ist, dass sie im Zeichen einer beispiellosen Explosion jüdischer Geistigkeit stand.

 Mit Siegmund Freud, dem „Entdecker“ des Unbewussten, und Arnold Schönberg, dem „Befreier“ der Töne, lebten in der österreichischen Hauptstadt um die Jahrhundertwende gleich zwei Persönlichkeiten jüdischer Abstammung, die in ihrem Bereich jeweils so etwas wie eine kopernikanische Wende auslösen sollten.

 Eine weitere überragende Gestalt war, um bei der Musik zu bleiben, Gustav Mahler. Fruchtbare Komponisten waren darüber hinaus Karl Goldmark und Erich Wolfgang Korngold. Eine geradezu archetypische Wiener Gestalt war die schillernde Figur des Geigers Fritz Kreisler, der später vor allem die Sehnsucht der Amerikaner nach Alt Wiener Sentiment befriedigte. Dass auch die bedeutenden Opernkomponisten Franz Schreker und Alexander Zemlinski, die seinerzeit in Wien lebten, einen jüdischen Elternteil hatten, sei hier nur am Rande erwähnt. 

In der Literatur sind nicht weniger illustre Namen jüdischer Herkunft zu vermerken. Gleichzeitig lebten und wirkten in Wien Karl Kraus, der langjährige Herausgeber undVerfasser der „Fackel“ und Peter Altenberg, der Dichter des Impressionismus; außerdem Richard Beer-Hofmann, der glänzende Gestalter historischer Stoffe und der unermüdlich auf der Suche nach Sternstunden der Menschheit befindliche Stefan Zweig; schließlich und nicht zuletzt Arthur Schnitzler, dem wir das heiter-melancholische Bild verdanken, das wir mit dem Wien dieser Zeit meist verbinden.

 Hinzu kommen Literaten wie Egon Friedell, der Essayist und spätere Verfasser der faszinierenden „Kulturgeschichte der Neuzeit“ und Alfred Polgar, der Meister feingeschliffener kurzer Prosa. Zu den Literaten wird man heute auch die tragische Figur des philosophischen Frauenverächters Otto Weininger rechnen müssen, der das unerhörte Werk „Geschlecht und Charakter“ verfasste.

 Auch auf allen anderen Gebieten des geistigen Lebens taten sich Juden hervor und dies in so überreichemMaße, dass hier nur noch einige wenige Namen genannt werden können. In der Hauptsache Juden waren es, welche die Wiener Walzer- und Operettentradition in unser Jahrhundert weiterführten, darunter Oscar Straus, Emmerich Kalman und Leo Fall. Eine der größten Berühmtheiten Wiens war seinerzeit der Theatermann Adolf von Sonnenthal. Internationale Reputation hatte der Staatsrechtler Hans Kelsen, derVater der österreichischen Verfassung von 1920. Der feinsinnige Feuilletonist und Schriftsteller Theodor Herzl schließlich, dessen Leben und Werk das Schicksal der Juden in besonderer Weise symbolisiert, sollte gar weltgeschichtliche Bedeutung erlangen. Mit der nur 70-seitigen Broschüre „Der Judenstaat“erzeugte er das mächtige politische Erdbeben des Zionismus, dessen Nachbeben wir noch heute täglich erleben.

 Man muss lange suchen, will man eine Stadt finden, die in einem so kurzen Zeitraum so viele besonders produktive und wirksame Menschen erzeugt hat. Die großen Kultur- undWeltmetropolen habenbedeutende Menschen meist nur angezogen, selten jedoch hervorgebracht. Ein großer Teil dieser jüdischen Künstler und Intellektuellen aber ist in Wien geboren oder dort seit früher Kindheit aufgewachsen. Erstaunlich ist dies vor allem, wenn man berücksichtigt, dass die Juden im Grunde eine kleine Minderheit waren. Im Jahre 1910 betrug ihr Anteil an der Bevölkerung Wiens, wo sie weit stärker als in den sonstigen Teilen des kaiserlich- königlichen Vielvölkerreiches vertreten waren, 8,6 Prozent.

 Bemerkenswert ist auch der kurze Anlauf, der diesen außerordentlich talentierten Köpfen genügte, um an die Spitze des europäischen Kulturlebens zu gelangen. Im östlichen Europa war der jüdische Teil der Bevölkerung Mitte des 19. Jh. den Ghettos, in denen er von den spezifisch europäischen Kulturtraditionen weitgehend abgeschnitten war, noch nicht sehr lange entwachsen. Seine großen Figuren sind daher fast ohne Vermittlung auf die Bühne der abendländischen Kultur getreten. Ein erheblicher Teil kam aus eher kleinbürgerlichen Verhältnissen. Mahler etwa entstammte einer armen und kinderreichen Familie von Schnapsbrennern, Weiningers Vater war Goldschmied, Schönbergs Eltern betrieben ein Schuhgeschäft, er selbst war ursprünglich Bankangestellter. Sonnenthal, der legendäre Darsteller grandsenioraler Eleganz, war von Haus aus Schneidergeselle, Polgar Klavierbauer. Andere wie Freud, Kraus, Zweig, Friedell, Altenberg, Beer-Hofmann und Herzl kamen aus Kaufmanns- und Industriellenfamilien, die es erst in der Welle der Industrialisierung, die Österreich um die Mitte des 19. Jahrhunderts erfasste, zu Wohlstand gebracht hatten. Nur wenige hatten so etwas wie eine „erbliche Vorbelastung“. Leo Falls Vater etwa war Militärmusiker, Goldmarks Vater Kantor an einer Synagoge und Korngolds Vater – ursprünglich Rechtsanwalt – ein angesehener Musikkritiker.

 Betrachtet man Leben und Werk dieser jüdischen Künstler und Intellektuellen, fällt auf, dass viele von einem außergewöhnlichen Impetus angetrieben wurden. Es ist, als seien sie von dem Vorstellung beherrscht gewesen, etwas ganz Ungewöhnliches und Unerhörtes leisten zu müssen oder als hätten sie sich gedrängt gefühlt, das zu tun, was niemand erwartet oder wovon andere nur zu träumen wagen. Dieser Drang lag sicher im Zuge einer Zeit, die dazu neigte, die Grenzen des Möglichen auszuloten und Noch- Nie-Dargewesenes zu schaffen, zugleich aber auch einem diffusen Glauben an den Fortschritt und die Veränderbarkeit aller Dinge verfallen war. Auf allen Gebieten des Wissens und der Künste wurde seinerzeit vieles neu durchdacht, wobei Altes radikal verworfen aber auch vehement bekräftigt wurde. Bemerkenswert ist, wie viele Künstler und Intellektuelle jüdischer Herkunft sich an der Spitze dieser Bestrebungen finden. Dies gilt keineswegs nur für die Fraktion der Neuerer, sondern auch für die der Traditionalisten, eine Tatsache, die spätere antisemitische Reaktionäre freilich nicht zur Kenntnis nehmen wollten.

 Am deutlichsten wird das Unbedingte, Exzentrische aber auch Ambivalente dieser Versuche bei Otto Weininger. Schon im Alter von 23 Jahren hatte er sein 600 Seiten starkes Buch „Geschlecht und Charakter“ geschrieben, in dem er einen beispiellosen und höchst aufregenden Parforceritt durch die Philosophie- Kultur- und Sozialgeschichte Europas unternimmt. Faszinierend ist die Brillianz und die Selbstverständlichkeit, mit der sich der junge Mann, der am Tag seiner Promotion zum Protestantismus übertritt, des historischen Materials bemächtigt. Er versteigt sich allerdings in abenteuerliche Theorien über das Verhältnis der Geschlechter und formuliert Thesen über den (angeblich minderwertigen) Charakter der Frau, die schon damals ungeheuerlich, wenn auch nicht ganz ohne Vorbild waren. Die Eigenschaften der Frau sieht er auch bei den Juden, weshalb er zugleich zum kompromisslosesten Antisemitismus gelangt. Nachdem er als Antisemit sein eigenes und als Frauenfeind das Leben überhaupt in Frage gestellt hat, zieht er daraus auf bedenklichste Weise die Konsequenz. Kaum ist sein Werk veröffentlicht sucht er – 23 jährig – den Tod. Den Abgang aus dem Leben aber setzt er in Szene, als handele es sich um einen Bühneneffekt. Er mietet sich in das Sterbehaus Beethovens, der für ihn neben Kant den wahren Menschen verkörpert, ein und erschießt sich. Das Buch des Juden Weininger, das nach seinem Tod und nicht zuletzt wegen desselben eine Auflage nach der anderen erlebte, wurde absurderweise zur Bibel eines faschistischen Männlichkeitskultes und begeisterte sogar Adolf Hitler.

 Nicht weniger, wenn auch auf ganz andere Weise radikal ist das künstlerische Schaffen Schönbergs. Schon in seinem Frühwerk, das noch der Tradition verpflichtet ist, wird die Tendenz zur Grenzverletzung spürbar. Die Uraufführung des Streichsextettes „Verklärte Nacht“ etwa, mit dem er die Spätromantik auf die Spitze treibt, lehnte die Jury des Wiener Tonkünstlervereins u.a. deswegen ab, weil es die noch nicht gewagte Umkehrung des Dominant-Sept-Non-Akkordes enthielt. Für die „Gurrelieder“ sah der junge Habenichts – Schönberg hatte bislang hauptsächlich durch Misserfolge und Skandale auf sich aufmerksam gemacht – eine Besetzung in einer Größenordnung vor, wie sie zuvor nicht vorgekommen war (neben einem Orchester von 150 Mann wurden 600 Sänger benötigt). All dies war freilich nur das Vorspiel. Um sich gänzlich unbegrenzte Ausdrucksmöglichkeiten zu verschaffen, warf Schönberg bekanntlich das gesamte überlieferte harmonische System und damit zwei Jahrtausende europäischer Musiktradition über den Haufen.

 Die Neigung, Noch-Nie-Dagewesenes zu schaffen, ist auch bei Mahler unverkennbar. Von ihm stammt der Satz: „Ich liebe nur die, die übertreiben, die die untertreiben interessieren mich nicht“ (Ein ähnlicher Satz ist von Schönberg überliefert: “ Mittlere Empfindungen gibt es bei mir nicht, entweder – oder“). Auch Mahlers Werke, die vor noch nicht allzu langer Zeit als monströs und geschmacklos galten, sprengen alle Dimensionen und Formen. Allein der erste Satz seiner dritten Symphonie dauert eine 3/4 Stunde. Seine achte Symphonie wird bezeichnenderweise die „Symphonie der Tausend“ genannt. In seinen Werken häuft er ungeahnte Massen von Klangmaterial, verwandelt Symphonien in Oratorien, in denengleich mehrere Chöre benötigt werden und setzt alles ein, was Geräusch erzeugt. Seine Musik hat darüber hinaus etwas Kaustisches und Aberwitziges. Statt sorgfältig entwickelter Übergänge, wie sie die europäische Kunstmusik bis dahin kannte, wird völlig Disparates oft abrupt nebeneinandergestellt. Mahler will, daran kann kein Zweifel bestehen, provozieren, was ihm gerade in Wien über lange Zeit Ablehnung eingebracht hat.

 Nur nach außen führte der Schauspieler und Essayist Friedell ein eher unauffälliges Leben. Jahrzehntelang lebte er mit seiner Haushälterin in der gleichenWohnung in Wien nach einem streng geregelten Tagesschema. Im Verborgenen aber machte er sich an eine literarische Arbeit, wie man sie sich kaum großartigervorstellen kann. Der Mann, der drei Mal durch das Abitur fiel, und dessen Dissertationüber Novalis (auch eine von dreien) im Katalog der Wiener Universität mit dem Vermerk „unbrauchbar“ versehen wurde, nahm sich nicht weniger vor, als das gesamte riesige Kulturerbe Europas vom Ausgang des Mittelalters bis Einstein neu zu durchdenken und aus einer einheitlichen, sehr persönlichen und gewissermaßen künstlerischen Perspektive darzustellen. Heraus kam ein funkelnder Essay von eineinhalb Tausend Seiten, der keinerlei Respekt vor der Fachwissenschaft zeigt, ja diese geradezu verachtet (was umgekehrt dazu führte, dass dieselbe ihn nicht zur Kenntnis nahm). Das glänzend geschriebene Werk, das noch durch eine – unvollendet gebliebene – Kulturgeschichte des Altertums ergänzt wurde, ist zu so etwas wie einem Rauschmittel für diejenigen geworden, welche für ein halbes oder ganzes Jahr in die faszinierende Welt der Ideen abtauchen wollen.

 Unbedingtheit zeigt Friedell, der bezeichnendnerweise auch zum Protestantismus übertrat, allerdings nicht nur beim Schaffen seines Werkes. Der heitere Philosoph, dessen Leben ganz im Zeichen persönlicher und geistiger Toleranz stand, zeigte sich beim Einmarsch der Nationalsozialisten in Wien von tödlicher Konsequenz. Anders als die meisten bekannten Juden weigerte er sich, den Barbaren zu weichen und die Stadt zu verlassen, die ihm alles war. Als Hitlers Schergen in sein Haus eindrangen, stürzte er sich, bevor sie ihn entwürdigen konnten, aus dem Fenster.

 Bereit, die letzte Konsequenz zu ziehen, war auch Stefan Zweig. Aus Verzweiflung über den Zusammenbruch einer kulturellen Lebensform, wie sie vor allem Wien verkörperte, nahm er sich im Jahre 1942 in Brasilien das Leben, nachdem er dieser Lebensform mit dem autobiographischen Werk „Die Welt von Gestern“ noch ein letztes dramatisch-melancholisches Denkmal gesetzt hat.

 Friedells einsame Leistung erinnert ein wenig an Freud, der sich von der etablierten universitären Wissenschaft abwandte und sich als Praktiker niederließ, um aus dieser Position eben diese Wissenschaft mit einer Auffassung von der Seele zu überraschen, die das Bild vom Menschen völlig verändern sollte. Sein Pansexualismus, zumal die Behauptung eines allgegenwärtigen Wunsches der Söhne, der Mutter wegen ihre Väter umzubringen, hat etwas Provokatives. Zweifelsohne wollte er damit – bewusst oder unbewusst -die Gesellschaft seiner Zeit stellvertretend an einer besonders empfindlichen Stelle treffen.

 Etwas Manisches hatte die schriftstellerische Aktivität von Karl Kraus. Ohne Beispiel ist bereits die Tatsache, dass er seine Zeitschrift „Die Fackel“ über mehr als 3 Jahrzehnte ganz alleine schrieb. Wie Freud, Friedell und Weininger war er Einzelkämpfer, suchte aber in besonderem Maße Widerstand, Reibung und Skandale. Er liebte härteste Zuspitzungen und hing einem geradezu fanatischen Sprachpurismus an. Auch er wollte das Unerhörte schaffen. So schrieb er das längste Drama aller Zeiten, das 800 Seiten starke und daher noch nie vollständig aufgeführte Werk mit dem radikalen Titel „Die letzten Tage der Menschheit“.

 Von den „Neutönern“ sei hier noch Peter Altenberg herausgehoben.Dieser Wiener Bohemien par excellence warf kurzerhand den überkommenen Werkbegriff in den Abfallkorb der Kulturgeschichte. Er schrieb zahllose kleine Impressionen und veröffentlichte sie bar jeden Zusammenhanges. Mochte sich das Publikum mit der Frage plagen, welchen Sinn das alles habe.

 Auf besondere Weise radikal ist schließlich die berühmt gewordene „Reine Rechtslehre“ von Hans Kelsen, die das Recht auf einen logischen Zusammenhang von Normen reduziert und dadurch deren Inhalt aus demBlickfeld verliert. Mit der Technisierung und Wertentleerung der Rechtsbegriffe wollte Kelsen an sich Ideologen und Interessenten die Möglichkeit nehmen, ihre persönlichen Ziele aus dem Recht abzuleiten. Die extreme Zuspitzung seiner Gedanken trug aber tragischerweise dazu bei, dass der Inhalt von Rechtsnormen beliebig werden und etwa auch Rassengesetze enthalten konnte. Gerade die Nationalsozialisten beriefen sich später darauf, dass die Machtergreifung „normtechnisch“ korrekt abgewickelt worden sei.

 Unbedingtes spiegeln nicht zuletzt die unglaublichen Begabungeneiniger Juden. Schon Weininger war, wie erwähnt, in einem ungewöhnlichen Alter mit einem gedankenschweren Werk an die Öffentlichkeit getreten. Korngold komponierte in einem Alter, in dem andere mit der Eisenbahn spielen. Von den Kompositionen des 10-jährigen war Gustav Mahler begeistert und Richard Strauß sagte „Gegen dieses Kind sind wir alle arm“. Die Wiener Hofoper führte von Korngold, der als der letzte Melodiker gilt, ein Ballett auf, das er mit 12 Jahren geschriebenhatte und seine erste Oper kam – unter der Leitung von Bruno Walter – in München auf die Bühne, als er gerade 16 Jahre alt war.

 Ähnlich sah es in der Literatur aus. Der berühmte Feuilletonredakteur der Wiener Neuen Freien Presse, Theodor Herzl, staunte nicht schlecht, als beim ihm ein unbekannter Schriftsteller namens Stephan Zweig mit einer Erzählung erschien, die er in seinem Blatt -seinerzeit das nationale Heiligtum der österreichischen Publizistik -veröffentlicht haben wollte. Zweig war gerade 20 Jahre alt. Dennoch zögerte Herzl keinen Moment, das angebotene Werk zu drucken, wodurch Zweig mit einem Mal in den literarischen Olymp gehoben war.

 Der außergewöhnliche Impuls, der sich in all diesen Leistungen zeigt, hat natürlich sehr viel mit Begabung zu tun und mit der Art, wie diese bei den Juden gepflegt und gefördert wurde. Hinzu kommt offenbar aber auch, dass bei der verbreiteten Flucht aus dem Judentum, religiöse Energien in kulturelle Leistungen umgewandelt wurden. Fast alle hier erwähnten Juden traten zumindest zeitweilig zum Christentum über, alle trugen deutsche Vornamen – einige wie Friedell, Polgar und Altenberg haben sogar ihre Nachnamen „germanisiert“. Wie sich diese Entwurzelung auswirkte, verdeutlicht etwa eine Notiz Schönbergs, der seine Entwicklung einmal in folgende Stufen einteilte: „Assimilant, Nachlassen des Glaubens, Glaube an Kultur, Glaube an Schutz für Leistungen“.

 Die beispiellose Fruchtbarkeit hat aber ohne Zweifel auch äußere Ursachen. Dies zeigt ihre nach außen gerichtete Tendenz, die etwas von Trotz und Sich-beweisen-müssen erkennen lässt. Eine wesentliche Ursache dürfte dabei die unklare Stellung der Juden zwischen Emanzipation und Angefochtensein gewesen sein. Seit der Mitte des 19. Jh. waren in Österreich zwar alle Vorschriften, die Juden diskriminiert hatten, außer Kraft getreten. In der Bevölkerung bestanden aber weiterhin Vorbehalte. Gegen Ende des Jahrhunderts führten diese Vorurteile zu einem neuen Antisemitisimus, der schließlich offen politische Formen annahm. Diese Situation zwischen Liberalisierung und Widerstand forderte die Juden zu besonderen Anstrengungen heraus. Von Mahler stammt denn auch der Satz, die Juden hätten, um erfolgreich zu sein, schon immer mehr als andere leisten müssen.

 Die Tragik der jüdischen Leistungsexplosion ist, dass untergründig ein Zusammenhang mit den Exzessen des Radaurassenhasses bestehen dürfte, der dem Antisemitismus ab den 20-er Jahren dieses Jahrhunderts eine neue Qualität gab. Es ist nicht von ungefähr, dass sich Anfang des Jahrhunderts auch ein Adolf Hitler in Wien aufhielt, ein Mann, der selbst künstlerisch ambitioniert war und auf seine ungehobelte Weise ebenfalls den Anspruch erhob, die Welt als Ganzes begreifen und gestalten zu können. Nicht zuletzt durch die Konfrontation mit der enormen Ballung jüdischer Intelligenz und Begabung dürfte er die Minderwertigkeitsgefühle entwickelt haben, welche seiner antisemitischen Obsession zu Grunde liegen müssen. Unglücklicherweise glaubte auch er, alles neu durchdenken und historischen „Ballast“ abwerfen zu können. Im Gegensatz zu den Juden beschränkte er sich jedoch nicht auf die geistige Auseinandersetzung. Vielmehr überschritt er auch noch die letzten Grenzen. Seine radikale Konsequenz war die Vernichtung all dessen, was ihm im Wege zu sein schien. Seinem Zerstörungsdrang fiel schließlich auch die einzigartige Blüte der Wiener Kultur am Beginn dieses Jahrhunderts zum Opfer, zu der die Juden, wie auch sonst in Europa, einen so wesentlichen Beitrag geleistet hatten.

 Das Wirken des Weltgeistes freilich, das sich in der Länge der Zeit manifestiert, in der sich die Nachgeborenen mit seinen örtlichen Vertretern beschäftigen, konnte auch die größte Gewalt nicht hindern. Fast ein Jahrhundert nach der Wiener Versammlung sind wir noch immer mit den Protokollen ihrer Verhandlungen befasst.

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