Die Herabkunft des Ganges – Wasserkulturen des indischen Raumes

 

Wasser spielt im Süden und Südosten Asiens eine besondere Rolle. Wer über den indischen Subkontinent fliegt, bemerkt einerseits riesige Stromsysteme, welche sintflutartige Wassermengen abführen können, andererseits unzählige „Tanks“, Wassersammelstellen, mit deren Hilfe man das lebenspendende Nass im ständigen Kampf gegen die verzehrende Sonne Südasiens über die Trockenzeit zu retten versucht. Besonders in Indien hängen Wohl und Wehe vom Kommen und Gehen des Monsuns ab. Wie elementar das Problem des Wassers hier ist, zeigt der besondere Schutz, den die „Tanks“ genießen. Ihre Beschädigung ist von Alters her mit schweren Strafen bedroht. Nach dem Arthashastra, dem altindischen Staatslehrbuch aus dem 4. Jahrhundert v. Chr., stand auf der Zerstörung eines mit Wasser gefüllten „Tanks“ die Todesstrafe. Der Täter wurde in dem „Tank“ ertränkt, gegen den er gefrevelt hatte. Das Wasser bedachte man mit allen Insignien der Verehrung. Wo es einer Quelle entsprang, baute man aufwendige Brunnen, zu denen häufig ein Tempel gehörte. In Nordwesten Indiens etwa schuf man riesige, nicht selten wunderbar dekorierte Treppenanlagen, über die man zu den Quellen gelangte, die meist tief unter der Erdoberfläche lagen. Bedeutende Tempel wurden an Seen oder wichtigen Kreuzungspunkten des Wassers gebaut. Haridwar etwa, die Stelle, an der Ganges aus dem Himalaya in die Ebene tritt, ist einer der heiligsten Orte Indiens. Alle 12 Jahre findet dort das Kumbb Mela, das „Wasserfest“ statt, an den mehrere Millionen Pilger teilnehmen. Generell gehört zu einem Tempel möglichst ein rechteckiger Tank, dessen unter Umständen gewaltige Ausmaße sich nach der Bedeutung des Tempels richten.

 

Wasser, das ist im indischen Raum allerdings nicht bloß die physische Lebensgrundlage von mehr als einer Milliarde Menschen, die weitgehend von der Wasserpflanze Reis leben. Wasser hat die indische Zivilisation auch in einem tieferen Sinn geprägt. Das unfeste Element ist ohne Zweifel eine wesentliche Ursache für das Fließende und eigentümlich Bewegliche, welches mehr oder weniger alle Erscheinungsformen der originären Kulturen des indischen Raumes charakterisiert.

 

Bleiben wir zunächst bei den geographischen Grundlagen. Dies sind in erster Linie die großen Flüsse, allen voran die sieben Ströme, die ihren Ursprung im Himalaja haben. Diese Flüsse, die so gigantisch sind wie das Gebirgsmassiv, dem sie entstammen, liefern nicht nur einen wesentlichen Teil des Wassers, ohne das sich eine höhere Zivilisation nicht entwickeln kann. Sie sind schon deswegen Grundlage der indischen Zivilisation, weil die Hochkulturen des Subkontinentes weitgehend auf dem fruchtbaren Schwemmland entstanden sind, welches die großen Flüsse vom Dach der Welt gespült haben.

 

Die drei großen Ströme Vorderindiens entspringen in unmittelbarer Nachbarschaft im Zentrum des Himalaja. Der Indus wählt den Weg nach Westen, gräbt sich tausend Kilometer hinter der Hauptkette des Gebirges durch und wendet sich nach einer großen Schleife durch Kaschmir südwärts dem arabischen Meer zu. Der Fluss, der mit seinem Namen, der nichts anderes als Fluss bedeutet, den ganzen Subkontinent repräsentiert, ist der Altvater der Hochkulturen des indischen Raumes und die Lebensader des fruchtbaren Fünfstromlandes, einer Region, in der sich vor fast 5000 Jahren mit der Induskultur eine der ersten Stadtzivilisationen der Erde entwickelte. Ebenfalls hinter der Hauptkette des Himalaja entspringt der Brahmaputra. In bemerkenswerter Symmetrie umfängt er, spiegelbildlich zum Indus, den östlichen Teil des Himalaja. Nach einer Schleife durch Assam wendet auch er sich nach Süden, wo er sich mit dem Ganges zu einem gemeinsamen Delta vereinigt. Das bengalische Delta, das größte der Erde, ist gleichfalls uraltes Siedlungsgebiet. Heute leben auf seinem labilen Schwemmland die Menschen in größerer Dichte als auf jedem anderem Fleck des Globus. Der Ganges schließlich fließt ohne Umschweife in die Ebene, die seinen Namen trägt. Mit seinen zahlreichen Nebenflüssen bildet er die Seele des indischen Kernlandes am Fuße des Himalaja. An seinem Ufer lag einst Patalipuram, die Hauptstadt des Maurya-Reiches, die der griechische Gesandte Megastenes Ende des 4. Jh. v. Chr. als die prächtigste Metropole der Welt beschrieb.

 

Auch die gewaltigen Ströme Hinterindiens sind anfangs vereint. In einmaliger Engführung fließen vier Flüsse, nur durch eine Bergkette voneinander getrennt, wie durch parallel geführte Rinnen vom Dach der Welt, um schließlich tausende Kilometer voneinander entfernt ins Meer zu münden. Der Irawadi, der die zentralburmesische Ebene zu einem der reichsten Reisanbaugebiete der Welt macht, strebt zum Golf von Bengalen. Dort endet auch der Saluen, ein hierzulande kaum bekannter Fluss, der Burma im Osten entwässert und immerhin noch mehr als doppelt so lang wie Deutschlands größter Fluss, die Elbe, ist. Der dritte im Bunde ist der Mekong, was „Mutter der Gewässer“ bedeutet. Er durchzieht auf seinem 4.500 Kilometern langen Lauf die chinesische Provinz Yünnan sowie Laos und Kambodscha, um schließlich im Süden Vietnams in einem weiten Delta ins südchinesische Meer zu münden. Der vierte schließlich ist niemand geringeres als der Jangtsekiang, einer der längsten Flüsse der Erde. Vom osttibetanischen Flussstreff kommend durchquert er das chinesische Riesenreich, bis er sich bei Schanghai in den stillen Ozean ergießt. Ähnlich lang ist die Reise des Gelben Flusses, der in der Nachbarschaft der genannten vier Ströme entspringt, sich allerdings gleich nach Osten wendet, um nach einer großen Schleife durch den Norden Chinas südlich von Peking in das Gelbe Meer zu fließen.

 

Bei so viel Wasser ist es nicht verwunderlich, dass sich, zumal angesichts eines begünstigenden Klimas, am und um das nasse Element einige außerordentliche menschliche Lebensformen entwickelt haben.

 

Spätestens seitdem James Bond durch die Klonks von Bangkok jagte, kennt jeder die besondere Wasserkultur Thailands. Dessen zentrale Ebene wird von regelmäßig angelegten Kanälen, den Klonks, durchzogen, die einerseits den Überschuss an Wasser auf die Fläche verteilen und das Land gleichmäßig bewässern, andererseits aber auch die Funktion von Straßen haben. Sie sind Verkehrs- und Transportadern, man wohnt dort in vielgiebeligen Teakholzhäusern, die halb im Wasser stehen, und schließt seine Geschäfte ab.

 

Die beschauliche alte Kanalkultur Thailands ist heute allerdings auf dem Rückzug. Nur hier und da sieht man noch bunt gekleidete Frauen mit Strohhüten, die in schmalen Paddelbooten Lebensmittel und Haushaltsartikel feilbieten oder mit dampfenden Töpfen und glühenden Holzkohlegrills von Haus zu Haus paddeln und Mahlzeiten anbieten. In den Städten sind viele Klonks inzwischen modernen Siedlungen oder Industrieanlagen gewichen. Die Sehnsucht der Thailänder nach dem Leben am Wasser aber ist geblieben. Der Traum des Großstadtbewohners vom Haus im Grünen ist hier der Traum vom Haus am Wasser. Wer in der boomenden Millionenstadt Bangkok keinen Platz an einem der verbliebenen traditionellen Wasserplätze findet, möchte wenigstens an einem künstlichen Gewässer leben. So finden sich selbst in den endlosen Reihenhaussiedlungen der Außenbezirke Bangkoks Reste der Klonckultur. Noch zwischen die engsten Häuserzeilen hat man lange, schmale Wasserbecken gesetzt. Der Fluss Chao Phraya, der Bangkok in großen Schleifen durchfließt, ist inzwischen zum Riesenklonk geworden. Dort stehen nicht nur das berühmte Hotel „Oriental“ und andere Nobelherbergen. An seinem Ufer schießen – merkwürdigerweise nicht selten im italienischen Pallazzostil – Wolkenkratzer mit Luxusappartements in die Höhe, in denen die Bewohner noch im 50. Stock das Gefühl der Nähe zum Wasser haben sollen.

 

Nicht am Rande des Wassers, sondern mitten darin, lebt man am Inle See im Osten Burmas. Der See, der von einem Nebenfluss des Saluen gebildet wird, ist etwa 40 Kilometer lang und ziemlich flach. Darin steht eine kleine Stadt, deren Lebensform ein wenig an Venedig erinnert. Im Unterschied zum italienischen Wasserparadies, das auf Inseln und Eichenpfählen gebaut wurde, stehen die hölzernen Häuser hier allerdings auf Stelzen im See.

 

Anders auch als in Venedig, dessen Festlandsbasis die terra ferma war, ist das Land, das auch die Inle-Bewohner besitzen und bebauen, terra inferma. Landwirtschaft wird hier auf schwimmenden Feldern betrieben. Grundlage dieser Felder, die große Teile des Sees bedecken, ist das dichte Wurzelgeflecht der Wasserhyazinthen, jenen schnell wachsenden Schwimmpflanzen, die man im Süden Asiens überall als kleine grüne Inseln die Flüsse hinab schwimmen sieht. Im Laufe von mehreren Jahrzehnten entsteht auf dieser Basis eine dicke Humusschicht, auf der man Früchte und Gemüse anbauen kann. Diese Felder sind transportabel. Man kann sich daher ein Stück Land kaufen und es wegschleppen. Der Inle See ist damit ein Platz, an dem Immobilien beweglich sind.

 

Befestigte Wege gibt es in dieser Wassersiedlung, abgesehen von der Plattform, auf der die obligatorische große Pagode steht, nicht. Alles Leben spielt sich auf Booten ab. Das abendliche Rendevous der jungen Leute etwa findet auf dem Wasser statt. Dabei haben die Bewohner des Sees eine einzigartige Fortbewegungstechnik entwickelt. Sie stehen am Heck des Bootes auf einem Bein und paddeln, ohne dass die Hände zur Hilfe genommen werden, mit dem anderen. Dies erfordert einen geradezu artistischen Balanceakt. Der Schlag mit dem Paddel, um das ein Bein geschlungen ist, bedingt eine äußerst komplizierte, schlangenhafte Ausweichbewegung auf dem Standbein, die den Bewegungsablauf geradezu aberwitzig erscheinen lässt.

 

Auch zwei große untergegangene Kulturen des indischen Raumes haben viel mit dem Wasser zu tun. Am Ufer des Irawadi kann man, mitten in der fruchtbaren Ebene Zentralburmas, das religiöse Skelett der verschwundenen Riesenstadt Pagan bestaunen. Die ehemalige burmesische Hauptstadt, deren hölzerne Zivilbauten nicht mehr vorhanden sind, hatte im Mittelalter mehr als 10.000 buddhistische Pagoden aus Backstein von denen heute, verstreut über eine weite Ebene, noch über 2.000 gewaltige Konstruktionen erhalten sind. Sinnigerweise soll die Kultur von Pagan an Wassermangel zugrunde gegangen sein, weil man die Wälder seiner Umgebung vollständig abholzte, um damit Häuser und Paläste zu bauen und Ziegeln zu brennen. Ein übriges tat der Irawadi. Er hat mit seinem Hochwasser inzwischen ein Drittel des alten Stadtgebietes samt seinen Pagoden weggespült und damit sein Delta ein weiteres Stück in den Golf von Bengalen geschoben.

 

In besonderer Weise war die im Dschungel untergegangene Kultur von Ankor im heutigen Kambodscha eine Wasserkultur. Die wirtschaftliche Basis dieser überaus reichen und hoch entwickelten Zivilisation war das singuläre Wasserphänomen des Tonle Sap, eines höchst wandlungsfähigen Gewässers mit mehrfacher Doppelexistenz. Der Tonle Sap ist mal ein großer und flacher und mal ein riesengroßer und tieferer See. Zugleich ist er aber auch ein Fluss und als solcher kann er sowohl flussabwärts als auch „aufwärts“ fließen. Was wie eine Ausgeburt der ausufernden mythologischen Phantasie Indiens klingt, in der sich alles in jedes verwandeln kann, hat einen einfachen tatsächlichen Hintergrund. Technisch ausgedrückt handelt es sich beim Tonle Sap um einen gigantischen natürlichen Regelmechanismus zur Steuerung der jahreszeitlich bedingten Pegelschwankungen des Mekong.

 

Angesichts der gewaltigen Wassermassen, die der Mekong in der Schmelz- und Regenzeit aufnehmen muss, würde er an seinem Unterlauf an sich weit über seine Ufer treten und dabei das ganze Deltagebiet überschwemmen. Bei Phnom Phen aber zweigt vom Mekong, der nach Süden fließt, in einer scharfen Kurve der Tonle-Sap-Fluss ab. Dieser führt das überschüssige Wasser des Mekong über 110 Kilometer nach Nord-Westen in einen flachen See, der ebenfalls Tonle Sap heißt. In der Trockenzeit ist dieser See etwa fünf mal so groß wie der Bodensee. Durch den Zufluss vom Mekong schwillt er in der Zeit von Juni bis Oktober aber bis auf das vierzigfache der Größe des Bodensees an (woraus man ersehen kann, um welche Wassermassen es in dieser Region geht). Nach der Regenzeit gibt der Tonle Sap sein Wasser kontinuierlich an den Mekong zurück, was erklärt, dass der Fluss in beide Richtungen fließt. So kommt es, dass die Bewohner der dicht besiedelten südlichen Mekongregion, in der sich unter anderem Ho-Chi-Min-Stadt (das frühere Saigon) befindet, anders als die wassergeplagten Bengalen, vom Hochwasser meist verschont werden.

 

Das Pulsieren des Sees bewirkt, dass riesige Schwemmflächen automatisch bewässert und natürlich gedüngt werden. Auf ihnen kann daher ohne weiteren Aufwand eine außerordentlich ertragreiche Landwirtschaft betrieben werden. Die Beweglichkeit des Sees ist auch die Ursache dafür, dass der Tonle Sap das fischreichste Gewässer der Welt ist. Da er große Feldgebiete und ganze Wälder unter Wasser setzt, findet hier vor allem eine kleine, pflanzenfressende silbrige Fischart reichlich Nahrung, die sich in diversen Formen auf dem einheimischen Speisezettel findet.

 

Noch heute ist die Fischereikultur am Tonle Sap besonders vielfältig. Wo immer Wasser fließt, finden sich alle nur erdenklichen Vorrichtungen für den Rückhalt von Fischen, von flussüberspannenden Netzen über sinnige Reusen aller Art bis hin zu den merkwürdigsten Fischkäfigen. In schwimmenden Dörfern, die mitten im Fluss verankert sind, werden die Silberlinge direkt in die Wohnstube der Fischer gespült. Auf den Reliefs der mittelalterlichen Tempel von Ankor, die das Leben der alten Khmer mit viel Liebe zum Detail abbilden, kann man darüber hinaus sehen, dass die Fische auch von den Bäumen geerntet werden. Was auf den ersten Blick wie ein weiteres Produkt der überbordenden indischen Phantasie erscheint, entspricht durchaus den Tatsachen. Denn die Fische verfangen sich in den Ästen der Bäume und Sträucher, die vom Tonle Sap überschwemmt werden. In diesen Wasserwäldern werden sie – auch heute noch – im wahrsten Sinne des Wortes „gepflückt“.

 

Am Rande des Tonle Sap kann man im übrigen jene Wasserkultur noch im vollster Blüte erleben, die in Thailand im Aussterben ist. An der Mündung des Siam-Reap-Flusses in den Tonle Sap etwa herrscht ein Gedränge von Haus- Transport- und Verkaufsbooten, wie man es sich nicht lebhafter vorstellen kann. Wasserbedingt hat sich hier auch eine besondere Form des Nomadentums entwickelt. Da die Reisfelder entsprechend dem Kommen und Gehen des Wassers angebaut und abgeerntet werden, folgen die Bauern, wie auch die Fischer, samt ihren beweglichen Behausungen dem schwindenden See. Wenn er zurückkommt, weichen sie vor dem anschwellenden Wasser wieder zurück, bis sie am Ufer ihre festen Häuser erreichen.

 

Der natürliche Reichtum der Gegend hat die Khmerherrscher des frühen Mittelalters dazu veranlasst, ihre Hauptstadt Ankor an den Rand des Tonle Sap zu legen. Dessen Wasserwunder, ergänzt durch ein ausgeklügeltes künstliches Bewässerungssystem mit sorgfältig gebauten rechteckigen „Tanks“, die Dutzende von Quadratkilometer groß sind, war die Grundlage für die wohl bunteste Blüte der alten indischen Kultur. Die überaus reich dekorierten Bauten von Ankor mit ihren „fließenden“ Steindächern, die jahrhundertelang vom Dschungel überwuchert waren, gehören zum Schönsten und Imposantesten, was der indische Kulturraum hervorgebracht hat. Das Hauptgebäude, Ankor Vat, das von einem Wassergraben von 100 Meter Breite und über drei Kilometer Länge umgeben ist, ist das größte Bauwerk des alten Asien, wenn nicht überhaupt der ganzen alten Welt.

Eine ähnliche Organisation der Wasserwirtschaft ist auch der Hintergrund für die einstige Blüte der Hauptstädte des  alten Ceylon, die mit ihren gewaltigen Dagobas und zahllosen, symmetrisch angelegten Klosteranlagen nicht anders als die buddhistischen Riesenstädte Südostasiens zugleich Orte der Meditation und der weltlichen Geschäftigkeit waren. Anuradnapura und Polonaruwa etwa liegen wie Ankor in einem Gebiet, in dem es lange Trockenperioden gibt. Auch hier sorgte ein ausgeklügeltes System von riesigen Tanks und Kanälen für die regelmäßige Bewässerung der Felder und die Versorgung der weit ausgedehnten  Städte. Zu zentralen Bauten dieser Metropolen, in denen eine Million Menschen lebten, gehörten prachtvolle Wasserbecken mit komplexem Grundriss und fein ausgearbeiteten Wandprofilen.

 

Menge oder Mangel des „Lebensmittels“ Wasser haben aber nicht nur den Alltag, sondern auch die Vorstellungswelt der Menschen des indischen Raumes bestimmt, die besonders reich an Wassermythen ist. So spiegelt sich in Indra, dem altvedischen Regengott, von dem Indien seinen Namen ableitet, das Problem des Wassermangels. Nach der vedischen Kosmogonie war der Raum zwischen Himmel und Erde anfangs von Vrtra, dem Dämon der Dürre, versperrt, der sich wie eine Schlange um die Berge geschlungen und so das Wasser in der Höhe festgehalten hatte. Indra erschlug Vrtra mit der Wurfkeule und vollendete damit die kosmische Ordnung. Danach, so heißt es, seien die Flüsse wie brüllende Kühe zum Meer gelaufen.

 

Shiva, einer der drei Hauptgötter des klassischen Hinduismus, symbolisiert das Problem des gefährlichen Überflusses an Wasser. Er fängt den Ganges, der nach indischer Vorstellung direkt aus dem Himmel fällt, mit seiner Stirn auf, um zu verhindern, dass er die Erde „verwüstet“.

 

Die Flüsse des Subkontinentes, für die der Veda das treffende Bild von den brüllenden Kühen geprägt hat (wegen ihrer prallen Euter, wird man ergänzen müssen), sind auch ansonsten dicht verwoben in die indische Mythologie, deren wassertriefendes Dickicht ohnehin an die Mangrovenwälder der südasiatischen Flussdeltas erinnert. Die großen Ströme des Nordens sind schon deswegen heilig, weil sie vom Himalaja kommen, welcher der Sitz der Götter ist (wobei die Kausalkette wohl umgekehrt verläuft: die Berge sind heilig, weil von ihnen die Flüsse kommen). Der Indus entspringt dazu an einem der heiligsten Orte des ganzes Kulturraumes, dem Sitz Shivas auf der fast 6700 Meter hohen, singulären Bergpyramide des Kailas, dessen mühevolle Umrundung für den Hindu so bedeutsam wie für den Moslem der Gang um die Kaaba in Mekka ist. Der Kailas gilt als die irdische Entsprechung des mythischen Weltberges Meru, dem gemeinsamen Mittelpunkt des hinduistischen und buddhistischen Weltensystems, der wiederum das Vorbild für die pyramidenförmigen Pagoden Pagans und Ankors und vieler hinduistischer Tempel ist. Am Fuße des Kailas – auf 4500 Meter Höhe – befindet sich im übrigen das denkbar heiligste aller Gewässer, der Manasarovar See, in dessen eiskaltem Wasser zu baden dem Hindu höchstes spirituelles Erlebnis ist. Nicht weit von diesem See, der als Spiegel des Brahma, des zweiten Gottes der Hindutrinität gilt, entspringt der Brahmaputra, was so viel wie „Sohn des Brahma“ heißt. Auch einer der großen Flüsse Mittelindiens, der Krishna, ist nach einer mythischen Figur benannt. Krishna ist einer der populärsten Helden der indischen Sagenwelt. Er ist die achte Reinkarnation Vishnus, des dritten Gottes der Hindutrinität, der zugleich der Vater des Ganges ist.

 

Der Ganges aber ist heiligste Fluß Indiens. Er entspringt im Himmel, wo er aus dem Fuße Vishnus fließt. Ganga, wie der Fluss in Indien heißt, wird als weibliche Flussgottheit dargestellt, die auf einem Krokodil steht und in der einen Hand eine Wasserflasche und in der anderen eine Lotosblüte hält. Für die Lebenden ist das Bad in Gangas Fluten Gottesdienst. Die Toten werden mit ihrem Wasser gereinigt. Kann man die Leiche nicht direkt an den Fluss bringen, wird sie mit Wasser aus dem Ganges besprengt, welches in jedem Hinduhaushalt in einer Flasche bereitgehalten wird. Auch die Asche der Verstorbenen wird, soweit möglich, in den Ganges geworfen.

 

Dass der Ganges eine so überragende Bedeutung für das indische Denken und Fühlen hat, beruht ohne Zweifel zunächst einmal darauf, dass er die Lebensader des indischen Kernlandes ist. Sein Mythos reflektiert aber auch ganz allgemein die besondere Bedeutung des Wassers als Lebensgrundlage der indischen Zivilisation. Nach dem Shiva-Mythos fließt das Wasser des Ganges, nachdem es der Gott mit seiner Stirn aufgefangen hat, weich aus seinen Haaren und kann sich daher wohltuend über das ganze Land verteilten. Das Wasser des Ganges steht so für das Wasser, das der ganzen (indischen) Welt Leben spendet. Damit aber ist der Mythos von der Herabkunft des Ganges so etwas wie der ökologische Grundmythos der indischen Kultur. Noch im südindischen Mahabalipuram, weit ab vom Ganges, wird er denn auch in einem Felsrelief, dem größten Indiens, figurenreich dargestellt.

 

Ganga ist aber wohl noch in einem „weiteren“ Sinne grundlegend für die indische Kultur. Ein Charakteristikum des indischen Denkens ist, dass es dazu neigt, Elemente verschiedener Kosmologien, Religionen und Ikonographien miteinander zu vermischen. Die Erbauer von Ankor etwa haben sich, wiewohl Buddhisten, auch als Reinkarnation des Hindugottes Vishnu gesehen. Eine ähnlich synkretische Vermischung der religiösen Anschauungen und Figuren lässt sich auch Ceylon beobachten. In diesem Mangel an religiöser Trennschärfe kommt die allgemeine Neigung des indischen Denkens und schöpferischen Wirkens zum Ausdruck, Formen und Gestalten miteinander zu verschmelzen und das Eine in das Andere übergehen zu lassen. Dieses fließende Element in der indischen Kultur zeigt sich nicht nur in der verwirrenden Vielgestaltigkeit seiner Mythologie, in der Götter und Dämonen jede Gestalt annehmen können. Es ist auch die Basis der Reinkarnationslehre, nach der ein Wesen in der Form eines jeden anderen Wesens wiedergeboren werden kann. Es ist, als sei diese eigentümliche Beweglichkeit und die Tendenz, die Dinge ineinander- oder, wie im Falle der Ganga aus Vishnu, auseinanderfließen zu lassen, von dem besonders intensiven Leben mit dem unfesten Element beeinflusst.

 

In dieser Idee wird man bestärkt, wenn man die Konturenstrenge und Bildlosigkeit der großen monotheistischen Weltreligionen dagegen hält, die bekanntlich in einer wasserarmen Gegend entstanden sind. In vorderasiatischer Sicht wird etwa Leben dogmatisch streng im Zusammenhang mit einmaligen und unvermischbaren Individuen gedacht. Das indische Denken hingegen sieht individuelles Leben – wie jede Konkretisierung – nur als vorübergehendes Heraustreten aus einem großen Ganzen, in welches das Einzelne zurückkehrt, ohne dass seine Substanz verloren geht. Dieses Verhältnis des Einzelnen zum Ganzen ist wie das Verhältnis des Wassertropfens zum Fluss. Dies und die Tatsache, dass der Fluss auch den ewigen Kreislauf von Werden und Vergehen symbolisiert, den das indische Denken voraussetzt, hat dazu geführt, den Fluss als umfassende Metapher zur Darstellung der indischen Auffassung von Leben und Wirklichkeit zu verwenden. So gesehen ist Ganga, der Fluss schlechthin, auch in einem weiteren Sinne die Mutter der indischen Kultur.

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