Echte Menschen – Eine Begegnung mit den Urwaldbewohnern Malaysias

Wir trafen Kulit, einen 27-jährigen malaysischen Flugzeugmechaniker, in einem klapprigen Bus auf dem Weg von den Urwäldern im Zentrum der malayischen Halbinsel nach Kuala Lumpur. Er kam, wie wir, aus dem malaysichen Nationalpark Taman Negara, wo er einem ausgefallenen „Hobby“ nachgegangen war. Er suchte den Kontakt zu den Waldmenschen, jenen seltsamen, in keiner Weise mit den einheimischen Malayen verwandten Bewohnern der Urwälder, die man Orang Asli nennt, was so viel wie „ursprüngliche“ aber auch „echte Menschen“ heißt.

 

Wir selbst standen noch ganz unter dem Eindruck unserer eigenen unerwarteten Begegnung mit den Waldmenschen, einer nur wenige Minuten langen Episode, die uns als der Höhepunkt unserer Reise durch Malaysia erschienen war. Es war auf einer Wanderung im Taman Negara, dessen Urwald man als den ältesten der Erde bezeichnet, weil sich die Lebensbedingungen dort seit 400 Millionen Jahren nicht verändert haben. Mitten darin fand die eindrucksvolle Begegnung mit den Waldmenschen statt, deren Lebensform so alt zu sein scheint, wie der Wald, in dem sie leben.

 

Fernab vom Touristencamp war uns eine Gruppe von gänzlich unmalayisch aussehenden Menschen entgegengekommen. Voran ging eine Frau, die nur mit einem Lendenschurz bekleidet war. Um die Schultern trug sie ein Tuch, in dem sich ein wenige Wochen alter Säugling befand. Es folgten zwei Kinder, etwa 10 bis 14 Jahre alt, barfuss und nackt, dahinter ein Mann, der eine kurze Hose und Turnschuhe trug. Mit ihrer dunklen Haut und dem schwarzen krausen Haar erinnerten sie an die australischen Ureinwohner. Offenbar überrascht, sich einer europäischen Familie mit ebenfalls 3 Kindern gegenüber zu sehen, deren leuchtende Blondschöpfe auf’s deutlichste mit ihrer eigenen Haartracht kontrastierten, hielten sie einen Augenblick inne. Zwei Familien, durch Jahrtausende der Entwicklung voneinander getrennt, standen sich gegenüber: Waldbewohner der ältesten heute noch existierenden Stufe menschlichen Lebens und weiße Zivilisationsmenschen des entgegen gesetzten Extrems. Zum Glück gab das Baby einen schnellen Anknüpfungspunkt. Stolz packte die Mutter den kleinen nackten Jungen aus dem Schultertuch. Man hatte ihm die Haare bis auf ein kleines Büschel über der Stirn abgeschnitten. Es fand ein sprachloser Austausch von Reaktionen der Rührung statt – in elementaren Punkten sind die Zivilisationen eben doch nicht sehr weit voneinander entfernt. Dann ging jede Familie wieder ihres Weges. Die Waldmenschen verschwanden hinter Palmblättern und ließen uns in weitreichendsten Gedanken über den Menschen und seine erstaunliche Entwicklung zurück, deren langer Weg uns plötzlich deutlicher denn je zuvor Augen stand. Viel hätten wir dafür gegeben, mehr von den Waldmenschen zu wissen, nicht zuletzt darüber, was ihnen nach dieser Begegnung durch den Kopf ging.

 

Nur einen Tag nach dieser denkwürdigen Begegnung war uns dann Kulit über den Weg gelaufen, der unsere Begierde, mehr über die Waldmenschen zu wissen, in ungeahnter Weise befriedigen konnte. Was er dabei berichtete, klang wie ein Märchen aus dem Sozialparadies. Rousseau hätte es nicht besser erfinden können.

 

Seit Jahren, so begann er, verbringe er jede freie Minute mit den Waldmenschen. Wochenlang habe er mit ihnen in den Wäldern gelebt. Er kenne ihre Sprache, die sehr einfach sei. Meist begnügten sie sich mit kurzen Zurufen. Er selbst habe sich ein kleines Wörterbuch gemacht, vielleicht das Einzige, dass von ihrer Sprache existiere. Die Waldmenschen, fuhr er fort, ziehen in Gruppen bis zu 20 Personen im Dschungel umher, lassen sich hier und dort nieder und bleiben an einem Ort nur solange, wie er ihnen Nahrung bietet. Sie leben von den Pflanzen, die ihnen die Natur bietet, und von der Jagd, bei der sie das Blasrohr verwenden. Über lose zusammengefügte Kleingruppen hinaus gibt es so gut wie keinen größeren Zusammenhang, eine weitläufige Stammeszugehörigkeit zwar, nichts aber, was einem Staat ähnlich wäre. Der Wechsel von einer zur anderen Gruppe ist zwanglos und findet nicht zuletzt zur Lösung von Spannungen innerhalb der Gruppe statt. Die verschiedenen Gruppen stehen in einem freundlichen Verhältnis zueinander. Sie kommen sich auch kaum ins Gehege, denn der tropische Wald bietet allen genügend Platz und Mittel zur Befriedigung ihrer äußerst einfachen Bedürfnisse. Kriminalität sei unbekannt, Eigentums- und Bereicherungsdelikte schon mangels Eigentum an beweglichen Sachen. Fremd sei ihnen bereits die Vorstellung, dass jemandem etwas gehören könne, was er nicht gerade bei sich trägt. Es fehle an jeder Art von Abstraktion, weshalb sie auch keine Vorstellung darüber hätten, dass man eine bloß geistige Beziehung zu einer Sache, einen Anspruch haben könne. Ich wusste nicht so recht, ob ich sie deshalb bedauern oder beglückwünschen soll. Mit dem Begriff des Anspruchs freilich fehlt den Orang Asli eine schier unerschöpfliche Quelle des Streitens und Rechtens und damit des Bedarfs, Normen zu schaffen. Allerdings fehlt ihnen auch der Anreiz, immer differenziertere, geistigere Fähigkeiten zur Auseinandersetzung auszubilden. Eine Gesellschaft, die keinen Bedarf an Juristen hat – ist das die Definition des Paradieses?

 

Ansprüche, so meinte ich mit meiner europäischen Seele, müsse es doch wenigstens im Emotionalen geben, ein nicht materielles Band etwa zwischen Mann und Frau bestehen. Auch hier fehle jede Institution, berichtigte mich Kulit. Zwar gäbe es so etwas wie eine Ehe. Man feiere die Hochzeit in bescheidener Form, etwa indem man einen etwas größeren Affenbraten herrichte. Aber es folgen keine Verpflichtungen daraus. Jeder, auch die Frau, sei frei, sich einen neuen Partner zu suchen. Emotionale Probleme, die daraus resultieren können, löse man, indem man die Gruppe verlasse. Ohnehin hielten sich solche Frustrationen in Grenzen. Wo kein Anspruch, da auch keine Enttäuschung, meinte er lakonisch.

 

Abstraktionen, fuhr Kulit weiter, hervorgehobene Positionen also, gäbe es auch im Aufbau der Gruppen kaum. Es gebe keine formelle Hierarchie, zumindest keine, der man sich nicht ohne weiteres, nämlich durch Verlassen der Gruppe entziehen könne. Ebensowenig gebe es religiöse Hervorhebungen, Dogmen etwa oder Riten. Man habe eine numinose Vorstellung von Geistern, die jeder für sich konkretisieren könne. Mangels religiöser Überbauten gäbe es keine Machtausübung durch religiösen Druck, kein Ausnützen religiöser Bindungsgefühle für irdische Zwecke, stellte Kulit fest. „Begraben“ allerdings werde in der Krone der Bäume – damit man näher am Himmel sei, meinte Kulit unter Verwendung eines eher islamisch-christlichen Höhenbegriffs.

 

Es gäbe nichts, was man Architektur oder Baukultur nennen könne, sagte Kulit weiter. Die Behausungen der Waldmenschen seien nur für wenige Wochen gebaut und sollen eigentlich nur vor dem Regen schützen. Sie bestehen aus ein paar Palmblättern, die im Boden verankert sind, enthalten keinerlei Inventar und sind so niedrig, dass man darin nicht stehen könne. Überhaupt sei den Orang Asli jeglicher Gesichtspunkt vorbeugenden Schutzes unbekannt. Das Klima und die Fülle des Dschungels legten es nicht nahe, Perspektiven der Absicherung zu entwerfen. Da die äußeren Bedingungen das ganze Jahr über gleich blieben, sei Daseinsvorsorge nicht erforderlich. Die Orang Asli lebten im wahrsten Sinne des Wortes in den Tag hinein.

 

Das gelte auch für den Gesichtspunkt, der die Gesellschaften vielleicht mehr als alles andere in Bewegung halte. Die Orang Asli lebten noch vor dem Beginn der Rüstungsspirale. Mangels Konfrontation mit anderen, aggressiven Sozialsystemen seien sie nie gezwungen gewesen, Verteidigungsvorsorge zu treffen. Die weiche Mentalität der malayischen „Nachbarn“, mit denen es in dem weiten und leeren Land ohnehin kaum Berührungspunkte gab, habe kein Bedürfnis nach Konkurrenzanstrengungen entstehen lassen. So habe es keine Abgrenzung, kein Vergleichen und kein Sichbehaupten gegeben. Nie sei das in Gang gekommen, was man die gesellschaftliche Entwicklung oder gar den „Fortschritt“ nenne. Daher fehle der Drang zur Überordnung und zum Übertrumpfen, fehlen die dazugehörigen Abwehrprozesse und die Versuche, den Konkurrenzkampf zu regeln, fehle schließlich die Verkleidung dieses Kampfes in Ideologie und damit das dynamische Element in den Sozialbeziehungen.

 

Wir gerieten ins Schwärmen. Die Orang Asli schienen einen Blick fast in die Stunde Null der menschlichen Sozialbeziehungen zu ermöglichen. Bedingt durch eine seltene Kombination äußerer Umstände wie Klima, insuläre Lage, Reichtum der Natur und dünne Besiedlung, standen sie offenbar vor Beginn fast aller Prozesse, die entwickeltere Gesellschaften kennzeichnen. Und so erschienen auf dem Negativ des Bildes der „primitiven“ Gesellschaft, deutlich wie auf einem Röntgenbild, die Strukturen unserer modernen Gesellschaften.

 

Natürlich musste ich, während Kulit das Paradies beschwor, gelegentlich mit den Zweifeln kämpfen, die ein europäisches Gehirn angesichts der Erfahrungen mit angeblich idealen Sozialsystemen befallen. Dazu erinnerte Kulits Bericht an alte Schöpfungsmythen vom ursprünglichen Paradies und an gewisse sozialutopische Theorien. Irgendwie schienen die Bibel oder Robinson Crusoe und seine Nachfolger im Spiel sein. Deren Vorstellungen aber waren sicher weniger aus der Realität als aus der Sehnsucht geboren, die bekanntlich der Spiegel des Unvollkommenen ist. Ich fragte mich daher, ob Kulits Sicht der Orang Asli nicht möglicherweise der Ausdruck seiner Zerrissenheit war, seiner zwiespältigen Stellung zwischen Tradition und überschnellem Aufbruch in die Moderne, die Malaysia, wie so viele andere Staaten Asiens, kennzeichnet? Hatte hier ein malayisch-islamischer Romantiker die überkommene Vorstellung vom ursprünglichen Paradies, die Islam und Christentum teilen, über die Wirklichkeit der Waldmenschen geworfen, weil er auf der Suche nach Geborgenheit war? Postulierte er, wie schon die europäische Aufklärung, den „guten Wilden“ zum Zwecke der Besserung der zeitgenössischen Gesellschaft? Typisch europäisch dachte ich dann und behielt meine Zweifel für mich.

 

Kulit kam aber dann selbst auf das verlorene Paradies der Orang Asli zu sprechen. An den Rändern der Wälder, die immer weiter zurückgedrängt würden, so erzählte er, hätten die Orang Asli naturgemäß auch immer mehr Kontakt mit der modernen Welt. In Taman Negara etwas verdingen sich viele Waldmenschen als Führer durch den Urwald, verdienen auf diese Weise Geld und kaufen produzierte und damit knappe Dinge. Mit den Gegenständen, die nicht alle haben, beginnen die Probleme. Der Geist der Konkurrenz erwache und auch Begehrlichkeit und Neid entstehen. „Natürlich“ versuche man, den Weg zu den knappen Gütern zu verkürzen. So werde auch gestohlen, der Diebstahl müsse vertuscht werden, Heimlichkeiten, Spannungen und Rechtskonflikte entstünden, Normen und der Mangel daran würden bewusst. Der ganze Prozess der sozialen Evolution komme mit allerlei Geburtswehen und Verwachsungen in Gang. Sehr lange könnten die Orang Asli diesen Prozess nicht überstehen, so Kulits Sorge, denn er gehe in einem Tempo vonstatten, der ihnen den Atem raube.

 

Während dieser Diskussion war die lange Fahrt wie im Flug vergangen und wir näherten uns Kuala Lumpur. Bald waren wir umgeben von Wolkenkratzern, Gebirgen aus Beton und Stahl, teils im kantigen Weltstil, teils aber – zum Erstaunen eines Europäers – auch ungeniert im Stile von Tausenundeinenacht. Ich hatte die Stadt zuletzt vor 20 Jahren gesehen und konnte sie kaum wiedererkennen. Die Stadt, die ohnehin kaum 100 Jahre alt ist, hat in dieser Zeit, die in etwa Kulits bewusst erlebter Lebenszeit entsprach, ein Vielfaches der Entwicklung durchlaufen, welche die Orang Asli in Jahrtausenden machten. Kein Wunder, dass Kulit, der fundamentalistische Flugzeugmechaniker, die „Echten Menschen“ suchte.

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3 Antworten zu “Echte Menschen – Eine Begegnung mit den Urwaldbewohnern Malaysias

  1. Silvy Brockhaus

    Einfach nur faszinierend!

  2. In meinen Augen enthält diese Webseite Informationen zu den größten und besten Menschen dieser Erde!

    In Liebe und Dankbarkeit widme ich diesen Kommentar den Urwaldbewohnern, wovon ich selbst gerne einer wäre!

  3. Ein wunderbarer Beitrag. Ich habe 1988 Malaysia und und Borneo bereist und durchleben beim Lesen gerade meine Reise in den Taman Negara ein weiteres Mal. Auch den Kinabalu auf Borneo habe ich damals bestiegen.

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