Briefe aus der Wendezeit – Teil 10

Stuttgart, 10.6.1991

 

Lieber Frank,

 

die deutsch-deutschen Erkundungen der weiter gewordenen Welt gehen ihren reziproken Gang. Während ihr Euch in den lange verschlossenen Süden aufmacht, haben wir unseren Horizont kräftig nach Osten erweitert. Und wir staunen, was unseren Blicken bislang alles verborgen geblieben ist. Trotz Fernsehen, trotz einer freien Presse und Büchern, trotz der Berichte von Reisenden und Besuchern hatte man, wie mir immer stärker bewußt wird, ein wenig zutreffendes Bild von der „zweiten Welt“[1]. Der Osten war früher eine eher dumpfe und irgendwie unwirtliche Region, mit der man sich nicht unnötig befasste. Man nahm entgegen, was andere darüber berichteten, meist war es Unangenehmes und Unfreundliches. Ein mögliches Feld eigener Erlebnisse war die Region für mich kaum mehr als für Euch der Westen und der Süden. So blieb der Osten chimärenhaft und unwirklich. Ohnehin schienen alle wirklich wesentlichen Zeugnisse europäischer Kultur in unserer Hälfte der Welt zu liegen. Die Mutter der europäischen Kultur war Italien. Ein paar hübsche westliche Töchter stritten darum, wer der Mutter am ähnlichsten sei. Im Osten hingegen wohnten allenfalls ein paar späte Abkömmlinge, deren Abstammung darüber hinaus nicht richtig geklärt war. Eigentlich war es kein Wunder, daß sich der Rest des politischen und gesellschaftlichen Dunkels, welcher die erste Hälfte des Jahrhunderts kennzeichnete, im Osten halten konnte. Dieses diffuse und düstere Ostbild war so wirksam, daß selbst die Vergangenheit davon betroffen war. Natürlich wußte man, daß Kant in Ostpreußen und Kopernikus in Polen wirkte. Und doch blieb auch der geschichtliche Kulturraum merkwürdig undeutlich. Es war, als hätte man mit der unerfreulichen Gegenwart auch gleich die Vergangenheit ins östliche Abseits gedrängt. Das gilt sogar für den mitteldeutschen Kulturraum, obwohl dieser schon um die Ecke beginnt (daß er in der Mitte Deutschlands lag, ist mir erst in diesen Tagen wirklich bewußt geworden). Man wußte von Luther in Wittenberg, von Bach, Schumann und Mendelsohn in Leipzig, von Wagner in Dresden und von der ganzen klassischen Schreibzunft (einschließlich den Schwaben Wieland und Schiller) in Weimar. Aber all das gab kein zusammenhängendes Bild von diesem Raum und nicht einmal ein Interesse dafür.

 

Nun sind wir dabei, die Lücken unseres Weltbildes zu füllen. Die letzten Wochen haben mich durch vier ehemalige Ostländer geführt. Es fing an mit dem Ort, an dem „alles“ anfing, dem sympathischen Land zwischen Süd und West, das im Großen und Kleinen, so etwas wie der Katalysator der ostwestlichen Horizonterweiterung war. Ich nutzte ein Basketballturnier in Keskemet, ziemlich hinten in Ungarn, um die neueste Entwicklung der dortigen Dinge in Augenschein zu nehmen. Da außer uns noch eine polnische, eine rumänische und zwei ungarische Mannschaften mitwirkten, war es tatsächlich so etwas wie eine Informationsveranstaltung zum Thema Osten. Darüber hinaus haben wir die Probleme dieser Länder auch ziemlich hautnah erlebt. Das fing schon mit dem Freizeitverhalten der Ostmannschaften an. Sie waren bei diesem Turnier von alternden Hobbysportlern anfangs mit fast verbissenem Ernst bei der Sache, gingen abends früh ins Bett, um für die Spiele fit zu sein und hielten sich von geselligen Dingen weitgehend fern. Das ging zu wie in den ausgestorbenen abendlichen Städten im Osten, in denen sich nach Geschäftsschluss ebenfalls alles in die Betten zu begeben scheint. Erst angeregt durch unser Beispiel tauten die Ostler langsam auf und schlossen sich zunächst verwundert, dann mit wachsender Faszination den verrückten Westlern an. Die merkwürdige Ungeselligkeit hatte freilich zum Teil handfeste „wirtschaftliche“ Ursachen. Die ungarischen Veranstalter hätten entsprechend der Übung bei den vorangegangen Turnieren (u.a. in Stuttgart) an sich die gesamten Kosten ein schließlich Unterkunft und Verpflegung tragen sollen, was jedoch offensichtlich über ihre Kräfte ging. Obwohl es ihnen sichtlich peinlich war, baten sie daher, daß die Beteiligten die Kosten für die Getränke selbst tragen möchten. Die Folge war, daß die Rumänen mangels „Devisen“ (für die Rumänen ist der Forinth bereits eine harte Währung) nicht am abendlichen gemütlichen Zusammensein teilnehmen konnten. Es reichte nicht einmal für eine Flasche Bier. Da es ihnen ihr Stolz verbot, sich ohne Getränke zu beteiligen, saßen sie, während sich im Gemeinschaftsraum mit Hilfe von Akkordeon, Gitarre uns Banjo (alle von unserer Mannschaft) lautstark deutsche Gemütlichkeit ausbreitete, in ihren Zimmern und gaben vor, sich auf die Spiele vorzubereiten. Erst mit einem Trick, nämlich der Behauptung, eines unserer Mannschaftsmitglieder habe Geburtstag und lade alle Turnierteilnehmer ein, gelang es, sie aus ihren Zimmern zu locken. Aber das ging nur einmal. Eine weitere Einladung wollten sie, wiewohl sie für uns einen Klacks bedeutete, partout nicht annehmen. Stattdessen hofften sie, die erforderlichen Devisen erhandeln zu können. Und so boten sie uns eine alte Kuckucksuhr (mit Ausfuhrzertifikat des rumänischen Zoll) und eine Vorkriegskamera an, in der Annahme den meisten Westdeutschen sitze das Geld so locker, daß sie ein paar tausend Mark, die die Sachen laut einem Sammlerkatalog wert sein sollten, wohl zahlen würden.

 

Die Rumänen, mit denen ich ausführliche Gespräche hatte, berichteten, der Zustand ihres Landes unterscheide sich von dem Ungarns wie dessen Zustand von dem (West)Deutschlands. Dabei geht es den Ungarn selbst alles andere als glänzend. Das Warenangebot in den Läden der Kleinstädte ist noch genauso dürftig, wie eh und je[2]*. Die malerischen kleinen Bauernhöfe, die über die Puszta verstreut sind, erweisen sich bei näherem Hinsehen als äußert dürftige und heruntergekommene Behausungen, in denen die Menschen samt allerlei Getier auf dem Niveau von Fellachen leben, umgeben von chaotischen Sammlungen von absolut allem, was in einer Mangelwirtschaft Gegenstand des Handels und der Lebensvorsorge sein könnte. Von einer neuen Zeit ist nicht viel zu sehen. Was in den Städten aus der allgemeinem Tristesse herausragt, sind meist Gebäude aus der „guten alten Zeit“ der K.& K. Monarchie. Nach Maria Theresia und der Gründerzeit ist es städtebaulich offenbar nur noch bergab gegangen. Und heute sieht es so aus, als stimme das Bild vom Katalysator auch insoweit, als ein solcher zwar die Verbindung ziemlich heterogener Elemente bewirkt, selbst aber unberührt bleibt.

 

In den Pfingstferien ging es wieder gen Osten. Diesmal hatten wir Größeres vor. Wir haben zu nächst den Süden der ehemaligen DDR noch einmal nachgearbeitet. Der Zustand der alten Städte hat uns noch mehr als beim letzten Mal erschüttert, insbesondere nachdem sich hier, einige Einzelprojekte ausgenommen, noch immer wenig zu bewegen scheint[3]. Auch nach intensivem Grübeln ist es mir bislang nicht gelungen, herauszufinden, auf Grund welcher Einstellung es dazu kommen konnte, daß mitteleuropäische Menschen eine dermaßen verrottete Umgebung akzeptieren. Nicht weniger erstaunlich ist das Nebeneinander von moderner Billigstarchtitektur und großartigsten historischen Gebäuden[4] (Das „Ambiente“ des alten Rathauses von Gera ist dafür ein Musterbeispiel). Es gibt nur eine Hoffnung. Diese Häuser sind möglicherweise so schlecht gebaut, daß sie in absehbarer Zeit abgerissen werden müssen[5]. Hoffentlich gilt dies auch für die „monumentalen“ Bauten von Chemnitz, dessen Zentrum ein Alptraum ist. Der traurige Höhepunkt aber war für uns zweifelsohne Zwickau. Gleich hinter dem Schumannhaus am Marktplatz glaubt man im Kriegsgebiet zu sein. Eine Außenre novierung der vom Braunkohlequalm zerfressenen, prächtigen Marienkirche dürfte einem Neubau fast gleichkommen. Nicht weniger traurig sehen weite Teile der Altstadt von Bautzen aus. Dresden allerdings, daß mich vor einem Jahr noch in städtebauliche Depressionen versetzt hat, hat mich dies mal weniger hart getroffen, vielleicht, weil man dort etwas Bewegung sieht. Ein Schloß, aus dessen schwarzer Fassade heller Sandstein wächst und dessen Dach wieder gedeckt ist, lässt mich über manche „Prager Straße“ hinwegschauen. Die Entdeckung der Reise durch Thüringen und Sachsen war Görlitz. Die Stadt, von der ich bis vor kurzem nicht den Hauch einer Vorstellung hatte, hat die Chance, zu einer der schönsten deutschen Städte zu werden. Ein gütiges Schicksal hat die umfangreiche Altstadt nicht nur vor dem Krieg, sondern auch vor den Flächensanierungen à la SED geschützt, so daß in ihr Plattenbauten und sozialistischer Klotzstil fehlen. Daß die Gründerzeit so „fern“ im Osten solche Feste feierte, habe ich mir nicht träumen lassen.

 

Apropos Freizeitverhalten. Görlitz, dessen Architektur gerade des 19. Jahrhunderts wahrlich den Sinn für das Vergnügen wiederspiegelt, soll einmal 400 Gaststätten gehabt haben. Heute sind es vermutlich weniger als 10 und davon haben, wie wir uns überzeugen mußten, noch immer abends die meisten geschlossen. Vom nächtlichen Leben in dieser Prachtstadt will ich gar nicht reden. Man macht sich fast verdächtig, wenn man abends durch ihre finsteren Gassen schlendert.

 

So richtig bewußt wurde mir bei dieser Reise durch Deutschlands „Osten“, in welcher Blüte hier die Deutsche Renaissance stand. Es ist schon mehr als erstaunlich, daß einem Renaissanceenthusiasten, wie ich es bin, das Bewußtsein davon weitgehend abhanden gekommen ist. Zu einem Zeitpunkt, wo man aus schierer Verzweifelung über die abgegraste „europäische“ Kulturlandschaft zunehmend dem Exotischen zustrebte, stellt sich heraus, daß in nächster Nähe eine Menge Kulturgeschichte nachzuarbeiten ist. Der Mangel an gesamtdeutschem Kulturbewußtsein war tatsächlich ein Abhandenkommen. Ich kann mich noch gut daran erinnern, daß mir die „Ostgebiete“ und ihr kulturelles Erbe einmal wesentlich näher standen. Es gab im Bücherschrank meiner Eltern Bücher wie „Deutsche Dome“ und „Deutsche Bürgerbauten“, in denen wir als Kinder blätterten und in denen „natürlich“ auch die Bauwerke des Ostens abgebildet waren. Erst im Laufe der Zeit geriet die Vorstellung von einem einheitlichen deutschen Kulturraum in den Hintergrund. Das war es ja wohl, worauf die alten Herren bei Euch spekulierten und fast wäre es ihnen auch gelungen. Bei den Jungen hier ist von einem gesamtdeutschen Bewußtsein schon kaum mehr etwas zu spüren. Sie fühlen weder eine gemeinsame Aufgabe noch sind sie bereit, sich für den anderen Teil Deutschlands sonderlich zu engagieren (oder gar etwas zu opfern). Für die Erscheinungen, die die Folge der jahrzehntelangen Isolation des Ostens sind, haben sie überhaupt kein Verständnis. Für sie ist Deutschland das, was im Westen daraus geworden ist und sie erwarten, daß die, die dazu gehören wollen, sich entsprechend verhalten. Mit dem dumpfen alten Deutschland, das in der ehemaligen DDR leider zu einem guten Stück  überlebte, wollen sie nichts zu tun haben. So manche Übersiedlung tatkräftiger Mittvierziger in den Osten scheitert an dem massiven Widerstand seines halbwüchsigen Nachwuchses.

 

Soweit die „DDR“. Unser eigentliches Ziel war Polen. Nach allem, was wir darüber gehört hatten, war hier Übles zu erwarten. Wir waren darauf gefasst, daß die Städte noch herunter gekommener als in der „DDR“ sein würden und daß die Polen die alten deutschen Städte nach dem Krieg vollends heruntergewirtschaftet hätten. Nach einem unmittelbar vor unserer Abfahrt in der hiesigen Zeitung erschienen Artikel über die polnischen Straßenzustände haben wir sogar zum Schutze unseres altersschwachen Gefährts erwogen, das Ostprojekt abzubrechen. Es war die pure Abenteuerlust, daß wir trotz der abschreckenden Meldungen an dem Reiseplan festhielten.

 

Aber es war kein Abenteuer, jedenfalls nicht in der erwarteten Weise. Die Wirklichkeit kontrastierte auf’s Deutlichste mit den Vorurteilen. Das Land machte auf uns von Anfang an einen besseren Eindruck als die deutsche sozialistische Hinterlassenschaft. Wir fanden keine verfallenden Altstädte und auch die Straßen waren deutlich besser als in der „DDR“. Zu allem fanden wir mit Krakau zu unserem Erstaunen (wir waren abgesehen von unseren Vorurteilen vollkommen unvorbereitet) eine Stadt, die unter die ganz großen Stadtlandschaften Europas einzuordnen ist, dazu in einem Zustand, der auch nicht schlechter ist als der vieler westlicher, zumal südeuropäischer Städte. Sicher das Land ist arm und vielen Menschen sieht man an, daß sie unter Bedingungen leben und arbeiten, die bei uns als veraltet, teilweise sogar als menschenunwürdig gelten. Aber man hat nicht in gleichem Maße den Eindruck, daß die Menschen resigniert und einfach alles haben den Bach hinuntergehen lassen. Dies zeigt sich auch an dem geradezu beispiellosen privaten Bauboom. Kaum ein Haus, in dessen Garten nicht Backsteine für einen Erweiterungs- oder Neubau lägen. Und zahlreiche Häuser sind offensichtlich gerade erst fertiggestellt worden. Wenn jetzt aus rechtsradikalen Ecken der „DDR“[6] antipolnische Töne kommen, so sind sie mit der Überlegenheit der „deutschen Rasse“ weniger denn je zu begründen. Der Mythos von der geradezu genetisch bedingten deutschen Ordentlichkeit und Gründlichkeit ist, nachdem die „DDR“ so ziemlich den größten sozialistischen Sauhaufen produziert hat, endgültig gestorben. Auch die so vorbildlichen germanischen gesellschaftlichen Umstände, die „aufgeklärtere“ Nationalisten für die Basis der deutschen Tugenden halten, haben sich bei Gelegenheit des sozialistischen Experiments als nicht eben widerstandsfähig erwiesen[7]. Wenn überhaupt ein altes gesellschaftliches System überlebt hat, das den Menschen im Sozialismus noch einen gewissen Halt geben konnte, dann ist es ausgerechnet der polnische Katholizismus gewesen.

 

 A propos Katholizismus: Das religiöse Leben, das wir in Polen antrafen, lag jenseits meiner westlichen Vorstellungskraft. Man hat vom polnischen Katholizismus ja schon einiges gehört. Aber man muß die keineswegs nur alten Frauen beim gemeinsamen abendlichen Gebet im Freien vor einer Kapelle am Straßenrand gesehen haben, man muß in Tschenstochau und in den überfüllten Kirchen Krakaus gewesen sein und die endlosen Strophen melancholischer Lieder gehört haben, um zu wissen, wie Katholizismus heute in „Mitteleuropa“ noch aussehen kann. (Dagegen erscheint die religiöse Inbrunst Italiens geradezu als Theater.) Auch hier kommen völlig neue Facetten (und neue Probleme, wie ich fürchte) ins erweiterte europäische Bild.

 

Mehr denn je sind wir in Polen mit Deutschland konfrontiert worden. Die sogenannten deutschen Ostgebiete waren für mich bislang noch weniger ein Begriff als der sonstige Osten. Es muß etwas mit Verdrängung zu tun haben, wenn man von den meisten alten Städten in Schlesien nicht einmal die Namen, geschweige denn ihre Lage und Geschichte kennt. Umso merkwürdiger war es, hier auf Schritt und Tritt auf deutsche Kultur und Geschichte zu stoßen. Erst dadurch hat der Begriff Mitteldeutschland für mich Konturen erhalten. Die Folgen für die deutsche Gefühlslage sind verwirrend. Bislang war es keine Kunst, auf diese unbekannten Gebiete zu verzichten. Jetzt mußte ich den Verzicht, den ich für unvermeidbar halte, durchleben. Da ist zur Bewältigung zwiespältiger Gefühle nicht wenig Verstand gefragt. Die Situation Schlesiens ist ja überaus merkwürdig. Überlagerungen von Kulturen und politisch-soziale Überwucherungen sind aus Nah und Fern ja wohlbekannt; ein „Musterbeispiel“ liegt mit dem Elsaß vor unserer Haustür. Solche Akkulturationen sind jedoch in der Regel ein allmählicher Prozeß, zumal dabei in aller Regel die ursprüngliche Bevölkerung erhalten bleibt. Die plötzliche Auswechslung aller Menschen eines alten, dicht besiedelten Kulturgebietes hingegen hat etwas Ungeheuerliches und Künstliches. In ihrer Ungeheuerlichkeit erinnert sie überdeutlich an die Ungeheuerlichkeit der Zeit, dessen Ergebnis sie ist. Sie liegt wie ein Findling aus barbarischem Urgestein in einer durch Wind und Wetter neuerer Zeiten weicher gewordenen Landschaft. Und das dürfte die Überwindung der alten Zeit nicht gerade erleichtern. Vielleicht hilft die Vorstellung von einem einheitlichen europäischen Kulturraum, in dem die nationalen Grenzen ihre trennende Wirkung verlieren, wie sie zur Besänftigung der Gefühle jetzt entwickelt wurde. Sie hat etwas Tröstliches und Rührendes, aber, wie mir angesichts des Entwicklungsgefälles zwischen Deutschland und Polen scheint, auch etwas Beschwörendes. 

 

Ich habe mich auch der nicht geahnten Belastung eines Besuchs von Auschwitz ausgesetzt. Wenn ich von dem ungeheuren Eindruck, den dies auf mich machte, auf den Eindruck schließe, den dies bei den polnischen Schulklassen machen dürfte, die ständig durch diese Stätten des Grauens geführt werden, so weiß ich allerdings nicht so recht, wie das deutsch – polnische Verhältnis jemals unbefangen werden soll. Übrigens war ich sehr verwundert Auschwitz dort zu finden, wo es ist. Für mich lag es immer in einer nicht klar bestimmten, jedenfalls aber fernen unwirtlichen Ostregion weit jenseits jeder Zivilisation, so daß die Nazischergen ihrem grauenhaften Tun ungestört nachgehen konnten. Jetzt aber fand ich es nicht weit von ehemals deutschem Gebiet inmitten einer dicht besiedelten Region. Meine Bereitschaft zu glauben, daß keiner so recht wußte, was sich da abspielte, hat dies nicht gerade erhöht.

 

Etwas geradezu Konstruktives hatte für mich hingegen der Besuch von Warschau. Nicht nur daß ich hier eine meiner architektonischen Lieblingsideen verwirklicht sehen konnte (die unbefangene Rekonstruktion historischer Bauten nach Kriegszerstörungen, womit man sich in der alten Bundesrepublik ungeheuer schwer getan hat). Der Wiederaufbau einer mutwillig zerstörten Stadt symbolisiert irgendwie auch den Willen, die fürchterlichen geschichtlichen Entgleisungen ungeschehen und vergessen zu machen, was wie im Privaten auf längere Sicht doch die einzige Möglichkeit ist, so etwas wie „Heilung“ für das zu erreichen, was unglücklicherweise geschehen ist.

 

Wir sind auf dem Rückweg durch so ziemlich die ganze Tschechoslowakei gefahren. Auch dort haben wir viele großartige Städte angetroffen, von denen mir die meisten ebenfalls nicht einmal dem Namen nach bekannt waren[8]. Nie hatte ich etwa von einer Stadt wie Kuppenberg gehört, die zu den schönsten Kleinstädten Europas zählt und so eine Art Görlitz Böhmens ist: nicht weit von einer großen kunstsinnigen Ostmetropole, geschückt mit prächtigen Bauten aus allen Epochen und abends vollkommen tot. Die Städte zeigen, daß hier einstmals blühendes Land war[9]. Überall sieht man, daß einmal eine große Freude an der Stadtgestaltung und am Leben in der Stadt bestand. Vielleicht ist das der Unterschied zwischen Ost und West, nämlich daß im „Osten“ den Menschen diese Freude abhanden gekommen ist. So hat denn diese Reise deutlicher denn je gemacht, wie unnatürlich die klare Linie zwischen Ost und West ist, die sich in den Köpfen (und leider auch in der Lebenswirklichkeit) festgesetzt hat. Es scheint, daß wir jetzt erst einmal wieder zurück zu Maria Theresia müssen, zu deren Zeiten sich in dieser „Grenzregion“ eine einheitliche lebensfrohe Kulturlandschaft ausbreitete. Tatsächlich scheint ja das allgegenwärtige Barock zur Zeit eines der wichtigsten und unproblematischsten Bindeglieder in dieser Region zu sein. So wird womöglich die Repräsentantin eines „ausbeuterischen“ Systems zur Stammmutter einer neuen mitteleuropäischen Kultur.[10]

 

Mit der Wiederentdeckung einer untergegangenen mitteleuropäischen Kulturlandschaft verlagert sich naturgemäß der Mittelpunkt Europas nach Osten. Für einen eingefleischten Mitteleuropäer wie mich ist erst jetzt verständlich, daß die Polen den Mittelpunkt Europas in ihren Land sehen.

 

Gruß

 

Klaus

4.7.1991

 

Lieber Frank,

 

dieser Brief ist eigentlich noch nicht beendet. Ich hatte die Absicht, noch einige andere Themen anzuschneiden. Vor allem wollte ich Deine letzten beiden Briefe beantworten. Aber der nächste Urlaub steht schon wieder vor der Tür und ich will Dich nicht länger warten lassen. Also geht der Brief jetzt unvollständig ab. So ganz kurz ist er ja nicht geworden. Der Rest folgt. Jetzt geht’s ab nach Italien. .

 

 


Darmstadt, den 11.09.91

 

Lieber Klaus!

 

Vor drei Monaten hatte ich gehofft, hier in Darmstadt ausreichend Zeit und Muße für viele viele Briefe zu finden. Wie man leicht sieht, knappt es mir zZt. noch an beidem, aber ein Anfang soll nun gemacht werden.

Zunächst zu Deinem Brief vom 10.06.: Es war hochinteressant zu lesen, wie ein (Bau-)Kulturbegeisterter seine Passion soweit in den Mittelpunkt stellt, daß er schließlich leichtfüßig die Völker nach dem Zustand ihrer Fassaden beurteilt. Dies soll nicht unwidersprochen bleiben, zumal Du dabei die alte „DDR“ (man beachte die H’schen Anführungszeichen!) gleich noch zum „größten sozialistischen Sauhaufen“ und absoluten Schlußlicht der Weltkultur stempelst und verwundert fragst, „auf Grund welcher Einstellung… mitteleuropäische Menschen eine dermaßen verrottete Umgebung akzeptieren.“

 

Ich kann mich bei meiner Widerrede z.T. auf eine ähnliche Tour wie Du berufen, denn auch wir waren im Sommer in Ungarn, in Böhmen und – natürlich – im „Beitrittsgebiet“ (man beachte meine Anführungszeichen!)

 

Dabei ist zunächst festzustellen, daß Dein (oder mein?) „größter Sauhaufen“ jene Art von Sozialismus praktiziert hatte, die – seinerzeit auch vom Westen anerkannt – insgesamt noch am wenigsten schlecht funktionierte. Hinsichtlich des Baugeschehens versagte natürlich auch die DDR – wie jedes Land der Zweiten Welt auf seine Weise. Gemeinsame Ursache war fast immer der pathologische Drang zur Selbstdarstellung in Tateinheit mit ewig knappen Ressourcen.

 

Die stark zerstörte DDR begeisterte sich nach der Berliner Stalinallee, die sich bald als viel zu aufwendig erwies, für den „industriellen Wohnungsbau“ und die „Neugestaltung der Stadtzentren“, um das, was die (industriellen) „Großbauten des Sozialismus“ an Zement und Bauarbeitern noch übrigließen, zu möglichst vielen Wohn-„Einheiten“ zu machen (Der Wohnungbau kam sowieso nie über einen Anteil von 20% hinaus). Für die Erhaltung der Altsubstanz blieb so nichts mehr übrig. [11]

 

Unsere Oberen, die ohnehin arge Probleme mit dem Aufbau einer DDR-nationalen Identität hatten, (und oft auch arge Banausen waren) sahen den Verfall des „schlimmen kapitalistischen Erbes“ wohl auch nicht ungern. Wer, meinten sie in den 60er und 70er Jahren, würde noch in einem 100jährigen Bürgerhaus mit Ofen und Außenklo wohnen wollen, wenn erst genügend Silos mit „Vollkomfort“ zur Verfügung stünden, und weil sie sehr schlechte Rechner waren, unterschätzten sie außerdem Tempo und Folgen des Verfallsprozesses an der Altsubstanz so total, daß schon bald mehr einfiel als neugebaut werden konnte.

 

Im ebenfalls stark zerstörten Polen dagegen wurde von Anfang an versucht, dem Sozialismus auch eine national(istisch)e Note zu verpassen und dem alten polnischen Traum von einer nationalen Identität Rechnung zu tragen. Da liegt es denn auf der Hand, sich auf die alte polnische Kultur zu besinnen, die alle Teilungsversuche überstanden hat und entsprechende Baudenkmäler sind eben eines der augenfälligsten Mittel dies zu dokumentieren, selbst wenn sie schon vernichtet waren. Nur so ist beispielsweise zu erklären, weshalb das alte Warschauer Schloß, von dem buchstäblich kein Stein übriggeblieben war, in den 70er Jahren mit einem unverantwortlichen Aufwand wieder aufgebaut wurde, zu einem Zeitpunkt, zu dem die Wohnverhältnisse in Polen noch als verheerend beschrieben wurden. Der baupolitische Akzent wurde in Polen also auf das nationale Erbe gesetzt (Weiß der Teufel, weshalb auch die deutsche Baukultur in den neuen Gebieten ihren Teil abbekam. Vielleicht wollte man keinen „Stilbruch“ entlang der alten Grenze erzeugen.) und natürlich sieht das im Nachhinein für einen Ästheten gefälliger aus als das Stadtzentrum von Chemnitz.

 

Die (realsozialistische) Selbstdarstellung war dennoch auch hier das Hauptmotiv, aber wen interessiert schon beim Anblick der Pyramiden, daß die Leute seinerzeit in Reisighütten hausten, weil der Pharao alle Steine für sein Grab – und die begeisterte Nachwelt – in Anspruch nahm.

 

Die vom Kriege unzerstörte CSFR machte auf mich übrigens einen geradezu erschreckend verkommenen Eindruck. Die Städte im Sudetenland waren nach der Vertreibung noch nie ein schöner Anblick gewesen, aber auch im klassischen Böhmen hat der Verfall gerade in den letzten Jahren offensichtlich lawinenartig zugenommen. Auf der Strecke zwischen Budweis, Pilsen und dem Erzgebirge ist kaum ein wirklich gut erhaltenes Gebäude zu sehen.

 

Selbstverständlich sind viele Orte malerisch gelegen, die Marktplätze reizvoll angelegt usw. Aber dies alles sind nur die traurigen Reste einer längst vergangenen Blütezeit und mit dem mangelbedingten Verfall mußte sich eben die Böhmische Einwohnerschaft, zunächst genauso abfinden wie die „mitteleuropäischen Menschen“ bei uns und vor zwei Jahren haben sie ihr Grundproblem schließlich genauso gelöst wie wir. Leider haben sie unvergleichlich schlechtere Startbedingungen. Zum einen hilft ihnen kein großer Westonkel und zum anderen waren die Rudimente des Kapitalismus in der alten CSSR wesentlich gründlicher ausgemerzt als bei uns. Einen privatwirtschaftlichen Sektor, wie er in der DDR vor allem im Handel und Dienstleistungsgewerbe auch nach der Zerschlagung der mittelständischen Betriebe [12] [13] noch in großem Umfang bestand, gab es dort praktisch nicht mehr (weshalb die CSR in den 60er Jahren stolz das zweite „S“ in ihren Staatsnamen einfügte) und die Privatinitiative entwickelt sich augenscheinlich auch nach der tschechischen Wende nur sehr langsam und mühevoll, da es kaum Strukturen gibt, an die man unmittelbar anknüpfen kann. Ganz im Gegensatz dazu die von Dir inzwischen zu „Fellachen“ degradierten Ungarn, deren Gulaschkommunismus in Tateinheit mit einer schon immer glücklicheren Finanzpolitik da ein ganz anderes Vorfeld für den Sprung in die – zugegeben: arme – Marktwirtschaft bietet. Folgerichtig ist das – wieder zugegeben: im Vergleich zum inzwischen gesamtdeutschen dürftige – Angebot in Ungarn unvergleichlich besser als in der CSFR und weil es in Ungarn schon seit Jahrzehnten Steine, Zement und Badewannen frei zu kaufen gab, sind wenigstens die privaten Häuser dort insgesamt besser in Schuß.

 

Ürigens horten die Ungarn ihre „chaotische Sammlung von absolut allem“ wohl weniger wegen der „Mangelwirtschaft“ als wegen der Armut, die es (wie die Mangelwirtschaft) einfach verbietet, Dinge wegzuwerfen, die irgendwie noch zu gebrauchen sind und auch die Inflation wird kein geringes Motiv sein. Vielleicht siehst Du unter diesem Aspekt auch einmal die begeisternden „Backsteine für den Erweiterungs- oder Neubau“ in den polnischen Gärten. Im Gegensatz zum Zloty verlieren die nämlich nicht täglich an Wert, sind wetterfest und ohne LKW nur schwer zu stehlen.

 

Von einer „neuen Zeit“ im Vergleich zu 1989 haben allerdings auch wir in Ungarn tatsächlich nur wenig bemerkt (und sie auch nicht vermißt), dies ist aber m.E. mehr ein Zeichen dafür, daß im Gegensatz zum Rest des alten Ostblocks in Ungarn eine ganze Menge „neue Zeit“ schon unter der alten UVAP ausgebrochen war und die neuen Überdemokraten eben auch keine Wunder vollbringen können.

 

An sich also nichts Erstaunliches. Die (West-) Deutschen scheinen aber ulkigerweise immer größte Probleme zu haben, wenn es darum geht zu begreifen, was die eigentlichen Ursachen (zB ihres eigenen) imponierenden Wohlstandes sind. So hört man häufig, es bedürfte nur eines fleißigen Volkes und ein paar guter Ideen des „Klugen Ludwig“[14] von der Marktwirtschaft schlechthin, und alles Weitere ergäbe sich dann schon. Darüberhinaus wird gern (?) und regelmäßig vergessen, daß es etwas anderes ist, von Anfang an mit vorn dabeizusein als von ganz hinten unten aufholen zu müssen. Also staunt man denn folgerichtig immer sehr, wenn nach freien Wahlen und der Ausrufung von Demokratie und Marktwirtschaft nicht gleich überall der Wohlstand ausbricht.

 

Da Du, ein weitgereister Wirtschafts- und Rechtskundiger, der am besten weiß, daß die bürgerliche Gesellschaftsordnung (fälschlicherweise meist mit dem Begriff „Marktwirtschaft“ gleichgesetzt) genausowenig notwendig mit Wohlstand verbunden ist wie Sozialismus mit Armut, darüberhinaus bisher auch stets betont hast, was für ein kompliziertes und empfindliches Gebilde eine funktionierende Marktwirtschaft ist, wundert mich insofern Dein Wundern über das Ausbleiben einer „neuen Zeit“ (in Ungarn).

 

Zum guten Schluß (dieses Kapitels) noch ein paar Bemerkungen zum „Beitrittsgebiet“, in dem nach Deinem Eindruck das Warenangebot zwar einen „Sprung über einige Jahrzehnte“ vollführte, sich aber außer diesem „bisher noch wenig bewegt hat“.

 

Der These vom „Sprung über Jahrzehnte“ kann ich nichts abgewinnen. Bedenkt man, daß mit der Währungsunion die Finanzen Ostdeutschlands endlich und mit einem Schlag technisch (!) in Ordnung gebracht wurden (dazu etwas später noch mehr) , ein gewaltiger Nachholebedarf des Konsums bestand, und das Kapital eben stets dorthin Ware pumpt, wo sich Geschäfte machen lassen, war die Bereitstellung des hübschen Angebotes ein recht normaler Prozeß. (Nichts desto trotz genießen wir es.) Organisiert wurde dies mit deutscher Gründlichkeit und so konnte der Effekt – von einigen Querelen abgesehen, die man aber wirklich der Größe der Aufgabe zugestehen muß – kaum ausbleiben. An dem Tage, an dem man den Kubanern ihren Lohn in Dollars zahlt und die US-Großhandelsketten ins Land läßt, wird auch auf der armen Zuckerinsel ein ähnliches Angebot herrschen (vielleicht nicht ganz so schnell, wegen der fehlenden deutschen Gründlichkeit), aber die Kubaner werden damit keinen Deut reicher sein, nur glücklicher. (Wie wir.)

 

Imponierend für mich ist im Zusammenhang mit der Währungsunion weniger das entstandene Angebot als die finanztechnische Abwicklung und der politische Mut, sich auf dieses Abenteuer überhaupt einzulassen (wahrscheinlich muß man hier wieder unseren Bundeskanzler hervorheben).

 

Ein Abenteuer war es m.E. vor allem deshalb, weil kaum verläßliche Daten über die Wirtschafts- und Finanzsituation der DDR vorhanden waren, anhand derer man vorab exakte Berechnungen hätte anstellen können. Natürlich hat man deshalb versucht, das ganze soweit möglich auf der sicheren Seite anzusiedeln und so ist wohl der 2:1-Kurs entstanden. (Wenn auch viele im Westen das bis heute nicht wahrhaben wollen) Von der Finanzseite her hätte er – zumindest bei den privaten Guthaben – wahrscheinlich noch etwas zugunsten der Ossi-Konten verschoben werden können, denn es hat (im Zusammenhang mit der Währungsunion, wohlgemerkt!) kaum negativen Auswirkungen auf die DM gegeben. Die ‚zig Millionen umgestellter Privatkonten haben die Inflation jedenfalls nicht angeheizt oder sonstwie an der DM-Stabilität gekratzt.

 

Das ist insofern auch nicht verwunderlich, da es in der DDR kaum jemandem gelungen war, so etwas wie „Vermögensbildung“ im westlichen Sinne zustande zu bringen. Der im vorigen Jahr häufig zitierte Vergleich zwischen Ost- und West-Sparkonten hinkt denn auch ganz gewaltig, da er vom Bausparvertrag über Kapitalbildende Lebensversicherungen bis hin zu Aktien und Investmentanteilen alle wesentlichen West-Anlagen außer Betracht ließ, während er das Ost-„Vermögen“ fast komplett dagegensetzte, da es bei uns außer den 3,25%-Sparbüchern praktisch keinerlei Geldanlagen gab. Umgekehrt gab es außer (sehr zinsgünstigen) Krediten für Häuslebauer (die i.a. aber unter 50.000 Ost-Mark lagen) und einem (zinslosen) Kredit für einkommensschwache junge Ehen (7.000 M) auch keine privaten Verbindlichkeiten, so daß selbst von der Halbierung der „Schulden“ nur sehr wenige profitierten. Im Grunde starteten die meisten Familien bei uns am 01.07.90 mit einer Art „Einheits-Standard-Vermögen“ (ich schätze pro Kopf im Mittel deutlich unter 5000,-DM), das meist für den Kauf eines Gebrauchtwagens aufgebraucht wurde.

 

Im Verhältnis zu den jetzt laufenden Einnahmen/Ausgaben sind die damals umgestellten Privatkonten finanztechnisch jedenfalls fast ohne Bedeutung.

 

Ganz anders sieht es natürlich mit der wirtschaftlichen Gesamtmisere im Osten aus, die aber nicht wegen der Währungs-, sondern vor allem wegen der Wirtschafts- und Sozial- und natürlich der politischen Union über die Staatsverschuldung auf die DM drückt. Auch die für einige Betriebs- und andere nichtprivate Konten tatsächlich unzweckmäßige 2:1-Umstellung (hier wäre wegen der realen DDR-Devisenerlöse oft 4:1 oder gar 5:1 angebrachter gewesen) und die pauschale Halbierung der Schulden (hier hätte man wegen der starken Bevorteilung der Häuslebauer auch im privaten Bereich differenzieren müssen) wirken sich da natürlich aus.

 

Einigermaßen unverständlich ist auch das lange Zögern beim Angleich der letzten beiden heiligen Ostkühe: Mieten und Nahverkehr. Hier hätten die Kommunen bis heute viele Milliarden mehr einnehmen bzw. weniger ausgeben können. Inzwischen sind sie aber geschlachtet (die Kühe, nicht die Kommunen), die S-Bahn kostet auch im Osten endlich 1,80 DM und ab 1.10. bezahlen wir für unsere 80qm schlappe 500,-DM mehr. Damit ist die Angleichung des Angebotes tatsächlich fast vollzogen.

 

Bleibt die Angleichung der Einkommen (oder wenigstens des Lohnniveaus), unser alter Streitpunkt, der selbstverständlich an dieser Stelle nicht unerwähnt bleiben soll. Das Arbeitseinkommen liegt – wie erwartet – im Mittel noch unter 50% des Westpegels, was selbst das Handelsblatt (Ausschnitt anbei) feststellt, dem man bestimmt nicht nachsagen kann, daß es die Lohnkosten herunterspielen würde. Für einen Anhänger der Marxschen Mehrwert-Theorie nicht erstaunlich, zeigt sich praktisch überall, daß der Ossi-Traum vom 2/3-Einkommen erstmal nur ein Traum bleibt, ganz zu schweigen von 3/3. Das Kapital kommt damit erstmal nicht schlecht zurecht, denn das zweifellos erhebliche Ost/West-Produktivitätsgefälle, von dem so viel geredet wird, ist ja ein Mittelwert, der zZt. dadurch charakterisiert ist, daß die besonders unproduktiven Bereiche noch gar nicht privatisiert sind, die zur Leistung verhältnismäßig hohen Lohnkosten dort also dem Staat bzw. dem Steuerzahler am Hals hängen, während die bessergestellten – und schon oder demnächst privatisierten – Bereiche mit ihren verhältnismäßig geringen Lohnkosten dem Kapital einen schönen Extraprofit einfahren.

 

Eine gewaltige Umverteilung wie aus dem Marxschen Bilderbuch! Und irgendwo mittendrin strampelt der Ossi und traut sich nicht mehr zum Arzt. Womit wir beim „wenig bewegen“ wären.

 

Auch wenn Du primär dabei das ostdeutsche Baugeschehen im Auge hattest, war es, so denke ich, auch hier wieder für Dich Symptom einer allgemeinen Situation. Und so möchte ich an dieser Stelle einen etwas weiteren Bogen spannen und zunächst auf das verweisen, was ich schon vor einigen Monaten geschrieben habe:

 

Wer in irgendeiner Weise motiviert ist, positiv mit Gewinnaussicht oder meinetwegen auch negativ mit Angst um seinen Arbeitsplatz, der bewegt sich hier inzwischen schon ganz schön, vorausgesetzt, er hat das Gefühl, wirklich aktiv Einfluß nehmen zu können, und nicht nur Spielball zu sein. Bei diesem Problem liegt denn auch nach wie vor der Hase im Pfeffer, aber der Trend ist inzwischen doch schon recht eindeutig zu „mehr Bewegung“.

 

Natürlich verläuft dieser Prozeß oft schleppend und fast immer schmerzhaft für die Beteiligten (im Osten). Aber wer hat denn wirklich etwas anderes erwartet? Immerhin erleben wir hier – gewollt oder ungewollt – eines der größten politischen und Wirtschaftsexperimente der Weltgeschichte und wenn man bedenkt, daß per dato für den Osten Deutschlands erst 14 mal 30 Tage Währungsunion und 11 mal 30 Tage Bundesrepublik zu Buche stehen, läuft es doch gar nicht so schlecht. Ein ganzes Volk muß in neuem Wasser auf neue Art schwimmen lernen (Leider sind schon etliche abgesoffen[15]

 

(Fast) sämtliche Wertvorstellungen sind schlagartig verändert, alte Rechte (und Privilegien) verlorengegangen, neue zwar hinzugewonnen, aber oft nicht bekannt, alte Erfahrungen und Talente sind von einem Tag auf den anderen nutzlos, neue Erfahrungen werden pausenlos gemacht (viele davon unfreiwillig), neue Talente werden entdeckt (manchmal auch schon genutzt) usw.

 

Der Druck auf den Einzelnen, die Familie, die alten und neuen „Kollektive“ in allen Bereichen ist pausenlos und allgegenwärtig. Damit sind Adaptionsprozesse verbunden, die in ihrem Umfang und ihrer Komplexität praktisch beispiellos sind und ich glaube fest, wenn dies überhaupt zu bewältigen ist, dann wirklich nur durch die Ossis. Meine Erfahrungen besonders in den letzten 3 Monaten hier im Westen besagen, daß – mit Verlaub – die Masse der Altbundesbürger an einer solchen Belastung sehr schnell scheitern würde. (Seien wir alle also froh, daß nicht im Westen der Real Existierende ausgebrochen ist, sondern, daß es umgekehrt kam.)

 

Soweit meine doch recht ausgeuferte Antwort auf Deinen Brief. Zum Schluß nur noch ein kurzer Anriß des Themas SU:

 

Der gescheiterte Putsch – und besonders wie er gescheitert ist – bestätigt m.E. eindrucksvoll, daß die Karte Gorbatschow nicht mehr sticht. Mit Ausnahme der beiden Metropolen, wo einige tausend kaum als Anhänger Gorbatschows, sondern vielmehr als Anhänger ihrer (durch den Putsch ebenfalls gefährdeten, aber zu Gorbatschow in Opposition stehenden) lokalen Größen aufgetreten sind, hat niemand in dem großen Land für die – als Reform des Kommunismus – gescheiterte Perestroika einen Finger krumm gemacht, und es kann nicht deutlich genug gesagt werden: Die Menschen waren (und sind!) trotz der 6 Jahre Glasnost derzeit offenbar bereit, ein Regime altstalinistischer Prägung zu akzeptieren. Wären die Putschisten nicht derartig stümperhaft und ohne die simpelsten Regeln der Leninschen „revolutions-“ (oder besser: Putsch-) Theorie zu beachten, vorgegangen, hätten wir (ja, wirklich: wir) dieses Regime jetzt.

 

Dies bedeutet, daß im Grunde in der SU gegenwärtig die Macht auf der Straße liegt und auf den, oder besser: die, wartet, die sie aufheben. Aber da ist kaum jemand von Format, der die Gewähr dafür böte, sie vernünftig zu gebrauchen. Jelzin hat sich (endgültig?) als erfolgreicher Volkstribun und unfähiger – oder unwilliger – Diplomat gezeigt, und sein Einfluß geht offenbar auch nur soweit wie seine Stimme vom Panzer herab reicht. Weiter weg hat er – auch in seiner Republik Rußland – umsonst zum Streik aufgerufen. Als Partner kann er trotz seines unzweifelhaften Popularitätssprunges hier und zu Hause darum dem Westen kaum willkommen sein, wo man denn mehrheitlich auch weiter auf Gorbatschow setzt, der außenpolitisch immer seriös und berechenbar war. Aber ich habe mehr Zweifel denn je, ob man damit noch gut beraten ist. Die SU zerfällt in Windeseile, eine Integrationsfigur a la Gorbatschow ist eigentlich überflüssig und man wird gut daran tun, sich auf mindestens soviele Partner einzustellen wie es Republiken gibt.

 

Das Primärproblem sehe ich für die nahe Zukunft in dem entstehenden Machtvakuum. Wenn es weiterhin keinen Diktator für die SU als ganzes (unwahrscheinlich) oder in dieser oder jener Republik gibt (recht wahrscheinlich), kann man davon ausgehen, daß in den verbleibenden am Anfang noch halbwegs demokratischen Rahmen einiger Republiken kaum mehr als ein wirres Mosaik der verschiedensten politischen Farben und Schattierungen zu besichtigen sein wird: Zaristen, Kommunisten, Sozialrevolutionäre, Volksfreunde, Faschisten, Nationalisten, Anarchisten… Jeder wird versuchen, die Gunst der Stunde zu nutzen, und keinem wird es gelingen, und also kann es wieder nur teuer werden, in jedem Sinne und für alle Beteiligten und Unbeteiligten.

 

 

Das soll es für heute gewesen sein. Ich warte geduldig auf Deinen im Juni versprochenen Brief

 

Dein Frank

 

 

PS: Hinsichtlich unseres Projektes, den bisherigen Briefwechsel in eine neue Form zu gießen, bin ich leider (noch) ein Opfer des technischen Fortschritts. Alle diese schönen modernen Computer, die mir jetzt zur Verfügung stehen, (und auf denen ich zB auch diesen Brief schreibe) sind nämlich nicht in der Lage, meine alten Ost-Computer-files zu lesen. Obwohl das Problem natürlich auch einen ganzen Sack dienstlichen (Ost-) Schriftgutes betrifft, nimmt sich bisher hier niemand der Sache so richtig an. Hardware und know-how müßten zwar vorhanden sein, aber wahrscheinlich kann sich niemand vorstellen, daß aus der alten DDR-Zeit noch irgendetwas benötigt wird.

 

In Berlin gibt es aber einen Bekannten, der behauptet, ein entsprechendes Adaptierungsprogramm zu besitzen. Sobald ich im Frühjahr wieder (werktags) dort bin, starte ich einen neuen Versuch. Bis dahin mußt Du auf meine Mitarbeit bei dem Geschäft erstmal verzichten.

 

Alles was jetzt entsteht paßt ohnehin in das besprochene Schema, denn wie es aussieht wird der Takt unserer Korrespondenz so sein, daß sich keine Post mehr überschneidet.


[1] Die Tatsache, dass ich nun selbst von diesem merkwürdigen Phänomen des Uninformiertseins trotz reichlicher Information (vgl meinen Brief vom 16.1.1990 mit den entsprechenden Bemerkungen Berghofers) betroffen bin, hat mein Verständnis dafür deutlich erhöht.

[2] Wenn meine Bedürfnisse trotzdem befriedigt wurden, so liegt dies an meiner dekadenten Bescheidenheit. Schon bei unserer letztjährigen Ostreise, als es in der DDR noch Ostwaren gab, war eines meiner erfreulichsten Reisemitbringsel ein paar (mit „Behelfsettiketten“ !? versehene) Gläser Stachelbeeren. Solche Erzeugnisse östlicher Einmachkultur sind in Ungarn noch zu haben und so habe ich mir zur Freunde meiner späten Abendstunden Stachelbeeren aus Ungarn mitgebracht.

[3] Wirklich ins Auge stach allerdings das umgestellte Warenangebot. Die Veränderung dieses einen Jahres gleicht einem Sprung über einige Jahrzehnte und ist wahrhaft verblüffend.

[4] In dieser Hinsicht hat freilich auch die alte Bundesrepublik Einiges zu bieten.

[5] Leider ist bei uns die Hoffnung auf eine solche (bau)pysikalische Lösung weniger berechtigt – man hat einfach zu „gut“ gebaut.

[6] Wenn ich „DDR“ schreibe, meine ich Zustände, die noch auf die DDR zurückzuführen sind. In diesem Zusammenhang eignen sich die meisten der üblich gewordenen Umschreibungen für das „Beitrittsgebiet“ nicht. Denn sie beziehen sich auf ein Land, das nicht mehr die DDR ist, haben andererseits aber auch mit den „neuen Bundesländern“ nicht viel und mit Deutschland hoffentlich gar nichts zu tun.

[7] Überhaupt ist der neue Nationalismus aus der DDR höchst unnötig. Es werden damit wieder Gespenster frei, die man hier – einige Spinner abgezogen – eingentlich für tot gehalten hat. Es gibt hier nicht wenige Leute, die den in Jahrzehnten mühsam wiederherstellten deutschen Ruf gefährdet sehen. Man hört, erstmals seit langer Zeit müsse man sich wieder schämen, ein Deutscher zu sein.

[8] Wenn ich mal eine vom Namen her kannte, wie Königgrätz, dann war mir jedenfalls völlig unklar, dass sie sich hier befindet.

[9] Übrigens hat sich auch hier bestätigt, dass die DDR das heruntergekommste Land im näheren Umkreis ist.

[10] Ihre wahrhaft erstaunlichen Briefe, die dem linken Klischee von einem barocken Monarchen so sehr widersprechen, habe ich sinnigerweise in Krakau gekauft.

[11] Nochmal eine Bemerkung zur „Akzeptanz einer verrotteten Umgebung“: Hier spricht der Wessi aus jeder Silbe, der sich einfach nicht vorstellen kann, was es tatsächlich bedeutet (hat), etwas wirklich nicht zu bekommen, es nirgends und um keinen Preis kaufen, es nicht einmal erbetteln zu können.

Was man den Ossis kaum absprechen kann, ist ihr ungeheures Talent zur Improvisation (was ich einigen im Westen sehr wünschte). Was da aus feuchten Kiefernbrettern – ohne Black&Decker statt dessen mit dem guten alten Fuchsschwanz – gezaubert wurde (IN den Häusern), ist, denke ich, schon recht imponierend, aber beim Ziegel- und Zementbrennen, beim Balkenschneiden, bei der Herstellung von Wasserrohren und Elektrokabeln, Glasscheiben, Dachrinnen, Fensterrahmen, Treppen, Beschlägen, Gerüsten,… (ich breche hier aus Papiermangel ab) endet eben die Kunst des Heimwerkers. Auch die des polnischen oder böhmischen übrigens und selbst Deine häuslebauenden Schwaben würden beim Angebot der DDR-Baustoff“versorgung“ ganz schön alt aussehen, zumal wenn die Häusle nicht ihnen gehörten, sondern irgendeiner volkseigenen KWV (Kommunale Wohnungsverwaltung).Die einzige Lösung für das Problem war, die Regierung davonzujagen. Und das wurde denn ja auch getan und niemand soll behaupten, er hätte es eher zustande gebracht.

[12] ^Anfang der 70er sind alle größeren Privat- oder „halbstaatlichen“ (KG mit staatlicher Beteiligung) Betriebe dem Staat „zum Kauf angeboten“ worden, darunter weltbekannte Firmen wie Zeuke (Modellbahnen), viele sächsische und thüringer Textilbuden, uva. Die alten Inhaber – oder auch mal der eine oder andere Sohn – wurden i.a. als Betriebsleiter weiterbeschäftigt, waren aber mit den Konditionen unzufrieden, denn erstens fiel der Kaufpreis relativ niedrig aus, da sie oft wegen der Steuer den Buchwert der Anlagen ein wenig nach unten frisiert hatten und zweitens kam der größte Happen in der Regel auf ein Sperrkonto und stand ihnen nur in Raten zur Verfügung, damit sie nicht übermütig werden (und noch mehr an der dünnen Warendecke ziehen). – mehr nächste Seite

[13] Die 4 Blockflöten, die inzwischen komplett in der Kohl-CDU oder der FDP aufgegangen sind, und sich heute als die größten stasiverfolgten Widerstandskämpfer gebärden, haben seinerzeit übrigens eine besonders miese Rolle gespielt. Honecker und die seinen hatten es nämlich für zweckmäßig erachtet, die Initiative für die „Kaufangebote“ von den Betroffenen selbst ausgehen zu lassen und da diese meist in irgendeiner Blockpartei organisiert waren, wurden sie von ihren eigenen Parteifreunden auftragsgemäß und ohne großes Sträuben unter Druck gesetzt.

[14] Vielleicht ist es bei Euch schon bekannt: Dieser „K.L“ ist eine Zeichentrickfigur (L.Erhardt, mit Dackel), mit der im vorigen Jahr den Ossis (dem Dackel also) per TV die Grundbegriffe der Marktwirtschaft beigebracht werden sollten. Sicher gut gemeint, aber es gab Bedenken, ob diese Machart nicht sogar für uns zu primitiv sei, und so ist uns der Quatsch (?, ich kenne nur Zeitungsberichte darüber) erspart geblieben.

[15] Ich meine dies ohne jeden Zynismus: Etliche gehen nun in dieser neuen Welt unter, viele trifft es hart und unverschuldet, aber die Alternative, wenn denn wirklich noch eine bestanden hat, hätte ebenso ihre Opfer erfordert, sicher meist andere, aber kaum weniger.

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