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Briefe aus der Wendezeit – Teil 11

Stuttgart, 18.8.1991

 

Lieber Frank,

 

Nun haben wir auch die andere Hälfte der deutschen Hinterlassenschaft im Osten in Augenschein genommen. Wir haben das ganze alte Preußen von Stettin bis an die russische Grenze durchfahren und an allerhand geschichtsträchtigen Orten Deutsches und Nichtdeutsches aufgesucht einschließlich dem, was mal dieses und mal jenes gewesen ist.

 

Seit wir im Frühjahr die ersten Schritte in diese Richtung gemacht haben, hat die Ostflanke Deutschlands für mich eine bemerkenswerte Anziehungskraft entwickelt. Sicher war dabei das Bedürfnis im Spiel, die totale Nichtbeachtung wieder gut zumachen, die mein Verhältnis zu dieser Region bis vor Kurzem bestimmt hat. Spätestens nach den Besuchen in Auschwitz und Warschau kam auch der Wille hinzu, ein wenig zur Normalisierung des nicht eben einfachen Verhältnisses von Polen und Deutschland beizutragen. Mittlerweile hat sich jedoch eine tiefergehende Neugier entwickelt. Die Beschäftigung mit dem Osten hat offensichtlich auch sehr viel zu tun mit der jetzt allenthalben ausgebrochenen Suche nach dem merkwürdigen Phänomen, das sich Deutschland nennt (während ich dies niederschreibe, trägt man in Potsdam den alten Fritz nochmals zu Grabe; in Zittau verprügelt man rumänische Asylbewerber). Diese Suche erinnert stark an das Verhalten von adoptierten Kindern, die – allen Geheimhaltungsbemühungen von Adoptiveltern und Behörden zum Trotz – in einem bestimmten Alter von dem unwiderstehlichen Drang befallen werden, ihre Herkunft aufzuklären.

 

Auch die Westdeutschen, die von Deutschland früher eher Abstand (und Wohlstand) wollten, sind heftig auf der Suche nach dem verlorenen Vaterland. Der Pulverdampf der Schlacht um Berlin ist noch nicht verzogen, da stürzt man sich bereits in eine neue heiße Geschichtsdiskussion und ist drauf und dran, das deutsche Kind mit dem preußischen Bad auszuschütten. Die Diskussion um Friedrich den Großen, die man in den Ländern, welche nach wie vor ihren Napoleon oder Robert Clive verehren, mit Verwunderung beobachten dürfte, zeigt nur zu deutlich die Schwierigkeiten, welche die Deutschen mit ihrem(n) deutschen Land(en) haben. Die Lage wird nicht gerade erleichtert durch die Begleitmusik aus dem Osten Deutschlands, wo einige „Zeitgenossen“ das Vaterland mit eher abgestanden Methoden suchen. Immer deutlicher wird, daß – unter kräftiger Mithilfe erfolgloser westlicher Politunternehmer – ausgerechnet im antifaschistischen Osten ein lebhafter Markt für ausrangierte Politprodukte entsteht, die man doch mit Fug für unverkäuflich halten durfte[1]. Es scheint, daß man den Ostdeutschen im Augenblick jeden Ladenhüter andrehen kann. Freilich tragen die politischen Gebrauchtwarenhändler weniger zur Suche nach dem Vaterland als dazu bei, es zu spalten.

 

Die Begeisterung für das ganze Deutschland, die im Westen aus naheliegenden Gründen ohnehin verebbt, hat – so fürchte ich – ihren entscheidenden Schlag erhalten, als vor einiger Zeit die Bilder der antipolnischen Ausschreitungen an der Grenze um die Welt gingen. Die Reaktion auf diese Vorkommnisse haben wir übrigens in Polen zu spüren bekommen. Die Stimmung in der Grenzregion war äußerst frostig. So deutlich habe ich antideutsche Einstellungen noch nicht erlebt. Fairerweise muß ich aber auch sagen, daß ich selten so viel offensichtliches Bemühen um Entkrampfung gegenüber den Deutschen (allerdings mit deutlicher Differenzierung nach Ost und West), wie in den anderen Regionen Polens gefunden habe.

 

Polen – das ist ein Kapitel, daß mich noch nicht zur Ruhe kommen lässt. Wenn ich etwa in der Kathedrale von Oliwia, die, wie alle „nationalen“ Monumente, mit polnischen Schulklassen gefüllt war, die Kinder mit ihren Engelsgesichtern aufmerksam der Orgelvorführung lauschen sah, mußte ich unweigerlich an den Erlaß Himmlers denken, den wir in Auschwitz gesehen hatten. In diesem Machwerk, das zu den ungeheuerlichsten Dokumenten gehört, die Menschen jemals verfasst haben, wird angeordnet, daß die polnischen Kinder nur in den Anfangsgründen von Lesen, Schreiben und Rechnen unterrichtet werden dürfen, auf daß sie zu nichts anderem geeignet seien, als dazu, mit einfachen Tätigkeiten an den gewaltigen Kulturtaten des deutschen Volkes mitzuwirken. Ausdrücklich wird sogar der Sportunterricht verboten, so als befürchte man bereits dadurch eine gefährliche Emanzipation oder die Entwicklung eines allzu positiven Lebensgefühls. Du kannst Dir vorstellen, wir mir zu Mute ist, wenn ich jetzt die Haut- und Holzköpfe an dieser denkbar sensiblen Grenze agieren sehe. Dabei hoffe ich eigentlich, daß wir von den Polen einiges lernen. Mehr noch als Warschau hat nämlich Danzig meinen Traum von der Wiederherstellung der zerstörten Städte erfüllt. Es war fast berauschend zu sehen, daß der Verlust der historischen Dimension, der unsere großen Städte heute kennzeichnet, nicht endgültig sein muß. Könnte man etwa das Leiden an diesen ges(ch)ichtslosen Großstädten beenden? Polen könnte den Anstoß geben, Berlin den Anfang machen – mit polnischen Restaurateuren! Polnische Kulturtaten zur Beseitigung der Folgen deutscher Barbarei – das wäre die richtige Antwort auf die Himmlers und ihre kleinen Trittbrettfahrer.

 

Aber zurück zur deutschen Ostgrenze. Die Beschäftigung mit ihr ist ziemlich zwangsläufig, wenn man auf der Suche nach Deutschland ist. Mit einer gewissen Notwendigkeit stößt man auf die unklaren Konturen, die dieses „Land“ in der Vergangenheit gerade nach Osten gehabt hat. Und so bin ich mittlerweile weit in die Untiefen der wechselvollen Abgrenzungsgeschichte dieser Regionen hineingezogen worden, die, wie der Augenschein ergab, schon äußerlich wenig klare Abgrenzungsmerkmale, dafür aber umso mehr Anreiz für territoriale Begehrlichkeiten bieten (darin unterscheiden sie sich sehr von den westlichen und südlichen Regionen: man merkt sofort, wenn man nach Italien oder nach Frankreich kommt.) Mit jeder Antwort auf ein Grenzproblem bin ich auf eine tiefer liegende Frage gestoßen. Es wird Dich daher nicht verwundern, daß auch ich längst beim alten Fritz und seinen Vorgängern bis hin zu den Deutschordensrittern – wir waren natürlich auch in Marienburg – angelangt bin. Der Zufall, der mir auf der Schlesienreise die Briefe Maria Theresias zuspielte, hat sinnvollerweise dafür gesorgt, daß mir im „Preußischen“ die Werke ihres großen Gegenspielers in die Hände kamen (beides Mal in einer Form, die auch meine Sammlerinteressen befriedigt). Noch auf der Reise habe ich mich in die Geschichte der schlesischen Kriege, des siebenjährigen Krieges und des österreichischen Erbfolgekrieges vertieft, die sich ja meist im und um den Osten abspielten. Wohlvorbereitet durch Schlachtpläne, Memoranden, Instruktionen und polit-moralische Spekulationen des großen Friedrich bin ich dann in ein Deutschland zurück gekehrt, in dem die Preußendiskussion gerade heftige Wogen schlug.

 

Übrigens verdanke ich den erstaunlich ungeschminkten Überlegungen Friedrichs eine Einsicht, die mir einen merkwürdigen Zusammenhang erhellte. In der Einleitung zur „Geschichte meiner Zeit“ schreibt er: „Als Grundgesetz der Regierung des kleinsten wie des größten Staates kann man den Drang zu Vergrößerung betrachten. … Die Fürsten zügeln ihre Leidenschaft nicht eher, als bis sie ihre Kräfte erschöpft sehen… Wäre ein Staatsmann weniger auf seinen Vorteil bedacht als seine Nachbarn, so würden sie immer stärker, er zwar tugenhafter aber immer schwächer werden.“ Des Weiteren spricht er von einem „allgemeinen Wettstreit des Ehrgeizes, in dem sich so viele mit den gleichen Waffen zu vernichten und sich mit den gleichen Listen zu hintergehen suchen“. Diese Beschreibung passt erstaunlich gut auf das Verhalten unserer Wirtschaftslenker (und übrigens auch noch auf einige andere Gesellschaftsbranchen). Mir war die Irrationalität der taktischen Spiele, die in der Wirtschaft üblich sind, schon immer ein Rätsel, diese ständigen Versuche, Gegner auszumanövrieren, andere Firmen feindlich zu übernehmen, Geländegewinne auf irgendwelchen Märkten zu machen, Allianzen zu schmieden, Imperien zu gründen und zu zerstören, immer größere und immer besser ausgerüstete „Truppen“ aufzustellen, nationale oder regionale Feindbilder zu pflegen, vor- und nachzurüsten, zu beäugen und zu spionieren. Es war einer nur dem öffentlichen Wohl verpflichteten Beamtenseele wie mir nicht recht klar, was diese Menschen dazu veranlasste, sich über das ökonomisch Notwendige hinaus immer wieder in einen Kampf zu begeben, der kein Ende haben kann, sich die Psyche zu demolieren, das Weltbild zu amputieren, die Familien zu opfern und sonstige ungeahnte Strapazen auf sich zu nehmen, um eines Zieles willen, das mit jedem Schritt wächst, aber nicht näher kommt. Es sind, worauf mich die Bemerkungen des preußischen Militaristen Friederich aufmerksam machten, offenbar die gleichen Impulse, die die alten Herrscher zu ihren permanenten Kriegsspielen veranlassten, eine zivile Form der Kriegslust also, die darauf hindeutet, daß die Menschheit mehr in ihren Mitteln als in ihren Zielen fortgeschritten ist. Der Kapitalismus als die Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln, die Wirtschaftsbosse als seine Fürsten und Feldherren – manche Absonderlichkeit dieser Lebensform ließe sich damit erklären.

 

19.8.1991

 

Während ich mich im ruhigen Westen gedanklich mit den zivilen Formen des Militarismus beschäftige, sind im Osten wieder leibhaftige Panzer unterwegs. Soeben kommt die Nachricht, daß die Unverbesserlichen in Moskau wieder den Rückwärtsgang der Geschichte eingelegt haben. Dann lieber neurotische Wirtschaftkapitäne als diese Finsterlinge! Es ist, als sei man aus tiefem Schlaf unsanft aufgeweckt worden und stehe vor der Frage, ob alles nur ein Traum gewesen sein soll. Von einem auf dem anderen Tag scheint man in das welt-politische Nichts gestürzt. Ich fürchte, jetzt rächt sich, daß die westlichen Staaten Gorbatschow zuletzt wie einen Bittsteller behandelt haben[2]. Es werden wieder aufregende Wochen auf uns zukommen, hoffentlich nur am Fernseher. Und Kohl ist wiedereinmal der Nutznießer der Geschichte, weil er mit seiner Eile bei der Zusammenführung Deutschlands tatsächlich noch Recht bekommt (was nichts daran ändert, daß man das Ganze professioneller hätte machen müssen[3]).

 

 

 

 

11.9.1991

 

Inzwischen ist der Moskauer Spuk vorbei und wir haben dort eine Entwicklung erlebt, an die man selbst im Traum nicht gedacht hätte. Die Geschichte macht gelegentlich doch erstaunliche Bocksprünge. Selten ist durch einen eher kleinen politischen Fehler in so kurzer Zeit soviel vom Gegenteil dessen erreicht worden, was beabsichtigt war. Unweigerlich denkt man an jenen persischen König, der durch das Überqueren eines „Flusses“ ein großes Reich zerstörte. Dinge, die sich Jahre lang dahinschleppten, wie das Problem der baltischen Staaten, werden mit einem Male gelöst. Der Coup hätte erfunden werden müssen, wenn er nicht stattgefunden hätte. Es war wieder eine Fernsehrevolution, im doppelten Sinne. Nicht nur daß wir wieder einmal „life“ dabei waren. Die elektronische Einmischung in die inneren Angelegenheiten durch die grenzüberschreitenden Medien ist geradezu die Vorraussetzung für derartige Aufstände (ich habe es Gorbatschow schon in seiner Neujahrsansprache für 1990 gesagt, er hat es aber nicht glauben wollen). Diese Medien übernehmen bei der Emanzipation des Menschen von Seinesgleichen mehr und mehr die Funktion, die vor 500 Jahren der Buchdruck hatte. Sie machen die Geschäfte der Dunkelmänner „zusehends“ schwieriger, zumal wenn dieselben, wie die nicht eben gelungene Vorbereitung des Moskauer Coups zeigt, auch noch alt und müde geworden sind. Der größte „Fehler“ Eurer alten Herren war zweifelsohne, daß sie keine Anstrengungen zur Errichtung einer elektronischen Mauer zwischen Ost und West gemacht haben[4].

 

Gorbatschow – Gorbi nennt ihn interessanterweise niemand mehr – ist in all dem die merkwürdigste Figur. Er wirkt wie ein bloßes Werkzeug der Weltgeschichte, mehr von den Umständen getrieben, als sie bewegend. Es spricht zwar für seine Wahrhaftigkeit, daß er jetzt, wo er es könnte, nicht aufsteht und verkündet, sein ganzes Lavieren zwischen Reform und Beton sei überlegene Taktik im Dienste eines emanzipatorischen Zweckes gewesen. Aber es zeigt auch, daß er nicht so sehr eindeutige Konzepte, sondern ein ziemlich undefiniertes „Leben“ für die im wahrsten Sinne des Wortes „treibende“ Kraft der Geschichte hält. Und dem rennt er jetzt ständig hinterher, um nicht zu spät zu kommen – manchmal offenbar weniger wegen des Lebens als wegen des Überlebens. Er „war“ wohl doch mehr der (Zauber-) Lehrling als der Meister des Geschehens (was der alles überschwemmenden Wirksamkeit bekanntlich keinen Abbruch tut). Wahrscheinlich wird man von ihm einmal sagen, er habe anfangs bei den Jubelfesten der Betonköpfe mitgefeiert, später nichts dagegen getan, daß letztere ins Rollen gerieten, seinen eigenen Kopf aber dadurch gerettet, daß diejenigen, deren Köpfe er stürzte, Panzer ins Rollen brachten – that’s life. Unsere deutschen Probleme wirken daneben ja eher putzig.

 

Die Diskussion um das Verhältnis von Produktivät und Löhnen ist im vollen Gang und das gibt mir Gelegenheit auf Deinen Brief vom 24.4.1991 einzugehen. Interessant ist schon, dass die Diskussion überhaupt stattfindet. Denn wenn man über derart Grundsätzliches zu diskutieren beginnt, zeigt dies, wie wenig man auf dem gleichen Boden steht.

 

Natürlich ist auch die Arbeit eine „Ware“ und ihr Preis wird in der Marktwirtschaft durch Vereinbarung der beteiligten Parteien festgelegt. Daß es dabei wie beim levantinischen Teppichhandel zugeht und dementsprechend das Ergebnis für die Beteiligten mehr oder weniger profitabel sein kann, steht ebenfalls außer Frage. Ich weiß aber nicht, ob Deine marxistischen Zweifel an der Bereitschaft der Arbeitgeber, mit den Arbeitnehmern „gerecht“ zu teilen, bei der Beschreibung des so heftig in Frage gestellten marktwirtschaftlichen Grundgesetzes weiterhilft. Man muß wohl kein Marxist sein, um diesen Zweifel für berechtigt zuhalten. Unsere Gewerkschaften leiten geradezu ihre Berechtigung aus dem mangelnden Glauben an die arbeitgeberliche Philanthropie ab. Dennoch ändert dies, so fürchte ich, nicht an dem marktwirtschaftlichen Grundgesetz. Daß zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer eines bestimmten Betriebes nur das verteilt werden kann, was erwirtschaftet wurde, liegt auf der Hand. (Bei manchen Äußerungen aus der „DDR“ kann man allerdings den Eindruck gewinnen, daß selbst diese Binsenweisheit in Frage gestellt wird – offensichtlich wird der spendable Onkel, der Defizite ausgleicht, schon automatisch mitgedacht.) Die Beziehung zwischen Produktivität und Löhnen ist daher ziemlich deutlich bei kränkelnden Betrieben. Bei maroden Betrieben ist sie überdeutlich und wird Konkursreife genannt. Ein „Problem“ ist sie nur bei gesunden Unternehmen, weil hier unter dem Stichwort „stille Reserven“ selbst bei Publizitätspflicht einiges verschleiert werden kann; allerdings ist dies mehr ein quantitatives als ein qualitatives Problem.

 

Nun findet eine Verteilung auf dieser individuellen (Betriebs-)Ebene in unserer Spielart der Marktwirtschaft nur in begrenztem Maße statt. Vielmehr ist die Sache dadurch kompliziert, das wir es mit einer sozialen Marktwirtschaft zu tun haben und eine ihrer sozialen Komponenten der Versuch ist, trotz unterschiedlicher Produktivität der Betriebe möglichst gleichmäßige Lebensbedingungen der Arbeitnehmer herzustellen. (Das geschieht dann mittels der Tarife, unter denen Arbeit nicht zu haben sein soll.) Dies hat jedoch nicht notwendig zur Folge, daß nun auf dem niedrigsten gemeinsamen Nenner geteilt wird, wie Du angesichts Deiner besonders markanten Zweifel an der Freigiebigkeit der Arbeitgeber anzunehmen geneigt bist. Es gibt eine Reihe von Ausgleichsmechanismen, mit denen dem einzelnen Betrieb bestimmte Lasten und Risiken, die er auf Grund seiner eigenen Produktivität möglicherweise nicht tragen könnte, abgenommen und auf möglichst viele Schultern verteilt werden – so gewisse Umlagen, etwa zur Finanzierung sozialer Errungenschaften wie Mutterschafts- und Krankengeld, Subventionen, Steuervorteile (letztlich gehört auch das Sozialversicherungssystem dazu). Die Regierungen, vor allem gewisse Landesregierungen, zählen dazu sogar die Auslandswerbung (insbesondere wenn dabei noch von der Wirtschaft bezahlte Auslandsreisen herausspringen). Nicht zuletzt diese Mechanismen ermöglichen es, bei Tarifabschlüssen von einer Basis auszugehen, die deutlich über der Produktivität des schwächsten Arbeitgebers liegt. Auch darin liegt ein Teil des Geheimnisses der im Grunde erstaunlich hohen pauschalen Grundentlohnung (die i.ü. die Abschöpfung besonderer Produktivitätsspitzen im einzelnen Betrieb nicht hindert; das sind dann die sog. übertariflichen Leistungen). Das System dieser ziemlich differenzierten Lastenverteilung und Stimulanzien ist, wie Du siehst, einigermaßen kompliziert und ich wage zu bezweifeln, dass die Phantasie eines Marx ausgereicht hat, sich diesen in jahrzehntelanger Praxis herausgebildeten Variantenreichtum des Kapitalismus vorzustellen und bei seinen Annahmen über die Grundsätze kapitalistischen Teilens zu berücksichtigen.

 

Der Preis dieses hohen Gesamtniveaus darf freilich nicht vergessen werden, denn er zeigt zugleich die Grenzen dieses Systems auf. Das (Er)Mitteln der Produktivität erzeugt noch immer ein eher grobes Raster und eine ganze Reihe von Unternehmen kann die daraus resultierenden Vorgaben nicht verkraften. Ganze Branchen sind schon an Löhnen und sozialen Errungenschaften zugrundegegangen. Ob der Bogen überspannt wird, hängt daher stark von der Sensibilität der Tarifparteien ab. Sicher weiß jede Seite des Teppichhandels ihre Vorteile zu wahren. Allerdings weiß sie auch oder sollte es jedenfalls wissen, daß sie auf dem Teppich bleiben, mit anderen Worten, daß sie die andere Seite am Leben erhalten muß. Angesichts des tatsächlichen Funktionierens der Marktwirtschaft in der alten Bundesrepublik schätze ich mal, dass man im Großen und Ganzen von einer nicht völlig ungleichmäßigen Verteilung der Gewichte zwischen den Tarifvertragsparteien ausgehen kann.

 

Soweit so gut. Leider funktioniert das Ganze nur unter einigermaßen homogenen und gewachsenen wirtschaftlichen Bedingungen. Und da kommt nun die „DDR“ ins Spiel oder besser in die Quere, die im Verhältnis zur Alten Bundesrepublik nun einmal weder homogen noch sonderlich gut gewachsenen ist. Daß dort jetzt einige Arbeitgeber von der Gleichmäßigkeit der Entlohnung „über Gebühr“ profitieren liegt nahe (allerdings gehören dazu angesichts des so gut wie totalen Steuerausfalls aus dieser Region sicher nicht die öffentlichen Arbeitgeber). Eine Orientierung an der höchsten Produktivität ist naturgemäß nicht möglich. Sollte man also die Gleichmäßigkeit der (Grund-)Entlohnung und damit gleich zum Einstand ausgerechnet eine wesentliche soziale Komponente der Marktwirtschaftaufgeben? Wohl kaum. Allzu groß sind die Differenzen der Produktivität in der „DDR“ ja ohnehin kaum. Auch dort besteht eine – allerdings weniger erfreuliche – Gleichmäßigkeit, eine Art kollektive Marodheit nämlich, die eine Korrellation von Löhnen und Produktivität auf einem deutlich niedrigeren Niveau als in der alten Bundesrepublik erzwingt.

 

Nun wirst Du mich wahrscheinlich fragen, wo denn bei dieser Argumentation die deutsche Einheit bleibt. Müßte man nicht die neue Bundesrepublik als den Wirtschaftsraum zu Grunde legen, dessen Produktivität die Löhne bestimmt? Das wäre zentralistisch gedacht. Das Maß aller Dinge kann in einer marktwirtschaftlichen Wirtschaftsform nur der einzelne Betrieb sein, denn dieser muß die Löhne zahlen, nicht irgendein größeres Ganzes. Somit läuft die Forderung auf eine Lösung des Zusammenhangs von Produktivität und Löhnen auf Transferleistungen von West nach Ost hinaus. Da ist ja nun schon einiges in Gang gebracht worden. Daß aber Löhne damit nicht in westlicher Höhe und schon gar nicht auf Dauer finanziert werden können, muß sich irgendwann einmal auch in der „DDR“ herumsprechen.

 

Übrigens bin ich auch der Ansicht, daß man den Transfer über ein gewisses Maß hinaus auch deswegen nicht erweitern sollte, weil man die Wirtschaft dadurch ihres eigentlichen Antriebsaggregates beraubt. Der Motor der Leistungsgesellschaft ist nun einmal die Tatsache, daß Leistung belohnt wird. Wo die Belohnung ohne Leistung eintritt, wird am Ende auch die Leistung fehlen. Mit anderen Worten: Man kann in der gegebenen Situation mit Transferleistungen die größte Not, nicht aber den Mangel an Poduktivität beheben. Und dieser wird wohl auf absehbare Zeit die beiden Wirtschaftsgebiete noch teilen.

 

Genau hier scheint mir auch das Problem zu liegen. Die Politik (und der Wunsch der Ostdeutschen) hat die Illusion entstehen lassen, daß Deutschland jetzt in allen Bereichen eine Einheit sei. Daraus resultiert „verständlicherweise“ die Frage, warum für „gleiche Arbeit“ nicht der gleiche Lohn gezahlt wird. Aber der Wunsch ist nicht Wirklichkeit und die Illusion noch weniger. Wir haben eben keinen einheitlichen Wirtschaftsraum – wie sollten wir auch. Es ist ohnehin erstaunlich, daß der Staat schon die jetzige Schlucht – von Lücke zu reden wäre verniedlichend – zwischen Produktivität und Löhnen überbrücken kann (hoffentlich kann er es wirklich!). Die Tatsache, daß die Brücke noch nicht zusammengebrochen ist, sollte aber nicht zu der Annahme verführen, daß es keine Schlucht gebe. Wer das tut, setzt genau den allmächtigen und für alles sorgenden Staat voraus, den es, wie ihr in einem langen und leidvollen Experiment bewiesen habt, nicht gibt. Da es noch lange dauern wird, bis wir einen einheitlichen Wirtschaftsraum Bundesrepublik haben, bin ich noch immer der Meinung, daß man die beiden deutschen Wirtschaftsräume getrennt hätte führen sollen. Was wir jetzt haben ist eine verschleierte Trennung, in der sich zu den wirtschaftlichen Schwierigkeiten auch noch immense psychologische Probleme gesellen, die – frei nach Freud – aus der Verdrängung unangenehmer Tatsachen resultieren.

 

    24.9.1991

 

Mittlerweile sind unsere Mitbürger im Osten drauf und dran, sich sehr unbeliebt zu machen. Was man aus Hoyerswerda hört, bestätigt die schlimmsten Befürchtungen. Am übelsten ist dabei die Haltung der Bevölkerung, die ihrem Haß völlig ungebremst freien Lauf lässt. Man fühlt sich um 55 Jahre zurückversetzt. Zugegeben, unsere Politiker lassen uns mit der Asylproblematik im Regen stehen und das ganze Rechtstheater nimmt den Charakter einer – ziemlich teuren – Farce an. Darüber wird man sich auch aufregen dürfen. Aber daß so viele Leute drüben kein Gespür dafür haben, welch‘ unselige Zeiten ihre Haltung beschwört, zeigt daß der Rückstand in der gesellschaftlichen Entwicklung größer ist, als man es sich hier vorstellen konnte. Wir leben offensichtlich nicht nur wirtschaftlich in zwei Welten. Nicht daß es hier keine ähnlichen Tendenzen gäbe. Aber Täter und Sympatisanten halten es hier immerhin noch für nötig, verschleiert oder im Dunkeln zu agieren. Ich hoffe nur, daß es im puncto „Offenheit“ keinen Ost-West Teransfer gibt.

 

Gruß

Klaus

 

PS

Nach „Redaktionschluß“ ging hier Dein Brief vom 11.9. ein, der sich thematisch z.T. mit diesem Brief überschneidet. Ich kann ihn daher teilweise als beantwortet ansehen. Eine „kleine“ Antwort auf Deine Antwort auf meinen Brief vom 10.6.1991 will ich aber diesem Brief noch anfügen. Du hast versucht zu erklären, warum die Städte, insbesondere die alten Stadtzentren in der DDR so heruntergekommen sind. Deine Erklärung ist für mich in erster Näherung auch nachvollziehbar. Aber die Frage, die ich mir gestellt hatte, zielte eigentlich weniger in eine technologische oder ökonomische Richtung. Es lag – ebenso wie in meinen sonstigen Beschreibungen östlicher Zustände – auch kein (Wessi-)Vorwurf zwischen den Zeilen (wiewohl ich in Sachen Stadtgestaltung meine Emotionen nur wenig unter Kontrolle habe[5]). Noch weniger hatte ich etwa die Absicht, die Zustände in anderen sozialistischen Staaten auf Kosten der „DDR“ zu idealisieren[6] (übrigens auch nicht zu dramatisieren; das mit den Fellachen, bezog sich wirklich nur auf die Bewohner der Pusztabauernhöfe). Es sieht in diesen Ländern schlimm genug aus (was aber nichts daran ändert, daß in der „DDR“ die Optik noch schlimmer ist). Meine Frage betraf die Einstellung, auf Grund deren Menschen eines Kulturkreises, für den ein solcher Zustand der Unordnung untypisch ist, diese hinnehmen. Ich versuchte – erfolglos – Klarheit über die psychischen Vorgänge zu gewinnen, die dazu führten, daß man – auf Seiten der Regierenden und Regierten – aufhörte, sich gegen den Verfall zu stellen, daß man anfing, ihn für „normal“, seine Behebung für nicht besonders dringend zu halten, daß man sich darin einrichtete, mit einem Wort, daß man ihn mehr oder weniger akzeptierte. Ich habe also darüber gegrübelt, was das sozialistische System in den Köpfen der Menschen bewirkt hat, welche Wertesysteme entstanden und welche zusammengebrochen sind. Der Frage liegt natürlich die Vorstellung zu Grunde, daß sich Menschen unseres Kulturkreises normalerweise gegen die Verrottung wehren und daß es auch bei schlechten äußeren Bedingungen Mittel und Wege gibt, das, was man für wirklich wichtig hält, zu realisieren. Die Frage ist natürlich nicht nur historischer Natur und sie beschränkt sich auch nicht auf das Problem der Stadtgestaltung (wiewohl dieselbe in aller Regel auch eine ganze Menge über die Menschen und ihre Wertsysteme aussagt, weshalb dieser zugebenermaßen leicht touristische Ansatz – ein anderer ist unsereinem ohnhin kaum möglich – nicht ganz zu verachten ist). Die mir selbst gestellte Frage enthält auch die Frage nach den Menschen, mit denen wir es heute zu tun haben, danach, wieweit man sich in Ost und West voneinander entfernt hat und wie man künftig miteinander leben kann.

 

Es gab wohl selten einen Zeitpunkt, in dem man größere Aussichten hatte, auf solche Fragen eine Antwort zu finden, als jetzt. Die Vereinigung der unterschiedlichen Gesellschaftssysteme ist nicht nur, wie Du richtig feststellst, ein Wirtschaftsexperiment ohnegleichen, das Ungeheures von den Menschen verlangt[7]. Auch die Teilung wirkt wie ein riesiges Experiment zur Gewinnung von Erkenntnissen über die Entwicklung von Gesellschaften. Ich meine damit nicht die Tatsache, daß auf Euren Rücken ein Gesellschaftssystem ausprobiert wurde (und für ungeeignet befunden) wurde, sondern den Umstand der Trennung einer einheitlichen Gesellschaft und der äußerst effektiven Separierung ihrer Teile. Wir befinden uns praktisch in der Situation gesellschaftlicher Zwillingsforscher, die herausfinden wollen, was bei der Entwicklung der gleichbegabten Zwillinge auf die Begabung und was auf die Verhältnisse zurückzuführen ist. Und da ließe sich vielleicht meine – und nicht nur diese – Frage beantworten. Ich frage also nach den Bedingungen, unter denen Menschen die Liebe zu ihrer Umgebung verlieren und sich stattdessen, bewehrt mit einem Fuchsschwanz, ins Innere zurückziehen, wo sie es, wie ich zu bestätigen vermag, sehr wohl fertig bringen, ihre Umgebung zu gestalten.

 

Die Frage ist nicht nur interessant zur Vermeidung künftiger Fehler. Die Antwort darauf könnte auch neue Ansätze für eine positive Stimulierung geben. Ein allgemeines Ergebnis habe ich immerhin schon ausgemacht. Bei Gesellschaften ist, anders als bei Individuen, der Anteil der „Umstände“, des Systems also, an der Entwicklung offensichtlich wesentlich wichtiger als die „Begabung“, m.a.W. man kann mit der falschen Wahl eines Systems in sehr kurzer Zeit sehr viel kaputt, mit der richtigen wohl aber auch viel gut machen. Das muß den Experimentatoren zu denken geben. Und wie lange es dauert, eine aus der Bahn geworfene Gesellschaft wieder auf’s Gleis zu bekommen, das zeigen nicht zuletzt einige Entwicklungsländer. Das Aufholen ist, wie Du zu Recht feststellst, nicht nur per se ein Handicap. Es wird noch dadurch erschwert, daß das rasante Tempo der Gesellschaften (Wirtschaftssysteme), zu denen es aufzuschließen gilt, die Folge ihres Vorsprunges ist.

 

Ein Wort noch zum Thema Wundern und Staunen. Ich glaube, das Staunen darüber, daß nach Einführung von Demokratie und Marktwirtschaft nicht gleich Wohlstand und Wohlleben ausgebrochen sind, ist wohl mehr auf östlicher Seite. Mich wundert der mangelnde Fortschritt entgegen Deiner Vermutung keineswegs. Gewundert hat mich eigentlich immer nur die Naivität oder Unverfrorenheit derer, die immer so getan haben, als seien in überschaubarer Zeit hüben und drüben gleiche Lebensverhältnisse zu erwarten (bei bestimmten Leuten wundert mich aber auch dies nicht). Die große Enttäuschung, die jetzt offenbar bei Euch vorherrscht, beruht doch darauf, daß man sich von der Freiheit Wunderdinge erhofft hat. Daß der jetzige Zustand der „BRD“ das Ergebnis einer Jahrzehnte langen Entwicklung ist[8], hat man sich ebenso wenig klar gemacht, wie die Tatsache, daß eine freiheitliche und offene Gesellschaft notwendigerweise einige Probleme mit sich bringt, die Euch bislang nicht bekannt waren.

 

Die Enttäuschung ist wohl auch deswegen so groß, weil die meisten Menschen bei Euch erwartet haben dürften, das Leben in einer pluralistischen Gesellschaft sei leichter als in einer geschlossenen Gesellschaft. Daß diese Lebensform die denkbar komplizierteste ist und auch bei uns unzählige Menschen überfordert, hat man angesichts der von den Medien „verallgemeinerten“ Tellerwäschererfolgsstories einiger Weniger offensichtlich nicht wahrgenommen. Das sind die Fährnisse einer freiheitlichen Gesellschaft, von denen ich früher schon mehrfach gesprochen habe.

 

Übrigens wurde diese Lebensform bis vor kurzem auch hier als außerordentlich schwierig empfunden. Die neue Begeisterung des Westens für offene Gesellschaft und Marktwirtschaft ist eigentlich erst die Folge des Zusammenbruchs im Osten. So richtig gut geht es uns erst, seit es Euch schlecht geht[9]. Vorher war das Stöhnen über die problematischen Lebensverhältnisse so allgemein, daß kein Mensch mehr zur Kenntnis nahm, daß es uns zu keinem Zeitpunkt besser ging. Täglich entdeckten wir eine neue Zivilisationsgefahr und es war schlechterdings unerklärlich, daß die Lebenserwartung dennoch ständig nach oben kletterte. Jedermann war auf der schmerzensreichen Suche nach dem Sinn oder auf der Flucht vor der Frage danach. Wer nicht zum Psychiater ging, ins Glas guckte oder sich ins Vergnügen stürzte, vertiefte sich in östliche Kulturen oder versuchte sich in alternativen oder traditionellen Lebensformen.

 

Es ist noch gar nicht so lange her, da behaupteten viele junge Leute, es sei unverantwortlich, in diese Welt noch Kinder zu setzen. Was ihr jetzt durchmacht, ist die Umkehrung einer Erfahrung, die man insbesondere bei der Beobachtung traditioneller geschlossener Gesellschaften macht. Es ist eine merkwürdige Tatsache, daß die Menschen in solchen Gesellschaften (auch dort wo es denkbar ärmlich, nach unseren Maßstäben sogar katastrophal zugeht) „glücklicher“ zu sein scheinen, als in den hochentwickelten freien und wohlhabenden Gesellschaften. Offenbar entlasten diese traditionellen Kulturen den Einzelnen in so großen Maß von Fragen der Sinngebung und der psychischen Vorsorge, daß der materielle Mangel nicht entscheidend ins Gewicht fällt.

 

Ich glaube, daß das „System“ in der DDR zu einem erheblichen Teil solche Bedürfnisse abgedeckt hat. In gewisser Hinsicht trauern jetzt viele Menschen in der „DDR“ einem solchen einfachen Leben in gesellschaftlicher Geborgenheit nach, wahrscheinlich sogar die, die schon immer gegen das System gewesen sind[10]. Dieses Leben freilich dürfte Europäern in wirklich glückbringender Form kaum mehr möglich sein. Denn unter der Herrschaft eines solchen Systems fühlt man sich, wie gesehen, auch nicht wohl. Der Versuch, einfache Verhältnisse wiederherzustellen, muß sich daher des Zwangs bedienen. Er endet, da ihm der Drang zur Freiheit entgegensteht, „zwangsläufig“ im Faschismus (rechter und linker Couleur – vgl Fn 1).

 

30.9.1991

Gorbatschow ist wirklich nicht mehr der Alte. In meinem Neujahrsbrief auf das Jahr 1990 hatte ich in einem Anfall politischer Zärtlichkeit noch gemeint, die große einseitige Abrüstungsgeste könne nur von seiner Seite kommen. Daß er jetzt von Busch überholt wird, zeigt, wie sehr er die Initiative in dem Prozeß verloren hat, den er in Gang gesetzt hat.

 

3.10.1991

Tag der deutschen Einheit. Noch nie wurde über die deutsche Zweiheit soviel gesprochen wie an diesem Tag.

 

5.10.1991

Mit großem Interesse verfolge ich z. Zt. die Blockflötendiskussion. Irgendwann mußten aus diesen verstimmten Instrumenten die wahren Töne doch einmal herauskommen. Ein Musikus hört sie freilich schon etwas früher (vgl. meinen Brief vom 10.2.1990).

 

PPS

Wir hoffen, Dich bald wieder mal in natura zu sehen.


[1] So ganz verwunderlich ist es allerdings nicht, wenn man von der These der Nähe von rechtem und linkem Faschismus ausgeht, die ich bereits in meinem Brief vom 6.5.1990 aufgestellt habe.

[2] Vor allem die Japaner, die wegen ihrer läppischen Kurilen den Blick für das weltpolitisch Wesentliche aus den Augen verloren zu haben scheinen.

[3] Man hätte, um auf Deinen Brief vom 16.3. zurückzukommen, zwar nicht unbedingt ein Jahr nur beraten müssen. Aber man hätte überhaupt ein permanent tagendes Gremium aufstellen müssen, das alle Aspekte dieses ungeheuer komplexen Prozesses im Auge behält. Wann überhaupt, wenn nicht in dieser Situation, war der Zeitpunkt, ein Gremium der Besten zu schaffen, das sich ausschließlich mit dieser Frage zu beschäftigen gehabt hätte (ich denke dabei an so etwas wie das amerikanische Atombobenprojekt am Ende des 2. Weltkrieges). Die Lage mit Beamten und ein paar guten Freunden meistern zu wollen, ist eben dilletantisch , wobei dann so absurde Vorstellungen herauskommen mußten wie die, man könne die deutsche Einheit aus dem Laufenden finanzieren.

[4] Der Blick ins kommerzielle (!) italienienische Fernsehen war es ja wohl auch, der die Massen Albanien mobilisiert hat (politisch und körperlich). Und das Überleben des Kommunismus in China dürfe nicht zuletzt auf der televisionären Isolation diese Landes beruhen.

[5] Anbei ein kleiner Leserbrief über das neues Kongresszentrum in Stuttgart, den die Stuttgarter Zeitung abgedruckt hat. Du magst darauf entnehmen, dass ich mich nicht nur über den Osten errege.

[6] Das mit dem absoluten „Schlußlicht der Weltkultur“ ist eine „Schluß“folgerung von Dir, die ohne den von Dir ein paar Zeilen höher angebrachten Klammerzusatz „Bau“ der Paradefall einer unzulässigen Verallgemeinerung ist.

[7] Die von Dir geschilderten – geistigen – Umstellungsprobleme, kann ich Dir nur zu gut nachempfinden. Ich bin aber nicht sicher, ob die Ossis in allen Punkten besser dafür gewappnet sind als die Wessis. Ein nicht unerheblicher Teil dieser Probleme dürfte auch daraus resultieren, dass man Euch nicht gerade mit der Relativität der verschiedenen gesellschaftlichen Gestaltungsmöglichkeiten vertraut gemacht hat. Wer gelernt hat, wie wacklig unter Umständen gerade das ist, was sich als besonders stabil ausgibt, wird wohl beim Zusammenbruch einer „Wahrheit“ weniger überrascht dastehen, als der, der vieles für möglich gehalten hat.

[8] Bereits dies sollte deutlich machen, dass der tarifpolitische „Sprung über Jahrzehnte“ ein Ding der Unmöglichkeit ist.

[9] Bei Euch ist es eher umgekehrt. Das ganze jetzige Dilemma ist daher weniger existentieller als komparativer Natur; was nicht heißt, das es keine psychische Wirksamkeit habe. Es kann einem verdammt schlecht gehen, weil es anderen gut geht.

[10] Deine Bemerkung, das ihr die neue Zeit in Ungarn nicht vermisst habt, scheint in diese Richtung zu gehen.

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Briefe aus der Wendezeit – Teil 8

Stuttgart, 15.9.1990

Lieber Frank,

Deutschland hat uns wieder. Unaufhaltsam ist der Rausch verflogen, in den mich Italien immer wieder versetzt. Es ist ein merkwürdiger Prozeß. Kaum bist du über die Alpen, da tauchst du in eine Welt allgegenwärtiger Ornamentik und wohl gesetzter Proportionen. In dem betörenden Spiel schöner Formen, das dich umgibt, beginnen sich bald Fragestellungen zu verflüchtigen, die zu Hause für wichtig gehalten werden, (etwa so tiefgründende Unterscheidungen, wie die zwischen Sein und Schein oder Form und Inhalt). Gewohnte Gewichte verschieben sich und erschweren das Wichtigtun (bekanntlich eine deutsche Lieblingsbeschäftigung). Deutschland liegt plötzlich irgendwo hinter den Bergen, es erscheint merkwürdig unbegabt und gehemmt und allenfalls auf eine chaotische Weise malerisch. Wenn du dich schließlich auf einer Bühne wiederfindest, von der niemand zu behaupten versucht, daß sie keine Bühne sei, weißt du, daß du Deutschland endgültig hinter dir gelassen hast. (Das „Bühnenbild“ zwingt mich, meine Behauptung über das Wichtigtun zu präzisieren: Wichtigtun ist „in Wirklichkeit“ wohl doch die Domaine der Italiener; die Deutschen neigen dazu, das, was sie tun, tatsächlich für wichtig zu halten.) Der Italienrausch ist, wie Du siehst, ein Prozeß schleichender Entdeutschung. Ich verfalle ihm unfehlbar, sobald ich den Alpenhauptkamm überquert habe.

Trotz des Katzenjammers, der mich mich regelmäßig – natürlich auch diesmal – ergreift, wenn ich auf den Boden gewichtiger deutscher Tatsachen zurückkehre, genehmige ich mir diesen Rausch möglichst ein Mal im Jahr (anstelle der hierzulande beliebten handfesteren Räusche). Man muß eben dieses seltsame Vaterland immer wieder von jenseits seiner natürlichen und geistigen Grenzen sehen, wenn man seinem nicht ungefährlichen Bann entkommen will. Diesen Rausch haben Eure alten Herren gefürchtet, weshalb sie Euch eingemauert haben.

Allerdings dieses Mal war der Rausch von etwas anderer Qualität als sonst. Es ist mehr Deutschland mitgereist. Bei unserer Frühjahrsreise durch die CSSR und die DDR war unsere Aufmerksamkeit besonders auf den miserablen Zustand der real sozialistischen Hinterlassenschaft gerichtet. Wir haben alles mit den heimatlichen Verhältnissen verglichen und unsere Empörung gepflegt. Jetzt in Italien merkten wir, daß wir mit dem Sehnsuchtsland der Deutschen bislang wesentlich schonender umgegangen sind. Wir waren noch so in Übung beim Aufspüren von „Dreckecken“, daß wir auch in Italien mehr als sonst darüber gestolpert sind. Rom etwa, (wir besuchten es nach langer Abstinenz wieder einmal), ist, wenn man es nüchtern betrachtet, was nicht ganz einfach ist, nur unwesentlich weniger verloddert als die Metropolen der Staaten, die seine cäsaropapistische Nachfolge angetreten haben. Manches Bauwerk, über das Kunsthistoriker und Reiseschriftsteller enthusiastische Elogen verfasst haben, dämmert mit düsterer und bröckelnder Fassade vor sich hin. Auch hier fehlt es offenbar an Dachziegeln oder Menschen, die gewillt sind, dieselben anzubringen, wovon manches wasserfleckige Deckenfresko zeugt. Und auf den Straßen Roms wirst du nicht weniger durchgeschüttelt, als auf der Fahrt von Dresden nach Pillnitz. Man ist geneigt, diesem Land fast alles nachzusehen. Italien das ist eben eine andere Welt und sie ist mit anderen Maßstäben zu messen, Maßstäben, die nicht zuletzt von den „malerischen“ Italienwerken der großen Enthusiasten gesetzt wurden. Und darin spielten Dreckecken allenfalls eine folkloristische oder elegische Rolle. Ein Werk, wie Hippolyte Taines Italienbuch aus den 60er Jahren des letzten Jahrhunderts, das den Dreckeckenaspekt der italienischen Wirklichkeit nicht unterschlägt, hatte z.B. bei mir kaum eine ernsthafte Chance gegen die geballte Macht der Sehnsuchtsbücher. Die Begeisterung hat eben eine enorme Verdrängungskraft – das ist Dir nicht unbekannt (übrigens trifft man auch bei Taines Schilderung der geistigen Dreckecken des päpstlichen Roms auf viel Vertrautes. U.a. berichtet er darüber, daß die Polizei es nicht duldete, wenn sich jemand mit einer Wissenschaft beschäftigte, die der Politik benachbart war; Männer, welche studierten oder viel lasen, seien überwacht worden. Die verschiedenen „päpstlichen“ Gesellschaften haben, wie man sieht, die gleichen Probleme daher auch die gleichen Lösungen.)

Last not least ist Deutschland auch literarisch mitgereist. Mailand, Genua, Lucca, Pisa, Rom – Deine Werke waren schon dort. Deutsche Urlauber – vorläufig noch einige wenige privilegierte – haben sich an den Luxusstränden Liguriens mit ihnen auseinandergesetzt. Bei „Oktoberland“ bin ich zu einer anderen Einschätzung als der Autor gekommen. Es ist natürlich weit mehr als eine bloß erste Aufbereitung der Ereignisse, wie du im Vorwort schreibst. Für mich ist es vielmehr ein, besser drei und vielleicht noch ein halber Spiegel jener turbulenten Geschehnisse. In meiner Erinnerung war schon manches verschoben, wurde überlagert, zusammengezogen und vieles war gar nicht mehr präsent. Ich habe bei der Lektüre über diese wohl aufregendste Zeit, die ich erlebt habe, noch einmal alles Tag für Tag durchgemacht. Das allein war schon eine packende Sache. Ich denke, daß es anderen Lesern auch so ergehen und daß das Interesse an diesem Werk künftig schon wegen seiner protokollarischen Qualitäten steigen wird. Daran wird sich auch nichts ändern, wenn die äußeren Ereignisse auch in anderen historischen Werken rekonstruiert sein werden. Die Gedanken und Empfindungen der Betroffenen sind nur in einem solchen Werk authentisch. Hinzu kommt die mehrfache Perspektive, die, wie ich meine, vor allem für den westlichen Leser von besonderem Interesse ist. Die „pikanten“ Zutaten verfehlen ihre Wirkung eben falls nicht. Wenn Judi am Strand so vor sich hinlachte oder gar helle Begeisterungslaute von sich gab, wußte ich, daß wieder einmal einen Pointe gesessen hatte. Mich hat neben den Bildern vor allem die „Figur“ des Vaters fasziniert (Der Sohn möge mir verzeihen, aber ich kannte ihn schon ein wenig). Ich hätte ihn gerne kennengelernt und, nachdem er das Ganze gottlob real existent überlebt hat, auch gerne gewußt, wie er die Dinge heute sieht. Aber auch hinsichtlich des Sohnes ist mir manches erst nach der Lektüre des vollständigen Werkes klar geworden. Ich hatte mit den Manuskriptteilen, die Du mir zunächst zugesandt hattest, anfangs meine Schwierigkeiten. Aus hiesiger Sicht schien es doch wie selbstverständlich, daß mit Ausnahme der Hartgesottenen, zu denen ich Dich nicht zählte, eigentlich alle DDR Bewohner vom Zusammenbruch des Systems begeistert sein müßten. So und eigentlich nur so spiegelten sich die seelischen Ereignisse auch in den Medien wieder. Wir werden lernen müssen, daß dies keine reine Selbstverständlichkeit ist, daß auch die Menschen in der DDR ihre Geschichte haben, die sich nicht einfach abstreifen lässt. „Oktoberland“ könnte hierbei Geburtshilfe leisten. Übrigens habe ich den Kreis der Privilegierten bereits erweitert. Die Reaktion war ähnlich wie Judis und meine.

Und dann haben auch noch die „Guten Genossen“ ihre Italienreise gemacht. Der Text „beantwortet“ weit gehend meine Frage, wie das System trotz seiner mageren Ergebnisse so lange überleben konnte. Die Frage setzt ja den Willen zur Veränderung voraus, den die Verhältnisse aber offenbar bereits in der Entstehung hinderten. Die schamlose Propaganda war für mich angesichts der so offensichtlich entgegenstehen Tatsachen immer ein unerklärliches Phänomen. Deine Erklärung ist unerwartet, klingt jedoch plausibel. Gegenüber „Oktoberland“ hat sich Dein Standpunkt deutlich verändert. Es fehlt das Apologetische, Bedauernde und Skeptische gegenüber der Revolution, die jetzt eher als natürliche Konsequenz erscheint. Auch glaube ich Zweifel an Dialektik und Feudalismusthese herauszuhören. Interessant wäre es, die Fassung zu lesen, die vor der Revolution entstanden ist.

Lieber Frank, wie Du siehst war unser Italienaufenthalt doch fast eine Deutschlandreise. Aber Deutschland ist im Augenblick wohl fast überall, was so, wie es jetzt der Fall ist, ohne Zweifel besser ist, als wenn es über Alles wäre.

Alle Grüße

Klaus


Stuttgart, 3.10.1990

Lieber Frank,

Der heutige neue Feiertag gibt mir in doppelter Hinsicht Gelegenheit, mich mit wieder einmal mit einem alten Hobby zu beschäftigen. Dies tue ich umso lieber, als Du ebenfalls ein Faible für das Terrain hast, auf daß ich mich begeben will und ich Dir in diesem Zusammenhang noch eine Antwort auf Deinen Brief vom 19.5.1990 schuldig bin.

Während heute also Alles über die deutsche Einheit spricht, stelle ich mir die Frage, ob wir uns dem Ende der mittleren Periode des gesellschaftlichen Mittelalters nähern. Gerade heute verstärkt sich bei mir der Verdacht, daß die Dinosaurier aussterben, jene gefräßige Großform des Lebens also, die eben jene Periode (die Erdgeschichtler nennen sie das Jura) kennzeichneten und unter deren Füße zu geraten kleineren Individuen häufig nicht zuträglich war. Es scheint, daß wir in diesen Tagen Zeugen des Endes einer weiteren Großform aus der Gattung Lineara Okzidentara werden. Ich meine damit jene spezifisch europäischen Systeme, deren Grundlage die Idee von einem bestimmten Ziel der individuellen und kollektiven Geschichte ist. Seit den Tagen, da sich in der Südostecke des Mittelmeerraumes die Vorstellung von einem „Jüngsten Tag“ entwickelte, auf den alles zulaufen soll, hat sich der Zielgedanke in den Köpfen der Europäer fest eingenistet und ist in seinen verschiedenen Lebensgrößen mal mehr und mal weniger hilfreich gewesen. Mittlerweile haben wir diesen Gedanken in die ganze Welt exportiert, wodurch manche kreisförmig angelegte traditionelle Kultur um ihr Zentrum gebracht wurde. Es lag in der Logik eines solchen Gedankens, daß man den Weg zu dem angenommenen Ziel irgendwann nicht mehr allein dem Zufall überlassen wollte und daher begann, sich aktiv darum zu bemühen. Und es war im wahrsten Sinne des Wortes konsequent, ihn begradigen und beschleunigen zu wollen. Die Suggestion eines klar vorgegebenen Zieles hat dabei ohne Zweifel bis dahin noch schlummernde Kräfte frei gemacht. Später hat man die Schritte, die man auf diesem Weg zurückzulegen glaubte, kühn pauschalierend als „Fortschritt“ bezeichnet. Eine der extremsten Ausprägungen dieser Vorstellung ist schließlich die gesellschaftliche Großform geworden, die glaubte, nach einem „revolutionären“ Bruch mit hergebrachten Lebensformen mehr oder weniger alles planend in die Hand nehmen zu können. Das setzte die Behauptung einer besonders hohen Sicherheit über den Verlauf der Geschichte voraus. Den kosmischen Nebel, der all dies „in Wirklichkeit“ umgibt, hat ihr Prophet – es ist sicher kein Zufall, daß er jener Mittelmeerecke nahe stand – mit hohen Worten wegzudiskutieren versucht. Das hieß, hohes Risiko gehen und dementsprechend spektakulär ist denn auch jetzt der Zusammenbruch dieses notwendig totalitären Gedankens geworden.

Das Problem dieser Theorie ist – trotz gelegentlich noch angestellter Stützungsversuche – ziemlich augenfällig. Was mich heute daran interessiert ist aber nicht dieser Aspekt (wiewohl als Antwort auf einen dieser Stützungsversuche dazu noch eine Menge zu sagen wäre). Es scheint nämlich, daß dieser Zusammenbruch nicht nur das Schicksal der zuletzt genannten, zweifelsohne besonders hypotrophen Form abendländischer Großsaurier ist. Der Zielgedanke, jener besondere Sinn für Richtung, der unser ganzes Denken und Empfinden – im Gegensatz etwa zu dem Asiens – bestimmt, hat in seiner Megavariante auch noch andere heftige Stöße versetzt bekommen. Auf schleichende Weise hat sich zum Beispiel in den letzten Jahrzehnten der Zielaspekt des Christentums im allgemeinen Bewußtsein verflüchtigt. Das „Letzte Gericht“ – einst „allgegenwärtig“ und gefürchtet ob seines ungewissen Ausgangs (weshalb es Gegenstand zahlreicher Bestechungsversuche war – z.B. Ablaßkauf) – dieses Ende mit Pauken und Trompeten hat heute allenfalls noch in den phantasievollen Bildern Realität, zu denen es die Künstler angeregt hat (das macht es uns besonders lieb – freilich auch teuer: denn es hatte, wie man sieht, einen hohen Preis). Auch die nicht minder verbreitet gewesene Überzeugung, die Welt könne in technischer Hinsicht immer nur im Fortschreiten begriffen sein, ist schwer angeschlagen, vermutlich schon seit dem Tage, da sich der unsinkbaren Titanic ein nicht vor(her)gesehener Eisberg in den Weg stellte und ihre Fortschritt feiernde Festgesellschaft auf den Grund des Meeres beförderte. Unaufhaltsam breitet sich seitdem die Erkenntnis aus, daß sich mit den wachsenden instrumentellen Möglichkeiten auch die Fähigkeit vergrößert, das Leben zu zerstören.

Mit dem Sozialismus fällt nun eine weitere Großbastion des naiven Glaubens an die totale Machbarkeit aller gesellschaftlichen und technischen Dinge zum Zwecke der Realisierung eines fernen Zieles. Die Großformen der Gattung Lineara Okzidentara haben sich, wie es scheint, insgesamt überlebt, wahrscheinlich weil sie am Ende mehr gefressen haben, als das Leben verkraften konnte. Es waren gewaltige, leider aber auch gewalttätige Erscheinungen. Man wird sich von den Riesensauriern befreit fühlen, aber man wird das grandiose Schauspiel, das sie boten, auch vermissen. Ich selbst allerdings denke, daß es reicht, wenn man ihre ungeheuren Knochen sammelt und sich in (natur)geschichtlichen Museen daran ergötzen kann. Das Leben wird, wie man weiß, auch ohne sie weiter gehen, in kleineren, keinesfalls jedoch uninteressanteren Formen (wozu u.a. der nicht mehr auszurottende lineare Bazillus gehört, der auch künftig für mehr oder weniger heilsame Unruhe sorgen wird). Daß damit die Sinnfrage nicht nur nicht gelöst, sondern in gewisser Hinsicht eigentlich erst gestellt ist, steht auf einem noch zu beschreibendem anderen Blatt. Vielleicht liegt aber ihre Lösung auch darin, daß sie sich in der Form, wie sie meist gestellt wird, als sinnlos herausstellt.

Was aber geschieht mit der nun ziellos gewordenen Geschichte? Man wird sie wohl, wie die Erdgeschichte, wieder nur in Altertum, Mittelalter und Neuzeit einteilen. Es wird keine alles beherrschende Zukunft mehr geben, neben der die Vergangenheit nur als Vorbereitung und die Gegenwart als Durchgangsphase erscheint. Freilich wird man sich ab und zu gezwungen sehen, an die Neuzeit eine Neueste und an diese eine noch neuere Zeit anzufügen. Dieses „Stückwerk“ ist die Folge des bescheideneren Horizontes, der allerdings dadurch auch ein offener ist. Auf diese Weise werden dann die Schichten entstehen, in denen einmal die versteinerten Reste der gesellschaftlichen Dinosaurier gefunden werden. Das sind Knochen statt Brot, wirst Du mir jetzt vielleicht antworten. Aber ich weiß nicht, ob das so wenig ist. In der kleineren Perspektive gibt es auch eine Menge zu tun. Und vielleicht lässt sich ein Teil davon tatsächlich verwirklichen.

Bis bald

Klaus

PS Wie Du siehst, habe ich mich mit diesen linearen Erwägungen wieder auf ein Gebiet begeben, das Dir aus dem „Schlussbericht“ vertraut sein dürfte. Derselbe schildert nichts anderes als die Folgen eines extremen Zielbewußtseins. Die marxistische Geschichtstheorie als ein Beispiel eines extremen Zieldenkens ist – natürlich – dort auch kurz erwähnt (unter Nr. 5.42 214 341 41).

Übrigens bist Du hiermit Zeuge eines wahren Fortschrittes. Endlich holt der Westen den Vorsprung des Ostens in Sachen Textverarbeitung auf. Zugegeben, diese Kiste, auf der ich mich künftighin zu betätigen gedenke, ist der größte Fortschritt seit der Erfindung von Bleistift und Radiergummi. Allerdings hast Du ihr auch zu verdanken, daß der nächste Brief, den Du – so der neue noch etwas launische Gott will – demnächst erhalten wirst, weit vor diesem datiert ist. Er steckt schon seit längerem unvollendet in diesem Apparat, und fand keinen Abschluß, weil er nicht mehr herauskommen wollte. So ist es halt, wenn man die „natürliche“ Ordnung der Dinge verlässt – man weiß nicht, was am Ende dabei herauskommt. Wenn es nur nicht die zermalmenden Schritte eines neuen Großsauriers sind.

Übrigens war ich mittlerweile auch in musikalischer Hinsicht an Deutsch – Deutschem beteiligt. Wir haben dieser Tage ein Opernkonzert mit den „Stars der Semperoper“ gemacht – ein wahrer Genuß für meine und, wie es scheint, auch der Zuhörer Ohren. So ist denn der innerdeutsche Austausch wenigstens in einer Hinsicht einmal in umgekehrter Richtung gelaufen.

Anbei noch Kopien Deiner Unikate.


Stuttgart, 12.11.90

Lieber Frank

anbei der angekündigte Nachkömmling, den ich Dir doch nicht vorenthalten wollte. Ich lasse ihn unter dem alten Datum laufen, weil er damals entstanden ist und auch vom Inhalt nur unter diesem Datum zu verstehen ist. Ich komme gerade aus Spanien, genauer gesagt Katalonien (das ist, wie ich jetzt gelernt habe, ein großer Unterschied) zurück, wo wir mit dem Orchester fünf Konzerte gegeben haben. Da wir in privaten Familien untergebracht waren, haben wir sehr viel von der spanischen – pardon der katalanischen – Wirklichkeit mitbekommen. Die westdeutschen Maßstäbe sind, wie auch dieses Beispiel wieder zeigte, nicht sehr weit zu übertragen. Daß wir auf einer Insel leben, war mir spätestens seit meinen Besuchen in Ländern der Dritten Welt klar. Wie klein die Insel jedoch ist, wurde mir jetzt wieder überdeutlich vor Augen geführt. Nicht nur wegen der bescheidenen Lebensverhältnisse der Vor- und Kleinstädte, die wir hautnah kenngelernt haben. Gewisse Teile der Altstadt Barcelonas erinnern an Szenen, wie sie Marx nicht eindringlicher hätte beschreiben können. Die Verelendung durch Alkohol, Drogen und Prostitution hat hier unmittelbar vor den Toren Mitteleuropas unglaubliche Dimensionen angenommen. Und natürlich gibt es „Dreckecken“, wohin das Auge blickt (von geeigneten Konzertsälen will ich ganz schweigen). Dabei ist Katalonien die reichste und aktivste Provinz Iberiens (Spaniens darf ich nicht sagen, sonst steigen mir meine katalonischen Gastgeber auf das Dach). Im Kontrast dazu steht die unglaubliche Raffinesse der Architektur eines Gaudi, für die ich mich wieder einmal vollkommen entzündet habe. Er ist zweifelsohne der Größte – vermutlich aller Zeiten.

Ich hoffe, die familiären Dinge stehen weiterhin gut. Aktuelles demnächst. Vielleicht kommt noch ein weiterer Nachkömmling.

Gruß

Klaus

 

 


Berlin, angefangen am 13.11.90

 

Lieber Klaus!

 

Vielen Dank für Deinen „Saurierbrief“ vom 3.10 und die Kopien und herzlichen Glückwunsch zum technischen Fortschritt im Hause H.!

 

Deinen Ausführungen zum (vermeintlichen) Ziel der Entwicklung kann ich nur zustimmen – mit dem Bemerken, daß ich (wie bereits ausführlich dargelegt) dabei unbedingt einen Unterschied zwischen Ziel (bzw. Sinn) und Gesetzmäßigkeit sehe. Der Sinn eines Systems läßt sich nur aus der Sicht (und den Interessen) des nächsthöheren Systems ableiten und insofern mag das Individuum einen solchen für sich noch finden, aber der Versuch, ein Ziel für die Existenz, das Handeln oder die Entwicklung der gesamten Spezies zu entdecken, führt unweigerlich zur Religion (Was für mich als Atheisten keine Lösung ist – aber das Regieren oft erheblich erleichtert. Nicht umsonst gab es bei uns den Trend zur „Verkirchlichung des Sozialismus“.)

 

Was die Saurier angeht, ist mir Dein Optimismus ein wenig überzogen. Auch ich konstatiere zwar das Aussterben einiger Arten, aber die Gattung scheint mir vom Exitus noch weit entfernt. Gerade die gewalttätigen sind offenbar nicht totzukriegen. In diesen Wochen schlüpfen wieder etliche aus dem arabischen Wüstensand, aber man (bzw konkret: ich) braucht gar nicht so weit oder in die Glotze zu schauen – auch vor meinem Fenster stehen sie und sind gar schrecklich anzuschauen. Wenn ich in dieser Minute von meinem Stuhl aufstehe, sehe ich unten vier gepanzerte Wasserwerfer vom Bundesgrenzschutz und einen fünften der Berliner Polizei, der schon ziemlich mitgenommen aussieht, dazu Mannschafts- und Krankenwagen, Planierraupen, rollende Führungspunkte… Auf dem Euch ja gut bekannten Alexanderplatz habe ich heute nachmittag insgesamt 8 Schützenpanzerwagen des BGS gezählt, malerisch zwischen die frisch aufgebauten Buden des Weihnachtsmarktes plaziert, auf daß das Fest der Liebe auch gelinge. Gegen all dies ist das Aufgebot an Bürgerkriegsgerät vom Oktober ’89 – welches ulkigerweise an der selben Stelle aufmarschiert war – geradezu lächerlich zaghaft, stümperhaft provinziell, kleinkariert gering gewesen.

 

Nun bin ich wahrlich kein Freund der Hausbesetzerszene und schon gar nicht der irgendwelcher Steineschmeißer. Im Gegenteil: Ich finde es durchaus vernünftig, daß der Gewalt irgendwelcher Chaoten mit (rechts-)staatlicher Gewalt begegnet wird (Über Ursache, Wirkung und alternative Lösungen mich auszulassen maße ich mir hier nicht an und es würde auch den Umfang unserer gesamten bisherigen Korespondenz sprengen, denke ich).

 

Schlimm ist, daß überhaupt die Gewalt – und leider nicht AUCH, sondern INSBESONDERE die physische – in unserem Leben noch oder wieder eine derart dominierende Rolle spielt und diese sogar noch auszubauen scheint. Für uns Ossis gilt dies jedenfalls unbedingt. Solche Unsicherheit auf den Straßen oder gar in der eigenen Wohnung wie sie sich in den letzten Monaten hier entwickelt hat, kannten wir bisher nur aus den Gruselberichten der Parteipresse.

 

Wo also ist Dein „Ende des gesellschaftlichen Mittelalters“?!

 

(19.11.90)

 

Sicher, in Europa hat es derzeit den Anschein, als würde dort der Schwachsinn kalkulierten Völkermordes ad acta gelegt. Gerade heute sind die wohl einschneidensten Abkommen zur Rüstungsbegrenzung unterzeichnet worden. Ein Sieg der Vernunft? Es war wohl eher ein Sieg konsequenten Totrüstens über eine stümperhafte (und unbestritten systemimmanente) Wirtschaftspolitik. Ein Sieg des hochmotivierten Siemens-Ingenieurs über seinen vom Mangel gebeutelten Kollegen in Jena.

 

Dem Paradies der Vernunft sind wir damit kaum einen Schritt näher gekommen. Sicher jedoch dem Paradies der Plusmacherei. (Einige Aufsichtsräte im Westen müssen doch vor Euphorie schon ganz blöd im Kopf sein, wenn sie ihre Umsatzsteigerungen seit unserer Revolution zusammenrechnen, seit UNSERER Revolution, wohlgemerkt.)

 

Den Sauriern sind wohl tatsächlich einige besonders schwerfällige Arten abhanden gekommen, aber die Gattung ist davon kaum beeindruckt, im Gegenteil: Futterplätze sind vakant geworden, neue Räume in herrlichen Dimensionen tun sich auf! Man muß nur die Kräfte ein wenig umgruppieren und dann kann das große Fressen weitergehen – etliche sind schon munter dabei und schmatzen völlig ungeniert, andere (die satten mit den starken Nerven) warten noch ein wenig. Sie wissen, daß ihnen der Happen noch bequemer zurechtgelegt werden soll.

 

Derweilen greinen die kleinen Tiere hier darüber, vom Nachlaß der so tapfer ausgerotteten Art nicht genügend abzubekommen. Die meisten haben noch nicht begriffen, daß sie selbst – wie immer – der Happen sind, den es zu verteilen gilt, ganz zu schweigen von dem Gedanken, den Großen vielleicht gemeinsam in den Schwanz zu beissen.

 

Irgendwann zwischen dem 4. November (’89) und der Märzwahl ist uns wohl die Solidarität abhanden gekommen, die – gepaart mit ein wenig Mut – im vorigen Herbst so viel ausgerichtet hat. Wir erleben derzeit unsere Evolution in Richtung der Beutelratte und wer sein Säckchen einigermaßen erfolgreich füllt (ohne gefressen zu werden), dem wird wohl die Zukunft gehören und es ist nichts schlechtes dabei, denn die Verhältnisse – sie sind halt so. Ergo: Mit den Sauriern wird man sich noch auf einige hunderttausend Jahre arrangieren müssen. Vielleicht klappt dies sogar, nur: Das Zeitalter der Saurier ist es eben doch! Amen.

 

(26.11.90)

 

Im übrigen – um nun endlich Dein Bild zu verlassen – keimt hier ganz ganz langsam ein klein wenig neues Selbstbewußtsein in den Köpfen. Immer mehr Kontakte mit der verklärten Marktwirtschaft und ihren Vertretern zeigen: Die Wessis kochen auch nur mit Wasser. Sie heizen allerdings mit besseren Kohlen und – sie machen dabei ein Geschrei, als ob sie sonstwas im Topf hätten. Feuer ohne Kohlen unter den Bedingungen des Holzmangels – für gelernte DDR-Bürger eine der Grundfertigkeiten – bringen sie gar nicht. (Ich habe mich darüber im Sommer schon ausgelassen.)

 

Auf der Basis dieses Selbstbewußtseins kommen nun natürlich auch die ersten Forderungen, und das ist gut so, denke ich. Im nächsten Jahr wird sich entscheiden, ob man sich im vereinten Deutschland an den Gedanken gewöhnt, daß Ossis Deutsche 3. Klasse sind (jeder polnische Übersiedler ist mit dem Fremdrentengesetz beispielsweise um den Faktor 3 besser dran als unsere Alten), oder ob klare Fahrpläne für ein echtes Zusammenwachsen aufgestellt werden. Wie es aussieht, ist niemand bereit, uns die Gleichheit zu schenken. Also wird sie erkämpft werden müssen. Seit heute nacht streiken die Eisenbahner und sie haben meine volle Sympathie. Es ist wohl nicht gerade unverschämt, nächstes Jahr wenigstens das halbe Einkommen eines Westkollegen zu verlangen, (oder?) zumal m.E. die Arbeitgeber im öffentliche Dienst – im Gegensatz zur arg gebeutelten Industrie – dazu am ehesten in der Lage sein müßten, denn dort wird wirklich die gleiche Leistung (unter wesentlich schwierigeren Bedingungen) erbracht und gleiche Preise sind dort am leichtesten durchzusetzen.

 

(Hier spricht ein wenig der Neu-Bundespostler, dessen Stuhl übrigens zZ auch mehr wackelt, als es vor 4 Wochen noch zu befürchten war. Manchmal ist es gar nicht so einfach, sich nicht verrückt machen zu lassen.)

 

Schreib‘ doch mal demnächst Deine Meinung und die Deiner Bekannten dazu, wie mich überhaupt sehr interessieren würde, welche Haltung heute in den alten Bundesländern zu den Forderungen in den neuen besteht. „Überwindung der Teilung durch teilen“ scheint mir derzeit nicht gerade populär – und ich verstehe das auch irgendwie…

 

Bis bald

 

Berlin, Nov. 17th 1990

 

Dear Judy,

 

thank you so much for your letter from Okt 24th. I was been so glad, that I’ll try to give you a short answer in my bad and simple English (without dictionary). I’m very happy having a real fan now, but – you are my only fan, I’m afraid. So you can say, you have a private writer for yourself, who has written a book especially for you. Congratulation!

 

Do you want an autogramm?

 

Nobody wanted my book and also the RIAS which at first seemed very interested in it and the „Guten Genossen“ for a radio-feature had not contacted me for months. (So I have now not even a copy for myself.)

 

The same thing was about the essay for Bertelsmann’s „Buch der Deutschen“. They wrote me, only one of each seventy they could place in their book. So I stopped all those activities since spring ’90 and the only way I’m writing are the letters to Klaus. (Do you read them too?)

 

So becoming „rich and famous“ will not be in those way, I’m afraid – but „rich only“ is even a good thing and I have ever been an optimist. I hope, Mr. Schwarz-Schilling will be so intelligent giving me a good job and enough money. If not I must go to Baden-Wuertemberg (to Stuttgart, for instance) and sell my great intelligence outside the post enterprise. Today Berlin is more a hard place than a place of hope and future. (May be it will be an other case in some years…)

 

Many greetings from Paula and all the best for you and the children

 

Love,

 

Frank

 

23. Nov 1990

 

Lieber Klaus!

 

Eben kam Dein „nachgereichter“ September-Brief. Es erfüllt einen verhinderten Schriftsteller wie mich mit einiger Genugtuung zu hören, daß der Leserkreis seines Hauptwerkes offenbar doch im Begriff ist, den einstelligen Bereich zu verlassen. Vielleicht kannst Du unauffällig auch mal einen Lektor in die Schar der „Privilegierten“ einbauen?

 

Noch eine Bemerkung zu den „Guten Genossen“: Dank der Computertechnik ist es ein Kinderspiel, Dir die „alte“ Fassung vom Sommer ’88 zugänglich zu machen.

 

Mag sein, daß es Dich erstaunt, aber: Ich habe im/am Prinzip für die „Nachwende-Fassung“ kaum etwas geändert! Lediglich Anfang und Schluß sind den aktuellen Ereignissen angepaßt worden und alle Verben des Textes wurden um eine Zeitebene nach hinten gesetzt.

 

Ich schicke Dir den Ausdruck, soweit er (bis auf die Verben) von der Dir vorliegenden „Ausgabe“ abweicht, so daß Du Dir selbst ein Bild über die – zu dieser Thematik (!) m.E. kaum vorhandenen – Änderungen in meinem Denken zwischen Sommer ’88 und Frühjahr ’90 machen kannst.


Berlin, den 30.12.90

 

Lieber Klaus!

 

Einige freie Tage und der Jahreswechsel sind Anlaß zu einem ersten Rückblick auf das verflossene Jahr 1990. Für uns Deutsche war es mit gewaltigen Veränderungen verbunden, wenn es auch so richtig hautnah derzeit wohl nur für die Deutschen im Osten spürbar ist. Auf lange Sicht werden aber auch die anderen nicht die alten bleiben können – falls sie das überhaupt wollen.

 

Für uns jedenfalls ist (fast) alles anders geworden in diesem Jahr 1990 und wie in wahrscheinlich jeder Revolution stehen alle, Beteiligte und Unbeteiligte, ein wenig staunend vor dem, was sie da angerichtet haben: Die Aktivisten des Herbstes ’89 sind mehrheitlich längst wieder in der politischen Versenkung verschwunden und versuchen damit fertig zu werden, plötzlich mitten im Kapitalismus zu sitzen, für den sie nun wahrlich nicht auf die Straße gegangen waren. Ähnlich geht es denen, die (viel zu lange auf eine Revolution von oben hoffend) jene erst auf der Straße und im Bann allein ließen, um dann als Trittbrettfahrer der Ereignisse für ein Dutzend Wochen ihrem Traum vom 3. Weg zu träumen.

 

Apropos Träume: Auch die vielen sogenannten Kleinen Leute hatten ihren Traum – den vom Goldenen Westen und der harten D-Mark – und in diesem Jahr ist er wahr geworden. „Bundesbürger sein, daß wäre was!“ hatten sie immer gedacht. Schade nur, daß der Traum gleich für alle wahr geworden ist. Und weil deshalb hier niemand mehr eine D-Mark in ein komplettes Restaurant-Essen tauscht, ist man im Osten Deutschlands erstmal nicht der große Mann geworden, zu dem man sonst immer so neidvoll aufblickte. Für die Von-oben-herab-Perspektive muß man sich schon nach Prag oder Polen bemühen. Für viele erstmal besser als nichts. Also: „Wir sind wieder wer!“ – jedenfalls östlich von Frankfurt(/Oder!). Und da träumt man denn schon mal die ersten Sequenzen des nächsten Traumes: Nicht nur Bundesbürger, sondern REICHER Bundesbürger möchte man sein. Also werden die Ellenbogen gespitzt und einige können es schon ganz gut. Soweit zu denen.

 

Und dann gibt es natürlich die vielen, die immer noch von Konterrevolution und Agentenwerk reden. Einige besinnen sich ganz fürchterlich auf die Schulbuchweisheiten vom Klassenkampf, haben gar echte Widerstandskämpfergefühle beim Plakatekleben für die PDS. (Der Gysi paßt ihnen zwar ganz und gar nicht, aber was anderes ist eben auch /noch?/ nicht zur Hand.) Man hat den Eindruck sie wissen nicht so recht, ob sie sich nun freuen sollen, wenn es weiter bergab geht („Wir haben es ja immer gesagt. Nun zeigt er sein wahres Gesicht, der Kapitalismus“), oder ob sie nicht doch noch schnell die Paris-Reise buchen, bevor die befürchtete Mieterhöhung kommt.

 

Und diese vier Typen aus den-Neuen-Bundesländern /den-Fünf-Ländern /dem-Beitrittsgebiet /der-ehemaligen-DDR- /Ostdeutschland schauen erstaunt und erschrocken auf den fünften, den eigentlichen (vorläufigen?) (hiesigen) Gewinner der Revolution:

 

Man kann in der Wirtschaft blicken wohin man will – das Sagen haben überall noch dieselben Leute (Ich habe dieses Thema bereits im Juli kurz angerissen, inzwischen sind die Konturen wesentlich klarer, weshalb ich nun nochmals darauf zurückkomme.) Lediglich ihre Gehälter sind inzwischen – durch sie selbst, niemand sonst ist witzigerweise dafür zuständig – kräftig erhöht und ihre Befugnisse erweitert worden. Da dies einerseits allgemeiner Trend ist und andererseits im Osten nichts mehr ohne westlichen Segen passiert, muß dies in Bonn (oder besser: in Frankfurt) so gewollt sein und nach kurzem Überlegen scheint es auch logisch. Hier ist nämlich der so ziemlich einzige Punkt, wo die DDR etwas einzubringen hat in unser einig Vaterland: Ausreichende Skrupellosigkeit und wohleingeschliffene Kontakte zum Comecon! Da nimmt man als Investor schon mal ein bißchen Stasi-Vergangenheit beim künftigen Partner in Kauf und die Treuhand verscherbelt das „Objekt“ natürlich auch lieber an den alten Direktor als an irgendeinen Herrn Namenlos, der schon unter Honecker/Mittag nichts werden durfte. Nur Naive wundern sich darüber. Grund zur Empörung haben allerdings -zigtausende, besonders wenn sie am eigenen Leibe die haarsträubende Personalpolitik dieser Alten Herren erleben müssen. Es gibt sie tatsächlich, die „alten Seilschaften“.

 

Insofern haben die Westmedien (die sonst immer noch viel halbgewalkten Schmarrn über den Osten bringen) hier wirklich den Nagel auf den Kopf getroffen – nur: Charakteristisch für diese Seilschaften sind weniger die gemeinsame SED- oder Stasi-Zugehörigkeit, sondern eine gemeinsame Vergangenheit schlechthin. Die kann denn auch genausogut bei den Blockflöten, im Kegelclub oder dem Handballverein gelaufen sein. (Wobei natürlich wegen der ehemals fast 100%-igen SED-Mitgliedschaft dieser Leute der SED-Effekt tatsächlich überwiegt. Aber es handelt sich auch dann keinesfalls um eine Bruderschaft im Geiste von Marx und Lenin, sondern – und zwar schon immer – um den Geist von Posten, Macht und Geld). Man macht halt einfach so weiter wie bisher, nur unter anderen Vorzeichen, was solchen Typen, die routinemäßig schon immer jede Linie problemlos mitmachten, kaum schwer fallen dürfte.

 

Soweit in (zugegeben vereinfachender) Kürze das gegenwärtige Typenspektrum Deiner neuen Landsleute. Was die Verhältnisse angeht, ist (ich muß hier trotz Rückschau-Absicht im Präsens bleiben) das Wichtigste wohl die Etablierung des Rechtsstaates. Eine feine Sache, nur ist es ungeheuer schwer hier, sein neues Recht überhaupt kennenzulernen, gar nicht zu reden davon, es zu nutzen oder gar durchzusetzen.

 

Typisches Symptom: Die Schlange – sie hat unser armes kleines Volk noch immer nicht aus ihrer Umklammerung entlassen. Zwar stehen wir jetzt nicht mehr nach Wurst und Orangen (wenn man einmal vornehm davon absieht, daß die Ossis in ihrer Konsumwut gerade vor Weihnachten wirklich ganze Landstriche leerzukaufen bereit waren), wir stehen jetzt bei Banken und Behörden, nach Ausweisen und Bescheinigungen, ja sogar bei der (KFZ-)Versicherung. Für letztere muß hier im Dezember das absolute Traumgeschäft ihrer Firmengeschichte gelaufen sein. Vor unserem Fenster haben sich schon seit vielen Wochen etwa ein Dutzend Gesellschaften per Wohnwagen oder Container etabliert. Das Geschäft muß sich bei der Flut von neuerworbenen (Gebraucht-)Wagen sowieso gelohnt haben, aber in den letzten Tagen des Jahres haben die Leute sogar Urlaub genommen, um bloß noch rechtzeitig IRGENDEINE KFZ-Haftpflicht-Versicherung abzuschließen. Keiner, der noch auf die Höhe der Tarife achtete („immer die Preise vergleichen!“ Haha, Judy), man stellte sich dort an, wo die Schlange am kürzesten schien (weniger als 20) und basta!

 

Gelobt seien die Raucher! [1]

 

Kurz: Es wird noch eine ganze Weile dauern und nicht ohne Heulen und Zähneklappern abgehen, nach der formal-staatlichen auch die real-bürokratische Einheit der Deutschen herzustellen (Was die emotionale Einheit angeht, warte ich ein wenig auf Deinen Beitrag dazu.)

 

Andererseits ist bisher wirklich erst eine verdammt kurze Zeit vergangen. Vor 6 Monaten ist gerademal die Währungsunion geschmiedet worden und mein Bundesbürgertum ist gar erst 10 Wochen alt. Millionen im Osten würden gern und sofort mit uns tauschen und wären begeistert, dürften sie sich nach KFZ-Versicherungen anstellen.

 

Womit ich mich nun dem letzten und damit außenpolitischen Teil nähere und gleichzeitig bemerke, daß der vorgesehene beschauliche Jahresrückblick ’90 gar keiner geworden ist, wofür ich um Verzeihung bitte.

 

Noch mehr als die wirklich blöde Lage am Golf bewegt mich – wie Du Dir sicher denken kannst – die Situation in der SU. Spätestens nach Schewardnadses Rücktritt scheint mir klar, daß die Frage ob Diktatur oder Demokratie nicht mehr steht. Es geht jetzt wohl nur noch darum, wann, um welchen Preis und wieviele Diktaturen errichtet werden – und nicht zuletzt: Wieweit sind wir in Deutschland davon betroffen? Wenn dem Volk die Diktatur als das kleinere Übel erscheint, kommt sie unweigerlich. Wir haben das in diesem Jahrhundert u.a. in Deutschland und in Chile erlebt und die Ausgangssituation scheint mir in der Sowjetunion sehr ähnlich: Man ist bereit für einen Schlag Suppe in den eigenen Topf über den Schlag in die Magengrube des Nachbarn hinwegzusehen, denn zur Wahl stehen scheinbar nur noch: Anarchie oder Diktatur. Die Demokratie spielt in einer solcherart verfahrenen Situation als Alternative ohnehin keine Rolle mehr, und soweit sich das von hier aus beurteilen läßt, ist das Überleben dort tatsächlich nur noch mit Mitteln der Gewalt zu sichern. Die Verteilung ist im Begriff zusammenzubrechen und wohl nur das öffentliche Erschießen von zehntausend Schiebern kann hier noch Abhilfe schaffen. Mit einer kleinen Phasenverschiebung steht anschließend das Problem der endgültig zusammenbrechenden Produktion, wieder Erschießungen usw… Am Ende hat das dankbare Volk wieder einen geliebten Tyrannen vor der Nase, den es nicht wieder los wird, und der von seiner alleinseligmachenden Superman-Rolle bald selbst so überzeugt ist, daß als nächstes die Kritiker erschossen werden… usw usw, Schwanzbiß und Ende meines Intellekts – siehe mein Septemberbrief!

 

Das einzige Stück Optimismus, das ich beim Thema SU einbringen kann, ist die Hoffnung, daß an UNS dieser Kelch einigermaßen vorübergeht und die Fetzen der anstehenden Eruptionen UNS nicht allzu dicht um die Ohren fliegen. Die Völker der SU jedenfalls können einem leid tun in ihrer Hoffnungslosigkeit und daran ändert auch nichts die Tatsache, daß ihre eigene unendliche Geduld offenbar eine der Hauptursachen für diese Hoffnungslosigkeit bildet. Wir haben deshalb vor einigen Wochen in unsere schmalen Taschen gegriffen, und wenigstens 1 Care-Paket finanziert. Auch die Kinder haben sich mit ihrer Sparbüchse beteiligt…

 

Das soll’s für heute gewesen sein. Wir wünschen Euch allen ein gesundes und erfolgreiches Jahr 1991 und hoffen, Euch in den nächsten 12 Monaten irgendwie wieder auch leibhaftig in die Arme zu schließen

 

Euer Frank


[1] private Anmerkung: Vor dem ganzen KFZ-Horror hat uns bisher erfolgreich Paulas Camel-Ford bewahrt.

Wir sind überhaupt bisher auf der Behörden-Ansteh- Strecke (neubundesdeutsch müßte es wohl „-Schiene“ heißen) sehr glimpflich davongekommen (toi, toi, toi!), beginnend mit dem November vorigen Jahres als wir nicht am Geldanlage-Run auf Kühlschränke, Waschmaschinen und Fernsehgeräte teilnahmen (zwei Tage Anstehen und – umgerechnet – mindestens 2000 D!-Mark gespart), über das Frühjahr als wir uns den staatlich genehmigten 1:5-Umtausch verkniffen haben (450 DM gespart), die Währungsunion bei der wir 4 zusätzliche Konten extra für den 1:1-Umtausch bei einer ziemlich unbekannten und also nicht überlaufenen Sparkassenzweigstelle eröffnet haben (ein Tag Anstehen gespart), bis hin zum rechtzeitigen Wechsel zur Commerzbank bereits im Juli. Bei der Ostberliner Sparkasse stehen bis heute riesige Schlangen. Jetzt geht es zwar nicht mehr um Umstellungsanträge und das Verteilen des Familienvermögens auf alle Großtanten, sondern um den Antrag für Euroschecks und -Karte, aber mindestens einen halben Tag Zeit muß man eben doch ans Bein binden und nach einer Wartezeit von 6 bis 8 Wochen dann bei der Abholung das Gleiche nochmal. (Für die meisten besonders „schlimm“ weil bei uns mit der Existenzangst auch die Arbeitsdisziplin gewachsen ist und sie nun tatsächlich dazu offiziell frei nehmen müssen.)