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Verschlossene Bedürfnisanstalt – ein Gruß aus dem Reich der Mitte

 

Als ich dieser Tage um den West-Lake von Hangzhuo spazierte, kam mir der Marienplatz in Stuttgart in den Sinn. Ich weiß, dass der Vergleich von Stuttgart und Hangzhou und des West-Lakes mit dem Marienplatz nicht ganz fair ist. Hanghzou ist mehr als zehn Mal so groß wie Stuttgart und sein See ist eine der großen Touristenattraktionen für die Chinesen. Auch stellte schon Marco Polo fest, dass Hangzhou die schönste und prächtigste Stadt der Welt sei, was von Stuttgart noch niemand behauptet hat. Da aber das Lob Marco Polos schon 700 turbulente Jahre zurückliegt und Hangzhou in der Reihe der Städte Chinas der Größe nach ähnlich platziert ist wie Stuttgart in Deutschland, scheint mir der Vergleich doch nicht so übertrieben. Dies gilt um so mehr, als die Sache, die meine Aufmerksamkeit erregte, bei allem Unterschied in beiden Städten sehr ähnlich ist. Hier wie dort war die Aufgabe, einen „Platz“ zu bauen, an dem sich die Menschen treffen und sich ihres Lebens freuen können. In Hangzhou ging es dabei um die Gestaltung der Ufer des West-Lakes, in Stuttgart um den Marienplatz. Beide „Plätze“ sind, auch das verbindet sie, nach einer Zeit der Vernachlässigung in den letzten Jahren völlig neu gefasst worden. Was mich ins Grübeln brachte, war, dass das Ergebnis so völlig unterschiedlich ausfallen konnte.

 

Im Hangzhou hat man am Ufer des Sees eine Vielfalt von grünen Anlagen mit abertausenden frisch gepflanzten Bäume geschaffen, die locker um natürliche und künstliche Gewässer gruppiert sind. Dazu gehören dramatisch wilde Steingärten, idyllische Miniaturlandschaften, von Säulen umstandene Plätze, verspielte Pavillons und Pagoden, buckelige Brückchen und rechtwinklig gezackte Stege mit Geländern, auf denen zahlreiche, jeweils unterschiedliche Löwenfiguren stehen; außerdem lange Dämme und allerhand sonstige Monumente. Alles ist bewegt und von einer ausgeklügelten Asymmetrie, weswegen der Blick immer wieder neue Haltepunkte und Perspektiven findet. Selbst in den Natursteinbelag der geschlängelten Wege hat man allenthalben handgearbeitete Steinreliefs mit figürlichen Szenen eingelegt, von denen keines dem anderen gleicht. Das Ganze ist mehr oder weniger im traditionellen chinesischen Stil gehalten. Die Anlagen werden von tausenden gutgelaunten Menschen bevölkert.

 

Den Marienplatz in Stuttgart, die Mitte eines großen Stadtteiles, der sich rund herum die Hügel hinaufzieht, hat man völlig leer gelassen. Das weite Rund ist mit rauen gelben Kunststeinplatten bepflastert, die nur von rasterartig angebrachten Regenrinnen unterbrochen werden. Eingefasst ist es von einer dicken Sichtbetonwand, deren einziger Schmuck kleine runde, symmetrisch angebrachte Vertiefungen sind, die so aussehen, als seien sie von einem Maurerlehrling angebracht worden, auf dessen Ausbildungsplan gerade Übungen im Fräsen von Löchern in hartem Beton standen. Vor der Wand liegen in regelmäßigen Abständen einfache dunkle Betonklötze, welche die Menschen dazu veranlassen sollen, sich niederzulassen. Sie sind so massiv, als habe der Platzarchitekt sicherstellen wollen, dass sie keinesfalls bewegt werden. An den Rand des Platzes, wo sich auch ein paar Bäume finden, hat man einen Spielplatz gelegt, der ebenfalls von dicken grauen Betonwänden eingerahmt wird. Aus schmucklosen Edelstahlöffnungen in der Wand fließt hier Wasser in eine rechteckige Wanne, in der ein paar geglättete Felsbrocken liegen. An einer anderen Ecke des Platzes sind ein paar symmetrische gepflasterte Bodenwellen zu sehen, deren Sinn nicht ohne weiteres zu erkennen ist. Ansonsten findet sich nicht viel, was das Auge anziehen könnte oder was ihm gar vertraut wäre. Am ehesten ist dies noch bei dem Toilettenhäuschen der Fall, das ebenfalls am Rande des Platzes aufgestellt wurde. Ein Industriedesigner hat es in einem gestalterischen Geniestreich in einem kompakten, eleganten Oval untergebracht. Kopf und Fuß des Pavillons sind durch senkrechte Rillen verbunden, die an die Kanneluren klassischer Säulen erinnern. Seine Türe öffnet sich allerdings nur dem, der im dringenden Moment das nötige Kleingeld zur Verfügung hat. Der Platz ist, wie die Bedürfnisanstalt, meist leer. Die Menschen scheinen nicht so recht zu wissen, was sie damit anfangen sollen.

 

Wir haben uns am westlichen Ende des eurasischen Kontinents fast schon daran gewöhnt, dass neu geschaffene Plätze so ähnlich wie der Marienplatz aussehen. Beim Blick vom anderen Ende des Kontinents drängte sich mir nun aber mit einer Vehemenz, die mich erstaunte, der Verdacht auf, dass bei uns irgendetwas falsch gelaufen ist, dass wir so etwas wie die Mitte verloren haben.

 

Ich will einmal, obwohl man sich bei der Mentalität unserer Stadtgestalter da keineswegs sicher sein kann, unterstellen, dass die Erbauer des Marienplatzes nicht die Absicht hatten, die Menschen, für die der Platz geschaffen wurde, ratlos zu machen. Gerade dann stellt sich aber die Frage, wieso es ihnen nicht gelungen ist, einen Platz bauen, der den Bedürfnissen der Menschen dient, der sie auf seine Mitte zieht, mit anderen Worten, auf dem sie sich wohl fühlen. Nachdem sich mir die Frage aus der chinesischen Perspektive stellte, habe ich meine Hoffnung darin gesetzt, aus diesem Blickwinkel auch die Antwort zu erhalten. Ich muss allerdings gestehen, dass ich den Umweg über Ostasien ein wenig auch deswegen einschlage, weil ich hoffe, so den vollkommen „logischen“ kulturgeschichtlichen, praktischen und ökonomischen Begründungen aus dem Weg gehen zu können, die unsere Stadtgestalter ohne Rücksicht auf das konkrete Ergebnis für ihre Lösungen immer parat haben.

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Todernstes Spiel – Kult und Sport am Beispiel des altmexikanischen Ballspieles

 

 

Wer die präkolumbianischen Ruinen Mittelamerikas besucht, dem fällt auf, dass sich zwischen feierlichen Plattformen und Pyramiden immer wieder auch Ballspielplätze befinden. Auffällig ist dies deswegen, weil es sich bei den gewaltigen steinernen Resten der untergegangen indianischen Zivilisationen mit ihren monumentalen Podesten, Treppen und Schrägen um die Überreste der Sakralzonen der alten Städte handelt. Die Ballspielplätze liegen meist in unmittelbarer Nähe der wichtigsten Pyramiden und sind von allerhand sonstigen Zeremonialbauwerken von elementarer Geometrie umgeben. Schon die Lage der Spielfelder zeigt daher, dass es hier um mehr als Sport und Spiel ging. Tatsächlich wurden in diesen Arenen kultische und damit außerordentlich ernste Dinge verhandelt. Nach allem, was wir wissen, stand bei einigen Völkern dabei sogar das Leben auf dem Spiel.

 

Der Gedanke, dass der Sport kultische Funktionen haben kann, ist den christlich geprägten Gesellschaften fremd. Wir wissen eben noch, dass die Olympischen Spiele Altgriechenlands religiöse Bezüge hatten. Der Sport wurde in Europa aber schon in der Antike säkularisiert. Zweitausend Jahre leibfeindliches Christentum haben ein übriges dazu getan, einen möglichen Zusammenhang von Sport und Kult aus unserem Bewusstsein zu tilgen. Nach dem altchristlichen Menschenbild liegen Kult und Sport geradezu gegensätzliche Prinzipien zu Grunde. Die Stiftung von Sinn ist danach im wesentlichen eine Sache des Geistes und muss gewissermaßen gegen den Körper durchgesetzt werden. Spielerische körperliche Aktivität macht somit für sich keinen höheren Sinn.

 

In unserem Kulturkreis können wir daher über den ursprünglichen Zusammenhang von Kult und Sport nicht viel erfahren. Aufschluss hierüber können wir aber von der Betrachtung der präkolumbianischen Kulturen Mesoamerikas erwarten, bei denen Kult und Sport nie getrennt wurden. Dies gilt um so mehr, als die indianischen Zivilisationen weder das Rad noch Zugtiere kannten mit der Folge, dass der körperlichen Aktivität des Menschen ein besonders hoher Stellenwert zukam. Tatsächlich wurde auf den Ballspielplätzen des alten Mexiko denn auch ein Sport praktiziert, der besonders anschaulich zeigt, dass beim Spiel mit dem Ball wesentlich mehr als der Ball im Spiel ist.

 

Archeologische Funde zeigen, dass die Anfänge des altmexikanischen Ballspieles tief in der Geschichte liegen. Es wurde offenbar bereits über tausend Jahre vor unserer Zeitrechnung bei den Olmeken gespielt, dem sagenhaften kulturellen Muttervolk Mesoamerikas, dessen markanteste Hinterlassenschaft die „ballartigen“ monumentalen Kopfskulpturen sind, die man an der mexikanischen Golfküste fand. Wie viele andere kulturelle Errungenschaften der Olmeken wurde das Ballspiel von allen indianischen Völkern der Region übernommen und weiterentwickelt. Welche Bedeutung es in der mesoamerikanischen Kultur schließlich erlangte, spiegelt sich in der Tatsache, dass viele Zeremonialstädte mehrere Ballspielplätze besaßen. In der mayanisch-toltekischen Stadt Chichén-Itzá im Norden der Halbinsel Yukatan etwa wurden acht, in der zweitausend Kilometer davon entfernten Totonaken-Stadt El Tajín, 200 km nordöstlich von Mexiko City, sogar siebzehn Ballspielplätze gefunden. Als die Spanier Anfang des 16. Jahrhunderts in Mittelamerika einfielen, war das Ballspiel bei den Völkern, die damals dort lebten, noch in Gebrauch. Die christlichen Eroberer sorgten jedoch, wie bei allem, was mit der indianischen Religion zusammenhing, auf’s Gründlichste dafür, dass es bald in Vergessenheit geriet. Dadurch ist der Traditionszusammenhang des Spieles vollständig verloren gegangen.

 

Die präkolumbianischen Kulturen sind erst vor relativ kurzer Zeit aus dem Dornröschenschlaf geweckt worden, in den sie teilweise schon lange vor der Ankunft der Spanier gefallen waren. Erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde die Welt durch die Berichte europäischer und amerikanischer Reisender, die die Ruinen der Maya Städte im Dschungel aufgesucht hatten, auf die erstaunlichen Leistungen der indianischen Kulturen aufmerksam. Seitdem versucht man, die Zusammenhänge dieser Kulturen, deren Besonderheit, legt man unsere Maßstäbe zugrunde, eine höchst merkwürdige Mischung von Avanciertheit und Retardierung ist, in mühsamer Kleinarbeit zu rekonstruieren. Dabei ist man auch auf das vergessene Ballspiel gestoßen. Mittlerweile ist das Spiel im Zuge einer Rückbesinnung auf altmexikanische Traditionen an einigen Orten sogar wieder aufgenommen worden.

 

Unser Wissen über das altmexikanische Ballspiel ist dennoch begrenzt. Am besten Bescheid wissen wir über die Anlagen, auf denen das Spiel ausgetragen wurde. Ballspielplätze sind in mehr oder weniger gutem Erhaltungszustand bei Ausgrabungen überall in Mittelamerika gefunden worden. Sie bestanden in der Regel aus einem rechteckigen Platz, der von Mauern oder Wällen umgeben war, die in der Mitte tribünenartig in das eigentliche Spielfeld hineinsprangen. Das Spielfeld wurde dadurch im Mittelteil verengt und hatte so in etwa die Form einer römischen Eins. Die Größe der Arenen variierte erheblich. Einige Ballspielplätze waren kürzer als ein Basketballfeld, andere länger als ein Fußballplatz. Den größten Ballspielplatz fand man in Chichén-Itzá. Die Anlage, die inzwischen vollständig wiederhergestellt ist, ist so gewaltig, dass zweifelhaft ist, ob sie überhaupt bespielbar war. Das Spielfeld hat eine Länge von nicht weniger als 164 Metern und ist in der Mitte 36 und an den Enden 70 Meter breit. Mit ihren hohen Mauern, auf denen feierliche Tempel stehen, erinnert sie an die Arenen des europäischen Altertums, wie man sie etwa in dem amerikanischen Monumentalfilm „Ben Hur“ dargestellt hat.

 

Die genauen Regeln des Ballspieles sind uns mangels einer näheren Beschreibung oder gar eines überlieferten Regelbuches leider nicht bekannt. Wir wissen aber, dass es sich um ein Mannschaftsspiel handelte, das in seiner Grundstruktur dem heutigen Volleyballspiel ähnelte und Elemente von Basketball enthielt. Der Ball war eine massive, elastische Kugel, die meist in etwa die Größe eines Handballes hatte und aus Kautschuk bestand, einem Material, das man vom Gummibaum gewann, der im Siedlungsgebiet der Olmeken an der Golfküste heimisch ist. Dieser Ball wurde wie beim Volleyballspiel über eine Mittellinie gespielt und durfte den Boden nicht berühren. Zusätzlich war er möglichst durch zwei Ringe von der ungefähren Größe eines Basketballkorbes zu schießen, welche an der Mittellinie in einigen Metern Höhe senkrecht an der Seitenbegrenzung des Spielfeldes angebracht waren. (Die aufwendig ornamentierten, steinernen Ringe haben die Spanier übrigens mit Vorliebe als Mühlsteine benutzt, was geradezu symbolisch für die Mischung von Sendungsbewusstsein und Nützlichkeitsdenken des europäischen Kolonialismus ist.) Die besondere Herausforderung an die Geschicklichkeit bestand darin, dass die Spieler den Ball nur mit dem Gesäß, den Hüften, den Schultern oder den Knien befördern durften. Da das Spielgerät ziemlich hart war und einiges Gewicht hatte, wurden diese Körperteile und die Hände, mit denen man sich beim Gesäßstoß am Boden abstützte, mit Lederpolstern oder Holzschienen geschützt, eine Art der Aus(f)rüstung, die sich noch heute in einigen typisch amerikanischen Sportarten wie American Football oder Baseball findet. Der gepolsterte Gürtel, den die Akteure beim Spiel trugen, erlangte im alten Mexiko geradezu eine eigenständige kultische Bedeutung. Solche Gürteljoche wurden, in Stein gehauen und prachtvoll geschmückt, überall in der Region gefunden.

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Echte Menschen – Eine Begegnung mit den Urwaldbewohnern Malaysias

Wir trafen Kulit, einen 27-jährigen malaysischen Flugzeugmechaniker, in einem klapprigen Bus auf dem Weg von den Urwäldern im Zentrum der malayischen Halbinsel nach Kuala Lumpur. Er kam, wie wir, aus dem malaysichen Nationalpark Taman Negara, wo er einem ausgefallenen „Hobby“ nachgegangen war. Er suchte den Kontakt zu den Waldmenschen, jenen seltsamen, in keiner Weise mit den einheimischen Malayen verwandten Bewohnern der Urwälder, die man Orang Asli nennt, was so viel wie „ursprüngliche“ aber auch „echte Menschen“ heißt.

 

Wir selbst standen noch ganz unter dem Eindruck unserer eigenen unerwarteten Begegnung mit den Waldmenschen, einer nur wenige Minuten langen Episode, die uns als der Höhepunkt unserer Reise durch Malaysia erschienen war. Es war auf einer Wanderung im Taman Negara, dessen Urwald man als den ältesten der Erde bezeichnet, weil sich die Lebensbedingungen dort seit 400 Millionen Jahren nicht verändert haben. Mitten darin fand die eindrucksvolle Begegnung mit den Waldmenschen statt, deren Lebensform so alt zu sein scheint, wie der Wald, in dem sie leben.

 

Fernab vom Touristencamp war uns eine Gruppe von gänzlich unmalayisch aussehenden Menschen entgegengekommen. Voran ging eine Frau, die nur mit einem Lendenschurz bekleidet war. Um die Schultern trug sie ein Tuch, in dem sich ein wenige Wochen alter Säugling befand. Es folgten zwei Kinder, etwa 10 bis 14 Jahre alt, barfuss und nackt, dahinter ein Mann, der eine kurze Hose und Turnschuhe trug. Mit ihrer dunklen Haut und dem schwarzen krausen Haar erinnerten sie an die australischen Ureinwohner. Offenbar überrascht, sich einer europäischen Familie mit ebenfalls 3 Kindern gegenüber zu sehen, deren leuchtende Blondschöpfe auf’s deutlichste mit ihrer eigenen Haartracht kontrastierten, hielten sie einen Augenblick inne. Zwei Familien, durch Jahrtausende der Entwicklung voneinander getrennt, standen sich gegenüber: Waldbewohner der ältesten heute noch existierenden Stufe menschlichen Lebens und weiße Zivilisationsmenschen des entgegen gesetzten Extrems. Zum Glück gab das Baby einen schnellen Anknüpfungspunkt. Stolz packte die Mutter den kleinen nackten Jungen aus dem Schultertuch. Man hatte ihm die Haare bis auf ein kleines Büschel über der Stirn abgeschnitten. Es fand ein sprachloser Austausch von Reaktionen der Rührung statt – in elementaren Punkten sind die Zivilisationen eben doch nicht sehr weit voneinander entfernt. Dann ging jede Familie wieder ihres Weges. Die Waldmenschen verschwanden hinter Palmblättern und ließen uns in weitreichendsten Gedanken über den Menschen und seine erstaunliche Entwicklung zurück, deren langer Weg uns plötzlich deutlicher denn je zuvor Augen stand. Viel hätten wir dafür gegeben, mehr von den Waldmenschen zu wissen, nicht zuletzt darüber, was ihnen nach dieser Begegnung durch den Kopf ging.

 

Nur einen Tag nach dieser denkwürdigen Begegnung war uns dann Kulit über den Weg gelaufen, der unsere Begierde, mehr über die Waldmenschen zu wissen, in ungeahnter Weise befriedigen konnte. Was er dabei berichtete, klang wie ein Märchen aus dem Sozialparadies. Rousseau hätte es nicht besser erfinden können.

 

Seit Jahren, so begann er, verbringe er jede freie Minute mit den Waldmenschen. Wochenlang habe er mit ihnen in den Wäldern gelebt. Er kenne ihre Sprache, die sehr einfach sei. Meist begnügten sie sich mit kurzen Zurufen. Er selbst habe sich ein kleines Wörterbuch gemacht, vielleicht das Einzige, dass von ihrer Sprache existiere. Die Waldmenschen, fuhr er fort, ziehen in Gruppen bis zu 20 Personen im Dschungel umher, lassen sich hier und dort nieder und bleiben an einem Ort nur solange, wie er ihnen Nahrung bietet. Sie leben von den Pflanzen, die ihnen die Natur bietet, und von der Jagd, bei der sie das Blasrohr verwenden. Über lose zusammengefügte Kleingruppen hinaus gibt es so gut wie keinen größeren Zusammenhang, eine weitläufige Stammeszugehörigkeit zwar, nichts aber, was einem Staat ähnlich wäre. Der Wechsel von einer zur anderen Gruppe ist zwanglos und findet nicht zuletzt zur Lösung von Spannungen innerhalb der Gruppe statt. Die verschiedenen Gruppen stehen in einem freundlichen Verhältnis zueinander. Sie kommen sich auch kaum ins Gehege, denn der tropische Wald bietet allen genügend Platz und Mittel zur Befriedigung ihrer äußerst einfachen Bedürfnisse. Kriminalität sei unbekannt, Eigentums- und Bereicherungsdelikte schon mangels Eigentum an beweglichen Sachen. Fremd sei ihnen bereits die Vorstellung, dass jemandem etwas gehören könne, was er nicht gerade bei sich trägt. Es fehle an jeder Art von Abstraktion, weshalb sie auch keine Vorstellung darüber hätten, dass man eine bloß geistige Beziehung zu einer Sache, einen Anspruch haben könne. Ich wusste nicht so recht, ob ich sie deshalb bedauern oder beglückwünschen soll. Mit dem Begriff des Anspruchs freilich fehlt den Orang Asli eine schier unerschöpfliche Quelle des Streitens und Rechtens und damit des Bedarfs, Normen zu schaffen. Allerdings fehlt ihnen auch der Anreiz, immer differenziertere, geistigere Fähigkeiten zur Auseinandersetzung auszubilden. Eine Gesellschaft, die keinen Bedarf an Juristen hat – ist das die Definition des Paradieses?

 

Ansprüche, so meinte ich mit meiner europäischen Seele, müsse es doch wenigstens im Emotionalen geben, ein nicht materielles Band etwa zwischen Mann und Frau bestehen. Auch hier fehle jede Institution, berichtigte mich Kulit. Zwar gäbe es so etwas wie eine Ehe. Man feiere die Hochzeit in bescheidener Form, etwa indem man einen etwas größeren Affenbraten herrichte. Aber es folgen keine Verpflichtungen daraus. Jeder, auch die Frau, sei frei, sich einen neuen Partner zu suchen. Emotionale Probleme, die daraus resultieren können, löse man, indem man die Gruppe verlasse. Ohnehin hielten sich solche Frustrationen in Grenzen. Wo kein Anspruch, da auch keine Enttäuschung, meinte er lakonisch.

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Die Herabkunft des Ganges – Wasserkulturen des indischen Raumes

 

Wasser spielt im Süden und Südosten Asiens eine besondere Rolle. Wer über den indischen Subkontinent fliegt, bemerkt einerseits riesige Stromsysteme, welche sintflutartige Wassermengen abführen können, andererseits unzählige „Tanks“, Wassersammelstellen, mit deren Hilfe man das lebenspendende Nass im ständigen Kampf gegen die verzehrende Sonne Südasiens über die Trockenzeit zu retten versucht. Besonders in Indien hängen Wohl und Wehe vom Kommen und Gehen des Monsuns ab. Wie elementar das Problem des Wassers hier ist, zeigt der besondere Schutz, den die „Tanks“ genießen. Ihre Beschädigung ist von Alters her mit schweren Strafen bedroht. Nach dem Arthashastra, dem altindischen Staatslehrbuch aus dem 4. Jahrhundert v. Chr., stand auf der Zerstörung eines mit Wasser gefüllten „Tanks“ die Todesstrafe. Der Täter wurde in dem „Tank“ ertränkt, gegen den er gefrevelt hatte. Das Wasser bedachte man mit allen Insignien der Verehrung. Wo es einer Quelle entsprang, baute man aufwendige Brunnen, zu denen häufig ein Tempel gehörte. In Nordwesten Indiens etwa schuf man riesige, nicht selten wunderbar dekorierte Treppenanlagen, über die man zu den Quellen gelangte, die meist tief unter der Erdoberfläche lagen. Bedeutende Tempel wurden an Seen oder wichtigen Kreuzungspunkten des Wassers gebaut. Haridwar etwa, die Stelle, an der Ganges aus dem Himalaya in die Ebene tritt, ist einer der heiligsten Orte Indiens. Alle 12 Jahre findet dort das Kumbb Mela, das „Wasserfest“ statt, an den mehrere Millionen Pilger teilnehmen. Generell gehört zu einem Tempel möglichst ein rechteckiger Tank, dessen unter Umständen gewaltige Ausmaße sich nach der Bedeutung des Tempels richten.

 

Wasser, das ist im indischen Raum allerdings nicht bloß die physische Lebensgrundlage von mehr als einer Milliarde Menschen, die weitgehend von der Wasserpflanze Reis leben. Wasser hat die indische Zivilisation auch in einem tieferen Sinn geprägt. Das unfeste Element ist ohne Zweifel eine wesentliche Ursache für das Fließende und eigentümlich Bewegliche, welches mehr oder weniger alle Erscheinungsformen der originären Kulturen des indischen Raumes charakterisiert.

 

Bleiben wir zunächst bei den geographischen Grundlagen. Dies sind in erster Linie die großen Flüsse, allen voran die sieben Ströme, die ihren Ursprung im Himalaja haben. Diese Flüsse, die so gigantisch sind wie das Gebirgsmassiv, dem sie entstammen, liefern nicht nur einen wesentlichen Teil des Wassers, ohne das sich eine höhere Zivilisation nicht entwickeln kann. Sie sind schon deswegen Grundlage der indischen Zivilisation, weil die Hochkulturen des Subkontinentes weitgehend auf dem fruchtbaren Schwemmland entstanden sind, welches die großen Flüsse vom Dach der Welt gespült haben.

 

Die drei großen Ströme Vorderindiens entspringen in unmittelbarer Nachbarschaft im Zentrum des Himalaja. Der Indus wählt den Weg nach Westen, gräbt sich tausend Kilometer hinter der Hauptkette des Gebirges durch und wendet sich nach einer großen Schleife durch Kaschmir südwärts dem arabischen Meer zu. Der Fluss, der mit seinem Namen, der nichts anderes als Fluss bedeutet, den ganzen Subkontinent repräsentiert, ist der Altvater der Hochkulturen des indischen Raumes und die Lebensader des fruchtbaren Fünfstromlandes, einer Region, in der sich vor fast 5000 Jahren mit der Induskultur eine der ersten Stadtzivilisationen der Erde entwickelte. Ebenfalls hinter der Hauptkette des Himalaja entspringt der Brahmaputra. In bemerkenswerter Symmetrie umfängt er, spiegelbildlich zum Indus, den östlichen Teil des Himalaja. Nach einer Schleife durch Assam wendet auch er sich nach Süden, wo er sich mit dem Ganges zu einem gemeinsamen Delta vereinigt. Das bengalische Delta, das größte der Erde, ist gleichfalls uraltes Siedlungsgebiet. Heute leben auf seinem labilen Schwemmland die Menschen in größerer Dichte als auf jedem anderem Fleck des Globus. Der Ganges schließlich fließt ohne Umschweife in die Ebene, die seinen Namen trägt. Mit seinen zahlreichen Nebenflüssen bildet er die Seele des indischen Kernlandes am Fuße des Himalaja. An seinem Ufer lag einst Patalipuram, die Hauptstadt des Maurya-Reiches, die der griechische Gesandte Megastenes Ende des 4. Jh. v. Chr. als die prächtigste Metropole der Welt beschrieb.

 

Auch die gewaltigen Ströme Hinterindiens sind anfangs vereint. In einmaliger Engführung fließen vier Flüsse, nur durch eine Bergkette voneinander getrennt, wie durch parallel geführte Rinnen vom Dach der Welt, um schließlich tausende Kilometer voneinander entfernt ins Meer zu münden. Der Irawadi, der die zentralburmesische Ebene zu einem der reichsten Reisanbaugebiete der Welt macht, strebt zum Golf von Bengalen. Dort endet auch der Saluen, ein hierzulande kaum bekannter Fluss, der Burma im Osten entwässert und immerhin noch mehr als doppelt so lang wie Deutschlands größter Fluss, die Elbe, ist. Der dritte im Bunde ist der Mekong, was „Mutter der Gewässer“ bedeutet. Er durchzieht auf seinem 4.500 Kilometern langen Lauf die chinesische Provinz Yünnan sowie Laos und Kambodscha, um schließlich im Süden Vietnams in einem weiten Delta ins südchinesische Meer zu münden. Der vierte schließlich ist niemand geringeres als der Jangtsekiang, einer der längsten Flüsse der Erde. Vom osttibetanischen Flussstreff kommend durchquert er das chinesische Riesenreich, bis er sich bei Schanghai in den stillen Ozean ergießt. Ähnlich lang ist die Reise des Gelben Flusses, der in der Nachbarschaft der genannten vier Ströme entspringt, sich allerdings gleich nach Osten wendet, um nach einer großen Schleife durch den Norden Chinas südlich von Peking in das Gelbe Meer zu fließen.

 

Bei so viel Wasser ist es nicht verwunderlich, dass sich, zumal angesichts eines begünstigenden Klimas, am und um das nasse Element einige außerordentliche menschliche Lebensformen entwickelt haben.

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