In Bruckners künstlerischem Leben, das ganz der Entwicklung der Großform gewidmet war, war wenig Platz für den Kammerton. Tatsächlich komponierte Bruckner nur zwei echte kammermusikalische Werke. Im Jahre 1862 entstand das Streichquartett in c-moll. Mehr als eineinhalb Jahrzehnte später folgte ein Streichquintett, das allerdings stilistisch und seiner orchestralen Anlage wegen im Grunde nur ein weiteres Bauelement im symphonischen Großgebäude des Meisters ist.
Das Quartett in c-moll ist ein Übungswerk, das Bruckner im Rahmen seiner Kompositionsstudien bei Otto Kitzler verfasste. Durch Kitzler, seinerzeit erster Kapellmeister am Linzer Orchester und zehn Jahre jünger als sein Schüler, kam Bruckner erstmals in Kontakt mit der neueren Musik seiner Zeit, insbesondere mit Richard Wagner, was für seine weitere künstlerische Entwicklung entscheidend werden sollte. Davon abgesehen widmete sich Bruckner unter Kitzlers Leitung aber auch kompositorischen Studien auf der Basis der historischen Musik. Das Vorbild der Klassiker ist denn im Streichquartett in c-moll auch deutlich sichtbar. Ansätze zum eigentlichen Brucknerstil finden sich nur gelegentlich. Dieser sollte sich erst einige Jahre später entwickeln.
Als reines Studienwerk war das c-moll Quartett nicht zur Veröffentlichung bestimmt. Die einzige Quelle des Werkes ist die handschriftliche Partitur in Bruckners Studienbuch. Dementsprechend ist es zu Lebzeiten Bruckners auch nie gespielt worden. Die erste Aufführung fand erst im Jahre 1951 durch das Koeckert Quartett statt. Da es Bruckner und seinem Lehrer offenbar nur darauf ankam, sich mit der Struktur eines Werkes dieser Gattung vertraut zu machen, fehlen alle Vortragszeichen, was den Interpreten große Freiheit gibt. Das Werk ist damit eigentlich unfertig. Dennoch kann es als Wegmarke im Werdegang eines – späten – Genies durchaus Interesse beanspruchen.