Eine Frage, die sich viele Menschen stellen und die sich die Menschen wahrscheinlich schon immer gestellt haben, lautet, ob die Welt so kompliziert ist, dass man Juristen braucht oder weil es Juristen gibt. Über diese Frage, zu der jeder ein paar treffende Beispiele beisteuern kann, lässt sich bekanntlich endlos streiten. Der Jurist freilich, dem man nachsagt, er könne sich über alles und jedes endlos streiten, was gerne als Grund dafür herangezogen wird, dass die Dinge so kompliziert seien, der Jurist wird sich an einer solchen Diskussion nicht beteiligen. Juristen sprechen nicht über Fragen, sondern über Fälle. Dagegen spricht nicht, dass Juristen schnell mit einer Theorie bei der Hand sind. Juristen geben Theorien nämlich auch schnell wieder auf, und zwar dann, wenn diese nichts dazu beitragen, einen Fall zu lösen.
Die Reihenfolge des Denkens, wonach man eine Theorie zur Lösung eines Falles bildet, lässt sich auch herumdrehen. Man kann sich auch einen Fall zu einer Theorie denken, um diese zu überprüfen. Zu den Theorien über die Kompliziertheit der Welt, die eingangs genannt wurden, denke man sich daher den folgenden Fall:
Zwei Freunde sitzen in einem Lokal und sprechen darüber, was sie im nächsten Urlaub machen. Der eine sagt, dass er im Sommer zum Surfen nach Südfrankreich gehe und zwar an den „Golf von Lyon“. Der andere ist verwundert. „Gibt es denn einen Golf von Lyon?“ fragt er, worauf er vom Surfer die Antwort erhält, er sei sich ganz sicher, denn er habe den Urlaub eben erst gebucht. Lyon, so gibt nun der andere zu bedenken, sei weder eine Hafenstadt noch habe sie irgend etwas mit dem Meer zu tun. Sie liege hunderte von Kilometern davon entfernt. Es sei nicht üblich, einen Meerbusen nach einer Stadt zu benennen, die keine Beziehung dazu habe. Immerhin, wendet der Surfer ein, sei die Stadt durch die Rhône mit dem Meer verbunden. Die Diskussion weitet sich aus. Tischnachbarn beteiligen sich. Jeder kennt einen Golf oder eine Wasserstraße, deren Namen von einer Landschaft oder einer Stadt abgeleitet sind, welche sich in unmittelbarer Nähe befindet. Schließlich ist sich der Zweifler sicher, dass sein Freund irrt. Wahrscheinlich, so denkt er, hat er Lyon mit Toulon verwechselt. So bietet er ihm eine Wette um eine Pizza darüber an, dass es keinen Golf von Lyon gebe. Der Freund schlägt ein, man geht zum Auto und holt sich einen Straßenatlas. Darin findet man im Umkreis der Rhônemündung einen „Golf du Lion“.
Was jetzt einsetzt, ist eine – endlose – juristische Diskussion. Denn die Frage lautet: „Wer hat Recht?“ Die einen argumentieren, dass man nur von einem Golf von Ly(i)on gesprochen habe. Auf eine bestimmte Schreibweise habe man sich nicht geeinigt. Der Klang der beiden Worte sei nun aber einmal gleich. Daher habe der Surfer gewonnen. Die anderen meinen, es sei allen klar gewesen, dass man über die Frage diskutiert habe, ob der Golf seinen Namen von der Stadt Lyon habe. Dagegen wendet der Surfer ein, dass er nur gesagt habe, er gehe zum Surfen an den Golf von „Ly(i)on“. Bei der Frage, ob es einen Golf solchen Namens gebe, sei ohne Bedeutung, woher der Name stamme.
Im weiteren Verlauf kommt, wie so häufig in einer juristischen Diskussion, ein Sachverständiger zu Wort. Ein Französisch-Kenner wirft ein, dass Golf du Lion nicht Golf von Lion, sondern Golf des Lion, nämlich des Löwen bedeute. Ein Golf mit einem Namen, wie ihn der Surfer genannt habe, gebe es also nicht. Die Gegenseite verweist darauf, dass im Vordergrund der Diskussion nur das Wort Ly(i)on gestanden habe, nicht aber eventuelle Beiwörter. Man könne nicht bestreiten, dass es einen Golf gebe, in dessen Name das Wort „Ly(i)on“ vorkomme.
In diesen verwirrenden Argumenten, die ihren Grund, wie man leicht sieht, in der Schwierigkeit der Dinge und nicht in den Theorien haben, die darüber gemacht werden, ist der Laie schnell verheddert. Daher ruft er nach dem Juristen. Dieser versucht die Argumente zu gewichten. Seine Frage lautet: „Worauf kommt es an?“ Im unserem Beispiel, in dem diese Frage kaum eindeutig zu beantworten ist, wird er, um den Fall zu lösen, allerdings am besten auf eine Theorie verzichten. Er wird den Kontrahenten einen Vergleich vorschlagen, etwa dahingehend, gemeinsam eine Pizza zu essen. Schwierig werden die Dinge allerdings, wenn die Streitenden, wie so häufig in der Welt, den Vergleich ablehnen. Dann muss sich der Jurist die Gedanken machen, von denen die Menschen später behaupten werden, dass sie die Welt kompliziert gemacht hätten.