Musik ohne Hörer? Zeitprobleme der zeitgenössischen Musik

 

Als in der Nacht vom 2. auf den 3. Oktober 1990 in Berlin die deutsche Wiedervereinigung gefeiert wurde, erklang im klassizistischen Schauspielhaus am Berliner Gendarmenmarkt, wo sich die Honoratioren versammelt hatten, die neunte Symphonie von Beethoven. Bei den anschließenden Feierlichkeiten für das breite Publikum, die auf der Treppe des Reichstagsgebäudes stattfanden, spielte man Werke von Bach, Haydn und Brahms. Ein neuerer oder gar ein lebender Komponist kam nicht zu Wort.

Dies ist zugespitzt die Lage, in der sich die Kunstmusik, die als zeitgenössisch bezeichnet wird, hierzulande im allgemeinen befindet. Zwischen den Menschen und der Musik, die ihrer Zeit entsprechen soll, bestehen „Unstimmigkeiten“. Wie tief sie gehen, wird deutlich, wenn man sich vorstellt, man hätte an jenen Abend auf der Reichstagstreppe avantgardistische Musik etwa von Lachenmann, Schnebel oder Rihm gespielt. Es kann kaum Zweifel darüber geben, dass dies die Stimmung nicht getroffen hätte. Was also ist los mit der zeitgenössischen Kunstmusik? Findet sie ohne die Zeitgenossen statt?

Dafür, dass dem so ist, spricht nicht zuletzt der Opern- und Konzertbetrieb, in dem zeitgenössische Musik nur eine Nebenrolle spielt. In die gleiche Richtung deuten die Umsatzzahlen des Handels mit Tonträgern. Dabei kann man kaum sagen, dass die neue Musik zu wenig gefördert würde. Zahlreiche renommierte Personen und Institutionen, allen voran die Rundfunkanstalten, fühlen sich dem „Erbe unserer Zeit“ verpflichtet. Die Bereitschaft der Macher selbst die „unerhörtesten“ Dinge zu tolerieren, grenzt gelegentlich an Selbstverleugnung. Es fehlt „nur“ die Resonanz beim Publikum. Vor allem die ausübenden Musikliebhaber, das Rückgrad einer jeden lebendigen Musikkultur, haben sich von der neuen Musik abgewandt, eine Tatsache, welche die meisten neueren Komponisten nicht etwa, wie man erwarten könnte, mit verstärkter Zuwendung zu den praktizierenden Laien, sondern mit einem geradezu ostentativen Desinteresse an ihnen quittieren. Der Bekanntheitsgrad von Werken der neuen Musik ist dem entsprechend außerordentlich gering. Kein Werk aus den europäischen Kernlanden der Musik, das nach dem zweiten Weltkrieg entstand, hat in ähnlicher Weise ins allgemeine Bewusstsein der Musikinteressierten dringen können wie die Kompositionen der Meister, die bei den Feierlichkeiten zum Tag der deutschen Einheit zu Wort kamen. Das letzte Werk der „zeitgenössischen“ Musik, das eine vergleichbare Wirkung erzielte, ist „Carmina Burana“ von Carl Orff, eine Komposition, die bereits im Jahre 1937 entstand.

All dies ist schon deswegen schwer zu verstehen, weil es in der Vergangenheit immer anders war. Für die erwähnten „Klassiker“ war es eine Selbstverständlichkeit, Musik schreiben, mit der ihre Zeitgenossen etwas anfangen konnten. Bach, dem man von allen Komponisten seiner Zeit sicher am wenigsten nachsagen kann, dass er sich beim Publikum angebiedert habe, komponierte im Wesentlichen für den aktuellen kirchlichen und höfischen Bedarf. Dazu gehörten auch Werke für wichtige gesellschaftliche Ereignisse. Der Thomaskantor gab sich dafür nicht weniger Mühe, als für die Stücke, die ihm ganz persönlich am Herzen lagen. Dies zeigt etwa die Tatsache, dass er Werke, die er für Geburtstags- und Jubiläumsfeierlichkeiten des sächsischen Hofes schrieb, später ohne weiteres in sein berühmtes Weihnachtsoratorium umarbeiten konnte. Haydn schrieb „natürlich“ Musik, die seinem Arbeitgeber Fürst Esterhazy und dessen Umgebung gefiel und von ihnen in der Regel auch gespielt werden konnte. Dass er deswegen unakzeptable Kompromisse beim künstlerischen Gehalt gemacht hätte, kann man kaum behaupten. Selbst ein künstlerischer Einzelgänger wie Beethoven, der mit seinem esoterischen Spätwerk so etwas wie das Muster einer Musik schuf, die ihrer Zeit Rätsel aufgab, war sich auf dem Höhepunkt seiner Meisterschaft nicht zu schade, die Festmusik für die Feierlichkeiten des Wiener Kongresses zu schreiben.

Der Präsenz der Komponisten in ihrer Gegenwart entsprach die Bedeutung, welche die Musik in der Gesellschaft ihrer Zeit hatte. Im England der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts waren die Royals über Händels Musik entzweit. König Georg II. und seine Tochter Anne waren ihre Anhänger, der Prince of Wales hingegen soll sie, so versichern die Hofberichterstatter, als den „Gegenstand seiner Abscheu“ bezeichnet haben. Der Familienzwist im englischen Königshaus war nicht nur ästhetischer Natur. Hintergrund waren vielmehr höchst aktuelle parteipolitische Musikaffinitäten. Die Anhänger Händels saßen in der Whig-Partei, die den König unterstützte, während der Thronfolger, aus welchen tiefenpsychologischen Gründen auch immer, mit den oppositionellen Tories im Bunde stand. Diese Art der „Gegenwärtigkeit“ war für Händel, der weder durch eine Beamtenstellung abgesichert war, noch auf Subventionen für schwer verkäufliche Musikprodukte hoffen konnte, keineswegs komfortabel. Der staatspolitisch-musikalische Kampf ging auf Biegen oder Brechen, wobei sogar Opernhäuser zu politischen Waffen wurden. So gründeten die Tories unter dem Patronat des Thronfolgers eine eigene Oper, die sogenannte Adelsoper, zu dem Zweck, Händels privates Opernunternehmen, das die Prinzessin protegierte, in den Ruin zu treiben. Händel erlitt darüber einen finanziellen und auch einen schweren körperlichen Zusammenbruch. Erst in seinem letzten Lebensdrittel sollte er zum gefeierten englischen Nationalkomponisten werden, der schließlich – als einziger Ausländer – sogar mit einem Grabmal in der Ruhmeshalle von Westminster Abbey „verewigt“ wurde.

Im 19. Jahrhundert spielte die zeitgenössische Musik eine wichtige Rolle bei der Emanzipation und Selbstdefinition des Bürgertums. Die Gleichzeitigkeit von Musikschöpfung und Rezeption spiegelt sich in den prächtigen Opernhäusern und Konzerthallen, welche man in den Städten baute und in denen man sich nicht zuletzt in den Werken der zeitgenössischen Komponisten feierte. Exemplarisch hierfür ist die Art, wie die dritte Symphonie von Brahms aufgenommen wurde. Bei ihrer Uraufführung am 2. Dezember 1883 im wenige Jahre zuvor errichteten repräsentativen Musikvereinssaal in Wien war alles anwesend, was in Stadt und Land Rang und Namen hatte. Im Publikum versuchte der Wagner-Brucknerflügel gegen das neue Werk zu opponieren, wurde aber vom frenetischen Applaus der großen Mehrheit zum Schweigen gebracht. Unmittelbar im Anschluss an die Uraufführung ging Brahms mit dem neuen Werk auf eine Konzerttournee durch ganz Deutschland, bei der er begeistert gefeiert wurde. Bei der ersten Aufführung in Berlin musste der dritte Satz der Symphonie wiederholt werden. In Meiningen setzte Hans von Bülow das Werk an den Anfang und das Ende des gleichen Konzertes. Wenige Wochen nach der ersten Aufführung, am 11.1.1884, konnte Brahms an seinen Freund Heinrich von Herzogenberg bereits schreiben: „In acht Tagen denke ich Ihnen die leider zu berühmte F-Dur Symphonie für zwei Klaviere zu schicken. Dieser ihr jetzt anklebenden Eigenschaft wegen hätte ich Lust, meine Konzerte abzusagen“. Kurz darauf wurde das Werk schon von Liebhabervereinigungen gespielt.

Heute können Komponisten von Musik, die einen vergleichbaren Anspruch erhebt wie die Musik von Händel oder Brahms, nur noch davon träumen, dass ihre Werke Gegenstand hoher Politik oder Uraufführungen gesellschaftliche Ereignisse wären. Bei Konzerten müssen sie eher damit rechnen, dass die Kritiker die Befürworter zum Schweigen bringen als umgekehrt. Triumphale Konzertourneen, bei denen neue Werke oder Teile davon wiederholt werden (müssen), finden nicht mehr statt und an Auszügen für Klavier zu vier Händen besteht meist schon mangels Spielbarkeit der Stücke kein Bedarf. Dass der Komponist seines Erfolges überdrüssig würde und neue Werke von Liebhabern aufgeführt werden, dürfte die große Ausnahme sein. Zeitgenössische Musik wird nicht selten nur ein einziges Mal aufgeführt. Viele Werke können sich nicht einmal dieser Aufmerksamkeit erfreuen. Karl Heinz Stockhausen, ein exponierter Protagonist der neuen Musik, klagt darüber, dass in seiner Schublade zwanzig größere Orchesterwerke aus seiner „Feder“ liegen, die keiner spielen will.

Der gesellschaftliche Niedergang der zeitgenössischen Musik ist nicht nur deswegen schwer zu verstehen, weil er mit dem Abschied von der Gleichzeitigkeit von Schöpfung und Rezeption verbunden ist, welche man kaum zu den nicht erhaltenswerten Errungenschaften der Kulturgeschichte zählen kann. Er hat darüber hinaus zu einer weiteren merkwürdig „unzeitgemäßen“ Erscheinung geführt. Wir wissen aus der Musikgeschichte, dass man bis zum Anfang des 19. Jahrhunderts ausschließlich zeitgenössische oder unmittelbar davor entstandene Musik spielte. Die Beschäftigung mit der Musik vergangener Zeiten begann erst Ende des 18. Jahrhunderts, etwa bei den sonntäglichen musikalischen Übungen im Hause des Barons Gottfried van Swieten in Wien, wo sich Musiker und Musikliebhaber mit antiquarischen Interessen, darunter Mozart, Haydn und Beethoven, einfanden und vergessene alte Meister wie Bach und Händel spielten. Auch im 19. Jahrhundert, in dem die Musik der Vergangenheit, der historischen Ausrichtung der Zeit entsprechend, aus ihrem Dornröschenschlaf erwachte, war der Vorrang der zeitgenössischen Musik eine Selbstverständlichkeit. Mit der „neuen“ Musik begannen sich die Gewichte zugunsten der historischen Musik zu verschieben. Heute ist das ursprüngliche Verhältnis von zeitgenössischer und historischer Musik auf den Kopf gestellt. Die „zeitgenössische“ Musikpraxis ist historisch geworden. Damit befinden wir uns in der paradoxen Situation, dass die neue Musik, die für sich in Anspruch nimmt, die Musiksprache unserer Zeit zu sprechen, kaum nachvollzogen wird, gleichzeitig aber die Musikliebhaber sich mit der Musik vergangener Zeiten identifizieren, die ihnen, da angeblich in einer überholten Musiksprache geschrieben, eigentlich eher fremd sein müsste.

Was sind, so fragt man sich, die Ursachen für diese Syncronisationsprobleme? Was führte dazu, dass sich die „natürliche“ Lücke zwischen historischer Musik und zeitgenössischer Musikpraxis schloss, während sich gleichzeitig eine höchst unnatürliche Kluft zwischen der zeitgenössischen Musikproduktion und den Zeitgenossen auftat? Wie konnte die Kunstmusik, das vielleicht originellste und hochgezüchtetste Element der europäischen Kultur, in wenigen Generationen in eine massenhafte museale Veranstaltung auf der einen und ein Randphänomen des kulturellen Lebens auf der anderen Seite zerfallen?

Um die geschilderte Verdrehung der Zeit zu verstehen, muss man ins frühe 19. Jahrhundert zurückgehen. Bis tief in das 18. Jahrhundert machte man sich wenig Gedanken über den Stilwandel in der Musik. Die Entwicklung der Musik war im wesentlichen durch gesellschaftlich bedingte, mehr oder weniger bewusste Veränderungen des Ausdrucksbedarfes geprägt, die auf kaum zu entwirrende Weise mit der individuellen Schreibweise bestimmter Komponisten sowie mit der Verfeinerung der Instrumental- und Satztechnik verwoben waren. Im 19. Jahrhundert setzte sich in der Musik, wie in anderen Bereichen des geistigen Lebens, die Vorstellung durch, dass sich die Vergangenheit fortschreitend entwickelt habe. Es lag in der Logik dieser Sichtweise anzunehmen, dass sich diese Entwicklung über die Gegenwart in die Zukunft fortsetze. Mendelssohn, der durch die Wiederaufführung von Bachs vergessener Matthäuspassion im Jahre 1829 einen Markstein bei der Wiederbelebung der alten Musik setzte, war einer der ersten, der an eine historisch bedingte innere Logik des musikalischen Stilwandels glaubte und daraus bewusst kompositorische Folgerungen zog. Er knüpfte an seine Vorgänger in der Absicht an, das weiterzuführen, was sie begonnen hatten. Bei Schumann, dem Haupt der neuromantischen Schule, ist die fortschrittliche Zukunftsorientierung explizit. Sein künstlerisches Credo, formuliert in einem Brief an seine damalige Verlobte Clara Wieck aus dem Jahres 1839, lautete, „den leisesten Fortschritt der Zeit zu sehen und als Komponist, wenn auch in kleiner Sphäre, immer fortschreitend die Zukunft zu bereiten“. Die neudeutsche Schule unter Liszt und Wagner trug den Stab weiter, den die Neuromantiker aufgehoben hatten. Wagner schrieb über das Kunstwerk der Zukunft. Seine Musik wurde als Zukunftsmusik bezeichnet. In der Folge sahen die Komponisten, die sich als führend empfanden, ihr Ziel immer mehr darin, Neues im Sinne von „Unerhörtem“ zu schaffen. Damit setzten sie den sich selbst verstärkenden Antizipationskreislauf in Gang, der das Selbstverständnis der „führenden“ Musiker bis heute zu bestimmen scheint.

Dass der Entwicklungsgedanke außerordentlich fruchtbar war, ist nicht zu bestreiten. Er leitete in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die bis dahin beispiellose Beschleunigung der Musikentwicklung ein, welche wir als Spätromantik bezeichnen und deren Ergebnis unter anderem die ungeheure Ausweitung des Orchesterapparates, eine höchst differenzierte Harmonik und immer komplexere musikalische Texturen war. Die Fruchtbarkeit des Entwicklungsgedankens war aber zugleich sein Problem. Denn er führte unweigerlich an die Grenzen der tradierten Systeme. Damit wurde die Schaffung des Neuen zum Experiment, dessen Folgen nicht mehr ohne weiteres abzusehen waren.

In der Musik stellte Debussy Ende des 19. Jahrhunderts die gewohnte musikalische Rhetorik, Anfang des 20. Jahrhunderts Schönberg die überlieferte Harmonik in Frage. Gleichzeitig forderte Busoni, die Musik von allen Traditionalismen zu befreien und so „Urmusik“ zu schaffen. Aufgabe der Komponisten sei es nicht, Gesetzen zu folgen, sondern sie aufzustellen. Diese Forderung wurde von den Reihentechnikern in der Nachfolge des Schönbergschülers Anton Webern erfüllt. Binnen weniger Jahrzehnte wurden dabei, wie bekannt, alle sonstigen traditionellen musikalischen Parameter aufgelöst, so der repetitive Rhythmus, die Sangbarkeit der Musik und der Gebrauch der Instrumente gemäß ihrer ursprünglichen Bestimmung. Auch die herkömmliche Notierung, der Kanon der Instrumente, die Tonskala sowie der überkommene Ton- und Werkbegriff wurden aufgegeben. An die Stelle traten gedankliche Konzepte von hoher Abstraktion, für welche die Avantgardisten einen zeitgeschichtlichen Alleinvertretungsanspruch geltend machten. Im Jahre 1979 erklärte Pierre Boulez unter Berufung auf den „einfachsten Sinn für Realität“ alle Musiker für „unnütz“, die sich nach den Entdeckungen der Wiener Schule außerhalb der seriellen Bestrebungen stellten.

In der Realität freilich hatte diese überaus rasante Entwicklung zur Folge, dass sich der Horizont von Musikschaffenden und Rezipienten verschob. Komponisten und Hörer begannen in verschiedenen Zeiten zu leben. Der Komponist verstand sich zunehmend als musikalische Vorhut auf einem Weg, den der Hörer nach ihm zu gehen habe. In dieser Rolle als Avantgarde sah er sich durch den Umstand bestätigt, dass auch in der Vergangenheit Komponisten ihrer Zeit voraus gewesen zu sein schienen. Man verwies darauf, dass die Zeitgenossen schon immer Probleme beim Übergang von der einen zur anderen Epoche gehabt hätten. Zahlreiche Werke großer Meister, die heute als der vollendete Ausdruck ihrer Zeit gelten, hätten sich erst lange nach ihrer Entstehung, nicht selten sogar erst nach dem Tod ihres Schöpfers durchgesetzt. Der Prototyp des verkannten Zeitgenossen war Schubert, dessen wichtigste Instrumentalwerke zunächst niemand spielen wollte und die erst lange nach seinem Tod zur Kenntnis genommen wurden. Andere Beispiele, auf die man sich bezog, waren die anfängliche Einschätzung der Werke Bruckners, dem man jede höhere musikalische Logik absprach, oder Mahlers, den man für monströs und geschmacklos hielt. Diese Argumentation lähmte naturgemäß die Kritik. Wer das Missgeschick vermeiden wollte, einen neuen Bruckner oder Mahler zu verpassen, hielt sich zurück.

Der Hörer folgte der Vorhut zunächst weitgehend unter Protest wie türenschlagendem Verlassen des Aufführungslokales oder wildem Pfeifen. Nachdem sich aber auch solche Werke der klassischen Moderne etablieren konnten, die anfangs als unerhört galten, wurde auch er vorsichtig und übte sich in Zurückhaltung. Der Teil der Hörerschaft, der an sich den Anspruch stellte, auf der Höhe der Zeit zu sein, akzeptierte schließlich, dass gute und interessante Musik nicht notwendig an die Verwendung der traditionellen musikalischen Parameter gebunden und nicht unbedingt sofort zu verstehen sei. Damit war das Rezeptionsmuster der Ungleichzeitigkeit grundsätzlich anerkannt.

Die avantgardistischen Komponisten sahen sich dadurch in ihrer Vorgehensweise bestätigt und schritten noch schneller aus. Da das Neue aber schließlich zum Alten wurde, bevor es der Hörer als Neues kennengelernt hatte, hatte er Schwierigkeiten, das noch Neuere als Abweichung von Älterem zu erkennen, was die Bedingung für sinnvolles Hören ist. Dadurch breitete sich beim ihm der Eindruck der Willkürlichkeit aus. Hinzu kam, dass die neue Musik wegen eines latenten Überschusses an Theorie tendenziell das akustische Ergebnis vernachlässigte. Darüber ist irgendwann die Kluft zwischen Musikschöpfern und Rezipienten zu breit geworden und die (Hör-)Verbindung abgerissen. An die Stelle von emotionsgeladenen Reaktionen, deren sich manche Werke Schönbergs oder Strawinskis noch erfreuen konnten, trat eine mehr oder weniger wohlwollende Neutralität oder achselzuckende Gleichgültigkeit. Der Hörer, welcher die Musik, die als zeitgenössisch bezeichnet wird, nicht mehr als die seine empfand, wich zur Befriedigung seiner emotionalen musikalischen Bedürfnisse, die nicht zuletzt eben auch emotionaler Natur sind,  auf Klassik oder – spätestens das sollte zu denken geben – auf Trivialmusik aus.

Dass die Abwanderung von weiten Teilen der Hörerschaft die avantgardistischen Komponisten sonderlich beunruhigt hätte, ist nicht ersichtlich. Das Schicksal, dass mit der institutionalisierten Asyncronalität von Schöpfung und Rezeption der Unfall der Kulturgeschichte zum Normalfall wurde, wird ihnen offensichtlich durch die Tatsache erleichtert, dass sie unter Kennern und Spezialisten nicht als verkannte, sondern als erkannte Genies gelten. Auf diese Weise ist der avantgardistische Komponist geradezu zum Symbol für das Auseinanderdriften von Gesellschaft und Individuum geworden, welches unsere Zeit so sehr charakterisiert. Dem Hörer, der sich weder mit der Vergangenheit trösten, noch auf die Zukunft vertrösten lassen will, bleibt die vielfältige Musik, die ebenfalls in unserer Zeit entstand, der man aber die Bezeichnung „zeitgenössisch“ nicht so recht zugestehen will. Diese „unnütze“ Musik, die, folgt man der avantgardistischen Sprachregelung, „zeitlos“ sein müsste, hat immerhin den Vorteil, dass man mit ihr „jederzeit“ etwas anfangen kann.

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2 Antworten zu “Musik ohne Hörer? Zeitprobleme der zeitgenössischen Musik

  1. Aber wie lange brauchte die Gesellschaft um Schubert, Mahler oder Bruckner zu akzeptieren. Das war doch normalerweise kein halbes Jahrhundert. Nun sind es aber schon 50, 60 oder 70 Jahre und immer noch findet die Avantgarde kaum Zuspruch. Ähnliches ist übrigens in der modernen Kunst zu beobachten.
    Eine wirkliche Antwort könnten hier nur Leute wie Bach, Mozart oder Beethoven gehen. Denn nur wirkliche Genies können das Genie anderer treffend beurteilen.
    Man kommt aber nicht umhin die Neue Musik als ernste Musik zu kategorisieren. Die Musiker schauen immer so furchtbar ernst drein beim Musizieren dieser Neuen Musik. Und zeitlos ist sie auch, schließlich kennt die Neue Musik nicht die typischen Metriken der alten klassischen Musik.

  2. Gaanz böser pöser Bubi

    Neue Musik.

    Prätentiöser Elitarismus, und keine Kritik weit und breit in Sicht.

    Oh Gott… welche Verarmung.

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