Auf der Suche nach dem verlorenen Paradies – Tagebuch einer Rucksackfamilienreise durch Malaysia im Jahre 1985 Teil 16

Der vollständige Text befindet sich auf der Seite IX Reisetagebuch Malaysia 1985 

3.4.1985

Abfahrt von K-L. Früh raus, keine Zeit für ein richtiges Frühstück, Rucksäcke auf und zum riesigen Busbahnhof, wo schon großes Gedränge herrscht. Der Bus nach Malakka ist ohne Kühlung, es steht also eine heiße Reise bevor. Die Fahrt durch die Vorstädte von Kuala Lumpur zeigt, dass das Reihenhauszeitalter auch im dünnbesiedelten Malaysia angebrochen ist. Es folgen palmenumrandetes Land, Felder, Plantagen. Irgendwo am Straßenrand, wo der Bus anhält, versuchen wir vergebens, unser mageres Frühstück nachzubessern.

Mit der Annäherung an Malakka ändert sich der Stil der Häuser. Immer häufiger finden sich romantisch anmutende geschweifte Dächer mit spitzen Giebeln, die sich wie Schiffsschnäbel in die Höhe recken. Bei neueren Bauten sind gelegentlich ganze Dachorgien aufeinandergetürmt. Überhaupt ist eine deutliche Betonung des spielerischen Elementes in der Architektur festzustellen, hübsche Schnitzereien finden sich, Erker, prächtige Eingangstreppen. Dazu sind die Häuser malerisch in Palmenhainen verstreut. Die Fahrt durch diese üppige Kulturlandschaft ist eine einzige Freude voller Abwechslung. Irgendwo verlassen wir die stark befahrene Nord-Süd Straße und nähern uns auf kleineren Straßen der alten Hafenstadt Malakka.

Der Name Malakka hat einen großen Klang. Es schwingt etwas von Seefahrtabenteuern darin, Pfeffer ist im Spiel, Piraten und Weltpolitik. Die Stadt beherrschte einst die wichtige Meeresstraße zwischen der malayischen Halbinsel und Sumatra und war Zentrum eines mächtigen Reiches. Ihr Ruhm war so groß, dass man nicht nur dieses Meerestor nach Ostasien, sondern auch die ganze riesige Halbinsel nach ihr benannte.

Der erste Eindruck dieser Stadt von einst welthistorischer Bedeutung ist nicht eben bedeutend. Der Bus hält – unmotiviert, wie es scheint – auf einem kleinen Platz in einem nichtssagenden modernen Viertel. Weit und breit ist nichts von Piraten und Pfefferkontoren zu sehen. Dazu kommt, dass der Versuch, unseren inzwischen mächtig angewachsenen Hunger zu stillen, fehlschlägt. Vergeblich laufen wir die Umgebung der Bushaltestelle nach einem geöffneten Restaurant ab. Es ist zwei Uhr. In einem ordentlichen Büroviertel ist die Mittagszeit dann wohl vorbei.

Ein Passant, den wir nach Hotels gefragt haben, versucht uns – wieder einmal – davon zu überzeugen, dass für uns ein solches nur in den modernen Teilen der Stadt, also in der Nähe der Bushaltestelle, in Frage kommen könne. Als wir uns dennoch auf den Weg ins alte Zentrum begeben, läuft er uns nach, um uns darauf aufmerksam zu machen, dass wir die falsche Richtung eingeschlagen hätten. Wir bleiben unserer antiquarischen Linie aber treu. Der Erfolg scheint uns schon bald recht zu geben.

Ein erster Hauch von fernöstlicher Seeromantik zieht vorbei. Wir überqueren einen kleinen Fluss, in dem einige abenteuerlich anmutende Holzdschunken liegen. Das war es aber dann auch schon. Jenseits des Flusses tut sich eine Kleinstadtidylle auf, enge Gassen mit niedrigen Häusern, in deren Untergeschoß sich chinesische Läden befinden, in denen Allesmögliche verkauft wird – das Ganze ziemlich geordnet und nicht gerade exotisch. Eine kleine Moschee von merkwürdig "unislamischem" Aussehen fällt auf. Mit ihrem grünen Dach und den gedrungenen Proportionen sieht sie irgendwie tropisch aus – hier muss Sumatra im Spiel sein. Die riesige Nachbarinsel – sie ist fast viermal so groß wie der malaysische Teil der Halbinsel Malakka – gehörte einmal fast ganz zum Reich von Malakka. Ihr Einfluss spiegelt sich auch in den "fremdländischen", weil nicht-arabischen Formen der großen Moschee wieder, in deren Nähe wir ein Quartier suchen.

Wir finden "unser" Hotel – in einem typischen Altstadtgebäude mit blumengeschmücktem Innenhof. Es gelingt uns sogar, den erhöhten zivilisatorischen Ansprüchen gerecht zu werden, die wir nach allgemeiner lokaler Meinung stellen sollen. Erstmals leisten wir uns den Luxus von air conditioning. Mitenthalten im Preis – er beträgt für uns fünf etwa so viel wie für eine Person in Deutschland – ist auch ein Bad, überflüssigerweise mit heißem Wasser.

Schon kurze Zeit nach dem Einzug in unser kühles Luxusgemach fällt auch ohne Bad oder Dusche alle Klebrigkeit von uns ab. Die Lebensgeister, die von Hitze und Hunger danieder geworfenen waren, erheben sich wieder. Aber wir sind nicht nach Malakka gekommen, um uns an heimatlichen Temperaturen in einem Hotelzimmer zu erfreuen. Also machen wir uns wieder auf den Weg. Beim Verlassen unseres Zimmers wird nun umso deutlicher, welche Verhältnisse draußen herrschen. Feucht-heiße Luft schlägt uns entgegen, dass es uns fast den Atem verschlägt. Nach einiger Zeit hat man sich aber daran wieder gewöhnt.

Was hat Malakka zu bieten? Zunächst hoffentlich etwas zu Essen. Schon wenige Meter von unserem Hotel entfernt, findet sich eine kleine chinesische Spelunke, die wir zum Erstaunen der Einheimischen betreten. Man schenkt uns darob besonders freundliche Aufmerksamkeit und bereitet uns ein sehr schmackhaftes Mahl. Dann kommen andere Köstlichkeiten. In der gleichen Straße befindet sich, nicht weit von der eher bescheidenen großen Moschee, der alte chinesische Tempel, ein wirklich "großes", originales Bauwerk aus einer Zeit, lange bevor die Engländer die Vorfahren der heutigen malaysischen Chinesen als Arbeiter für Plantagen und Zinnminen ins Land holten. Der Tempel wurde Anfang des 18. Jahrhunderts von einem großen chinesischen Baumeister gebaut und soll einer der schönsten außerhalb Chinas sein. Ein ganz anderes und ganz neues malaysisches Abenteuer beginnt.

Nach all der Natur und der nur nachempfundenen religiösen Architektur im jungen Malaysia stehen wir erstmals vor dem gewachsenen Bauwerk einer fernen alten Hochkultur: außen geschweifte Dächer, dezent geschmückt mit feinen, lackierten Szenerien, an der geschwungenen Giebelwand eine Reihe locker hingeworfener Fresken; im Innern raumschaffende Balkenkonstruktionen, Betonung der Breite mehr als der Tiefe, schwarze und tiefrote Farben, durchsetzt mit Gold, überall elegante Schnitzereien; alles sehr ehrwürdig. Viel Betrieb herrscht um den Tempel nicht. Der Mangel an steifer Würde und Weihe fällt auf. Die einheimischen Besucher bewegen sich mehr wie an einem Ort, an dem man zu Hause ist. Eine Frau – sie gehört offenbar zu den Tempelbetreuern – schenkt den Kindern getrocknete Pflaumen, die man wohl im Tempel verspeisen soll. Ganz unbefangen streichelt sie den Kindern über die Blondschöpfe. Im Tempel verrichten Chinesen rituelle Handlungen. Man schüttelt aus einer Blechdose, in der sich ein Bündel dünner Stäbchen befindet, geräuschvoll ein einzelnes Stäbchen heraus. Scheitert der Versuch, der einige Geschicklichkeit erfordert, fällt also mehr als ein Stäbchen auf den Steinboden, wird das Ganze ohne einen Anflug von Peinlichkeit wiederholt. Andere werfen kleine abgerundete Hölzer auf den Boden und lesen sie wieder auf. Es scheint sich um so etwas wie himmlische Glücksspiele zu handeln, eine Mischung von aktiver Zukunftsgestaltung und Schicksalsergebenheit, die, wiewohl sie auch für andere Religionen nicht untypisch ist, hier besonders ins Auge fällt.

Draußen im Hof des Tempels befinden sich einige Blechtonnen, in denen Feuer lodert. Wir beobachten eine alte Frau, die gerade dabei ist, Gegenstände aus Papier zu verbrennen, darunter, wie sich bei näherem Hinsehen erweist, Papierhemden. Mit dieser Beobachtung löst sich ein Rätsel, das sich uns auf dem Weg zum Tempel gestellt hat. In einigen Läden haben wir eine Menge ziemlich fragil erscheinender Bekleidungsstücke gesehen. Vor allem die Schuhe schienen – bei aller Preisgünstigkeit – reichlich leicht gebaut. Sie sind, was uns jetzt klar wird, ebenfalls aus Papier und werden, wie die Hemden, verbrannt, um die Bedürfnisse der Ahnen im Jenseits zu befriedigen. Das gleiche gilt für alle anderen Waren in diesen Geschäften. Liegestühle, Schränke, Betten und Geschirr – der gesamte angebotene Hausrat ist von Papierqualität, was uns, wie offenbar den Ahnen, zunächst auch nicht aufgefallen war. Es scheint, dass die Chinesen bei den Ahnen Bedürfnisse vermuten, die weit über das hinausgehen, was nach unseren Vorstellungen durch himmlische Notwendigkeiten bedingt sein könnte. Sie begnügen sich daher nicht damit, die Ahnen mit Segenswünschen und Fürbitten auszustatten, sondern gewähren ihnen greifbaren Komfort. Erstaunlicherweise lassen sie die Vorfahren sogar am technologischen Fortschritt teilnehmen. Via Verbrennung schicken sie ihnen auch Gegenstände, die ihnen zu Lebzeiten noch nicht bekannt sein konnten. Es gibt Kameras aus Papier, Radios, Videorecorder und Fernsehgeräte. Dabei haben die Fernsehgeräte ein erfrischend kühles Bild von den Schweizer Alpen auf dem Schirm, dem Wunschtraum eines jeden Bewohners der Tropen, die es offenbar auch im Jenseits gibt.

Größere Gegenstände wie Autos und Häuser bieten die Ahnenfachgeschäfte praktischerweise in verkleinerter Form an. Es scheint, dass die Dimensionen im Jenseits variabel sind (eine Vorstellung, an der Einstein seine Freude gehabt hätte). Im Übrigen kann man für wenig Geld Banknoten kaufen. Die riesigen Nennwerte lassen auf eine jenseitsmäßige Inflation schließen, was bei dieser Art der Geldschöpfung freilich kein Wunder ist.

Man kommt nicht umhin, sich zu fragen, nach welchen Kriterien sich ein Chinese für ein Geld- oder Sachgeschenk entscheidet. Denn wenn man Geld schenken kann, dann muss es im Jenseits ja auch etwas zu kaufen geben. Sieht man von den erwähnten relativistischen und politökonomischen Problemen ab, kann man davon ausgehen, dass es nach der Vorstellung der Chinesen im Jenseits ziemlich irdisch zugeht. Ihnen fehlt offenbar unser abstrakter Begriff von der ewigen Glückseeligkeit, unter der sich bei uns ja auch niemand so recht etwas vorstellen kann. Tatsächlich haben ja auch die chinesischen Kultfiguren, – etwa die allgegenwärtigen Löwen und Drachen – etwas Handfestes und Unideales.

Angesichts dieser chinesischen Vorstellungswelt kommt man unweigerlich ins Grübeln über den Ursprung und die Folgen der Abstraktion im Religiösen. Jetzt fehlt mir Kulit. Wir hätten uns sicher stundenlang darüber unterhalten, ob die religiösen Abstraktionen, insbesondere die Vorstellung von einem unsichtbaren Gott und einem abstrakten Paradies, welche sich in einer Ecke des östlichen Mittelmeerraumes entwickelte, die in abstrakten Dingen generell recht fruchtbar war, die Suche des Abendlandes nach den unsichtbaren Gesetzen der Wissenschaft und der Technologie provozierte, die später zu der stupenden Durchsetzungsfähigkeit der westlich-rationalen Kultur über alle anderen Kulturen der Welt führen sollte, zu Welteroberung und Kolonialismus, am "Ende" aber auch zu politischer Freiheit und zur "Entdeckung" der Menschenrechte.

In unmittelbarer Nachbarbarschaft dieses Tempels findet sich noch ein weiterer chinesischer Tempel. Den Bürgern von Malakka war das prächtige alte Gebäude offenbar nicht gut oder nicht modern genug. So bauten sie in neuester Zeit gleich daneben mit großem Aufwand einen noch größeren Tempel, dessen weite Hallen nur so von Marmor blitzen. Neben dem ehrwürdigen alten Bauwerk wirkt er neureich und hat keine Atmosphäre.

Wir schlendern durch die Gassen mit ihren aneinandergebauten kleinen Häusern. Hübsche Fassaden finden sich hier und dort. In der Nähe der Tempel kommen wir an einer chinesischen Sargschreinerei vorbei. Die großen geschwungenen Behältnisse aus massivstem Holz – Hauptteil und Abdeckung bestehen jeweils aus einem Stück – sind auf der Straße gestapelt. Sie sind so schwer, dass man mehrere Personen benötigt, um sie auch nur anzuheben. Mancher Urwaldriese landet so auf einem chinesischen Friedhof.

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