Die Situation kommt einem irgendwie bekannt vor: Es gibt eine weltumspannende Kultur, die in hohem Maße liberal, rational, realistisch und offen ist. Gedanklich gibt es kaum eine Frage, die nicht gestellt wird. Politisch sind fast alle Möglichkeiten durchdacht. Zur Ordnung der Verhältnisse unter den Menschen entwickelt sich ein für alle verbindliches Recht, die Stellung der Frau verstärkt sich, der Wohlstand ist beachtlich, die religiösen Leidenschaften sind domestiziert, die Kunst orientiert sich an den Tatsachen und das Kulturgebiet ist ein Sicherheitsraum, der in hohem Maße befriedet ist. Die Menschen sind neugierig, kreativ, unternehmungslustig und experimentierfreudig. Sie versuchen die Welt zu verstehen und ihre Möglichkeiten zu nutzen, wobei sie bis an die Grenzen des Möglichen, nicht selten auch des Vernünftigen gehen. Der gesellschaftliche Zustand ist keineswegs perfekt. Man konnte aber erwarten, dass er der Ausgangspunkt für die weitere Entwicklung sein würde. Die Rede ist von der antiken Kultur.
Dann aber wächst an den Rändern der hegemonialen Kultur eine Bewegung heran, in der sich vor allem die Unbefriedigten, Enttäuschten und Benachteiligten sammeln. In der Folge werden die Fragestellungen reduziert, der Blickwinkel verengt sich, die Realität geht verloren und man richtet den Blick auf das, was jenseits derselben sein soll. Die Bewegung wächst und unterminiert die herrschende Kultur. Als die (Macht)Verhältnisse auf der Kippe stehen, schlägt sich ein Herrscher aus der hegemonialen Kultur, der das Potential der neuen Bewegung für seine Zwecke zu nutzen weiß, auf die andere Seite (er wird dafür das Prädikat „Der Große“ bekommen). Von da an wird die liberale Kultur abgebaut. In der Folge erodiert die politische Organisationskraft, der Sicherheitsraum bricht zusammen, der Sinn für das Recht schwindet, die Kunst verarmt, insbesondere verliert sie den Bezug zur Realität, die höhere Wirtschaft und der Wohlstand verfallen und die Frau wird zum Wesen zweiter Klasse. Man befindet sich im Mittelalter.
In der Neuzeit bemühte man sich, den Stand des Altertums wieder zu erreichen. Es war ein langwieriger Prozess. Noch über Jahrhunderte schlug man sich die Köpfe über Religionsfragen ein. Nicht weniger lange brauchte es, bis die Rationalität wieder Einzug in die Politik halten konnte. Das Pflänzlein des Rechtes trieb nur langsam wieder aus und größere Sicherheitsräume entstanden erst neu, nachdem man den Krieg und die Drohung mit ihm auf eine kaum mehr zu überbietende Spitze getrieben hatte. Ganz zuletzt kam die Emanzipation der Frau wieder in Gang.
Mittlerweile werden wieder fast alle Fragen gestellt; einige halten wir für beantwortet, manche haben wir ad acta gelegt. Politisch haben wir die Systeme der Antike verfeinert und ergänzt. Der Einzelne ist so frei wie nie, die Frauen sind weitgehend emanzipiert, der Wohlstand ist breiter denn je, über Religionen wird nur noch in Randbereichen gestritten und das innere Leben der Gesellschaft ist weitgehend durch das Recht geregelt. Das Gebiet, in dem unsere Kultur herrscht, ist durch überregionale Sicherheitssysteme befriedet. Für die Beziehungen zwischen den Staaten, traditionell eine Domäne ziemlich ungefilterten Eigeninteresses, beginnen sich Rechtsnormen zu entwickeln. Selbst den Krieg, der alle Leidenschaften entfesselt, hat man teilweise verrechtlichen können. Die Menschen sind neugierig und kreativ und man erforscht alles. Dabei haben sich unzählige neue Möglichkeiten aufgetan. Der Zustand ist nicht perfekt und es sind neue Probleme entstanden – psychische etwa und der Verlust der Kontrolle über die Folgen der Veränderungen, die wir bewirken. Man hätte aber erwarten können, dass es auf dieser Basis weitergeht.
Nun aber wächst an den Randbereichen der hegemonialen Kultur, die inzwischen global geworden ist, erneut eine Bewegung, in der sich Unbefriedigte, Enttäuschte und Benachteiligte sammeln. Auch diese Bewegung reduziert die Fragestellungen, entwertet die Realität, verengt den Blickwinkel auf das Religiöse und entrechtet die Frau. Nach einer Inkubationszeit, in der sie regional eingekapselt war, beginnt auch sie rasant zu wachsen. Schließlich wird sie global und setzt sich das Ziel, die herrschende Kultur zu überwältigen. Dabei legen ihre glühendsten Anhänger eine Entschlossenheit an den Tag, die in der herrschenden Kultur fremd geworden ist. Die Schranken, welche eine liberale Kultur der Monopolisierung von Überzeugungen setzt, gelten der neuen Bewegung wenig. Man fragt nicht viel nach Recht, insbesondere nicht nach einem geordneten Verfahren für die Umgestaltung der Gesellschaft. Mit anderen Worten: wir haben die besten Voraussetzungen für ein neues Mittelalter.
Auf die Antike konnte ein Mittelalter nur folgen, weil die liberale Kultur ihre Kraft verlor, nicht zuletzt, weil sich der Irrationalismus, vor allem durch die Absorbtion weniger entwickelter Kulturen, in ihr selbst wieder etablierten konnte. Sieht es heute so viel anders aus? Es fehlt nur noch ein neuer Konstantin, der die ungebändigte Kraft der neuen Bewegung nutzt, weil er ein Großer werden will.
Habe Artikel nun mehrmals aufmerksamem gelesen und muss mich immer noch damit beschäftigen.
Auf Welche Basis ist die Analyse der Antike Welt entstanden?
Meinen Sie mit der Randgruppe die religiösen Fundamentalisten, die es ja auch im Christentum gibt, oder ehr die große Masse an Menschen die einfach nur Ihrer eigenen Basis überdrüssig geworden sind ( z.B. die Ökologen oder Grün – Fundamentalisten ) ?
Ihr Text lässt leider keinen Schluss zu mit dem der Leser einen Hinweis auf die Frage erhält: Wieso ist des zu diesen Entwicklungen gekommen?
Zur ersten Frage kann ich nur sagen, dass diese Sicht der Antike die Frucht meiner langjährigen Beschäftigung mit dieser Epoche ist, speziell natürlich unter dem Ge-sichtspunkt ist, der bei der gegebenen Fragestellung von Bedeutung ist. Einzelne Stränge hervorzuheben, würde hier zu weit gehen.
Frage 2 ist dahingehend zu beantworten, dass ich mit den Bewegungen, die vom Rande auf den Hauptstrom der Gesellschaft wirken, im wesentlichen die großen religiösen Bewegungen mit politischen Anspruch meine, in der Spätantike also das Christentum und in unserer Zeit den Islam.
Über die Frage schließlich, warum sich die Dinge so entwickeln, lässt sich lange philosophieren. Ich habe im letzten Absatz einen Aspekt herausgehoben, nämlich die Tatsache, dass sich innerhalb der herrschenden Gesellschaft bereits Tendenzen entwickelt hatten, die den Paradigmenwechsel begünstigt haben. In der Antike gehören dazu etwa die okkulten Strömun-gen der Gnosis, die weitgehend auf östlichem Gedankengut basierten. Heute wird man manche Formen des „Grünen Fundamentalismus“ aber auch eine Reihe weiterer Phänomene dazu zählen können, etwa die wachsende Bedeutung der Astrologie oder des Starkultes.
Als erstens muss Ich mich für die schnelle Beaantwortung der Fragen bedanken.
Anders als nun Interpretiert geht es mir jedoch weniger um reine Philosophie sondern um die praktische Anwendung des Inhaltes des Textes.
Der Paradigmenwechsel ist leider in vielen Bereichen schon beobachtbare Tatsache.
Hier ist mir dieses vor allen in Bereichen aufgefallen, mit denen ich mich beruflich beschäftige. Vor wenigen Monaten habe ich für ein persönliches Projekt Fachliteratur gesucht in der Standartdaten wie Löslichkeiten von Salzen, Verhalten mit verschiedenen Ionen und ähnliches für ein Projekt gesucht, bei der in Meerwasser wachsende Pflanzen für die Ethanolproduktion eingesetzt werden können. Leider waren die ersten Standartquellen wie Wikipedia, spezielle Internetseite und die derzeit gängige Fachliteratur so oberflächlich und widersprüchlich das hier fast keine Informationen z.B. für gezielte Versuche enthalten waren. Die Buchhandlungen, Institute und Unternehmen an die Ich mich gewendet haben waren derart schlecht darauf reagiert ( ah „böse Chemie“ ) das Ich irgendwann vorerst aufgegeben habe. Später habe ich durch Zufall Antiquarisch verwertbare Literatur gefunden.
Später habe ich erfahren das es ein wirtschaftlich machbares Verfahren mit welchen Ethanol aus Holz oder anderen Vorwurf erzeugt wird, schon mehrmals patentiert wurde und derzeit nochmals wiederentwickelt wird.
Aufgrund auch schon anderer ähnlicher Erfahrungen habe ich mich mit der Zeit immer mehr damit beschäftigt welche Eigenschaften die materiellen und gesellschaftlichen Ressourcen nicht nur angegeben sondern wirklich haben.
Hier ist mir in diesem Zusammenhang aufgefallen das die Gesellschaftliche Basis immer auf eine Art grundlegendes Gesellschaft Wirtschafts- und Kulturkonzept basiert die im wesentlichen von den materiellen, ökologischen, klimatischen Bedingungen und „humanen“ Ressourcen wie Bevölkerungsdichte, Bevölkerungsgröße und „materiellen“ Ressourcen abhängig ist.
Mit diesen Zusammenhang und der Erkenntnis dass einer Entwicklung immer ein „äußerer“ Zwang vorhergehen muss, lassen sich auch viele Entwicklungen wie z.B. die Bildung früherer Hochkulturen und der Zusammenbruch des Römischen Reiches einigermaßen plausibel erklären.
Leider lassen sich die Erkenntnisse hieraus nicht in der heutigen Gesellschaft umsetzen, da derzeit die Basis für eine Weiterentwicklung zu stark erodiert. Hier ist das wesentliche Problem das die Menschen durch die Finanzkrise immer mehr das Vertrauen in „ungedeckte“ Ressourcen ( Geld ) verliehen und die Politik leider auch das Recht bis zum Anschlag missbraucht.
Zumindest hat mein Versuch bei einem Onlineforum der Wirtschaftswoche ein Konzept für eine Zentralbank zur „ungedeckten“ Ausgabe von Energie durch ein Verleihen eines geeigneten Energieüberträgers nur Unverständnis geerntet. (Energie ist das Geld der Natur und hat somit auch ähnliche Eigenschaften).
Bei der Beschäftigung mit einer gesellschaftlichen Weiterentwicklung bin ich nun auf das Problem gestoßen das im wesentlichen ein mehr an Fairnis und Verantwortungsgefühl gebraucht wird, damit das bestehende Rechtssystem auch das Recht für dann gebrauchten eigenständigen technischen Helfern durchsetzen kann. Hier bitte ich um eine Anregung.
Des weiteren würde ich die Gründe für das Ende des letzten Mittelalters oder davor die Zeit genauer diskutiert haben in der sich die beschriebene antike liberale Gesellschaft entwickelt hat. ( Dieses war ja auch nicht immer auf gleicher Höhe).
Mit freundlichen Grüßen
Matthias Adolf
Ein faszinierender Text mit einer in sich konsistenten Darstellung [offenbar sind Sie kein schlechter Jurist 😉 ]. Und überhaupt eine interessante Webseite (Piranesi – wie gern würde ich das wenigstens mal querlesen!), für deren Durchdringung mir aber die Zeit fehlt.
Jedoch kann ich Ihr im ’neuen Mittelalter‘ zum Ausdruck kommendes Geschichtsverständnis kann ich als (tongue-in-cheek gesprochen:) Spengler-Schüler nicht teilen.
Ihre Perspektive erscheint mir als diejenige der Renaissance-Denker: Die Antike war voll auf dem Marsch in eine bessere Welt, wurde aber leider von den Barbaren in den Stand der Primitivität zurückgeworfen.
Gewiss: für unsere heutige Situation sehe ich die Gefahr genau so wie Sie.
Bezogen auf die Antike würde ich aber meinen, dass hier eine Hochkultur das ihr innewohnende Formenpotential erschöpft hatte. (Und wie emanzipiert die Frauen damals waren, weiß ich zwar nicht genau, bezweifele aber die Richtigkeit ihre euphorischen Sicht. Die große Sklavenschicht war jedenfalls weder emanzipiert noch auf dem Weg dorthin, und die Unterdrückung der Bauern zu Kolonen hat sich – später – im System selbst vollzogen, keineswegs wurde sie von den Barbaren eingeführt.)
Was den Untergang des römischen Imperiums angeht, erscheint mir Joseph Tainters ( http://en.wikipedia.org/wiki/Joseph_Tainter ) gedanklicher Ansatz interessant, die steigenden Kosten der sozialen Komplexität dafür verantwortlich zu machen [also heute u. a. eine hypertrophierte Juristerei ,-)?].
Gegen Spengler glaube ich allerdings, dass die westliche Zivilisation nicht einfach eine Hochkultur wie die früheren auch ist, sondern dass sie mit ihrer durchgängig wissenschaftlich-technischen Beherrschung der Umwelt eine neue Stufe der Menschheitsentwicklung darstellt.
Die interessante Frage wäre dann, ob auch für sie die gleichen Gesetzmäßigkeiten wie für die untergegangenen Kulturen gelten, ob wir in der Lage sind (oder sein könnten) uns sozusagen am eigenen Schopf von der abschüssigen Ebene wieder hoch zu reißen (in diesem Zusammenhang ventiliere ich die Idee einer bewussten Manipulation unserer kulturellen „Gene“ oder Meme).
Wie auch immer: auf jeden Fall ist ihr scheinbar locker aus dem Ärmel geschüttelter, in Wirklichkeit aber sehr tief schürfender, vor allem aber origineller Artikel eine anregende Lektüre. Dafür herzlichen Dank!
Hallo Herr Brinkmann,
Dank für Ihren freundlich-kritischen Kommentar zu meinem kleinen Epochenspaziergang samt dem interessanten Hinweis auf Tainter. Wenn ich dazu etwas bemerken darf, dann, dass ich eigentlich nicht die Absicht hatte, den diversen Versuchen von Gibbon bis Tainter zur kausalen Erklärung des Kollapses der antiken Kultur noch eine weitere hinzuzufügen. Diese Dinge sind einigermaßen komplex und ich wäre kaum in der Lage, mich dazu kompetent zu äußern (allerdings habe ich dennoch meine Zweifel, ob sie so berechenbar sind, wie Tainter meint – dieser volkswirtschaftliche Ansatz scheint mir etwas zu westlich-scientistisch.). Worum es mir ging, war zu beschreiben, in welche Richtung die Entwicklung gegangen ist und welche Gründe es dafür gegeben haben könnte. Einen möglichen Faktor habe ich für die Antike mit dem Wachsen des Irrationalismus (im Innern! vgl. dazu meine Erläuterung vom 2.3.2009 https://klheitmann.com/2008/11/29/kommt-ein-neues-mittelalter/#comment-176) benannt und geargwöhnt, dass wir uns heute in einer ähnlichen Situation befinden. Ob uns die besondere Ausrichtung der westlichen Zivilisation, die Sie betonen, vor einem ähnlichen Schicksal wie dem der Antike schützt, kann man nur hoffen (ich neige auch zu der Ansicht, dass dies so sein wird). Diese besondere Ausrichtung und natürlich auch ihr Verhältnis zur Antike ist übrigens das Thema von „Piranesis Räume“. Nachdem Sie sich offensichtlich für diese Fragen interessieren, müsste Sie dieser Text eigentlich ansprechen. Es geht darin um weit mehr als um Piranesi, zu dem man, wie zu manchem Anderem, allerdings auch Einiges erfährt.
Mit freundlichen Grüßen
Klaus Heitmann
Hallo Herr Heitmann,
Überlegungen, wie eine historische Entwicklung nach ihren inneren Gesetzmäßigkeiten ablaufen könnte, sind sozusagen „die Kette“. In dieser Richtung habe auch ich oben argumentiert.
Als ausgesprochener Ressourcenpessimist fürchte ich freilich, dass uns die Natur einen Schuss ins Gewebe und vor den Bug setzen, d. h. die immanente Entwicklung abrupt stoppen wird.
Aber das ist natürlich ein ganz anderes Themenfeld.