1886 Johannes Brahms (1833-1897) – Symphonie Nr. 4, e-moll Op. 86

Brahms galt lange als ein rückwärtsgewandter Musiker. Man sah in ihm vornehmlich einen Klassiker, der sich mit den Klassikern beschäftigte. Dies hat ihm den Titel eines Akademikers oder gar eines Historikers eingebracht. Brahms Freunde bewunderten seine „Belesenheit“, aus welcher der kunstvolle Umgang mit den überkommenen Formen der Musik resultierte. Für sie war er der Meister, der die Tradition fortführte. Seine erste Symphonie bezeichneten sie daher als die „Zehnte“, als die Symphonie also, die auf Beethovens „Neunte“ folgt. Brahms 4. Symphonie mit ihren altertümlichen Wendungen und Harmonien bis hin zu mittelalterlichen Kirchentonarten und der abschließenden Passacalia, einer barocken Satzform, war für sie vor allem eine melancholische Apotheose der Vergangenheit.  

Auf der Gegenseite standen die Anhänger Wagners und Liszts, welche die historischen Formen eher als Fesseln des Ausdrucks empfanden, der für sie im Vordergrund der Musik stand. Sie sahen in Brahms einen Epigonen ohne Inspiration. Hugo Wolf etwa, einer der Wortführer der Ausdrucksmusiker, fand in Brahms 4. Symphonie nur Nichtigkeit, Hohlheit und Duckmäuserei. „Die Kunst, ohne Einfälle zu komponieren“, so schrieb er im Wiener Salonblatt nach der ersten Wiener Aufführung im Jahre 1886 „hat entschieden in Brahms ihren würdigsten Vertreter gefunden.“ Noch im Jahre 1931 warf Wilhelm Furtwängler bei einem Vortrag die Frage auf, ob man, wenn man die Musikgeschichte von Standpunkt der Entwicklung betrachte, Brahms „überhaupt das Prädikat eines großen Meisters zuerkennen kann.“

 Inzwischen hat sich das Blatt gewendet. Brahms gilt heute als einer der Wegbereiter der Moderne. Entscheidend zu dieser Umwertung beigetragen hat ausgerechnet Arnold Schönberg, der eher von der Ausdrucksseite kam. Schönberg veröffentlichte im Jahre 1947 einen Aufsatz, dessen Überschrift „Brahms der Fortschrittliche“ mittlerweile zum geflügelten Wort geworden ist. Darin stellt er fest, dass nicht nur Wagners Harmonik nicht komplexer als die von Brahms sei; beide seien auch vergleichbar formalistisch. Wenn Brahms etwa in seiner 4. Symphonie „im letzten Satz die Terzen des ersten aufmarschieren lässt“, dann diene dies nicht anders als Wagners Leitmotivtechnik dazu, die Einheitlichkeit des Werkes herzustellen. Vor allem aber sieht Schönberg bei Brahms ein Fortschreiten auf dem Weg, den die Kunstmusik nach seiner Auffassung in Richtung auf eine „direkte und unumwobene Darstellung von Gedanken ohne jegliches Flickwerk und leere Wiederholungen“ gehen müsse. Brahms habe wesentlich zur Verdichtung der musikalischen Sprache beigetragen, die einem wachen, das heißt modernen Geist angemessen sei.

In der Tat hat Brahms das Prinzip der „entwickelnden Variation“, bei dem aus kleinsten Motiven ganze Satzzusammenhänge entstehen, gerade in der 4. Symphonie auf eine neue Höhe getrieben. Die musikalischen Elemente sind hier so außerordentlich dicht und beziehungsreich miteinander verwoben, dass eine der glühendsten und geistvollsten Anhängerinnen des Komponisten, Elisabeth von Herzogenberg, darin bereits ein Problem sah. Von Brahms vor der Uraufführung nach ihrer Meinung über die Symphonie befragt, schrieb sie, es gäbe bei allen wunderbaren Entdeckungen, die man in dem Werk machen könne, einen „Punkt, wo ein gewisser Zweifel anhakt“. „Es ist“, so schreibt sie, „als wenn eben diese Schöpfung zu sehr auf das Auge des Mikroskopikers berechnet wäre, als wenn nicht für jeden einfachen Liebhaber die Schönheiten offen dalägen und als wäre es eine kleine Welt für die Klugen und Wissenden, an der das Volk, das im Dunkeln wandelt, nur einen schwachen Anteil haben könne“. Eine Menge Stellen habe sie nicht gehört, sondern bei Studium der Partitur erst mit den Augen entdeckt. Das Problem, das Elisabeth von Herzogenberg hier anspricht, verdeutlicht, dass Brahms in der Tat ein Fortschrittlicher war. Was in der gemäßigten Form, wie es bei Brahms auftritt, als geistreich und tiefsinnig empfunden wird, sollte bei Schönberg und  überhaupt in der neueren Musik zum ernsthaften Rezeptionsproblem werden.

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